Eine faszinierende, leider weggesperrte Adlige
In ihrem Roman über die Großmutter des amtierenden König Charles III. trägt Irene Dische auf wenigen Seiten einige unfassbare Episoden aus dem Leben von Alice von Battenberg zusammen. Alice von Battenberg, die Enkelin von Königen Victoria, die mal ein koloniales Weltreich regierte und Tochter von Prinzessin Victoria (ja, es kann verwirrend sein), eine hochintelligente, belesene Frau (der ich aufgrund der kurzen Personenbeschreibung Autismus unterstellen würde), hatte selbst ein aufwühlendes Leben, welches dem ihrer Vorfahren und Nachkommen in nichts nachsteht. Taub geboren, lernte sie fünf Sprachen von den Lippen abzulesen und zu sprechen. Das brachte ihr bloß nicht mehr viel, als sie aufgrund ihres für ihre Familie unangenehmen Verhaltens in psychiatrische Kliniken gegen ihren Willen abgeschoben wurde. Alice war nämlich so gläubig und durchaus auch neurodivergent, dass sie der Meinung war, mit Jesus/Gott verheiratet zu sein. Im Gebet konnte sie sogar einen Orgasmus haben. Nie hat sie Eigen- oder Fremdgefährdung gezeigt, trotzdem war sie in den 1920er Jahren mit ihrem Verhalten auffällig genug, um sie bestialischen Behandlungsmethoden zu unterwerfen.
Was in diesem Roman historisch überliefert ist und was Fiktion, ist nie ganz klar. Aber die groben Informationen scheinen (laut Wikipedia) zu stimmen. So wurde ihr von u.a. Sigmund Freud die wilde Diagnose „paranoide Schizophrenie, mitverursacht durch sexuelle Frustration aufgrund einer nicht ausgelebten Leidenschaft“ diagnostiziert und verbrachte mehrere Jahre in Sanatorien eingesperrt. Ich persönlich glaube dem Roman so ziemlich alles, was hier von Alice persönlich uns berichtet wird. Für mich ist allein schon die Lebensgeschichte dieser Adligen, mit ihrem ironischen Blick auf die eigene Sippe (und deren Inzuchtsproblematik) und die Einblicke in die adligen Herrscherfamilien unglaublich aufschlussreich gewesen. Der persönliche Blick auf die Erlebnisse machen es noch interessanter, wobei ich an manchen Stellen mit der Erzählperspektive gehadert habe. Alice berichtet hier in der Vergangenheitsform rückblickend auf ihr Leben. Dabei nimmt sie nicht nur ab und an recht flapsige Formulierungen in den Mund, die so gar nicht zu einer so stolzen Adligen passen wollen, sondern scheint auch manchmal einen allwissenden Blick auf ihre Mitmenschen zu haben und deren Emotionen zu kennen. Die Leser:innen werden mit Durchbrechen der vierten Wand mitunter direkt angesprochen. In der zweiten Hälfte des Romans passiert dann noch eine Wandlung mit Alice, von der ich mir nicht sicher bin, ob diese so tatsächlich passiert ist bzw. passiert sein kann, ob sie durch den Geisteszustand der Frau in ihr selbst auftauchte, oder ob dieses Detail von Irene Dische vollkommen frei erfunden ist.
Ich muss zugeben, auch wenn ich mit dem Erzählstil durchaus gehadert habe, fand ich diese (fast) vergessene Lebensgeschichte von Alice von Battenberg wirklich unglaublich lesenswert und spannend. Mal wieder ein Werk, welches durch seine Schilderung von vergangenen psychiatrischen und psychotherapeutischen „Therapien“ an diesen zweifeln und nur den Kopf schütteln lassen. Auch die heutige Psychiatrie hat noch einiges vor sich und ist nicht lupenrein. Der Roman ruft ins Gedächtnis, dass immer die aktuelle Gegenwart von sich denkt, das Richtige für andere Menschen zu tun. Im Rückblick betrachtet aber durchaus falsch gelegen haben kann.
Insgesamt eine kurze, knackige Lektüre, die zum Nachdenken anregt und nachhallt.
3,5/5 Sterne