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    2. Alle Rezensionen von LittleWalter bei jpc.de

    LittleWalter Top 25 Reviewer

    Active since: September 3, 2010
    "Helpful" ratings: 1129
    480 reviews
    Fourth Drawer Down Fourth Drawer Down (CD)
    Jul 13, 2025
    Sound:
    4 of 5
    Music:
    4 of 5

    Qualität macht den Unterschied: Die Associates rieben sich leidenschaftlich zwischen Depression und Euphorie auf.

    Der Sänger Billy Mackenzie und der Multiinstrumentalist Alan Rankine aus Schottland spielten seit 1979 als Associates intensive New Wave-Musik. Eine Zuordnung zu Gothik, Industrial, Krautrock oder Post-Punk erscheint auf den ersten Blick naheliegend, trifft aber selten den Kern, weil das Duo zwar eifrig den Zeitgeist zitiert, aber auch geschickt versucht, sich eindeutigen Klassifizierungen zu entziehen.

    Wie zum Beispiel bei "White Car In Germany", die die Singles-Zusammenstellung "Fourth Drawer Down" eröffnet. Der Track hat eine herausfordernde Melodie, verfügt über einen monotonen Rhythmus und verbreitet eine depressive Stimmung. Die leidend-beschwörende, manisch-dramatische, die Nerven angreifende und umgarnende Stimme von Billy Mackenzie zeichnet darüber hinaus nicht nur dieses, sondern auch viele andere Lieder besonders aus. "White Car In Germany" offenbart auch einen Haupteinfluss des Duos, denn das Stück setzt da an, wo David Bowies und Brian Enos Ideen im Berlin am Ende der 1970er-Jahre zu eigentümlichen "Sounds und Visionen" geführt und Alben wie "Low", "Heroes" und "Lodger" (das in Montreux und New York aufgenommen wurde) hervorgebracht haben. Die emotionale Kälte der Großstadt (was für Bowie Berlin ist, ist für die Associates Düsseldorf) findet sich in elektronischen Tondichtungen genauso wieder, wie die verzweifelte Besessenheit, heimliche Hilferufe und der Wunsch nach Geborgenheit im Gesang von Bowie. Die Verbindung zu Bowie ist übrigens kein Zufall, denn die erste Associates-Single war eine Cover-Version von seinem "Boys Keep Swinging". Manchmal ist es bei "White Car In Germany" kaum zu unterscheiden, ob die sich in die Höhe schraubenden Klänge direkt aus dem Synthesizer stammen oder ob Billys Gesang verfremdet wird. Ein gefährliches Unterfangen, wenn solche Experimente zur puren Effekthascherei verkommen, um mangelnde Songwriter-Kunst zu kaschieren. Hier ergeben solche Klangerfahrungen jedoch Sinn, weil sie die erzeugten Gefühlslagen verstärken oder konterkarieren. Die verwendeten Schwingungen deuten zudem auf Erfahrungen mit Science-Fiction- oder Horror-Film-Untermalungen hin.

    "A Girl Named Property" setzt die begonnene Reise ins Unbekannte fort, indem zunächst eine leicht bedrohlich wirkende Tonkonstruktion gebildet wird. Plötzlich schält sich ein zuckersüßer Refrain heraus, der dem Song eine liebevolle Wendung gibt. Trotz der offensichtlichen Gegensätzlichkeit zu der zum Greifen nahen aggressiven Verzweiflung passen die Kontraste gut zusammen. Der Rhythmus ist karg und monoton, und die E-Gitarre scheint im Hintergrund dickes Metall funkensprühend zu schneiden. Das Konstrukt lässt das Blut in den Adern gefrieren.

    "Kitchen Person" fällt danach als panische, überhitzte Rock-Nummer mit treibend schnellen Vibraphon- und Synthesizer-Maschinengewehr-Salven auf. Der Track kocht ständig vor Erregung über und kommt erst kurz vor Schluss zur Ruhe. Die totale Reizüberflutung lässt Rückschlüsse auf einen Rausch durch Speed zu.

    Das moderat experimentelle, mit Retro-Science-Fiction-Sounds versehene Art-Pop-Song "Q Quarters" erinnert in seiner unorthodoxen Ausführung an die bizarren Lieder von Scott Walkers "Climate Of Hunter", das allerdings erst drei Jahre später erschien! Mackenzie adressierte den Song an die "egoistischen Politiker und die Korruption in Dundee."

    Der Kontrast zwischen heiterer Jahrmarkts-Atmosphäre und nervöser Anspannung geht bei "Tell Me Easter`s On A Friday" Hand in Hand. Yin & Yang, Tag und Nacht, hell und dunkel - vereint in einem Lied.

    Das schrullige, durch pumpende Rhythmen vorangetriebene Instrumental-Stück "The Associate" hält auch zwei konträre Stimmungen gleichzeitig parat: eine, die für betrunken-schlingernde Töne und eine, die für Standhaftigkeit und Robustheit sorgt.

    Für "Message Oblique Speech" wird ein bizarrer Freak-Folk erzeugt, der sich als Basis unnachgiebig-stramme Disco-Funk-Rhythmen ausgesucht hat.

    Mit dem exzentrischen Instrumental-Stück "An Even Whiter Car", einer schleppenden, abgebremsten und umstrukturierten Version von "White Car In Germany", endete die Vinyl-Ausgabe von "Fourth Drawer Down", die im Oktober 1981 erschien.

    Beim ersten Hören von "Fourth Drawer Down" sind in der Regel noch nicht alle Details erfasst. Die Kompositionen stehen oft unter einer permanenten Energiezufuhr, was zur Ablenkung oder Überforderung beim Lauschen führt. Der Reiz der Musik beruht unter anderem auf dem Kontrast zwischen der extrem überschwänglichen Stimme und dem verrückt-eigenwilligen Instrumentarium. Das Zweiergespann verwendete alle möglichen schräg-originellen Sounds aus, wie bellende Hunde oder Schreibmaschinenklappern. Sie probierten aus, was mit Wasser gefüllte Luftballons, die an Gitarrensaiten gerieben wurden, für Töne erzeugten oder pinkelten sogar in eine akustische Gitarre - woran sich Alan Rankine allerdings später nicht mehr erinnern mochte. Für "Kitchen Person" leiteten sie jedoch nachweisbar den Gesang durch ein Staubsauger-Rohr. Der Fantasie waren keine Grenzen gesetzt.

    Wenn Billy Mackenzies Gesang von Melancholie heimgesucht wurde, erzeugten die Keyboards in den Obertönen manchmal regelrecht vergnügliche Stimmungen. Und umgekehrt: jubilierte Mackenzie, dann rief das instrumentelle Umfeld ein Horror-Szenario hervor. Als Mitmusiker sollen der Schlagzeuger John Murphy und der einflussreiche Ideengeber und Bassist Michael Dempsey (ex-The Cure) nicht unerwähnt bleiben. Der Albumtitel "Fourth Drawer Down" kam zustande, weil die Musiker ihre pflanzlichen "Beruhigungsmittel" (die "Quiet Life" hießen) in der vierten Schublade von unten in einem Schrank aufbewahrten.

    "Fourth Drawer Down" ist eine Zusammenstellung, die in der Erstausgabe fünf Single-A-Seiten und drei Single-B-Seiten von insgesamt sieben Singles aus 1981 enthielt. Obwohl es ursprünglich nicht geplant war, aus den Singles ein Album zu erstellen, wirkt dies trotzdem wie ein in dem Ablauf gewollt konzipiertes und logisch zusammengestelltes Werk. Wobei die Qualität der Tracks von einer "herausragenden Darstellung" bis hin zu "atmosphärischen Zwischenspielen" reicht und entsprechend auf einem hohen Niveau schwankt.

    Die letzte Wiederveröffentlichung der Compilation von 2016 umfasste zwei CDs mit insgesamt 16 Stücken. CD 1 enthält das technisch überarbeitete Ursprungsalbum. CD 2 beherbergt die fehlenden Titel der sieben 1981er-Singles plus zwei Demo-Versionen. Die nicht für "Fourth Drawer Down" verwendeten Kompositionen sind zwar historisch aufschlussreich, aber nicht alle unbedingt zwingend hörenswert, wenn sie wie Skizzen, Spielereien oder unfertige, ausgewalzte oder verworfene Ideen klingen. Ausnahmen bilden die stoische Funk-Ballade "Fearless (It Takes A Full Moon)", "Point Si" mit Schwingungen, die sowohl an Walgesänge, als auch an rollige Katzen erinnern und "The Tree That Never Sang", wo der Irrsinn nahe ist.

    Am überzeugendsten sind die Musiker immer dann, wenn sie sich nicht den im Trend liegenden Attributen unterwerfen, um krampfhaft Tanzbarkeit zu erzeugen, sondern wenn sie ihren Songs individuellen Tiefgang verschaffen. Dem Duo gelingt es unter diesen Umständen, aus den verwendeten Zutaten - unabhängig von ihrer kulturellen Einordnung - etwas Ungewöhnliches zu gestalten.

    Nach einem weiteren Album ("Sulk" von 1982) brach die Zusammenarbeit zwischen Mackenzie und Rankine auseinander. Zu viele Drogen, Stress und musikalische Differenzen sollen schuld daran gewesen sein. Mackenzie führte den Namen Associates noch bis 1990 weiter und arbeitete in dieser Zeit auch mit Yello (Dieter Meier & Boris Blank) zusammen. Eine geplante Associates-Wiedervereinigung im Jahr 1993 scheiterte, die Aufnahmen kamen nicht über einen Demo-Status hinaus. 1997 nahm sich Billy Mackenzie mit 39 Jahren das Leben, und Alan Rankine starb 2023 im Alter von 64 Jahren.

    Ihr Vermächtnis lässt sich mit "Affectionate Punch" (1980), "Fourth Drawer Down" (1981) und "Sulk" (1982) als prägend für den Underground-Pop bezeichnen. Möchte jemand wissen, was sich Anfang der 1980er-Jahre jenseits des Mainstreams in Großbritannien stilistisch abgespielt hat, so findet er durch diese Platten einen interessanten Einblick. Die Musik hört sich auch heute noch in ihren besten Momenten auf faszinierende Weise befremdlich, aufrührerisch, seltsam und futuristisch an.

    Billy Mackenzies theatralisch überzogener, ausdrucksstarker Gesang kannte keine Schranken, beging aufrichtigen Seelen-Striptease, passte sich jeder Situation an, konnte aber auch mächtiges Klang-Gewitter im Zaum halten. In Billys Texten überschlugen sich die Gedanken und Ereignisse. Sie waren sprunghaft und vermitteln deshalb den Eindruck, unzusammenhängend zu sein, da sich ihre Bedeutung nicht unbedingt sofort erschließt. Alan Rankines Ideenreichtum hinsichtlich einer originellen Klanggestaltung kannte keine Grenzen. Sein Gitarrenspiel war schrill oder versöhnlich - unbedingt aber flexibel, je nach gewünschtem Wirkungsgrad. Das Duo-Infernale nutzte die Gunst der Stunde der beginnenden 1980er-Jahre. Alles war im Umbruch, und die Musiker haben mutig und abenteuerlich ihre unkonventionellen Ideen umgesetzt. Persönliche Schwierigkeiten und die Zwänge des Erfolgs-Mühlrads ließen sie leider an einer langfristig angelegten Karriere scheitern. Ihr schmaler Output hat aber weiterhin Bestand!
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    Flora Fauna Billie Marten
    Flora Fauna (CD)
    Jul 10, 2025
    Sound:
    5 of 5
    Music:
    5 of 5

    Geheimtipp: Billie Marten zelebriert originell und sensibel ihre sinnlich-ergreifende Musik.

    Wenn man draußen unterwegs ist, kann man schon mal richtig dreckig werden. So wie es Billie Marten für das Foto auf dem Cover ihres Albums "Flora Fauna" dokumentiert hat. Zurück zu den Wurzeln, zum Ursprung, zum (Er)Leben. Billie Marten ist naturverbunden und liebt Alpacas. Sie wuchs in den Hügeln von Ripon bei North Yorkshire in England auf und jetzt stellt sie ihren Bezug zur Umwelt dar. "Wenn das Album ein Gemälde wäre, würde es wie Flora und Fauna aussehen - es umfasst jeden Organismus, jeden Winkel der Erde und ein Gefühl der totalen Erfüllung", erklärt die Musikerin den Titel ihres dritten Werkes.

    Billie wurde am 27. Mai 1999 als Isabella Tweddle geboren und war quasi ein "Kinderstar", denn bereits mit 9 hatte sie einen YouTube-Kanal, auf dem sie Cover-Versionen von Pop-Songs veröffentlichte. Mit 12 Jahren nahm sie an den Ont` Sofa-Sessions teil und sorgte mit ihrer Version von Lucy Rose`s "Middle Of The Bed" für Aufmerksamkeit. Das gab einen gewaltigen Schub in Richtung einer professionellen Karriere und 2014 kam dann auch die erste Single ("Ribbon") auf den Markt. Ein Jahr später folgte die EP "As Long As". Von der BBC wurde ihr daraufhin ein kommerzieller Durchbruch vorhergesagt. 2016 erschien mit "Writing Of Blues And Yellows" der erste Longplayer, der im Vereinigten Königreich auf Platz 53 der Album-Charts landete. Die Schattenseiten des Erfolges trafen die junge Frau dann völlig unvorbereitet mit voller Wucht. Sie bekam Ängste und Depressionen und brauchte eine Auszeit. Trotzdem hielt sie an der Musik fest und veröffentlichte 2019 das Album "Feeding Seahorses By Hand". Aber das Musik-Business ist schnelllebig und unbarmherzig. Die Platte bekam jedenfalls nicht mehr die Resonanz des Debüts.

    Aber nun ist sie präsenter denn je. An "Flora Fauna" kommt man nämlich nicht vorbei, sofern Interesse an intelligenten, Folk-basierten Sounds besteht. Der Einfluss einiger Vorbilder ist bei der Musik von Isabella als Energie- und Vorlagenspender nachvollziehbar und wertvoll. Sie heftet sich an deren Spuren und besonders die Innovationen von John Martyn, Laura Marlings lasziver Coolness und die Wandlungsfähigkeit von David Bowie sind omnipräsent. Miss Marten scheint diese Inspirationen intravenös aufgenommen und sie in ihre DNA überführt zu haben, denn die neuen Stücke sprühen vor Kreativität und wurden raffiniert arrangiert und liebevoll produziert. Es wird deutlich, welche positiven Kräfte musikalische Schwingungen bei Isabella Tweddle freisetzen konnten. Es ist nahezu unglaublich, wie stark, selbstbewusst und qualitativ hochwertig die Lieder geworden sind. Keine Spur von Selbstzweifeln, Unsicherheit oder Mittelmäßigkeit ist zu spüren.

    Beim Eröffnungs-Stück "Garden Of Eden" geht es darum, dass wir wie alle Lebewesen Raum zum Gedeihen benötigen und dabei gehegt und gepflegt werden müssen. Der gegenseitige Wettbewerb, in dem wir häufig miteinander stehen, behindert uns jedoch in unserer natürlichen Entwicklung, meint Billie Marten. Der Song drängelt sich im rumpelnd-groovenden Folk-Jazz-Kontext in den Vordergrund und nutzt die Erholungsphasen, um sich geläutert, weise und melodisch verzückt in Szene zu setzen.

    Man stelle sich vor, die Existenz der Erde stehe am unumkehrbaren Abgrund und es gibt die Chance, der Apokalypse zusammen mit nur einer anderen Person zu entkommen. Wen würde man warum auswählen? Dieser Frage geht "Creature Of Mine" nach. Billie singt verführerisch und sanft mit besorgtem Unterton. Zu dem ernsten Thema wird eine Atmosphäre voller Harmonie, Ausgeglichenheit und natürlicher Leichtigkeit erzeugt, die Anregungen aus Westcoast-Folk und vollmundig-rundem Jazz zu einer sinnlichen Erfahrung zusammenführen.

    Mit "Human Replacement" macht die Musikerin darauf aufmerksam, dass es für Frauen oft nicht möglich ist, in der Nacht alleine irgendwo hingehen zu können, ohne Angst haben zu müssen. Passend zum Thema erzeugt der Bass ein dumpfes Grummeln, dass auch als Bedrohung gedeutet werden kann. Und die Stimme klingt eingeschüchtert, versucht aber, Haltung zu bewahren und sich Mut zuzusprechen. Der stramme Rhythmus gibt Rückendeckung und trägt das Alternative-Rock-Stück sicher über die Zeit.

    Für "Liquid Love" lässt die Sängerin einige letzte Silben der Worte lange fließen und erzeugt so ein Gefühl von Wohlbefinden, vielleicht sogar Lust. Zumindest ist der Track fried- und genussvoll angelegt und bedient sich gemächlicher TripHop-Rhythmen zur Steigerung der Intensität.

    Die Poesie von Billie Marten hält sich oft mehrere Deutungsebenen offen. In "Heaven" geht es sowohl darum, zu ergründen, welche Eigenschaften für eine erfüllende Liebe wichtig sind, wie auch darum, himmlische Unterstützung und eine Möglichkeit zu finden, Körper und Geist ins Gleichgewicht zu bringen. Aber der Text lässt durchaus auch andere Sichtweisen zu. Der inhaltliche Themenkomplex wird in einen Ablauf von vertraut wirkenden Pop-Mustern und psychedelisch wirkenden Tönen eingebunden, wobei der Wohlklang eindeutig gegen die Exzentrik gewinnt.

    In Interviews sprach Billie über ihre problematischen Zeiten: "Ich hing mit den falschen Leuten rum, hatte flüchtige und nichtssagende Beziehungen, trank viel und aß nicht." In "Ruin" verarbeitet sie diesen Krieg, den sie gegen den eigenen Körper führte. Ein trockener Rockabilly-Rhythmus gibt das schlaksige Tempo der zarten Ballade vor. Er wird dabei von klaren Surf-Gitarren und dröhnenden Hintergrund-Riffs flankiert. Die ganze Garde musikalischer Gegensätze zwischen Dur und Moll symbolisiert den Kampf, den Billie Marten auf dem Weg zu "Flora Fauna" durchstehen musste.

    Der Schlüsselsatz bei "Pigeon" lautet: "Ich brauche dich mehr, als du mich brauchst". Es geht wohl um fehlendes Selbstvertrauen in der Beziehung und das sich daraus entwickelnde Gefühl, in dieser unbefriedigenden Situation festzusitzen. "Da kann ich nicht mithalten" heißt es an anderer Stelle, was diesen Eindruck bestätigt. Das Lied läuft entsprechend schleppend und bedrückend ab und vermittelt eine schutzbedürftige Unschuld. Die Musik dazu klingt gehaltvoll, mehrschichtig und bodenständig.

    Die klaren Linien von "Kill The Clown" lassen den Track sanft gleiten und die Streicher unterstützen diese Schwerelosigkeit dezent. Ansonsten versorgen akzentuierte Percussion-Fills und ein ruheloser Bass die bewegliche Basis dieses hinreißenden Folk-Pop-Songs mit Energie. Unnachgiebig schwellende Töne begleiten "Walnut" in eine dunkel gefärbte Sound-Landschaft, die wenig Licht zulässt. Aber die Hoffnung stirbt zuletzt und so strebt die Komposition unablässig danach, nicht die Zuversicht zu verlieren. Der Ausgang dieser Bemühung wird aber offen gelassen, denn der Text endet mit der widersprüchlichen Aussage: "Ich werde Dich nie verlassen. Du musst mich verlassen."

    "Aquarium" reflektiert nochmal eine Krisensituation, in der sich Billie Marten befand. Sie rief ihren Vater an, den sie für weise hält, weil er immer direkt auf den Punkt kommt, wenn sie ihn um Hilfe bittet. Als sie ihm berichtete, wie niedergeschlagen sie sich fühle, sagte er nur: "Der schwarze Hund wird verschwinden." Danach schrieb sie sofort diesen Song, der einen geläuterten Eindruck hinterlässt und nicht zufällig an Nick Drake erinnert. Schließlich litt er auch unter psychischen Problemen und vermochte es wie kaum ein anderer, tiefgründige Gefühle so in Noten und Gesang zu gießen, dass sie unmissverständlich, plastisch und unheimlich ergreifend dargestellt wurden.

    Billie Marten begibt sich mit "Flora Fauna" in eine Liga mit Laura Marling, Maria Taylor, Joan Shelley, Judith Owen oder Eilen Jewell. Diese starken Frauen scheuen sich nicht, ihre Emotionen offen zu legen und sie unabhängig, originell und sensibel mit sinnlich-ergreifender Musik zu garnieren. Die besondere Stärke von Billie Marten liegt in ihrer anpassungsfähigen Stimme, die für alle Themen die passende Tonlage findet. Die flexible Instrumentierung unterstützt außerdem vortrefflich die klug inszenierten, substantiell hochwertigen Songs durch ihren lebhaften, transparenten und einfallsreichen Einsatz. Schönheit, Charme, Intimität und Originalität verbinden sich bei "Flora Fauna" zu einer qualitativ hochwertigen Einheit. Willkommen in der Champions League!
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    Springbrunnen Dota
    Springbrunnen (CD)
    Jul 8, 2025
    Sound:
    5 of 5
    Music:
    4 of 5

    DOTA liefern mit "Springbrunnen" verlässliche Qualität ab und bieten ihren Fans genau das, was sie erwarten dürfen.

    Dota Kehr als Solo-Künstlerin und DOTA als Gruppe sind seit Anfang der 2000er Jahre nicht mehr aus der deutschsprachigen Pop-Musik wegzudenken. Sie bilden eine wohltuende Alternative zu der Heerschar von schlagerhaften Singer-Songwritern, die sich bei näherem Hinsehen oft als berechnende Marketingprodukte ohne eigenes Profil herausstellen. Bei DOTA sind im Gegensatz dazu sowohl die Musik als auch die Texte selbstgemacht, gleichwertig und wertbeständig.

    Die letzten Arbeiten von DOTA beschäftigten sich unter anderem mit der Vertonung von Texten der Dichterin Mascha Kaléko ("Mascha Kaléko", 2020 und "In der fernsten der Fernen - Mascha Kaléko 2", 2023). Auf beispielhafte Weise verbanden die Künstler die fremde Prosa mit eigenen Melodien so organisch, als ob sie aus einem Guss wären. 2024 gab es darüber hinaus noch eine Konzert-Aufnahme mit dem Filmorchester Babelsberg und ein gemeinsames Album von Dota Kehr mit dem brasilianischen Komponisten, Gitarristen und Sänger Danilo Guilherme. "De Repente Fortaleza" erschien damit 21 Jahre nach "Mittelinselurlaub", der ersten Zusammenarbeit der beiden.

    Am 27. Juni 2025 folgte nun mit "Springbrunnen" die erste Platte mit neuer DOTA-Lyrik seit "Wir rufen Dich, Galaktika" aus 2021. Die aktuellen Lieder (13 auf der regulären CD und 11 auf der Bonus-CD) entstanden zwischen 2022 und 2025 mit der Stammbesetzung, bestehend aus Dota Kehr (Gesang und Gitarre), Jan Rohrbach (E-Gitarre), Patrick Reising (Keyboards), Janis Görlich (Schlagzeug) und Alex Binder (Bass). Manchmal gibt es noch Bläser-Zuspielungen und zweimal verdichtet der "Kammerchor Jeunesse Berlin" den Sound.

    Zum Konzept und über die Titelwahl hat Dota Kehr folgende Erklärung parat: "Ich glaube, das Album spiegelt die Zerrissenheit dieser Zeit. Zwischen flapsigem Unernst und Weltuntergang, zwischen Überforderung, Empowerment und Sehnsucht. Das Thema „Manipulation und Social Media“ kommt viel vor - in lustigen und ernsten Facetten. Wir haben lange nach einem Titel gesucht und dann schien uns der Springbrunnen passend: erquickend, ein Treffpunkt für alle im öffentlichen Raum. Zwar nicht überlebensnotwendig, aber erfrischend und mit dem Anschein von Unerschöpflichkeit - obwohl es immer das gleiche Wasser ist (mit dem alle kochen)."

    Bei "Der Frühling" geht es um "die Sehnsucht nach der Erneuerung in der Welt und in sich selbst." DOTA entwerfen als Vertonung zu dieser Utopie einen feingesponnenen, psychedelischen Jazz-Folk-Kokon mit "Pet Sounds"-Aura, der aufgrund seiner Reinheit, Originalität und Transparenz den zarten ECM-Jazz-Veröffentlichungen von Ralph Towner oder Gary Burton gleicht.

    Die Ernsthaftigkeit von "Der Frühling" wird durch die ulkigen Sprüche in "Im Springbrunnen baden mit nackten Milliardären" torpediert und abgelöst, welche in der Tradition des Humors von Joachim Ringelnatz formuliert sind: "Dr. Freud sag, was bedeutet das?! Dieser Drang nach reichen Greisen, die im öffentlichen Raum entgleisen." Die verwendeten Effekte, Sounds und Stilmittel sind der Neuen Deutschen Welle, dem Hip-Hop und der Exotica entliehen und ergeben in Summe einen flotten Pop-Song ohne musikalischen Tiefgang.

    "Das wogende Meer" ist ein klassisches Beziehungslied, allerdings ohne Herz-Schmerz-Schmalz, sondern mit klarer Problemstellung. Nämlich dem "Wunsch nach Geborgenheit und danach, dass da ein Mensch sein möge, der einem Halt gibt." Die zentrale Zeile lautet: "Keiner kann immer nur Felsen sein, mal ist jeder das wogende Meer". Der federleichte Folk-Rock, der viel von der sanften Melancholie des Bossa Nova in sich trägt, steht der Gruppe gut, denn es gelingt ihr, die sensible Spannung durch dekorative Dynamikabstufungen souverän hochzuhalten.

    Der Text von "Einfach zu abgelenkt" beschäftigt sich mit den alltäglichen Überlastungen, die zu Konzentrationsschwächen, Erschöpfung und allgemeinem Desinteresse führen können. Die elektronischen Klänge wirken in diesem um einen geschmeidigen Groove bemühten Umfeld gekünstelt und steril. Weniger Effekthascherei wäre hier bekömmlicher gewesen und hätte wahrscheinlich dazu geführt, dass den in den Hintergrund gedrängten eindringlichen Aktionen nicht der Weg versperrt worden wäre.

    Wir machen es uns oft zu leicht. Selbst wenn wir Defizite aufdecken, arrangieren wir uns oft mit der Situation, anstatt alles daranzusetzen, die Missstände abzustellen. "Wenn dir das reicht. Ist zu befürchten, dass es alles so bleibt. Wenn dir das reicht, machst du´s dir vielleicht zu leicht", heißt es entsprechend in "Wenn dir das reicht". Der im Prinzip mitreißende Power-Pop weist hinsichtlich des Einsatzes von elektronisch erzeugten Tönen die gleichen Defizite auf, die bei "Einfach zu abgelenkt" negativ aufgefallen sind. Sie wirken billig, aufgesetzt und fehl am Platz.

    "Die andere Seite" beinhaltet laut Dota einen "rätselhaften, märchenartigen Text" von Manfred Maurenbrecher, den sie in ein persönliches musikalisches Chanson-Gewand gesteckt hat. Das Lied bekommt durch einen milden Swing mit karibischem Flair eine exotische Note, und der Chor, der teils sphärisch, teils hymnisch agiert, setzt unerwartete Ausrufezeichen. Und wenn die Keyboards hier ab und zu kindlich-naiv quaken, dann trägt das in dieser homöopathischen Verdünnung zur bereichernden Abwechslung bei.

    "Ich und er" ist eine poetische Abhandlung über eine Lebensabschnittsbeziehung, die "ein Sich-Festklammern ohne Zukunftsaussicht" in unterschiedlicher Beleuchtung darstellt. Der Satz "Es ist alles einmalig, aber nichts in speziell" stellt eine präzise Bewertung der Qualität der Bindung dar. Die langsame Erzählweise und die schleppend-intime Melodie werden von delikaten Tönen, die den Song atmen lassen, flankiert. Eine sehr geschmackvolle Angelegenheit!

    "Milliardäre Reprise" ist ein 30 Sekunden langer Übergang, der aus Ideen von "Im Springbrunnen baden mit nackten Milliardären" gespeist wird.

    Mit "Ein gutes Buch" geht es musikalisch zurück zur Neuen Deutschen Welle der 1980er Jahre. Der Track ist aufputschend, lustig, gutgelaunt und "eine erfrischende, gelassene, selbstironische Antwort auf die Überforderung der Gegenwart".

    "Kettenkarussell" vermittelt authentisch das Vergnügen, das mit solch einer rasanten, fast schwerelosen Fahrt verbunden ist. Man kann sich dabei vom Kribbeln im Bauch berauschen oder die Seele baumeln lassen und den Alltag ausblenden. Dieses beschwipst-unbekümmerte Ablenkungsgefühl transportiert das fröhlich hüpfende Lied auch klanglich. Das ist ein schönes Beispiel für das Talent von DOTA, Inhalt und Töne gleichnamig und partnerschaftlich zusammenzubringen.

    Die Musik für "Alles glänzt / Die Hoffnung" stammt vom DOTA-Schlagzeuger Janis Görlich. Das Stück dockt atmosphärisch an den Opener "Der Frühling" an, ist also grazil und gedämpft instrumentiert worden. Seine Zerbrechlichkeit weckt Schutzinstinkte und sein Einfallsreichtum hat die hohe Schule der Pop-Komponierkunst absolviert. Nicht nur die Musik ist intelligent und empfindsam, sondern auch die Thematik zeugt von einem wachen Geist, Empathie und systemischem Denken: "Hoffnung finden und Hoffnung aufrechterhalten [...]. Vielleicht ist es allgemein ein Thema unserer Zeit. Zumindest für alle Menschen, die Artensterben und Klimakrise ernst nehmen und für alle, die an eine offene und solidarische Gesellschaft glauben." Die Poesie zu diesen Ideen ist einfallsreich, humanistisch und tiefgründig: "Ein Geist, der wirklich frei ist, wie der Mut von echten Helden. Helden ohne Gewalt, echte Helden - mit einer Hand am Asphalt." Klimaaktivisten sind nämlich keine Terroristen!

    Die Auswirkungen des Endes des Urlaubs-Sommers werden für "Alle sind zurück in der Stadt" skizziert. DOTA fahren die gesamte Instrumentierung auf: Die volle Band-Besetzung + Chor + Bläser geben diesem kurzen, beschwingten, aufbauenden Big-Band-Pop optimistische Konturen. Das ist wichtig, denn der nächste kalte, trübe Winter kommt bestimmt.

    Zusammen mit "Der Frühling" und "Alles glänzt / Die Hoffnung" bildet der raffinierte Dream-Pop "Ein gutes Versteck" ein überaus künstlerisch visionäres Trio ab. Man stelle sich vor, das gesamte Werk würde aus solch reifen, anregenden Songs bestehen: dann wäre "Springbrunnen" ein Vorzeige-Album des deutschsprachigen Art-Pop geworden. Aber wahrscheinlich hatten DOTA gar nicht diesen Anspruch, sonst hätten sie ihn wohl realisiert. So ist die Platte eine bunte Tüte voller sympathischer Lieder geworden, die von spaßig bis ernsthaft eine breite Palette von Emotionen abdecken.

    Dota Kehr ist außerdem eine herausragende Texterin. Ihre kritischen Analysen sind nie belehrend, sondern geben kluge Denkanstöße. Und ihre amüsanten Beiträge sind nie zotig oder platt, sondern nehmen es durchaus mit den großen Humoristen wie Heinz Ehrhardt oder (wie schon erwähnt) Joachim Ringelnatz auf, was ihre schelmische Weisheit angeht.

    Bei ihren Alben sind DOTA um Abwechslung bemüht. Neben nachdenklichen Stücken gibt es immer auch gutgelaunte Lieder, um nach Möglichkeit das ganze Spektrum menschlicher Gefühlsregungen abzudecken. Das ist verständlich, weil dadurch ein Konzert-Kontrastprogramm entstehen kann, bei dem für jeden etwas dabei ist. Dieses Ziel erfüllt "Springbrunnen" jedenfalls voll und ganz!
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    Jul 8, 2025
    Sound:
    4 of 5
    Music:
    4 of 5

    "Scratch It" will die Pop-Welt erobern.

    Unter dem Namen U.S. Girls veröffentlicht Meghan Remy, die 1985 in Chicago geboren wurde, seit 2008 ihre Musik. Vorher spielte sie in einer Punkband und studierte an einer Kunsthochschule in Oregon. 2010 zog sie der Liebe wegen nach Kanada, wo heute in Toronto ihr Lebensmittelpunkt ist.

    Im Jahr 2024 bekam Meg Remy das Angebot, auf einem Festival in Hot Springs (Arkansas) aufzutreten. Zu diesem Zweck benötigte sie eine Begleit-Band, die ihr Freund Dillon Watson aus Nashville zusammenstellen sollte. Neben Watson an der Gitarre bestand diese Gruppe aus Jack Lawrence von The Raconteurs am Bass, Domo Donoho am Schlagzeug und Jo Schornikow und Tina Norwood an den Keyboards. Unglaublich, aber wahr: Der damals 83-jährige Session-Musiker Charlie McCoy, der schon für Elvis Presley, Bob Dylan und Roy Orbison gespielt hat, verstärkte das Team an der Mundharmonika. Das Konzert lief so gut, dass das eilig zusammengestellte Team den Schwung mit ins Tonstudio nahm und "Scratch It" innerhalb von zehn Tagen in Nashville fertigstellte.

    Auffällig ist zunächst Megs Sing-Stimme, die manchmal durchaus gewöhnungsbedürftig erscheinen mag und deshalb polarisieren kann. Sie sticht durch ein leichtes Quengeln hervor, das sowohl jugendlich unbedarft klingt, als auch eine laszive Stimmung auslöst. Jedenfalls verpasst ihr diese Stimmfarbe eine eigentümliche Note. Lässt man sich darauf ein, verliebt man sich spätestens nach drei Songs in den Gesang und möchte den besonderen Zungenschlag nicht mehr missen. Diese Eigenart ist jedoch nicht so stark ausgeprägt wie etwa bei Victoria Williams oder Jessica Pratt. Sie ist nur beiläufig wahrnehmbar, weil sie selten zu hören ist. Der individuelle Gesang trägt entscheidend zu einer speziellen Aura des Sounds bei, an der man sich berauschen kann. Manchmal geht die Stimme in ein gedehntes Seufzen über, das ihre Heldin Patti Smith gleichermaßen gerne als Stilmittel zur Betonung von tiefgreifenden Empfindungen verwendet.

    "Scratch It" ist das neunte U.S. Girls-Album. Es zeichnet sich durch eine harmonische Balance zwischen traditionellem Hintergrund und originellen Arrangements aus, die sich auf eine robuste und flexible instrumentelle Basis stützt, welche je nach Gefühlslage Dichte oder Transparenz darstellt.

    In "Like James Said" wird James Browns Rat aus "Get Up Offa That Thing" befolgt, nämlich zu tanzen, bis man sich besser fühlt, wenn zum Beispiel der Liebeskummer-Schmerz zu groß ist. Nach einem krachenden Weckruf groovt sich der Song mit beschwingten karibischen Rhythmen ein, die in eine luftig-leichte Folk-Umgebung eingebettet sind. Was sich aufgrund der Beschreibung nach "Easy Listening" anhört, ist in Wirklichkeit ein mehrstufig aufgebauter Pop-Song. Er verbreitet im Verlauf durch ein sperriges E-Gitarren-Solo ein pikantes Aroma und hält noch einige andere Wandlungen und Überraschungen bereit.

    "Dear Patti" ist an Patti Smith gerichtet. Das Lied berichtet von einer verpassten Gelegenheit, Patti auf der Bühne erlebt zu haben, obwohl U.S. Girls ihr Vorprogramm war ("Ich habe darauf geachtet, dass meine Kinder nicht in den See fallen"). Entsprechend wehmütig und schüchtern läuft der zurückhaltende, bescheiden funkelnde und schillernde Song ab.

    Beim harmonisch gestimmten Folk-Jazz "Firefly On The 4th Of July" übernimmt die sich angetrunken windende und perlende E-Gitarre von Dillon Watson die melodische Führung. Zwischendurch hebt das vereinzelnd ruckelnde Stück ab und startet mit Sphärenklängen ins All. Das ist aber nur ein kurzes Intermezzo. Die Erdanziehung holt die Noten schnell aus der Träumerei zurück in die erlebte Realität: "Die Welt ist ein Traum, den wir alle noch nicht erlebt haben."

    Die weitläufig konstruierte, die Sinne beruhigende Klanglandschaft in "The Clearing" wird von Charlie McCoys Mundharmonika aufgelöst und in ländlich-gelassene Töne überführt. Wenn sein Spiel versiegt, nimmt der akustische Blick in die Ferne wieder den Raum ein. Der Track lässt sich allerdings nicht zwischen Gleichmut und Empathie zerreiben, sondern geht in dem Kontrast auf. Es handelt sich hier um eine Cover-Version des Singer-Songwriters Micah Blue Smaldone, der das Lied ursprünglich im traditionellen Country-Gewand herausgebracht hat.

    Die grundsätzlich schwebend-weiche Ballade "Walking Song" beherbergt als Gegengewicht zum puren Wohlklang aggressive Untertöne, die die E-Gitarre absondert. Das E-Piano und die Orgel glätten die Wogen und Meg Ryan ändert Tempo und Stimmung, um dem Titel einen frohen Aspekt zu verleihen, sodass es zu einem aufmunternden und aufbauenden Gospel-Soul-Finale kommt.

    Der langgezogene Groove von "Bookends" erstreckt sich über 12 Minuten und hat seine Wurzeln im geschmeidigen Southern Soul der US-Südstaaten. Der Song tönt also im Kern warmherzig, hypnotisch und unbeeindruckt von den Zwängen, die Zeit und Raum üblicherweise mit sich bringen. Die Zeit ist sowieso eine tickende Zeitbombe und es ergibt keinen Sinn, sich dagegen anzustemmen, was der unnachgiebig klopfende Taktschlag anzeigt. In diese vom Ballast befreite Atmosphäre lassen sich abwechselnd Mundharmonika, Orgel, E-Gitarre und Piano fallen, um Soli, die den Geist öffnen, abzusondern. Charlie McCoy spielt dabei eine Abwandlung des Liedes vom Tod und die Orgel klingt so mächtig und zerrissen, als wäre Garth Hudson (von The Band) von den Toten auferstanden. Irgendwann kommt es zum Stimmungswandel: Der Track sprüht plötzlich vor Lebensfreude und lädt den partytauglichen Philly-Soul-Sound als Begleiter ein. Meg entpuppt sich bei dieser spirituell aufgeladenen Sitzung als Hohepriesterin des Vergnügens oder vorher als Schamanin der Totenwache. Der Track ist wie ein Trip auf nebenwirkungsfreien bewusstseinserweiternden Drogen, deren Wirkung nicht vorhersehbar ist. Das Stück ist Riley Gale gewidmet, dem verstorbenen Freund von Meg Remy, der Sänger der Band Power Trip war. Es befasst sich mit dem Tod als einem endgültigen Ereignis, bei dessen Eintritt alle Menschen gleichwertig sind.

    Bei Jimador handelt es sich um eine Tequila-Marke. Der heftige Konsum dieses Getränks hat bei Meg nach einem Konzert in der Massey Hall von Toronto zu einem üblen Alkohol-Absturz geführt. Die Erinnerungen daran prägen das Lied "Emptying The Jimador", welches eine melancholisch-intime Beichte und eine Verarbeitung des Umgangs mit Alkohol beinhaltet.

    "Pay Streak" ist transparent instrumentiert und läuft weitgehend in sich gekehrt ab. Dennoch gibt sich Meg unmittelbar kämpferisch und rettet den Song gesanglich vor dem Ertrinken in einem See aus Tränen.

    Für "No Fruit" kratzt die E-Gitarre an der Oberfläche des Songs, der Bass pumpt aufgeregt und das Schlagzeug hält den charmanten Punk-Pop, der als Folk-Rock getarnt wird, stabil zusammen.

    "Scratch It" will die Pop-Welt erobern, traut sich alles zu, scheitert niemals und ist unverfroren neugierig, ohne dabei Mauern radikal einzureißen. Der fein gewobene Country-Sound klingt ungenormt, die Soul- und Funk-Beigaben sind stürmisch-frech und manchmal unverblümt erotisch, die Traurigkeit zwischen den Noten ist aufrichtig und die Kompositionen offenbaren ein profundes Wissen über die Pop-Historie, berücksichtigen aber auch Eigenständigkeit. Kurzum: Die Einflüsse und Ideen auf dem Werk lassen sich nicht mit einem Durchlauf erfassen und lokalisieren. Die Songs stechen weit aus dem heraus, was landläufig unter Americana verstanden wird. Und sie sind es wert, dass man ihnen Zeit und Aufmerksamkeit widmet. Unter Umständen springt dabei sogar ein neues Lieblingsalbum heraus.
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    The Best Years of Our Lives (50th Anniversary) (Expanded Deluxe Edition) Steve Harley & Cockney Rebel
    The Best Years of Our Lives (50th Anniversary) (Expanded Deluxe Edition) (CD)
    Jul 8, 2025
    Sound:
    4 of 5
    Music:
    4 of 5

    Eine umfangreiche Aufarbeitung des Steve Harley & Cockney Rebel-Klassikers.

    Es lag etwas in der Luft, im Jahr 1975. Der Duft der Veränderung. Im Underground brodelte es. Aus New York kamen Nachrichten von einem neuen wilden, primitiven Rock & Roll, der seine Wurzeln unter anderem im Club CBGBs hatte. In London rechneten ehrwürdige Musik-Magazine wie der New Musical Express oder der Melody Maker mit den etablierten Rockstars ab und nannten sie abwertend BOFs (Boring Old Farts / Langweilige alte Fürze). In den Charts kam dieser Aufruhr noch nicht an, aber in Insiderkreisen kursierten schon die aktuellen, heißen, aufrührerischen Veröffentlichungen und ließen sowohl die Kritiker als auch die interessierten Musikliebhaberinnen und -liebhaber aufhorchen und staunen, was alles an Innovationen möglich war. Es schien tatsächlich so, als würden die besten Jahre des Lebens grade vor uns liegen.

    Kurz vor dieser Umbruchs-Phase trat plötzlich Steve Harley in Erscheinung. Ein vermeintlicher Durchschnittstyp mit Schlaghose, der sich manchmal bei Konzerten eine Clownsnase aufsetzte und der aufgrund seines biederen oder drolligen Erscheinungsbildes gar nicht richtig einzuordnen war. Harley wurde als Stephen Malcolm Ronald Nice am 27. Februar 1951 in London geboren. Er verbrachte zwischen seinem dritten und sechzehnten Lebensjahr fast vier Jahre wegen einer schweren Form der Kinderlähmung im Krankenhaus. Trost fand er in den Texten von T.S. Eliott, D.H. Lawrence, John Steinbeck, Virginia Woolf und Ernest Hemingway, sowie in der Musik von Bob Dylan. Sie inspirierte ihn endgültig dazu, Gedichte zu schreiben und dann auch Geige und Gitarre spielen zu lernen. Seine musikalische Karriere begann 1971, wobei er durch Bars und Clubs tingelte, wobei es unter anderem zuTreffen mit John Martyn und Ralph McTell kam. 1972 gründete er dann Cockney Rebel und 1973 erschien das erste Album "The Human Menagerie", das den ersten, pompösen, glanzvoll-erhabenen Single-Hit "Sebastian" enthielt.

    Musikalisch schien Steve durch seine Vorlieben und Erfahrungen für größere Vorhaben vorbereitet und geerdet zu sein. Bei seinen Aktivitäten fühlte er sich dem erwachsenen Pop verpflichtet, dennoch versuchte er sich von seinen Idolen abzugrenzen, zu denen neben Dylan noch Marc Bolan, David Bowie, The Kinks und The Beatles zählten. Humor und in Phasen ein durchaus spleenig-unverwechselbarer Gesang, mit skurriler Betonung und Dehnung von Wörtern gehörten unter anderem zu seiner Individualität dazu und sorgten für einen hohen Wiedererkennungswert.

    1975 erschien mit "The Best Years Of Our Lives" das dritte Album von Cockney Rebel und das Erste, das in diesem Zusammenhang den Namen des Sängers Steve Harley voranstellte. Und noch etwas war neu: drei der bisherigen Cockney Rebel-Mitstreiter forderten mehr Anteile an den Kompositionen, was Harley ablehnte und als Konsequenz daraus für "The Best Years Of Our Lives" eine neue Band zusammenstellte. Diese bestand aus Jim Cregan (Gitarre, ex-Family), George Ford (Bass, ex-Medicine Head), Duncan McKay (Keyboards, ex-Baker Gurvitz Army) und Stuart Elliot am Schlagzeug, dem einzigen verbliebenen Cockney Rebel-Mitglied.

    Das Album, das für diese Deluxe-Jubiläums-Ausgabe vom damaligen Produzenten Alan Parsons behutsam tontechnisch überarbeitet wurde, braucht ein wenig Zeit, um richtig in Gang zu kommen. Nach einer humorigen Einleitung folgt das dem "Diamond Dogs"-Song von David Bowie nachempfundene "Mad, Mad Moonlight". Harley nutzt die Aufmüpfigkeit des Glam-Rocks für sich, ohne vordergründig ein rebellischer Rocker zu sein.

    Mit "Mr. Raffles (Man It Was Mean)" erscheint dann das erste Ausrufezeichen des Albums. Das Lied handelt von einem skrupellosen Manipulator und Verbrecher, der nur den eigenen Vorteil sucht. Geschickt werden bei dieser Ballade Elemente aus der spanischen Folklore und dem Reggae zu einem Pop-Song mit exotischer Prägung verbunden.

    "It Wasn’t Me" ist ein weiterer heimlicher Favorit, der durch den verzweifelt-strapaziösen Gesang eine belastend-erschütternde Intensität erreicht. Man spürt fast körperlich die innere Zerreißprobe, in der sich der Erzähler befindet: Es ist der mehrschichtige Spagat zwischen Leugnung von Verantwortung für Verfehlungen, um die eigene Schuld herunterzuspielen und der Gewissheit, sich dadurch selbst zu betrügen. Der intim konstruierte Folk-Jazz gibt der Sozialstudie einen intellektuellen Anstrich. Die in Abständen eingefügten schroffen Rock-Akkorde fördern ein Aggressionspotenzial, das durch das lyrische Geigen-Solo partiell pulverisiert wird. Knisternde, manchmal ins Absurde abgleitende Spannung ist garantiert.

    Der bizarre Text von "Panorama" steht im Gegensatz zu seinem etablierten musikalischen Ansatz, der aus gebräuchlichen Bestandteilen von Rhythm & Blues, Soul und Jazz besteht.

    Mit "Make Me Smile (Come Up And See Me)" hat Steve Harley das abgeliefert, was man landläufig einen perfekten Pop-Song nennt. Hier stimmt eigentlich alles: Er verfügt über eine mitreißende Melodie, einen Killer-Refrain, überlegene Lässigkeit, sexy Background-Sängerinnen, einen attraktiven Groove, raffinierte Haken und Ösen, wirkungsvolle Stopps und einen charmanten Lead-Sänger, der mit allen Verlockungs-Wassern gewaschen ist. Die inhaltliche Auseinandersetzung mit der Enttäuschung über eine zerbrochene Beziehung wird manchmal als Abrechnung mit seinen gefeuerten ex-Cockney-Rebel-Musikern gedeutet. Es kann sich aber auch "nur" um eine gescheiterte Liebesbeziehung handeln. Das Lied diente in den Folgejahren einige Male als Wiederveröffentlichung zur Ankurbelung beziehungsweise Neubelebung der Karriere von Steve Harley und jedes Mal enterte es erneut die Charts. Und auch heute verfehlt er seine belebend-hypnotische Wirkung nicht. Ein eindeutiger Evergreen!

    In "Back To The Farm" wird der Prozess der Selbstfindung und seelischen Erneuerung, mit dem Ziel, ein Leben jenseits der Vereinnahmung zu führen, thematisiert. Harley hängt sich gesanglich voll rein, geht aus sich raus und versucht gar nicht erst, Charts-tauglich zu agieren. Das Stück könnte wegen seines verschachtelt-komplexen Aufbaus als Progressive-Rock durchgehen, es bedient aber auch Sequenzen der ausschweifenden Pop-Tragödie. Gehetzter Gesang, der unter Druck steht, eine quengelnde E-Gitarre, formelmäßig zustimmende Chorstimmen und ein käsig-schmieriger Synthesizer dominieren den Sound dieser cleveren, in Teilen panisch-angsterfüllt wirkenden Komposition.

    Cockney Rebel können auch funky sein, was "49th Parallel" stimmig beweist. Der Song hört sich rhythmisch wie ein Zwitter aus "Superstition" von Stevie Wonder und "Resurrection Shuffle" von Ashton, Gardner & Dyke an. Er verfolgt grundsätzlich eine klare Linie, bricht melodisch aber auch gerne einmal aus, um auf unerwartete Wege zu verzweigen. Inhaltlich ist das Stück schwer zu deuten. Die Verse wirken, als seien sie spontan und assoziativ entstanden.

    Für das Lied "The Best Years Of Our Lives" zieht Steve Harley noch einmal alle Register seines melodramatischen, erschütternden Gesangs-Stils und erschafft eine ausschweifend-bewegende Hymne, die die Jugend und das Erwachsen werden mit seinem Erkenntnisgewinn würdevoll feiert. Darin schwingt sowohl eine freudige Erwartungshaltung als auch Skepsis mit.

    Die erste CD der Box zu Ehren des Erscheinens vor 50 Jahren endet mit der Soft-Rock-Single-B-Seite "Another Journey", dessen Mundharmonika-Solo eine direkte Hommage an Bob Dylan, dem großen Vorbild von Steve Harley, ist.

    Die zweite CD trägt die Überschrift "Outtakes & Rarities" und enthält elf Beispiele von Probeaufnahmen oder Versionen, die es nicht auf das Album geschafft haben. Man hat hier die Chance, einen Eindruck vom Entstehungsprozess der Platte zu erhaschen. Wer sich allerdings nicht für die Entwicklung der Songs interessiert, für den dürften die ausgewählten Schnappschüsse womöglich verzichtbar sein, weil sich manche Stücke in einem "unfertigen" Zustand befinden.

    Die Arbeitsweise, bei der Harley konzentriert Regieanweisungen gibt, um die gewünschte instrumentelle Dynamik zu erreichen, kann sehr gut bei "The Mad, Mad Moonlight (Rehearsal)" und "49th Parallel (Rehearsal)" nachvollzogen werden.

    Von "Another Journey" und "The Best Years Of Our Lives" gibt es jeweils Roh-Versionen zur akustischen Gitarre, die die spätere Struktur schon scharf erscheinen lassen.

    Die dazugehörigen frühen Studio-Einspielungen mit voller Besetzung zeigen im Falle von "Another Journey" schon eine absolut vorzeigbare Aufnahme, was auch für die alternative Interpretation von "It Wasn’t Me" und den Rough-Mix von "Make Me Smile (Come Up And See Me)" gilt.

    Die Bonus-DVD besteht im Wesentlichen aus einem Konzert im Londoner Hammersmith Odeon vom 14. April 1975. In Bild und Ton gibt es zwei Mitschnitte (6 Songs + Fan-Interview als "Between The Lines Documentary" und 4 Songs als "Star Rider"-Aufnahme). Der Sound ist in beiden Fällen gut, die Bildqualität ist höchstens mittelmäßig zu nennen. 14 Stücke des Konzertes werden außerdem noch als Audio-Dateien in sehr guter Ton-Qualität zur Verfügung gestellt. Die Fans feiern den Auftritt frenetisch und Harley setzt jede Menge Sympathie und Energie frei. Die Band zeigt sich famos eingespielt, kleinere Fehler fallen bei dem kraftvollen Einsatz und der unermüdlichen Leistungsfähigkeit kaum ins Gewicht. Die DVD wird durch zwei Videos von "Make Me Smile (Come Up And See Me)" vervollständigt. Einmal handelt es sich um das offizielle Promo-Filmchen und einmal um einen Auftritt bei "Top Of The Pops" vom 30. Januar 1975.

    Pop-historisch kann das Werk folgendermaßen eingeordnet werden: Für manche Menschen war Steve Harley ein Bindeglied zwischen verloren geglaubter Pop-Qualität und dem Aufbruch zu neuen Ufern. Pub-, Glam- und Punk-Rock kündigten eine Reformierung des Rock & Roll an. Punk war zwar noch in den Kinderschuhen, aber eine Tendenz zur Rebellion zog schon am Horizont auf. Die Beatles hatten sich bereits 1970 getrennt und so schien es, dass die Entwicklung des Adult-Pop vorbei war. Sehnlichst wurden aber dessen melodische und verführerische Qualitäten vermisst. In diese Bresche sprang nun Steve Harley, der clever mit den Attributen Eingängigkeit und Pathos als clownesker Unruhestifter spielte.

    Durch die personelle und konzeptionelle Neuausrichtung hat Steve Harley seine Wahrnehmung und sein Verständnis von reifer Pop-Musik noch einmal geschärft und mit "The Best Years Of Our Lives" ein fokussiertes und das wohl interessanteste Album seiner Karriere herausgebracht. Auch wenn bei den folgenden Werken und der sich anschließenden Solo-Karriere nicht alle Songs ins Schwarze treffen, so sind die sich über alle Veröffentlichungen erstreckenden besten Arbeiten von Steve Harley zeitlose Klassiker geworden. "The Best Years Of Our Lives" verdient mindestens eine zweite Chance, als originelles Pop-Werk wahrgenommen zu werden. Dieses schön aufgemachte Box-Set im Buch-Cover ist dafür der ideale Einstieg und eine angemessene Würdigung von Steve Harley, der 2024 leider an Krebs starb.
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    The Black Dog And The Wandering Boy James McMurtry
    The Black Dog And The Wandering Boy (CD)
    Jul 8, 2025
    Sound:
    4 of 5
    Music:
    4 of 5

    Americana-Sounds wie aus dem Lehrbuch und texanische Weltanschauungen.

    James McMurtry ist der Sohn von Larry McMurtry. Larry McMurtry ist ein Roman- und Drehbuchautor aus Texas, der sich in seinen Geschichten mit der Vergangenheit und Gegenwart des Westens der USA beschäftigt. Zu seinen bekanntesten Werken gehört "Weg in die Wildnis" (Originaltitel: "Lonesome Dove"), für das er 1985 den Pulitzer-Preis bekam. Sein Drehbuch zu "Brokeback Mountain" brachte ihm 2006 einen Oscar für das beste adaptierte Drehbuch ein. Im Jahr 1962 erblickte sein Sohn James das Licht der Welt, der 1987 am "New Folk Songwriter Contest" in San Antonio teilnahm und zu den sechs Gewinnern zählte. Anschließend ließ er John Mellencamp Demo-Aufnahmen von sich zukommen. Der zeigte sich begeistert und koproduzierte James McMurtrys Erstlingswerk "Too Long In The Wasteland" im Jahr 1989.

    "The Black Dog & The Wandering Boy" kreist häufig um Familiengeschichten und persönliche, prägende Erinnerungen. So handelt es sich bei der Cover-Darstellung um eine Skizze von James McMurtry als Kind. Diese hat der Schriftsteller Ken Kesey, der "Einer flog über das Kuckucksnest" verfasst hat (das großartig mit Jack Nicholson in der Hauptrolle verfilmt wurde), gezeichnet. Kesey war mit den McMurtrys befreundet und bei einem Besuch in Texas ist dieses Porträt entstanden. Es ist ein Fund aus dem Nachlass von Larry McMurtry, der 2021 starb. James kontaktierte seine Stiefmutter, um sich zu vergewissern, woher das Bild stammt. Larry McMurtry heiratete nämlich in zweiter Ehe die Witwe von Ken Kesey, die die Echtheit des Dokumentes bestätigen konnte. Zufall und Inspiration gehen manchmal merkwürdige Wege.

    Die Stimme von James McMurtry, die eine überlegene Lässigkeit transportiert, aus der eine leichte Arroganz hervorgeht, eignet sich perfekt, um auch lange Handlungsstränge spannend vorzutragen. Er ist deshalb als ein singender Dichter und ein poetischer und zupackender Musiker zu bezeichnen. Zwischen purem Folk und donnerndem Folk-Rock findet er etliche andere geeignete Americana-Stile, um seine Geschichten abwechslungsreich zu gestalten.

    Bei der Umsetzung hilft ihm seine Live-Band, bestehend aus Tim Holt (E-Gitarre, Backing Vocals), Cornbread (Bass), BettySoo (Harmoniegesang) und Daren Hess am Schlagzeug, die von einigen Gästen, wie Sarah Jarosz (Harmoniegesang), pat mAcdonald (Mundharmonika) oder dem Gitarristen Charlie Sexton, der hier das türkische Saiteninstrument cum-bus auf "Sons Of The Second Sons" spielt, unterstützt werden. Als Produzent wurde erneut (nach "Where`d You Hide The Body" aus 1995) der Altmeister Don Dixon gewonnen, der nebenbei einige instrumentelle Verfeinerungen vornahm.

    James McMurtry steht für verlässliche Qualität und so darf man sich auf zehn neue Lieder freuen, die die alten Fans nicht enttäuschen und vielleicht neue Freunde gewinnen werden. Bei "Laredo (Small Dark Something)" handelt es sich um eine Cover-Version eines Tracks von Jon Dee Graham, bei dem es um Schilderungen eines Teilzeit-Junkies geht. Der Song zeigt sich als staubtrockener, heftig abgehender Garagen-Rock mit zwei sich herausfordernden und umkreisenden E-Gitarren, einer sehnsüchtigen Mundharmonika und einer krachenden Rhythmus-Abteilung. Die Umsetzung ist hinsichtlich seiner Schärfe und Härte nahe am Original belassen worden. James McMurtry hat als Sänger alle Fäden in der Hand und dirigiert diesen wüsten Ritt nicht nur, sondern feuert ihn auch noch an. Brillant! Eine perfekte Eröffnungsnummer, die einem das Blut in den Kopf schießen lässt. Mehr Stimulation geht kaum.

    Folgerichtig schaltet "South Texas Lawman" ein paar Gänge zurück und erzählt ein wenig desillusioniert von den Auswirkungen des Alterns: "Ich kann es nicht ertragen, alt zu werden, es passt nicht zu mir." Die handelnde Person zeigt sich dennoch aufrecht und stolz. Mit stoischer Beschaulichkeit erteilen die Musiker eine Lektion in texanischer Lebensart, die in diesem Fall durch einen von Hektik befreiten Ablauf geprägt ist. Der Text basiert auf einem Gedicht von T.D. Hobart, einem Freund der McMurtry-Familie.

    Die Ballade "The Color Of Night" ist nicht rührselig, sondern stellt sich den täglichen Anforderungen trotzig entgegen. Sie hat als Highlights einen lebhaften Rhythmus, eine herzhaft rauschende Southern-Soul-Orgel und ein kurzes, dafür eindringlich-gefühlvolles E-Gitarren-Solo zu bieten. Und über allem thront wieder einmal die souverän-bedeutsame Stimme von James McMurtry, die treffend-verständnisvolle Poesie wie "Manchmal senden wir eine Nachricht und hoffen, dass sie nicht ankommt" verbreitet.

    In dem Lied "Pinocchio In Vegas" ist die Märchenfigur auf sich allein gestellt. Sein Ziehvater Geppetto ist schon seit zwei Jahren tot und Pinocchio verspielt nun in Hinterzimmern von Las Vegas sein Erbe. Um an Geld zu kommen, verklagt er Walt Disney wegen nicht erfüllter Urheberrechte. Er bekommt weniger Entschädigung als er wollte, aber mehr als sie ihm ursprünglich geben wollten. Ein fauler Kompromiss, bei dem letztlich nur die Anwälte gut verdienen. Daraus leitet er ab, dass er lernen muss, "ein Arschloch zu sein, genau wie alle anderen". Das ist seine Strategie, um zu überleben, denn er ist jetzt ein richtiger Junge, der auf sich allein gestellt ist und sich nun durchsetzen muss. Wenn er lügt, wächst sein Penis, nicht mehr seine Nase. Ein ländlicher, virtuoser Bluegrass-Sound rahmt diese Tragik-Komödie einfallsreich ein.

    "Annie" führt uns noch einmal den immer noch unbegreiflichen Terror-Anschlag auf das World Trade Center am 9. November 2001 vor Augen und James blendet zwischendurch die damalige politische Lage mit ein. Der Song wird von Verzweiflung und Trauer getragen, versinkt aber nicht in Wehmut.

    Der titelgebende Song "The Black Dog And The Wandering Boy" ist ein schroffer, wuchtiger Folk-Rock mit Blues-Feeling. Die Geister und Traumata der Vergangenheit holen den Erzähler ein: "Der schwarze Hund und der umherirrende Junge kommen jede Nacht vorbei. [...] Der umherirrende Junge wird nie älter, der schwarze Hund beißt nicht. Sie sollten beide verschwinden, wenn ich meine Medikamente nehme. Aber das tun sie nicht. Irgendjemand lügt mich an." Bei diesen Ausführungen handelt es sich um die Halluzinationen von Larry McMurtry, der am Ende seines Lebens an Demenz litt. Oder es handelt sich um Psychosen: "In dem Raum unter der Treppe verbirgt sich etwas. Ich sage, ich habe Angst, aber diesen alten Leuten ist es einfach egal." Eine knarzig-raue Stimmung und das Leiden, welches durch den Blues-Einfluss eingestreut wird, sind die perfekten Zutaten zur akustischen Darstellung der lyrischen Aufarbeitungen.

    Coeur d’Alene ist zwar die größte Stadt im Norden des US-Bundesstaates Idaho, wenn man aber eine große Karriere anstrebt, muss man wohl in eine Metropolregion wechseln. So jedenfalls sieht es die Hauptfigur in "Back To Coeur d’Alene" und will sich zusammen mit den Freunden Carlton und Mikey auf den Weg machen, um Unterstützer für seine Projekte zu finden. Und wie es bei McMurtry üblich ist, führen seine Verse durch einen emotionalen Schlingerkurs. Der flotte Country-Folk wird von der spritzig-groovend auftrumpfenden Band mit erfrischendem Schwung vorgetragen.

    Früher ging das gesamte Erbe an den Erstgeborenen. Der zweite Sohn ging leer aus und musste oft sein Heil und Glück in der Ferne suchen. Nicht selten landete er beim Militär, einer Art "Ersatzfamilie". Dieses Schicksal der vom Geburtsrecht benachteiligten Personen greift "Sons Of The Second Sons" auf. McMurtry und seine Begleiter zaubern als Untermalung ein transparentes, von Country & Folk geprägtes Klangbild hervor, das Traditionen vereinnahmt, sich aber kein bisschen bieder anhört.

    Es geht bei "Sailing Away" um Selbstzweifel und die Befürchtung, dass das Haus verlassen ist, wenn man nach einer Weile des Unterwegs seins dahin zurückkehrt. Unsentimental, fernab von tränenreichem Jammern, stellt sich der Protagonist seinen Problemen und lässt bei seinen Überlegungen die Hoffnung nicht sterben. Der luftige, detailreiche Folk-Pop passt dazu wie ein Maßanzug. Nichts ist überflüssig und nichts fehlt.

    "Broken Freedom Song" ist ein Lied von Kris Kristofferson, das von Betrogenen und Enttäuschten handelt. Von einem Soldaten, der seinen Arm verloren hat, zum Trinker geworden ist und nun Angst davor hat, in diesem Zustand nach Hause zu kommen. Von einer Frau, die schwanger ist und auf den Kinds-Vater wartet, der sich aber nicht mehr für sie interessiert. Von Jesus Christus, der sich fragt, warum sein Vater ihn blutend und allein zurückgelassen hat. Jede Strophe schließt mit der bitteren Erkenntnis: "Niemand wird vermisst, bis man ihn braucht". McMurtry ist ein hervorragender Geschichtenerzähler, der es bestens versteht, seinen Liedern Tiefe und Unverfälschtheit zu verleihen. Hier schlüpfen die Musiker in ein Gewand aus beschwingten, sich im Hintergrund aufhaltenden Rhythmen und komplexen Folk-Mustern, die eine vielschichtige Gefühlsstruktur vermitteln.

    Der Texaner kann tolle Songs schreiben, eindrucksvoll singen und die jeweiligen Songfarben effektiv mit passenden Gitarrentönen abrunden. Aber eines kann er nicht: ein schlechtes Album herausbringen. Oder wie es der Schriftsteller Stephen King ausdrückt: "James McMurtry ist vielleicht der wahrhaftigste, wildeste Songwriter seiner Generation." Hinzu kommt, dass er seinen ländlichen und urbanen Texas-Sound kernig, aufrichtig und markant umsetzt. Die Sorgen, Nöte, Wünsche und Philosophien der arbeitenden Bevölkerung werden entsprechend lebensnah nachempfunden.

    "The Black Dog & The Wandering Boy" - sein vierzehntes Werk - reiht sich dabei ohne zu schwächeln in James McMurtrys makellose Diskografie ein und kann jedem Americana-Liebhaber wärmstens empfohlen werden.
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    More Pulp
    More (CD)
    Jul 8, 2025
    Sound:
    5 of 5
    Music:
    5 of 5

    Mehr Pop-Luxus, mehr Hyper-Sensibilität, mehr Reife, mehr Pulp.

    Betrachten wir "More" doch einmal so, als wäre die Platte nicht von Pulp, einer der bedeutendsten Bands der Brit-Pop-Ära der 1990er Jahre, sondern von einer aktuellen Gruppe der alternativen Pop-Szene. Also so, als ginge es um ein frisches Erstlingswerk und nicht um ein Comeback nach 24 Jahren. Wie passen die elf neuen Pulp-Schöpfungen denn nun ins Zeitgeschehen und welche Qualität und Relevanz weisen sie auf?
    Saftig, blumig, clever und empathisch-dramatisch zugleich tritt das Eröffnungs-Stück "Spike Island" in Erscheinung. Die Band baut in den kraftvoll konstruierten Track luftig-leichte Momente ein, bleibt rhythmisch straff und ist melodisch anspruchsvoll. Beim Refrain steigert sich Jarvis Cocker in leidenschaftlich leidende Bereiche hinein. Das lässt David Bowie im Jenseits vor Anerkennung mit der Zunge schnalzen. Denn es handelt sich bei "Spike Island" um einen Song, der in jeder Pop-Epoche groß rausgekommen wäre.

    "Tina" schwingt sich in Gefilde hinauf, in denen Romantik und Theatralik keine Schimpfworte sind, sondern einen Ausdruck für ganz besonders auffällige Gefühlswallungen bilden. Geigen leiten als Fremdenführer durch den Song. Mal klingen sie großzügig-versonnen, mal würdevoll-zupackend. Der Gesang hört sich sanft und flehend an. Er entführt bis an die Grenzen der Selbstaufgabe. Wer erinnert sich noch an "Sebastian" von Steve Harley & Cockney Rebel? Dieses außergewöhnliche, gesanglich übersteigerte Niveau liegt auch hier vor. "Tina" handelt von einer unerfüllten Liebe, die aufgrund der Schüchternheit des Protagonisten nicht zustande kommen konnte. Dieser hat seine Angebetete minutiös studiert und seine Träume und Wünsche auf sie projiziert, ohne ihr jemals wirklich nahegekommen zu sein.

    Es ist ein merkwürdiges Phänomen, dass wir uns mit dem wirklichen Alter oft nicht arrangieren können. Sind wir jung, möchten wir reif wirken, um anerkannt zu werden. Sind wir alt, tun wir alles, um jugendlichen Glanz auszustrahlen. Laut Jarvis vergisst man im fortgeschrittenen Alter aber, wie es ist, jung und unbeholfen zu sein. "Grown Ups" läuft mit einem unnachgiebigen Gleichmut ab. Man kann auch sagen, der Rhythmus hat die Sturheit für sich gepachtet. Durch harte Gitarren-Riffs wird zu allem Überfluss noch ein erbarmungsloser, militärischer Marsch-Takt heraufbeschworen, welcher für Strenge sorgt. Der flehentlich-impulsive Refrain wirkt dann wie eine Befreiung aus diesem übergriffigen Korsett. Die ausführliche, kompetent recherchierte Erzählung gemahnt an die sich durch ihre detailgenaue Beobachtungsgabe auszeichnende Komponierkunst von Ray Davies (The Kinks).

    "Wenn die Liebe langsam erkaltet, vergeht sie irgendwann fast vollständig." Cocker spricht in diesem Fall von einem langsamen Tod, den die Liebe stirbt. Man kann diesen Zustand einfach ignorieren oder aus den Gewohnheiten ausbrechen und etwas Neues anstreben. Cocker macht aus der Sozialstudie "Slow Jam" eine Ballade mit Funk-Injektionen, wie sie auch David Sylvian ersonnen haben könnte. Zärtlichkeit und manipulative Überzeugungskraft fließen in die üppigen Arrangements ein und lassen das Lied andächtig-hypnotisch gedeihen.

    Frank Sinatra, Nick Cave, Dennis Wilson und Scott Walker haben bei "Formers Market" ihre innovativen, weit- und tief blickenden Spuren hinterlassen. Trotz schlechter Voraussetzungen, denn das Stück benötigt nicht einmal eine durchgängig vereinnahmende Melodie, um aufzufallen. Es kann alleine aufgrund seiner dynamisch verschränkten Dramatik überzeugen. Selbst der relativ lange Spoken-Word-Teil passt als philosophisches Zwischenspiel ins unkonventionelle Geschehen. Lyrisch gibt es den Versuch, zu erklären, jemand fernab der Logik eine ungeheure Faszination auf einen anderen Menschen ausüben kann. Es ist die Macht der Gefühle, die so etwas bewerkstelligt: "Nichts als dieses Gefühl. Ganz unten an der Basis meiner Wirbelsäule. Das hat überhaupt nichts mit meinem Verstand zu tun."

    Für "My Sex" gebärdet sich Jarvis Cocker wie ein von Testosteron gelenkter Jungspund und klingt dabei punktuell seltsamerweise wie ein Abziehbild eines aufdringlich-schmierigen Autoverkäufers. Die Schlüpfrigkeit bleibt dabei unter der Bettdecke, auch wenn erotische Geräusche offensiv dargestellt werden. Plumpe, frivole Darstellungen sind zum Glück nicht das Metier von Jarvis Cocker. "My Sex" ist kein freizügiges "Je t`aime...Moi non plus" (von Serge Gainsbourg & Jane Birkin), sondern eher ein theoretisches "Non-Stop Erotic Cabaret" (Soft Cell). "Mein Geschlecht ist weder hier noch dort. Ist weder er noch sie. Es ist eine außerkörperliche Erfahrung. Mein Geschlecht ergibt keinen Sinn."

    Das Feuer des Flamencos lodert in "Got To Have Love". Der Track läuft auf einem hohen Energielevel ab und bewegt sich schnurstracks auf einen Siedepunkt zu, sodass die Atmosphäre zu bersten droht. Der Song lebt diesen Höhepunkt aus und kommt anschließend zur Ruhe. Parallel gibt es radikal schonungslose Aussagen: "Ohne Liebe machst du dich nur lächerlich. Ohne Liebe wichst du nur in jemand anderen."

    Genau wie in "Slow Jam" geht es auch bei "Background Noise" um Liebe, die sich allmählich verflüchtigt: "Liebe wird zum Hintergrundgeräusch. Wie dieses Klingeln in meinen Ohren. Wie das Brummen eines Kühlschranks. Du merkst es erst, wenn es verschwindet." Das Hintergrundgeräusch dieses Liedes besteht aus einem hell singenden Ton, der an die Rückkopplung einer E-Gitarre erinnert. Das Stück ruht sich auf den Errungenschaften seiner "More"-Vorgänger aus, sammelt allerlei Pop-Zitate ein und beruht auf den Zutaten eines klassischen Pop-Songs: ein langgezogener Spannungsaufbau, zu Herzen gehender Gesang und ein Ohrwurm vermittelnder Refrain.

    "Partial Eclipse" überzeugt durch einfühlsame, federleichte Melancholie, gepaart mit einem überlegenen Coolness-Faktor: "Das Outro soll sich anfühlen, als würde man den Planeten verlassen und in den Weltraum schweben." Bewusst oder unbewusst hat sich Jarvis Cocker gesanglich von "Life On Mars?" von David Bowie anregen lassen. Diese Auffassung entsteht, da er seine Stimme "partiell" in einen kurzen Ruhemodus sinken lässt, wie es auch Bowie gerne zur Steigerung des Interesses getan hat.

    Das epische "Hymn Of The North" wurde ursprünglich für das Drama "Light Falls" von Simon Stephens verfasst. Cocker schrieb den Song, als sein Sohn etwa 16 Jahre alt war und ihm wurde auf einmal schlagartig klar, dass er bald sein Heim verlassen würde, was ihn erschrecken ließ. Womöglich taucht deshalb im Text die Zeile "Ich weiß, du musst gehen. Ich will nicht, dass du gehst" auf. Das Lied weckt noch einmal ganz große Gefühle: Einsamkeit, Sehnsucht, Zuversicht und liebevolles Verlangen. Wie in einer umfangreichen Biografie üblich, steckt das Stück voller Höhe- und Tief-Punkte. Es bildet also das ganz normale Leben in all seiner Vielfalt reichhaltig und stimmungsvoll ab.

    Brian Eno hat EarthPercent, eine Klimastiftung der Musikindustrie ins Leben gerufen: "EarthPercent lädt Künstler und die Musikindustrie im Allgemeinen dazu ein, einen kleinen Prozentsatz ihrer Einnahmen zu spenden und so durch Organisationen, die sich wirksam mit der Klima- und Naturkrise befassen, Veränderungen herbeizuführen." Eno fragte Jarvis Cocker, ob er dieses Projekt nicht tatkräftig unterstützen könne und Cocker trug eine Power-Point-Präsentation mit dem Namen "Biophobie" bei, an dessen Ende er "A Sunset" singt. Die Musik stammt von Richard Hawley und der Chor setzt sich aus Mitgliedern der Familie von Brian Eno zusammen. Für "A Sunset" besinnt sich Jarvis auf einen organisch wachsenden Aufbau, der von folkig-pur bis beschwingt-lebhaft reicht.

    "This Is Hardcore" (1998) und "We Love Life" (2001) von Pulp sowie die Arbeiten von Jarvis Cocker (vor allem "Room 29" (2017) mit Chilly Gonzales) zählen zu Sternstunden des britischen Art-Pop. Augenzwinkernd und mit einem feinfühligen Sinn für Opulenz und Pop-Intimität haben diese Platten ihre Qualitäten konservieren können - wie guter Wein wurden sie im Laufe der Zeit noch wichtiger und intensiver. Diese Prädikate sind entscheidend, denn "das Leben ist zu kurz, um schlechten Wein zu trinken". So stand es jedenfalls auf einem Kissen im Haus von Jarvis Cockers Mutter.

    Mit ihrem nach der 2023er-Reunion nicht ganz aus heiterem Himmel gefallenen Veröffentlichungs-Comeback "More" beweisen Pulp wiederum, dass sie in der Lage sind, zeitlos interessante Musik zu produzieren. Wären sie eine Newcomer-Band, würde man sie für "More" frenetisch feiern. Ist "More" also ein Anwärter für die Platte des Jahres 2025? Durchaus möglich! Jedenfalls verdient es das Werk unbedingt, dass man positiv darauf aufmerksam macht. Was hiermit geschehen ist.
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    One comment
    Brighton58
    Jul 12, 2025

    Hut ab ...

    ... LittleWalter, eine so großartige wie kenntnisreiche Besprechung - mehr als jede Rezension in einschlägigen Magazinen haben mich Ihre Zeilen dazu motiviert, das neue Pulp-Album auf meine Muss-ich-haben-Liste zu nehmen. Vielen Dank dafür.
    Still Shakin' North Mississippi Allstars
    Still Shakin' (CD)
    Jul 8, 2025
    Sound:
    5 of 5
    Music:
    4 of 5

    Der Apfel fällt nicht weit vom Stamm.

    Jim Dickinson ist eine Legende. Als Musiker und Produzent war er für etliche besondere, nachhaltig einschneidende Momente in der Pop-Geschichte verantwortlich: Er spielte auf wegweisenden Alben von Künstlern wie Ry Cooder (u.a. "Into The Purple Valley", 1971 oder "Boomer`s Story", 1972), The Rolling Stones ("Sticky Fingers", 1971) oder Aretha Franklin ("Spirit In The Dark", 1970) Keyboards und sorgte mit seinem herausstechend geerdetem Produktionsstil bei zum Beispiel "Third" (1978) von Big Star, "Pleased To Meet Me" (1987) von The Replacements oder "The Killer Inside Me" (1987) von Green On Red für verblüffende Gänsehautmomente.

    Außerdem setzte er mit der Session-Band Dixie Flyers Maßstäbe hinsichtlich der urig-gefühlvollen Begleitung von Künstlern wie Bettye LaVette, Delaney & Bonnie oder Jerry Jeff Walker. Mit Mudboy & The Neutrons und als Mitglied der prominent besetzten Raisins In The Sun erschuf er aufsehenerregende Werke der alternativen Roots-Music. Nicht zu vergessen seine Solo-Platten, die er in großen Abständen seit den frühen 1970er Jahren veröffentlichte und die allesamt als unkonventionelle Sammlerobjekte gelten. James Luther "Jim" Dickinson starb 2009 im Alter von 67 Jahren. Er hinterlässt seine Söhne Cody und Luther, die 1996 die Jam-Band North Mississippi Allstars gründeten. Bei der erblichen "Vorbelastung" und dem ständigen Umgang mit einflussreichen Künstlern, die im Umfeld der Familie wohnten oder Kontakt zum Vater hatten, wäre es auch verwunderlich gewesen, wenn Cody (Schlagzeug, Gesang) & Luther (Gitarre, Keyboards, Gesang) nicht Musiker geworden wären.

    Mit "Still Shakin`" bringen die Dickinsons am 06.06.2025 ihr zwölftes Album heraus, das sich an ihrem Erstlingswerk "Shake Hands With Shorty" aus 2000 orientiert. Aber lassen wir zum Zustandekommen von "Still Shakin`" doch jemanden zu Wort kommen, der die Details kennen muss, nämlich Luther Dickinson: ""Still Shakin’" ist eine Feier unseres lebensverändernden ersten Albums "Shake Hands With Shorty", das wir vor 25 Jahren veröffentlicht haben, und ein Liebesbrief der Wertschätzung an alle, die uns unterstützten und uns all die Jahre im Spiel hielten. [...] Anstatt uns auf das alte Material zu konzentrieren, haben wir uns entschieden, neue Musik im Geiste unseres Debüts aufzunehmen.

    Mein Bruder Cody und ich gründeten die Allstars 1996 als loses Kollektiv von Musikern in North Mississippi. Wir wurden von unserem Vater Jim Dickinson sowie von unseren Nachbarn und musikalischen Ahnen inspiriert: R.L. Burnside, Junior Kimbrough, Otha Turner und Fred McDowell. [...] Unsere Alben waren schon immer mehr eine Momentaufnahme davon, wer wir sind, als ein Hinweis darauf, wohin wir gehen. Die Musiker im aktuellen Allstars-Lineup dienten als Motivation, "Still Shakin`" in der vorliegenden Form aufzunehmen. [...].

    Im Laufe der Jahre haben wir gelernt, dass je härter wir im Studio arbeiten und je mehr Do-It-Yourself-Anteile eine Platte enthält, umso besser fühlt sie sich an und umso besser fängt sie das Gefühl ein, welches wir auf der Bühne erzeugen. Also nehmen wir gerne lange und locker auf und fangen schnell und schmerzlos Inspirationen und rohe Aufnahmen ein, dann polieren wir sie ein wenig und stellen sie fertig. Und wir lassen unsere aktuellen Experimente, Erkundungen, Obsessionen und Einflüsse natürlich in die Musik auf "Still Shakin'" einfließen. Wir steckten zum Beispiel akustische Instrumente in selbstgemachte Röhrenverstärker, die wir dann direkt mit dem Mischpult verbunden haben, was einige erstaunlich flauschige, funkige Gitarrentexturen schuf. [...]."

    Die elf neuen Songs der "Allstars" decken ein weites Stil-Spektrum ab. Waren auf den Alben "Shake Hands With Shorty" und "Hernando" aus 2008 noch strammer Southern-Rock vorherrschend - der eine ernstzunehmende Konkurrenz zu ZZ Top darstellte - so gibt es aktuell keine eindeutig herausgestellten Vorlieben. Es zählt vielmehr eine ausschweifende Fusions-Sicht vor, bei der die Gäste ihre jeweiligen Talente ungefiltert einbringen dürfen.

    Im Original stammt "Preachin’ Blues" vom Sagen umwitterten Folk-Blueser Robert Johnson aus dem Jahr 1936. Aus der puren, nur zur akustischen Gitarre vorgetragenen Fassung gestalten die Dickinson-Brüder und ihre Freunde eine spritzig-aufgekratzte Funk-Party-Nummer, die von der E-Gitarre von Joey Williams und der Pedal-Steel-Gitarre von Rayfield "Ray Ray" Holloman ekstatisch befeuert wird. Ab und zu verwendet Luther Dickinson hohe Stimmlagen. Das hört sich dann wie eine Hommage an Bob Hite, dem Sänger von Canned Heat, an.

    Die Komposition "Stay All Night" beruht auf Elementen des Junior Kimbrough-Songs und der Tommy Duncan und Robert James "Bob" Wills-Komposition "Stay A Little Longer". Das Stück wagt sich in psychedelische Gefilde vor, wie sie zu Zeiten des Westcoast-Sounds der Endsechziger Jahre erzeugt wurden. Es verbreitet mithilfe des Junior-Kimbrough-Sohnes Robert und des Blind Boys Of Alabama-Gitarristen Joey Williamsan an den Gitarren, sowie Jojo Hermann an der Hammond-B3-Orgel auf beinahe telepathisch verbundene Weise rauschhafte Tonkaskaden.

    Der Trance-Blues "My Mind Is Ramblin’" ist ein weiteres von David "Junior" Kimbrough verfasstes Lied, welches unter anderem auch im Repertoire von The Black Keys zu finden ist. Durch die Duett-Stimmen von Sharisse und Shontelle Norman erhält der Track zunächst eine Pop-Färbung, bevor er durch allerlei flirrende Keyboard- und Gitarrenarbeit in seltsam-sphärische Regionen abhebt.

    "Pray For Peace" ist ein leidenschaftlicher Gospel-Rocker, der vom Gospel inspirierten Harmonie-Gesang und einmal mehr von der schweißtreibenden, elektrisch verstärkten Gitarre von Joey Williams angetrieben und veredelt wird. Die Botschaft des Liedes ist eindeutig: "Die Unschuld und Liebe auf den Gesichtern unserer Kinder lässt mich wissen, dass Ignoranz und Hass ausgelöscht werden."

    Mit "K.C. Jones (Part II)" hat es eine besondere Bewandtnis: The Grateful Dead haben 1970 für ihr Country-Folk-Album "Workingman`s Dead" den Titel "Casey Jones" aufgenommen, der wiederum vom Blues-Musiker Walter “Furry” Lewis stammt. Zum Freundeskreis der North Mississippi Allstars gehört der Bassist Grahame Lesh. Er ist der Sohn des Bassisten Phil Lesh, einem Gründungsmitglied von The Grateful Dead, der im Oktober 2024 verstarb. Ihm ist "Still Shakin`" gewidmet. "K.C. Jones (Part II)" bewegt sich würdevoll und anerkennend im gleichen Fahrwasser wie die coole Grateful Dead-Version von "Casey Jones". Und auf dem Referenzwerk "Shake Hands With Shorty" gibt es ein ähnlich gelagertes Lied mit dem Titel "K.C. Jones (On The Road Again)" - deshalb gibt es bei dieser Komposition den Zusatz "Part II".

    Der Song "Still Shakin'" ist ein ausgeklügeltes, von karibischer Leichtigkeit durchtränktes, rhythmisch sumpfig getaktetes Groove-Monster. Durch die seelenvoll-liebreizend agierenden Chor-Ladies bekommt das Stück eine lustvolle Komponente verliehen. Die Hip-Hop-Einlagen sorgen für überraschende Brüche, welche die Sängerinnen gerne und wohlwollend aufgreifen, um dem Track zu ästhetisch-verlockenden Höhenflügen zu verhelfen. Am Ende des Liedes wird ein beschwingt singendes E-Gitarren-Solo von Duwayne Burnside angedeutet, das leider unvollendet bleibt. Augenzwinkernd werden im Verlauf stets effektive Ohrwurmqualitäten hervorgerufen. Scharfsinnig und erregend!

    Der dreckige Garagen-Blues "Poor Boy" wurde von dem Hypno-Blues-Mann R.L. Burnside, einem erklärten Helden der Dickinson-Brüder, im Jahr 1996 verfasst und sein Sohn Duwayne Burnside brilliert in dieser Funk-Fusion-Version erneut an der E-Gitarre. Die beteiligten Musiker wagen einen Mix aus deftigem Funk und Klänge, die die Sinne vernebeln. Sie werden hintereinander eingefügt, was reibungslos funktioniert und verheißungsvoll anzuhören ist.

    Für "Don’t Let The Devil Ride" packt Joey Williams nicht nur seine Gitarre aus, sondern er hat den Titel auch arrangiert. Allerdings fungiert der Song lediglich als konventionelle, gemütliche Blues-Nummer, die zum Mitwippen anregt. Einen Innovationsanspruch darf man nicht erwarten.

    Den akustischen Slide-Gitarren-Blues "Write Me A Few Lines" von Mississippi Fred McDowell aus 1964 gibt es in der North Mississippi Allstars-Fassung nur auf der CD-Ausgabe und als Download von "Still Shakin`" zu hören, nicht aber auf dem Vinyl. Der frisch interpretierte Song surft auf einer eleganten, mühelos swingenden Groove-Welle. Dadurch erinnert er vor allem an Little Feat oder an die Grateful Dead von "Shakedown Street" aus 1978.

    Der traditionelle Folk-Blues "John Henry", der von Furry Lewis geschrieben wurde, erfährt auf "Still Shakin`" eine ehrfürchtige Auferstehung als akustischer Country-Folk. Dieser ist allerdings mit fast viereinhalb Minuten etwas zu lang geraten, sodass die Spannung im Verlauf der Darbietung allmählich nachlässt.

    "John Henry" geht nahtlos in "Monomyth (Folk Hero’s Last Ride)" über. Die singend-weinende Gitarre trägt hawaiianische Züge. Das Umfeld spielt sich in einem vom Piano getragenen Minimal-Art-Rahmen ab und endet mit einer im Zaum gehaltenen E-Gitarren-Verzerrung. "Es war nicht geplant, aber eines Morgens wachte ich auf und erkannte, dass es der 15. Jahrestag des Todes unseres Vaters war. Das inspirierte mich, das Instrumental "Monomyth (Folk Hero’s Last Ride)" auf seinem "Baby-Flügel" aufzunehmen", erzählt Luther Dickinson über die Inspiration zu seinem Stück.

    Die Musik der North Mississippi Allstars ist überwiegend körperbetont. Der Begriff "Shake!" als Aufforderung, sich dazu zu bewegen, taucht regelmäßig in den Titeln auf. "Still Shakin`" geht allerdings differenziert hinsichtlich der Tanz-Animation vor. Vorpreschender, massiver Funk oder Rock stehen nicht im Vordergrund, eine subtil abgestufte, belebende Spielart ist dagegen allgegenwärtig. Das hat (bis auf "Don’t Let The Devil Ride") nichts mit zahnlos-angepassten Umsetzungen zu tun, sondern ist häufig Ausdruck von Erfahrung und Cleverness. Die Glut schwelt unter der Oberfläche und behält deshalb länger ihre anziehend-aufreizende Wirkung.

    Je nach Erwartungshaltung - ausgehend davon, ob man ein abwechslungsreiches Repertoire oder die druckvoll-harte Allstars-Variante bevorzugt - wird man "Still Shakin`" eher im oberen oder mittleren Bereich der interessantesten North Mississippi Allstars-Werke einsortieren. Die Platte demonstriert auf jeden Fall eine unbeugsame Haltung und die Fähigkeit zur Veränderung. Das zeigt nicht nur originelles Potenzial für die Zukunft auf, sondern beweist hinsichtlich des kreativen Talents der Dickinson-Brüder auch, dass der Apfel nicht weit vom Stamm fällt.
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    Get Sunk Matt Berninger
    Get Sunk (CD)
    Jul 8, 2025
    Sound:
    4 of 5
    Music:
    4 of 5

    Diese verführerische Stimme!

    Matt Berninger ist der Sänger und Komponist von The National. Und was als Erstes auffällt, berührt und für Aufmerksamkeit sorgt, wenn man deren Musik hört, ist seine Stimme. Die vertraut erscheinenden, einfühlsam-entspannten, zufrieden brummenden Bariton-Schwingungen erzeugen eine hypnotische Aura, die die Sinne auf sie ziehen und die Empfindungen betören. Matt Berninger wird dank seiner gesanglichen Fähigkeiten zum unwiderstehlichen Verführer.

    Matthew Donald "Matt" Berninger wurde am 13. Februar 1971 in Cincinnati im US-Bundesstaat Ohio geboren. Er studierte Anfang der 1990er Jahre zunächst Grafikdesign, arbeitete danach in der Werbung, bevor er 1999 in New York The National gründete. Deren Mischung aus originellen Americana-Spielarten, ruppigem Rock und opulentem Pop fand schnell eine breite Hörerschaft und wurde im Laufe der Jahre stets verfeinert und abgerundet. Neben dem alternativen Pop-Duo-Projekt EL VY, das er zusammen mit Brent Knopf (von Ramona Falls und Menomena) betreibt, verfolgt er seit dem Jahr 2020 auch eine Solo-Karriere, die er mit dem Album "Serpentine Prison" begann. The National bestanden parallel weiter und jetzt liegt mit "Get Sunk" der zweite Alleingang vor, der am 30. Mai 2025 der Öffentlichkeit präsentiert wird. Matt Berninger fühlt sich abermals dem gehaltvollen Song verpflichtet. Er räumt aber auch der anspruchsvollen Poesie einen maßgeblichen Platz ein, die nicht selten von seinen inneren Konflikten gespeist wird ("Unsere Herzen sind wie alte Brunnen, die mit Cents und Würmern gefüllt sind.")

    Die flirrend-schwingende, Echo-artige Gitarrenarbeit für "Inland Ocean" weckt Erinnerungen an schwindelerregende psychedelische Zustände, wie sie ähnlich bei "How Soon Is Now" von The Smiths vorkommen. Die Komposition dreht sich im Kreis, tanzt wie in Trance, windet sich spiralförmig und lässt dabei sinnlich-liebevolle Gefühle gedeihen. Der Track klingt hin und wieder wie ein gar nicht mal so weit entfernter Verwandter von David Bowies "Heroes". Berninger bekommt gelegentlich zärtliche Hintergrund-Gesangs-Unterstützung von Julia Laws, was ihn in die Lage versetzt, seiner Stimme durch diese Überlagerung weitere Nuancen hinzuzufügen.

    Das bei "Inland Ocean" gehörte Prinzip der halluzinogenen Verfremdung funktioniert unter ähnlichen Bedingungen, aber noch energiegeladener auch bei "Bonnet Of Pins". Dieses Stück setzt auf die leidenschaftliche Wirkung von engagiertem Gesang, aufhellend-energischen, teils schäumenden E-Gitarren-Wirbeln, einem stoischen Schlagzeug-Takt und hymnischen Trompeten-Beigaben. Der Sound von "The War On Drugs" um Adam Granduciel funktioniert übrigens mit sich gleichenden Zutaten.

    Durch den nervös-hektischen Rhythmus lässt sich Matt bei "No Love" nicht aus der Ruhe, Konzentration und Besinnung bringen. Es scheint, die Welt könnte neben, hinter und vor ihm zusammenbrechen, das alles würde ihn nicht von dem Ziel abbringen, dieses gefühlvoll-beseelte Lied aufrecht und erhobenen Hauptes zu Ende zu singen. Er blendet die Welt um sich herum total aus. Vielleicht ist diese aber auch schon für ihn zusammengebrochen, die Liebe ist nicht mehr zu retten und seine Stimme übernimmt quasi das Pfeifen im Walde, um böse Geister oder Gedanken zu verscheuchen: "Dieser Ort vermittelt ein Gefühl der Bedrückung. Die Energie ist so seltsam."

    Gab es eben für "No Love" noch lebendigen rhythmischen Beistand, so begleiten "Frozen Oranges" weltabgewandte Klänge, bei denen das Schlagzeug zu zaghaft agiert, um aufmunternd gegensteuern zu können. Bei diesem Lied werden beinahe nebensächliche Tätigkeiten und Beobachtungen in einen Prozess der Reife und Läuterung überführt. Der Erzählstil ist meistens entspannt, manchmal auch bekehrend-eifrig. Die den Text umgebenen Töne verhalten sich versöhnlich-zugänglich, entbehren aber auch nicht einer inneren Spannung, die durch würzig abgeschmeckte Folk-Jazz- und rumpelnde Break-Beat-Töne attraktiv gestaltet werden.

    Der gelassen-intime, galant-köstliche Country-Folk von "Breaking Into Acting" hat seine eigenen, um Ernsthaftigkeit bemühten, jedoch unterschwellig erotisch knisternden Gram Parsons & Emmylou Harris-Duett-Momente. Meg Duffy alias Hand Habits findet als Stimm-Partnerin eine emotionale Ebene, die die Luft zum Vibrieren bringt, indem sie den Track dezent lasziv und fürsorglich auflädt. Eigentlich geht es in dem Lied darum, dass sich Matt auf der Bühne wie ein Schauspieler fühlt und dass es seltsam ist, dieses Gefühl zwischen Show und Privatleben ständig an- und auszuschalten.

    Für "Nowhere Special" kehrt der The-National-Sänger seine warmen Klangfarben überwiegend in einen eiligen, ausführlichen Monolog mit knurriger Stimme um, welcher unruhig die engagierte Poesie vorträgt, die sich oft wie spontan ersonnen anhört. Allerdings geht die Übermittlung der sich sprunghaft verändernden Inhalte zu schnell, um tiefgreifende Anteilnahme zu erzeugen. Aufgrund der sonoren Stimme wird das Umfeld dennoch neugierig darauf gemacht, ob es wohl noch eine unerwartete melodische Stärkung gibt. Die bleibt allerdings aus und so endet das kleine Poetry-Slam-Abenteuer musikalisch relativ unbefriedigend.

    Stück für Stück verändert sich alles, es geht manches verloren oder gerät in Vergessenheit ("Nach und nach verlierst du das Interesse an bestimmten Gewohnheiten. Schrittweise gehst du aufs Grab zu"). Diese schmerzhafte Seite des Daseins beleuchtet "Little By Little". Das Stück verfügt über eine anpassungsfähig-leichtgängige Country-Folk-Struktur, die auf einer weit ausgebreiteten, einladenden Melodie fußt. Der Refrain wird hinsichtlich der Dringlichkeit des Themas oft wiederholt, was zu einer erhöhten Eingängigkeit, aber auch zu einer gewissen Übersättigung führt.

    Die Schilderung von totaler Hingabe und unendlichem Vertrauen zeichnet die Lyrik von "Junk" aus. Dahinter steckt ein Pop-Song, der sich als unspektakulärer Ausflug tarnt. Er legt jedoch ganz unauffällig listige Fallen aus, die ihn zum Ohrwurm werden lassen.

    Bei der vollmundig arrangierten, schwelgerischen, nach Tränen schmeckenden Ballade "Silver Jeep" fungiert Julia Laws alias Ronboy ein weiteres Mal als Gesangs-Partnerin, wobei sie hier die Rolle der vermeintlichen Fremdgängerin übernimmt ("Ich wollte nicht, dass du denkst, ich wüsste überhaupt etwas. Über das Gerücht, dass dich jemand gesehen hat. Irgendwo mitten im Nirgendwo in einem silbernen Jeep").

    "Times Of Difficulty" ist zugleich Schlusspunkt und Essenz des Albums. Der Song strahlt Reife und Ruhe aus, ist von überlegener Geschlossenheit und zeugt von hoher Empathiefähigkeit. In schwierigen Zeiten (wie diese) bewegt sich der seelische Zustand irgendwo zwischen Kapitulation und erwachendem Kampfgeist. Das ist Matt Berninger bewusst und er vermittelt entsprechend Mitgefühl und ermutigt. Ein starkes Statement gegen die Anpassung an den bestehenden Zustand! Der Albumtitel "Get Sunk" materialisiert sich hier als Metapher für Befinden, nicht tot zu sein, aber sich in einer ausweglos erscheinenden Situation zu befinden. Der Künstler stellt die Frage, wie wir in schwierigen Zeiten unsere Verfassung realistisch beurteilen können.

    Gegenüber dem Vorgänger "Serpentine Prison" zeigt "Get Sunk" keine umwälzende stilistische Weiterentwicklung, sondern eine konsequente Stagnation und Beharrlichkeit, um weiterhin nach eigenen Maßstäben eine souveräne Qualität abliefern zu können. Auch wenn "Get Sunk" nicht ganz so flüssig durchläuft wie "Serpentine Prison", so kann man Matt Berninger auf jeden Fall bescheinigen, dass er sich gewissenhaft auf die Suche nach wertbeständigen Elementen für seine erwachsene Pop-Musik begibt und die Ergebnisse kultiviert in seine Lieder einbaut.

    Manche Ideen von "Serpentine Prison" finden ihre logische Entsprechung auf "Get Sunk". Nicht als zweiter Teil, sondern als Ergänzung der erlebten und vertonten Signale und Emotionen: Für "Silver Springs" (von "Serpentine Prison") und "Breaking Into Acting" (von "Get Sunk") gibt es weibliche Verstärkung beim Gesang, der die Lieder auf eine prickelnd-abtastende Kommunikations-Ebene hebt. "All For Nothing" (von "Serpentine Prison") und "Little By Little" (von "Get Sunk") stellen die Dringlichkeit ihrer Aussagen in offensiv herausgestellten Refrains dar. "One More Second" (von "Serpentine Prison") und "Times Of Difficulty" (von "Get Sunk") können als herausragend intelligent auskomponierte Referenz-Stücke angesehen werden, die zukunftsweisend sind.

    Die Ausbeute an neuen Liedern, die wahrscheinlich dem Zahn der Zeit trotzen werden, ist jedenfalls hoch. Und dann ist da ja noch diese verführerische Stimme, deren charmante Umarmung man unbedingt widerstandslos genießen sollte.
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    May 5, 2025
    Sound:
    4 of 5
    Music:
    4 of 5

    Liebe, Freundschaft, Zuverlässigkeit: Die Verbündeten von Lucius feiern ihre 18 Jahre lange Zuneigung zueinander.

    Nein, sie wollen nicht beißen - wie das Cover-Motiv andeutet -, sondern nur spielen. Ein Gerücht besagt, dass man auf dem Cover-Foto das schiefe Gebiss von Lucius, der englischen Bulldogge von Jess Wolfe sieht. Das unangepasste Aussehen und das unbeholfene Verhalten des Hundes sollen zur Namensgebung inspiriert haben. Auch wenn aus der Symbolik der gefletschten Zähne eigentlich Aggressivität oder Wut abgeleitet werden könnte, so hat der Name Lucius lateinische Wurzeln und bedeutet "Licht". Das ist eine Umschreibung, die schon eher mit dem Sound des Quartetts Lucius in Verbindung gebracht werden kann. Denn auch die dunkleren Klangfarben und Texte beinhalten die Aussicht auf ein wegweisendes Licht am Ende des Tunnels.

    Es gibt eine enge Verbindung zwischen den handelnden Personen bei Lucius: Die Sängerinnen Holly Laessig und Jess Wolfe sehen aus wie Zwillinge. Sie sind aber "nur" langjährige Freundinnen, deren Duett-Gesang so verbunden, optimal abgestimmt und harmonisch ineinander verschlungen ist, als wären sie seelenverwandte Verbündete. Ihnen zur Seite stehen die Multiinstrumentalisten Dan Molad (hauptsächlich zuständig für Schlagzeug und Produktion) und Pete Lalish (hauptsächlich als Gitarrist tätig), mit denen sie freundschaftlich und/oder partnerschaftlich verbunden sind oder waren. Sie bilden eine Patchwork-Beziehungsebene, die bisher alle Wechselfälle des Lebens überstanden hat.

    Lucius wurde 2007 in Brooklyn (New York) gegründet und hat sich im Laufe der Jahre einen hervorragenden Ruf als interessanter Konzert-Act und als Gesangsverstärkung für etliche Künstler erspielt. Mit "Lucius" erscheint am 2. Mai 2025 ihr fünftes Album, auf dem trotz der positiven musikalischen Grundstimmung einige Schicksalsschläge verarbeitet werden.

    So könnte "Final Days" eine Hommage an die Mutter von Pete Lalish sein, die an Parkinson starb: "Ich hoffe, du hörst den Ruf des Himmels. Ich hoffe, sie lassen dich herein." Diese Gedankenwelt wird jedoch von einem parallelen Ereignis, dem Fällen eines alten Baumes im Garten von Holly Laessig begleitet: "Wir lieben es immer, mit Dualität und Doppelbedeutungen zu spielen und einfache oder scheinbar naive Dinge, wie den Abschied von einem Baum, zu nehmen und im gleichen Atemzug die Tiefe und Kraft von Liebe und Verlust zu spüren." Der Song ist anfangs entspannt, warmherzig und zuvorkommend gestimmt. Das sind Empfindungen, welche als Assoziationen für die Mutter-Sohn- oder Mensch-Baum-Beziehung herangezogen werden können. Kaum merklich wird die Vehemenz, die Lautstärke und das Verdichtungspotenzial der Instrumente bis zum reißerischen Höhepunkt gesteigert. Daran spiegelt sich womöglich die Angst, Wut und Hilflosigkeit, die der jeweilige Verlust mit sich gebracht hat. Im Anschluss beginnt die Aufbauarbeit, die von einer melancholischen Ballade zu einem heftig lärmenden Power-Pop reicht. Hinsichtlich der Dynamikverschiebungen nutzt das Stück dadurch eine enorme Bandbreite aus. Das Lied ist also bestens zur Unterstützung von Tätigkeiten geeignet, die eine besonnene Einkehr und einen zusätzlichen Adrenalinschub vertragen. Wer jemals tiefe Reue empfunden hat, weiß, wie anhaltend und heftig sie schmerzen kann. Das ist auch ein inhaltlicher Aspekt der Trauer, der die gemischten Gefühle, die musikalisch glaubhaft ausgedrückt werden, erklärt: "Ich hoffe, ich habe dich nicht im Stich gelassen, denn es ist zu spät, etwas zu ändern."
    "Gold Rush" rockt und groovt so leidenschaftlich, dass es eine wahre Freude ist, dabei zuzuhören. Auch wenn sich textlich einiges um nicht miteinander zu vereinbarende Gegensätze dreht, so gibt es musikalisch keine Zweifel: Dieser Song ist ein Hit, der eigentlich ständig im Radio laufen sollte, um den Menschen Energie zu spenden.

    "Rumours" von Fleetwood Mac und "Bryndle" von Bryndle sind schillernde, intim-harmonische, über jeden Zweifel erhabene Pop-Platten. Das auf einem knackigen Rhythmus basierende und mit aufmunternd-spritzigen Gitarren-Akkorden aufgeladene, bedingungslose Liebe propagierende "Do It All For You", das innig-religiös inszenierte "Mad Love", und das melodisch ausladende sowie das über weite Strecken in sich gekehrte Trennungs-Drama "Borderline" hätten sich auf beiden Alben bestens in die entsprechenden Konzepte eingefügt, weil sie klug durchdacht und gleichzeitig eingängig umgesetzt sind.

    Bei "Stranger Danger" werden Effekte eingebaut, die scheinbar elektronisch erzeugt wurden, auch wenn die Besetzungsliste diese These nicht bestätigt. Auf jeden Fall hinterlassen diese fremdartigen Töne einen organisch angepassten Eindruck. Der Track scheint dadurch zu atmen oder sich kurz aufzublähen. Dieses Phänomen spielt sich im ersten Teil des Stückes ab, das balladeske Seiten anstimmt, nach entspanntem Country-Folk klingt und zusätzlich noch eine sphärische, nach innen gekehrte Spur legt. Im zweiten, überraschend angepflanzten Teil, erhöht sich das Tempo und die Hintergrundgeräusche werden aufwühlender. Auch der Duett-Gesang agiert fordernder und wirkt ungeduldig. Aber der Song endet dann doch ohne krachenden, explosiven Höhepunkt in einem kurzen, versöhnlich-abwartenden Fade-Out. Durch den Track fliegen Anklagen wegen der korrumpierenden Macht des Geldes, dem fehlenden Mitgefühl gegenüber Schwächeren, der Zerstörung der Natur und dem Wertewandel in der Gesellschaft - große Themen, wichtige Denkanstöße.

    Schwerelos, pastoral und wortreich versucht das hypnotische "Hallways" aus seinem unspektakulären Vorgehen eine Kunstform zu generieren. Das gelingt und vermittelt eine in sich ruhende Stimmung, die durch gelegentliche "Weckrufe" aufgepeppt wird. Hier dreht sich das Liebeskarussell und die Welt steht kopf: "Du beherrschst meine Welt, du bringst sie zum Schmelzen" und "Ich versuche immer noch herauszufinden, ob ich Unkraut oder eine Blume bin", sind Aussagen, die für einen ruhelosen Geist sprechen.

    Gäste können nicht nur im Privaten die Stimmung bereichern, sondern auch als musikalische "Zutaten" eine Komposition. So geschehen bei "Stranger Danger" durch die Mitarbeit von Taylor Goldsmith (Dawes) an Piano und Gitarre und ebenfalls bei "Old Tape", für das sich der befreundete Adam Granduciel von The War On Drugs an der Gitarre und an den Stimmbändern die Ehre gibt ("Wir wollten etwas machen, das sowohl treibend als auch erhebend ist, und niemand macht das besser als The War On Drugs".) Der psychedelische Pop-Disco-Sound geht in die Beine und erfreut das Gemüt. Und die Stimmen jubilieren hell im verzückten Überschwang.

    Für "Impressions" konnte die junge Singer-Songwriterin Madison Cunningham als Gitarren- und Gesangs-Verstärkung und Ethan Gruska von The Belle Brigade fürs Sampling gewonnen werden, die dem Song zwar nicht konsequent ihren Stempel aufdrücken, aber zum geschlossenen, vollen Klangbild beitragen. Der Sound transportiert exotische Elemente, groovt gelassen und einladend und stützt sich auf die seriös-getragene Melodie. Die Beweggründe für die Entstehung des Liedes fassen die Sängerinnen so zusammen: "Gemeinsam mit Madi tauschten wir uns über die Veränderungen in unserem Leben und den Umgang damit aus. Es ging auch um die Entscheidung, was man behält und was man loslässt, während man wächst und sich weiterentwickelt."

    Die schmerzhaften, melancholisch-spirituellen Eindrücke von "Orange Blossoms" laufen beinahe in Zeitlupe ab. Sphärische, bombastische und romantische Muster reihen sich aneinander oder überlagern sich. Diese emotionale Wucht wird mächtig dick aufgetragen und lässt die lockeren Momente der Platte vermissen. Häufig hindern uns unsere Egos daran, ein vernünftiges Leben zu führen - eventuell ist das eine Erkenntnis aus der "Orange Blossoms"-Poesie, die zum gedankenvollen Text geführt hat.

    Das sentimentale "At The End Of The Day" fängt die Zeit ein, wenn es abends ruhig im Haus wird, die Hektik des Tages abfällt und man seine Empfindungen ungestört schweifen lassen und über seine Beziehung sinnieren kann.

    "Lucius" kann polarisieren. Manche Leute werden finden, dass viele Stücke den Mainstream-Pop neu definieren, andere werden meinen, dass sie den Zustand einer kommerziellen Tauglichkeit und Verwertbarkeit verwalten. Diese Diskrepanz lässt sich auch an anderen Wahrnehmungen festmachen: Die Produktion von "Lucius" kann wohlwollend als klar und durchlässig bezeichnet werden, kritisch betrachtet kann sie aber auch als zu sauber und glatt durchgehen.
    Dan Molad geht allerdings sorgsam und vorsichtig mit seinen Arrangement-Ideen um, sodass nie der Eindruck von billiger Effekthascherei entsteht. Und noch ein Punkt, der eine unterschiedliche Bewertung zulässt: Wenn die Sängerinnen ihre Stimmbänder in Schwingungen versetzen, kann man sich an dem perfekten Gesang berauschen, man kann ihn aber auch für zu poliert halten.

    Wer sich von der Perfektion des Sounds abschrecken lässt, verpasst allerdings eindeutig die authentischen Bemühungen von Lucius, die Sinne angenehm und kompetent zu betören: Die Musik ist eine Wohltat für angespannte Nerven in gestressten Situationen. Die Songs besitzen etliche clevere Haken und Ösen, sind oft radiotauglich und verströmen meistens innige Wärme und/oder knisternde Leidenschaft. Genau das erwartet man doch von beständiger, anmutiger Pop-Musik!
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    Jump! Jump! (CD)
    May 5, 2025
    Sound:
    4 of 5
    Music:
    4 of 5

    Mit einem mutigen Sprung hinein ins gewagt-befreiende Vergnügen.

    Das Verb "springen" unterstellt eine Veränderung, räumlich oder mental, wenn man unter anderem an den Ausdruck "über den eigenen Schatten springen" denkt. Man kann auch vor Freude in die Höhe springen, also überschwänglich reagieren und so aus dem Rahmen von Normen und Konventionen fallen. Oder man gelangt durch einen beherzten Sprung aus einer heiklen Situation, wagt also den Sprung ins Ungewisse. Das sind alles Redewendungen, an die die Songs von "JUMP!" angelehnt werden können.

    "Jump!" ist das zweite Album (nach "A Day On Solid Ground" aus 2023) des Quartetts ELSA mit Stammsitz in Wien. Die Formation besteht aus der umtriebigen Namenspatin Elsa Steixner (die "Jazz & Pop" in den Niederlanden studierte) und ihren Kollegen Julian Bazzanella (Klavier), Jacob Lang (Kontrabass) und Daniel Louis (Schlagzeug). Für "Jump!" gab es noch Verstärkungen an Blasinstrumenten, E-Gitarre, Harmonium und Orgel, sowie eine professionelle Produktion von David Furrer.
    Der Opener "What For" nutzt einen swingenden Funk-Rhythmus, um Beweglichkeit, Körperlichkeit und Schwung zu erzeugen. Ein hüpfender (!) Bass, ein flexibles Schlagzeug und eine rauschende Orgel lassen zunächst die Luft flirren. Punktuell eingesetzte Bläser, Gitarren und Keyboards stoßen frech in freie Noten-Lücken vor und die dynamischen Tempo-Abstufungen von lebhaft bis nachdenklich heben den Song deutlich aus dem Mainstream heraus. Ein Einstieg nach Maß, der die Möglichkeiten und Qualitäten der Gruppe erahnen lässt.

    Bei "Clouds Are Clouds" lässt sich ELSA treiben. Verträumte Folk-Gospel Klänge bringen Demut, Behaglichkeit und einen Hauch Spiritualität ins Spiel. Das taugt, um sich schlagartig be- oder verzaubern zu lassen.

    War das eben eine Lowell-George-Gedächtnis-Slide-Gitarre, die am Anfang von "It Won’t Be Long" zu hören war? ELSA mögen es, durch eingestreute Zitate ihren Vorbildern Respekt zu erweisen. Bei der Nennung von Inspirationen ist unter anderem von Joni Mitchell, Nina Simone, Abdullah Ibrahim (vormals Dollar Brand) und Paul Simon die Rede. Das sind alles Hochkaräter, die sich stilistisch und kreativ nicht einengen ließen - genau wie es ELSA praktiziert. So ist "It Won’t Be Long" nicht Pop und auch nicht Jazz in ihrer reinen Form, nutzt aber aus beiden Richtungen Merkmale, um sowohl eingängig als auch spannend zu sein. Der geisterhafte "Little Feat-Auftritt" ist übrigens im Verlauf des Albums noch mehrere Male wahrzunehmen.

    Gleiche Stoßrichtung, andere Gewichtung: War es eben noch eine fröhlich-melodische Reife, die den Song dominierte, so ist es bei "Marketplace" eine wolkige, überwiegend in Moll verpackte Stimmung, die für Achtsamkeit sorgt. Erst gegen Ende des Liedes findet die Komposition einen Weg aus der wehmütigen Verfassung heraus und schöpft hörbar Energie aus den originellen, am traurigen, aber auch tröstenden New-Orleans-Jazz geschulten Noten. Der rollende, prägnante Bass erinnert sicherlich nicht zufällig an Jaco Pastorius von Weather Report, der auch für Joni Mitchell tätig war. Und der raffinierte, kunstfertige Aufbau der Komposition spricht für das große Talent der österreichischen Musikerin und ihrer Kollegen.

    ELSA spinnen den bedächtigen Faden weiter und lassen das eineinhalb Minuten kurze Zwischenspiel "Courage" als dunkles Chanson, welches das Licht am Ende des Tunnels erahnen lässt, ablaufen.

    Das einzig Beständige ist der Wandel, das scheint nicht nur ein Lebensmotto, sondern auch ein Grundsatz bei der Erschaffung der ELSA-Erfindungen zu sein. Denn sie sind nur selten ausrechenbar, enthalten Wendungen und Sprünge, ohne dass der Rahmen eines als wertig - im Sinne von nachvollziehbar - empfundenen Songs gesprengt wird. "Summer Shoes" bedient sich dieser Logik und fällt als spritzige Ballade auf (ist hier kein Widerspruch!), die auf einer ideenreichen Instrumenten-Anordnung aufgebaut ist.

    Das von einem spritzig-perlenden Piano dominierte "Sunshine" lässt eine hervorstechende Assoziation zu, nämlich Norah Jones. Genau wie diese großartige Chanteuse vermag es auch Elsa, ihre Stimme in einem einzigen Stück frivol, getragen, lebensfroh und selbstbewusst klingen zu lassen, ohne dabei mit irgendeiner Gefühlslage fehl am Platze zu erscheinen.

    Intensive Empfindungen, wie der Fluchtreflex in unangenehmen Situationen, werden bei "Who Will" großgeschrieben. Der Track beinhaltet meditative und rhythmisch-minimalistisch ablaufende Passagen genauso wie eine kräftige Stimmungs-Eruption. Das Hauptaugenmerk liegt aber auf der Erzeugung einer knisternden Atmosphäre, bei der Elsa ihre Stimme als zusätzliches Instrument einsetzt, indem sie sie stellenweise exotisch gestimmt ertönen lässt. Das wurde absolut exquisit umgesetzt und ist passend in das geschmackvoll-extravagante Gesamtkonzept eingebunden worden. Vorzüglich!

    Für den Track "JUMP!" gebärdet sich Elsa unkonventionell-liebevoll wie eine Schwester im Geiste von Anna B Savage: Die Musik ist märchenhaft-undurchsichtig, feierlich-folkloristisch und introvertiert-versponnen. Also eigenartig und eigenständig und dadurch für herkömmliche Unterhaltungsmusik untypisch.

    Wie schon angedeutet, sind es auch die Verbindungen zur Pop-Geschichte oder die Zwischentöne, die "Jump!" attraktiv erscheinen lassen. Da liegt es nahe, sich ein Lied mit dem Titel "Inbetweenings" auszudenken, welches dieses gestalterische Vorgehen in den Mittelpunkt rückt. Hier geht es lyrisch und aufwühlend zu, als hätten sich Carole King und Tori Amos getroffen, um einen gemeinsamen Song, der ihre unterschiedlichen inhaltlichen Schwerpunkte widerspiegelt, zu schreiben.

    Das Erscheinungsbild von "Jump!" ist emotional vielfältig, und der Klangraum, der das zum Ausdruck bringt, wird stil- und ausdrucksvoll modelliert. Elsa singt beseelt und ihre Mitstreiter bedienen sich aus einem breit gefächerten Fundus, der einige Spielarten und Bereiche, die vornehmlich in der amerikanischen Musikkultur beheimatet sind, berücksichtigt. Kurzum: Elsa sind Vermittler zwischen den schwarzen und weißen Pop-Kulturen mit einem sensiblen Sinn für filigrane und erdige Konstruktionen. Musik ist eine universelle Sprache und ELSA sprechen mit ihren Liedern viele Menschen an, die sich für eine intelligente Pop-Kultur interessieren, welche tiefe Wurzeln und elastische Flügel besitzt.

    ELSA läuten mit "JUMP!" eine sanfte Klangrevolution ein, indem sie den Jazz - dem sie eigentlich zugeordnet werden - in seine Schranken verweisen. Er dient in dem Soundcocktail als Basis und Würze, agiert aber nicht als Selbstzweck. Die Gruppe entfaltet Tongebilde, die sich aufgrund ihrer Substanz, die auf theoretischen Erfahrungen und einem wachen Instinkt beim praktischen Zusammenspiel beruht, selbst tragen.

    Textlich bewegt sich die Vierer-Beziehung in Gefilden, die ihre offene, selbstbestimmte und problemorientierte Weltsicht reflektieren, sodass ihre Schöpfungen rundherum gelungen erstrahlen. Der Keyboarder Julian Bazzanella fasst das ELSA-Konzept zu einem das Wirkungsprinzip umfassend darstellenden Schlusssatz zusammen: "Wir geben uns den Raum, uns als Band in jedem Lied neu zu entdecken und so schaffen wir es, uns unseren Kernthemen Mut, Zweifel, Freiheit auf verschiedenen Wegen zu nähern".
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    SABLE, fABLE Bon Iver
    SABLE, fABLE (CD)
    Apr 13, 2025
    Sound:
    4 of 5
    Music:
    4 of 5

    Zwei Abschnitte, ein Konzept: Justin Vernon komprimiert die aussagekräftigen Klänge von "SABLE, fABLE" zu einem Abbild seines Umbruchs vom Schatten zum Licht.

    Justin Vernon aus Wisconsin, der sein künstlerisches Vehikel Bon Iver nennt, konnte sich zu einem Synonym für introvertiertes Liedgut etablieren, das meistens karg instrumentiert, seltsam arrangiert und/oder elektronisch verändert dargeboten wird. Angefangen hat alles im Jahr 2008 mit "For Emma, Forever Ago", einem Werk, das in gerader Linie von Nick Drake oder Elliott Smith hinsichtlich seiner verletzlichen Intimität abstammen könnte. Es wurde jahreszeitlich dem Winter zugeordnet. Das nächste ganze Album, das schlicht "Bon Iver" betitelt wurde, kam aufgeräumt-optimistischer daher. Es sollte den Frühling symbolisieren und Vernon ließ sich drei Jahre Zeit für die Realisierung. Danach gab es weiterhin längere Veröffentlichungspausen zwischen den Alben: "22, A Million" (steht für den Sommer) aus 2016 und "I,I" aus 2019, das den Jahreszyklus mit der Zuordnung zum Herbst vollendet, waren dann wesentlich sperriger und gewagter in der Auffassung, was die teilweise Auflösung von klassischen Songstrukturen anging. "SABLE, fABLE" ist dahingehend wieder versöhnlicher und eingängiger, bleibt aber trotzdem herausfordernd, wenn es um den Umgang mit der Konsumierbarkeit geht.

    Die beiden Abschnitte des Albums werden durch die Farbgestaltung und Anordnung der Cover-Motive symbolisiert: "SABLE" markiert eine dunkle, schmerzhaft empfundene Einsamkeit im Leben des Musikers. Diese Phase nimmt den kleineren Teil der Songs ein, was durch ein kleines schwarzes Quadrat in der Mitte dargestellt wird. "fAble" steht für den Zustand des verliebt seins, des Neubeginns und der Freude. Als Zeichen dafür umschließt ein größeres lachsfarbenes Viereck das schwarze Quadrat. Die Liebe überwindet und eliminiert sozusagen die Melancholie.

    Ein sirenenartiger Dauerton erklingt zwölf Sekunden lang zu Beginn des "SABLE"-Abschnitts. Direkt darauf folgen glitzernde, nach akustischem Edelmetall klingende Gitarren-Töne und entrückte Ambient-Country-Schallwellen, die allesamt zu "THINGS BEHIND THINGS BEHIND THINGS" gehören. Das Lied wird von einem stoisch klopfenden Rhythmus, der an altertümliches Eisenbahn-Schwellen-Geklapper erinnert, in der Spur gehalten. Diese Stütze fällt später weg, wenn eine akustische Gitarre und die wimmernde Pedal-Steel-Gitarre von Greg Leisz das tröstend-zuversichtliche Outro übernehmen. Vernon betätigt sich gesanglich hier als selbstbewusster, aber dennoch undogmatischer Prediger mit tiefergelegter, warmer Stimme voller suggestiver Ausstrahlung. Das hört sich wie aufmunternder Psycho-Folk an, auch wenn das lyrische Ich voller Zweifel steckt: "Ich habe Angst vor Veränderungen."

    Die brillante, räumlich erscheinende Produktion der aktuellen Bon-Iver-Stücke trägt dazu bei, dass sich die Lieder durchlässig, klar und kraftvoll anhören. Das gilt insbesondere für den delikaten, versonnen-ausgeglichenen Country-Folk von SPEYSIDE, dessen bittere Süße leicht perlt, wie Bläschen im Schaumwein. So köstlich und verführerisch können leise gespielte Noten sein, wenn sie virtuos interpretiert und mit Herz und Hirn umgesetzt werden!

    Der dritte Titel, "AWARDS SEASON", stellte den Abschluss der schon am 18. Oktober 2024 veröffentlichten EP "SABLE" dar. Der Song hinterlässt über weite Strecken einen kargen Eindruck, denn der im Vordergrund stehende Sprechgesang bekommt über einen längeren Zeitraum nur eine mit intimen Tönen ausgestattete Begleitung verordnet. Diese Konstellation vermittelt den Eindruck einer sakralen Andacht. Wenn dann kurzzeitig eine Stimmung erzeugt wird, die an einen New-Orleans-Jazz-Trauermarsch erinnert, nimmt ein ohnmächtiges Gefühl der Endlichkeit den ganzen Raum ein.

    Nach "SABLE" folgen die neun Stücke von "fABLE". Los geht es mit der zweiminütigen "Short Story". Ganz sanft, vorsichtig und schüchtern begeben sich Gospel-Folk-Klänge, die von einem Falsett-Gesang aus natürlichen und manipulierten Klängen begleitet werden, in die Gehörgänge. Es folgen sphärische Töne, die eine himmlische Verheißung anzukündigen scheinen und danach endet der Track mit tuckernden Beats aus dem Computer.

    Und diese werden von "Everything Is Peaceful Love" aufgegriffen, weitergeführt und zu belebenden Afro-Folk-Elementen ausgebaut. Elektronische Spielereien bringen dann noch einen futuristischen Schwung mit und die Melodie saugt Southern-Soul und Pop-Facetten auf, was sie strukturell veredelt und erdet. Wenn dann noch eine Pedal-Steel-Gitarre weint, hat das stufenlose Crossover-Experiment endgültig eine einzigartige, vielschichtige und erfüllende Dimension erreicht. Das Lied fängt das übermächtige Gefühl ein, das entsteht, wenn eine überschwängliche Liebe die Welt hell erstrahlen lässt. Oder wie es Vernon ausdrückt: "Die Idee, dass Glück und Freude die höchste Form des Seins sind, dass sie das wahre Fundament des Überlebens bilden."

    Es folgt mit "Walk Home" ein Slow-Motion-Soul mit verzögertem Trip-Hop-Rhythmus, der mit elektronischen Stimm-Effekten und klassischen Country-Elementen gespickt ist. Diese hat man sentimental verpackt und sie bilden als Konfrontations-Mix eine sonderbar verdrehte, laszive Paarung ab. "Walk Home" ist "ein leidenschaftlicher Song über den Moment, in dem man sich nicht schnell genug ausziehen kann, um mit der geliebten Person ins Bett zu springen."

    "Day One" klingt wie ein Ableger von "Walk Home", bei dem die Rezeptur aus natürlichen und künstlichen Tönen in eine Piano-Ballade transformiert wurde. Das Stück muss sich mit allerlei merkwürdigen Effekten, Sound-Gestaltungen und lebhaft wirbelnden Einspielungen auseinandersetzen und erhält dadurch eine skurrile Ausstrahlung. James Blake lässt grüßen.

    "From" hört sich an, als hätten Bruce Springsteen und Isaac Hayes gemeinsam ein Liebeslied geschrieben. Eine erdige Singer-Songwriter-Handschrift trifft sozusagen auf einen mit sehnsüchtigen Stimmen ausgestatteten, unter die Haut kriechenden Smooth-Soul.

    "I'll Be There" beinhaltet eine ähnliche Ausrichtung, übermittelt aber darüber hinaus eine verdichtete Südstaaten-Soul-Schwüle, ist also noch lieblich-schmachtender. Oder anders ausgedrückt: Das ist der begehrenswerteste Prince-Song, der nicht von Prince geschrieben wurde.

    "If Only I Could Wait" strahlt Zufriedenheit und Freude aus und schickt sonnige, schwärmerische Echos in den Äther. Der Song, der einen sowohl gleichberechtigten als auch markant wahrnehmbaren, stimulierenden Gesang von Danielle Haim enthält, beinhaltet eine von Unsicherheit und Zweifeln erfüllte Kernfrage, die in fast jeder Partnerschaft auftaucht: "Wie lange können wir uns noch aneinander festhalten?" Bon Iver hat sich bis hierher mit den "fABLE"-Songs zu einem ernstzunehmenden, alternativen, Genregrenzen überschreitenden Soul-Act entwickelt.

    Mit "There's A Rhythmn" beweist Justin Vernon hervorragende Adult-Pop-Qualitäten. Er inszeniert sich weise und versöhnlich, stellt seine natürliche, freundliche Stimmlage in den Vordergrund, groovt entschleunigt und könnte Wunden heilen, so beruhigend, positiv ablenkend und Sorgen lindernd funktioniert diese Seelen-Balsam-Musik. In dieser beinahe meditativen Stimmung wird über die Frage nachgedacht, inwieweit man sich unvoreingenommen auf eine neue Beziehung einlassen kann.

    Bon Iver verabschiedet sich mit "Au Revoir", einer zweiminütigen instrumentalen Space-Sound-Improvisation, die niemandem wehtun möchte und nur auf die Darstellung von spirituell motiviertem Seelenfrieden bedacht ist. Ist dieses Stück "nur" ein stimmiger Abschluss-Track eines im zweiten Abschnitt nach Harmonie strebenden Albums oder die Ankündigung des Endes vom Projekt "Bon Iver" oder eventuell sogar schon der Abschied von der neuen Liebe?

    "SABLE, fABLE" zeigt Justin Vernons Weg von der Einsamkeit zur Zweisamkeit auf. Das zweigliedrige Werk ist ein gekonntes Comeback, bei dem der schon an Alben von Kanye West und Taylor Swift beteiligte Musiker einen Überraschungseffekt erzeugen kann, da seine Gospel-Pop-Seite eine hohe Präsenz und Attraktivität erlebt. Obendrein hat er mit "S P E Y S I D E", "Everything Is Peaceful Love", "I`ll Be There", "If Only I Can Wait" und "There's A Rhythmn" einige der schönsten Songs seiner bisherigen Karriere verfasst und aufgenommen.

    Justin Vernon setzt seine Stimme mit einem würzigen Ton als Erzähler oder als ein sich in die Höhe schraubendes, vor Leidenschaft berstendes Instrument ein. Oder er lässt sie elektronisch fiepsend ablaufen. Letzteres wirkt überflüssig, denn diese Aktion bringt keinen kompositorischen Mehrwert und dadurch auch keine zusätzlichen Sympathiepunkte ein.

    Bon Iver verwendet konkurrierende, sich jedoch schließlich ausgleichende, sich gegenseitig in ihrer subversiven Haltung eliminierende Elemente. Dazu gehören die Paarungen Traurigkeit und beherzte Rhythmik, introvertierter Gesang und kühle Synthesizer-Klänge sowie eine entrückt-reduzierte und eine vollmundig-ausgereifte Instrumentierung. Vernon hat eine große Schar an Gästen zusammengetrommelt, die allerdings nur jeweils punktuell eingesetzt werden, sodass die Arrangements nie überladen, sondern stets organisch gewachsen klingen.

    "SABLE, fABLE" hinterlässt trotz des demonstrativ zur Schau gestellten Glücksgefühls einer intensiven Liebesbeziehung dennoch ein widersprüchliches Stimmungsbild eines zerbrechlich wirkenden Menschen. Aber so ist das Leben, wer funktioniert denn schon berechenbar wie ein Uhrwerk?
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    Owls, Omens, and Oracles Valerie June
    Owls, Omens, and Oracles (CD)
    Apr 13, 2025
    Sound:
    4 of 5
    Music:
    4 of 5

    Wer braucht schon Kategorisierungen? Valerie June pulverisiert jeden Versuch, ihre Musik in Schubladen einzuordnen.

    Es gibt sie immer wieder, diese beglückenden Momente, in denen Talente aufgrund ihrer den Raum einnehmenden Präsenz, ihrer zärtlichen oder bestimmenden Wucht und ihrem Einfallsreichtum verblüffen. Dazu gehört auch die 1982 in Jackson, Tennessee, geborene Künstlerin Valerie June Hockett, die schon über zwei Jahrzehnte lang professionell Musik macht und mit "Owls, Omens, And Oracles" am 11. April 2025 ihr sechstes Album unter eigenem Namen herausbringt.

    Nichts im Leben kann den Lerneffekt durch Erfahrungen ersetzen. Ob diese jetzt im Privaten durch unterschiedliche Wechselfälle im familiären Umfeld entstehen oder im Beruf durch die Bereicherung, die von vielen Kontakten ausgeht. Beide dynamische Situationen formen Einstellungen und Erkenntnisse maßgeblich. Im Privatleben hat Valerie June massive Veränderungen durchgemacht. Sie konnte zeitweise ein gutbürgerliches Leben genießen, musste aber auch Armut durch Unglück (Verlust des Eigenheimes in Tennessee durch einen Brand) und gesellschaftlichen Abstieg (Insolvenz der Firma des Vaters) erleiden. Diese Katastrophen haben ihr Weltbild geprägt und sie demütig und kämpferisch zugleich werden lassen.

    Hinsichtlich ihres künstlerischen Aufstiegs hatte sie mehr Glück: nachdem sie im Jahr 2009 an der MTV-Serie "$5 Cover" teilnahm und überzeugte, ging es konstant aufwärts. 2013 kam dann mit dem von Dan Auerbach (The Black Keys) produzierten Erstlingswerk "Pushin` Against A Stone" der Durchbruch beim Publikum und der Kritik.

    Valerie June ist eine von einem untrüglichen Instinkt geleitete Künstlerin. Deshalb ist es nicht verwunderlich, dass sich auch "Joy, Joy!" aufgrund von unkonventionellen Ideen nicht eindeutig stilistisch zuordnen lässt: Die Stimme hat Soul-Power, aber sie geht nicht an ihre Grenzen, wodurch die Gesangslinien elegant, wendig und listig bleiben. Das Arrangement transportiert Hip-Hop-Beats und enthält auch ein E-Gitarren-Rock-Solo. Das Schlagzeug steuert leichte Jazz-Vibes genauso wie schäumende Becken-Attacken bei. Der Bass ist wuchtig und die Bläser erzeugen saftige Einschübe. Als geschmackvolles Füllmaterial werden noch schwirrende Streicher eingestreut, was für eine schwül-erregende Stimmung sorgt. Selbstredend groovt dieses Konstrukt gekonnt, sodass "Joy, Joy!" ein perfekter Appetitanreger für die "Owls, Omens, And Oracles"-Platte darstellt.

    Mit "All I Really Wanna Do" wendet sich Valerie der konventionellen Soul-Ballade zu, die an den wuchtig-üppigen und federnd inszenierten Wall-Of-Sound angelehnt wurde, den es bei Phil-Spektor-Produktionen zu hören gab (z.B. The Ronettes - Be My Baby oder Ike & Tina Turner - River Deep, Mountain High).

    Pop als Stimmungsaufheller: "Endless Tree" hat die Formel gelöst, wie man Noten in Glückshormone umwandelt. Der Song nimmt zwischen den bedächtig tänzelnden Phasen mächtig Fahrt auf und verwandelt sich dann in einen vor Lebenslust sprudelnden Power-Pop.

    "Inside Me" besitzt eine ähnlich positive Ausstrahlung und punktet zusätzlich durch seine erwachsene Coolness. Dennoch weist der Titel einen lockenden, liebenswerten Groove aus.

    "Trust The Path" ist eine im Grunde genommen seriös-ernsthaft eingespielte Piano-Ballade, die allerdings durch gewöhnungsbedürftigen Gesang, der betont naiv, unbedarft und leicht quäkig-schräg gehalten wurde, aus dem Rahmen fällt.

    Das Rezept, keine erwartbare Einheitskost zu bieten, geht auch bei "Love Me Any Ole Way" auf. Der Song speist sich zwar aus Elementen des frühen Rock & Roll, Rhythm & Blues und New Orleans-Jazz, wie ihn zum Beispiel Fats Domino gespielt hat, diese traditionellen Spielarten erhalten jedoch interpretatorische Haken und Ösen, die sie vor einem drögen Nostalgie-Verdacht schützen.

    Für "Changed" stehen The Blind Boys Of Alabama als Gesangsunterstützung zur Verfügung. Warum die alten, stimmgewaltigen Männer allerdings so sehr in den Hintergrund gemischt wurden, dass sie kaum noch wahrnehmbar sind, bleibt ein Rätsel. Sie hätten dem Lied einen tief empfundenen, seelenvollen Gospel-Sound vermitteln können, der ihn noch weiter herausgehoben hätte.

    Mit "Superpower" realisiert June genau das, was man bei "Changed" gehofft hat zu hören: einen geheimnisvollen, auf seine Art spirituellen, ehrfürchtig-kraftvollen Klang. Mit unter zweieinhalb Minuten ist dieser Trip-Hop-Deep-Soul-Verschnitt allerdings viel zu kurz, um sich erleuchtend entfalten zu können.

    "Sweet Things Just for You" hört sich an, als wäre die Grundidee aus frühen Jazz-Gesängen, wie dem Doo-Wop, abgeleitet und in einen Folk-Song übergeleitet worden. Die Mitwirkung von Norah Jones wird dabei nicht prominent herausgestellt. Sie ist Teil des Duett-Gesanges, aber nicht hervorstechend identifizierbar.

    Valerie June ist bemüht, das Liebeslied "I Am In Love" nicht zu sentimental klingen zu lassen. Dazu ist ihr Gesang zu sehr verwinkelt und sie knurrt, schnarrt und bricht melodisch aus. Aber diese Extravaganzen werden nicht übertrieben und die erotischen Schwingungen des Stückes werden deshalb nicht zerstört. Die Musikerin hat dieses Lied schon 2014 geschrieben, aber bisher nicht aufgenommen. Es musste erst reifen, damit es die Ausprägung bekommen konnte, die es verdient und benötigt. Das zeigt, wie sorgsam die Singer-Songwriterin mit ihren Schöpfungen umgeht und wie wichtig es ihr ist, dass sie optimal zur Geltung gelangen.

    Für das kurze A cappella-Stück "Calling My Spirit" singt Valerie mit sich selber als Chor und im Kanon. Sie erzeugt dabei eine verzückt-geistliche Stimmung, wie sie in ähnlicher Form im Film "O Brother, Where Art Thou" wahrzunehmen war.

    "My Life Is A Country Song" ist tatsächlich formal ein Country-Song, aber nicht im herkömmlichen Sinne. Dazu gibt es hier zu viele Effekte und Spielweisen, die den Traditionalisten ein Dorn im Auge wären.

    "Missin’ You (Yeah, Yeah)" fällt völlig aus dem Rahmen. Es gibt dezente Folk-Blues- und Swamp-Rock-Zitate zu hören. Dazu selbstbewussten Jazz-Gesang und eine Melodie, die aus dem Nichts auftaucht und unvermittelt dahin zurückkehrt, was letztlich einen unvollendeten Eindruck hinterlässt.

    Der Abschluss-Track "Love And Let Go" gehört zu den schönsten und raffiniertesten Aufnahmen des aktuellen Werkes. Valerie June hatte ihn zu Beginn ihrer musikalischen Laufbahn schon einmal aufgenommen, aber nun hatte sie eine Vision davon, wie er wirklich klingen sollte. Er bildet quasi eine Klammer zu dem bisher Gehörten: Der Gesang rochiert zwischen lieblich-harmonisch und kindlich-nörgelnd, die Melodie ist harmonisch aufgebaut, geht eigene, nicht unbedingt sofort einleuchtende Wege, die Instrumentierung ist raumfüllend, lässt aber Lücken, in denen sich die Musiker durch ihr Feingefühl und ihre Virtuosität auszeichnen können. Und am Ende besteht der Wunsch, sofort auf "Repeat" zu drücken, so einnehmend und interessant ist das Lied.

    Wem Etiketten egal sind und wer an abwechslungsreichen Pop-Songs jeglicher Färbung von einer Musikerin interessiert ist, die vorbehaltlos und abenteuerlich ihre Werte einsetzt, für den ist das von M. Ward vollmundig und transparent produzierte "Owls, Omens, And Oracles" genau die richtige Wahl. Das gilt auch für Leute, die Spaß daran haben, Ursprungsforschung in Sachen Songanalyse zu betreiben. Sie werden hier quer durch die Musik-Geschichte fündig werden.

    Valerie Junes Lieder haben eine eigentümliche, manchmal verschrobene Ästethik, bei der spezielle Vorstellungen von Schönheit und Energie eine wichtige Rolle spielen. Wenn man die Augen schließt und "Owls, Omens, And Oracles" über Kopfhörer genießt und sich ganz und gar in die Musik vertieft, dann erhält man ein Bild davon, wie viel Herzblut und Kreativität in den Kompositionen steckt. Das Ergebnis des Erlebten erscheint dann größer, als die Summe der verwendeten Teile es vermuten lassen. Das ist die Magie, die in anspruchsvoller, origineller Musik steckt!
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    Apr 13, 2025
    Sound:
    4 of 5
    Music:
    4 of 5
    Press quality:
    4 of 5

    So locker-luftig und einfallsreich kann Groove-Pop sein.

    Vor zwei Jahren brachte das Frank Popp Ensemble nach 14 Jahren Veröffentlichungspause das Album "Shifting" auf den Markt. Vorausgegangen war 2021 eine Hommage an das Musiker-Kollektiv, die unter dem Namen "Under Covers" erschien. Sie belegte, dass das Frank Popp Ensemble trotz des Rückzugs aus dem Medienrummel immer noch gefragt und beliebt war. Das ist nach solch einer langen Abstinenz nicht selbstverständlich und gelingt nur, wenn hochkarätiges, zeitloses Material hinterlassen wird, welches nach einer Fortsetzung verlangt.

    "Shifting" war hochwillkommen und qualitativ einmal mehr sehr überzeugend. So gilt es jetzt, mit "Waves" die Legendenbildung voranzutreiben und auszubauen. Der Veröffentlichungstermin ist mit dem 11. April 2025 gut gewählt, denn im Frühling steigt auch die Lust auf Partys und gepflegte Chill-Outs mächtig an. Popps Mischung aus Funk, Soul, Adult- und Power-Pop passt nämlich ideal zum Befeuern oder zur Untermalung von stilvollen Feiern. Für beide Anlässe bietet "Waves" passende Klangkonstruktionen an, die tanzbar, balladesk oder kunstvoll-poppig gestaltet wurden. Viele Songs besitzen einen zwingenden Groove, der entweder offensiv oder unterschwellig vorhanden ist, sodass die Songs wie selbstverständlich im Gedächtnis bleiben.

    Den Anfang macht der ausgeruhte Psychedelic-Pop "Love Is A Distraction", dem der aus Australien stammende Jarrod "J" Mahon seine feminin klingende, weiche, lasziv schmachtende, aggressionsfreie und prägnante Stimme leiht. Eine schnarrende Orgel baut eine schunkelnde Basis auf, das Schlagzeug hüpft und holpert wie angetrunken im Break-Beat-Fieber und sanfte Background-Stimmen versuchen, den zerbrochenen siebenten Himmel zu kitten ("Liebe ist eine Ablenkung. Wenn es vorbei ist, fühlt sich nichts mehr so an wie damals, als du noch da warst.)" Besser kann eine Laune, die gespielte Coolness, tröstende Harmonie und die Annehmlichkeiten eines ablenkenden Rausches beinhaltet, nicht illustriert werden.

    Die Londoner Soul-Sängerin Emma Noble darf sich für "Unstoppable" Song-dienlich mit ihrer stabilisierenden, unaufgeregten, ausgeglichen-souveränen Stimme ins Zeug legen. Sie unterfüttert den swingenden Funk-Pop und die lockeren Jazz-Vibes nämlich mit köstlich mundenden Soul-Music-Zitaten. Damit gibt sie der inhaltlichen Darstellung des Songs den Raum, den die im Text beschriebene, selbstbewusste, stolze, eigensinnige Persönlichkeit in der Öffentlichkeit hinterlässt. Ungeachtet ihrer eigenen Sehnsüchte und Zweifel, die aufgrund von gesellschaftlichen Zwängen im Verborgenen bleiben müssen, täuscht sie die starke Frau vor, die man von ihr erwartet.

    Der ehemalige Sänger und Bassist des grandiosen, schottischen Teenage Fanclub, Gerald Love, stellt seine einschmeichelnde Stimme dem geschmackvoll arrangierten und flexibel aufgebauten Mid-Tempo-1960s-Pop-Song "Save" zur Verfügung. Das Lied trägt zwar sentimental-romantische Züge, durch das antizyklische, stoisch-monotone Getrommel überträgt es aber auch den ruhelosen Puls des Lebens. Es dreht sich hier immerhin um die Rettung eines gebrochenen Herzens: "Sag, dass du vorbeikommst und zusiehst, wie die Dunkelheit hell wird".

    "Going Going Gone" ist keine Cover-Version des Bob-Dylan-Songs, sondern ein Eigengewächs von Frank Popp. Das Stück wurde opulent instrumentiert und kann deshalb als pompöser Easy-Listening-Beitrag genauso wie als ästhetisch schmachtender Pop durchgehen. Dazu passend serviert der schon lobend erwähnte J Mahon einen geschlechtsneutralen, atmosphärisch angepassten Gesangsbeitrag. Neben positiven Emotionen wird auch eine große Portion Nachdenklichkeit serviert, denn es geht um eine vergangene Liebe, die sehr schmerzt: "Und ich hatte noch nie in meinem Leben eine Liebe, die so tief war" und "Und ich hatte nie in meinem Leben ein Herz gehabt, das so traurig schlug".

    Mit "Death Of A Hypocrite" folgt ein einminütiges, instrumentales Zwischenspiel, das sich schnell zum knackigen Disco-Sound mit Afro-Beat-Wurzeln entwickelt.

    Es sei verraten, dass die bewährte, fesselnde Stimme von J Mahon noch dreimal auf "Waves" auftaucht, so auch bei "Heartbreak (In A Really Good Way)". Und Mahon kann sogar auf unpathetische, aber eindringlich-energische Weise Dramatik und Tragik vermitteln. Die entsprechend weitläufig schwelgende Keyboard-Begleitung stützt und unterstützt diese Haltung angemessen.

    Für "Caught In Your Web" wird das POWER in Power-Pop großgeschrieben, denn der Titel geht ab wie ein Zäpfchen. Nicke Andersson von The Hellacopters raut den schlaksigen Song mit seinem schnoddrigen Gesang ordentlich auf. Er sorgt damit für einen derben Rock & Roll-Einschlag bei diesem hochenergetischen, mitreißenden Northern-Soul-Track. Jede Gegenwehr ist zwecklos, das ist ein Rhythmus, bei dem man unweigerlich mitwippen muss.

    Bei "Swingin Party" ist der Name Programm, obwohl es sich hier nicht um Swing-Jazz handelt. Vielmehr um einen milden und unerschütterlich gleichmäßig fließenden, sanften Wohlfühl-Pop, der wieder einmal von J Mahon gesanglich elegant veredelt wird. Im Original stammt der Song von Paul Westerberg, der ihn mit den Replacements für das Album "Tim" im Jahr 1985 aufnahm.

    Repetitive Krautrock-Elemente, die an Neu! denken lassen, baut Frank Popp bei "Ride" ein, und zwar, ohne dass dieser Winkelzug dazu führt, dass das Lied kopflastig oder anstrengend erscheint. Die Klänge hören sich stattdessen hypnotisch und suggestiv an, genau wie der sachlich-nüchterne Gesang.

    Mit dem Titel "Maggot Brain" greift Frank Popp neben "Going Going Gone" nochmal einen Song-Titel aus der Pop-Geschichte auf, ohne das Original als Vorlage heranzuziehen. "Maggot Brain" war der Album-Name und der zehnminütige Long-Track des gleichnamigen 1971er-Funkadelic-Werks vom Funk-Exzentriker George Clinton. Das Stück wird von einem psychedelischen E-Gitarren-Solo von Eddie Hazel durchdrungen, das dem in "Purple Rain" von Prince in nichts nachsteht. Mindblowing! "Maggot Brain" vom Frank Popp Ensemble ist allerdings gar nicht ausschweifend, sondern wurde sauber strukturiert abgeliefert. Irgendwo zwischen Folk- und Soft-Rock findet das Lied sein zu Hause und J Mahon zeigt sich wieder als wandelbar einsetzbarer Interpret, der dem Stück durch seine gedehnten Noten und den wehenden Schwingungen in der Stimme einen eigentümlichen, von gezügelter Leidenschaft geprägten Zustand verleiht.

    Bei "Common Stranger" ist erstmalig die Stimme von Audrey Ollesen, die aus der Kölner Mod-Szene stammt, auf einem Tonträger zu hören. Sie umhüllt die Komposition mit Würde und einem Gefühl von Beständigkeit. Vielleicht klingt er deshalb wie eine strahlende Hymne oder wie ein Anwärter auf die Eröffnungs-Nummer für einen James-Bond-Film.

    Der Glanz und die Glorie von feministischen Ausstrahlungen erfüllt viele Gesangsdarbietungen auf "Waves" mit Wärme, Erotik und Geschmeidigkeit. Ergänzende Gast-Schwingungen kommen vom Allrounder J Mahon, von Nicke Andersson, der herbe, kratzige, vom Leben gegerbte Töne aussendet und von Gerry Love, der mit seiner geschmeidigen Stimme um Sympathie wirbt.

    Mit "Waves" ist Frank Popp wieder eine reife Leistung gelungen. Er kombiniert bekannte und weniger bekannte Stimmen, sodass das Album schon alleine deshalb abwechslungsreich und vielschichtig klingt. Die Mischung aus langsamen und schwungvollen Songs bewirkt eine weitere aufmerksamkeitsfördernde Wirkung. Und die robuste, zeitlos niveauvolle Qualität der Songs ist ein Garant dafür, dass die Musik spannend und süffig erschallt. Das Frank Popp Ensemble schwimmt auf den unvergänglichen, beständigen Wellen, die große Musikerinnen und Musiker im Laufe der Zeit hinterlassen haben und die hier ihren frischen Widerhall finden. Wieder einmal wird die These von den Wellenbewegungen in der Pop-Musik bestätigt, die über Einflüsse, Referenzen und Retrospektiven ausgelöst werden, was die Entwicklung und Qualität der Musik vorantreibt. Genauso, wie es im Buch "Pop steht Kopf" erörtert wird.

    Popp ist ein Fuchs, er kennt sich aus und weiß, welche Töne was für Emotionen auslösen können. Frank orientiert sich nämlich vornehmlich an erprobten, bedeutenden Sounds, nicht an schnelllebigen Trends. Das trägt dazu bei, dass seine Lieder in sich stimmig, wertig und stimulierend erscheinen.
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    Cry Alone Dawn Brothers
    Cry Alone (CD)
    Apr 2, 2025
    Sound:
    4 of 5
    Music:
    4 of 5

    Kein Grund zum Weinen: Mit "Cry Alone" ist den Dawn Brothers ein großer Wurf gelungen!

    Es ist eine Form der Quadratur des Kreises, die das Dawn-Brothers-Quartet aus Rotterdam in den Niederlanden konzeptionell löst: trotz des Auslebens von maximalem Abwechslungsreichtum bewerkstelligen die Musiker einen einheitlichen, unverwechselbaren, originellen und wiedererkennbaren Auftritt.

    "Cry Alone" ist bereits das achte Album, auf dem die Dawn-Brothers-Musiker Rafael Schwiddessen (Schlagzeug), Bas van Holt (Gesang und Gitarre), Rowan de Vos (Keyboards und Gesang) und Tammo Deuling (Bass und Gesang) zu hören sind. Der Erstling "Staying Out Late" kam 2017 raus und "Late To The Party", der Vorgänger von "Cry Alone", stammt aus 2024. Die zwölf Stücke des neuen Werkes wirken allesamt ausgereift, wurden wendig und kunstfertig arrangiert und strahlen neben entschlossener Leidenschaft auch eindringliche Empathie aus.

    Die Eröffnungsnummer "Do Me Wrong" ist ein stabiler Southern-Rock, der psychedelische Elemente injiziert bekam, mit elektrisierenden Gitarren-Beigaben protzt, aber auch eine gehörige Portion Soul und Funk vorweisen kann. Unnachgiebige Wucht und zehrendes Verlangen kennzeichnen das emotionale Spektrum dieser intelligenten, packenden Komposition, die voller gemischter Gefühle steckt. Kein Wunder, denn die Lebenssituation der Erzählfigur ist angespannt, weil seine Beziehung vor einer Zerreißprobe steht ("Es ist mir egal, ob wir uns versöhnen oder streiten").

    Auch bei "Can't Let You In, Can't Let You Out" geht es um schwierige Entscheidungsfindungen. Auf diesen sprudelnden, positiv aufgeladenen Track wäre selbst Tom Petty stolz gewesen, hätte er ihn verfasst. Aber dieser schwungvolle Power-Pop ist ein Eigengewächs der Dawn Brothers.

    Eine elegante Surf-Gitarre, klagender Gesang, eine große, weit ausholende Melodie und schmachtende Background-Stimmen sind die Hauptbestandteile des bitter-süßen, sinnlich schmachtenden "I Will Never Hold Your Heart Again". Ein gebrochenes Herz bestimmt die Poesie, die das Liebesleid plastisch erscheinen lässt ("Je heißer das Feuer, desto größer die Verbrennung").

    Männer weinen nicht, denn das wird als Schwäche gedeutet. So lautet jedenfalls ein weit verbreitetes Vorurteil. Dieser Sichtweise ist sich auch der Protagonist aus "I Cry Alone" bewusst. Er weint heimlich, zum einen, weil ihm die frustrierende Partnerschaftssituation an die Nieren geht, zum anderen, weil er sich seinem Umfeld gegenüber keine Blöße geben möchte. Das Lied offenbart sowohl Pop- als auch Country- und Soul-Wurzeln und wäre in den 1960er- oder 1970er-Jahren aufgrund seines eingängig-sympathischen und Melodie-verliebten Charakters wahrscheinlich ein verlässlicher Radio-Hit geworden.

    Der treibend-energische, stampfende Rhythm ’n’ Blues von "Seven Year Itch" erinnert sowohl an Little Feat ("Spanish Moon") und The Band ("Don`t Do It") als auch an Ashton, Gardner & Dyke ("Resurrection Shuffle"). Er bestätigt die These, dass es bei einem in die Beine gehenden Song vor allem auf einen hypnotischen Groove, eine einprägsame Melodie und einen Killer-Refrain ankommt. Das Stück erzählt im Grunde genommen davon, dass das Leben leider häufig nicht so abläuft, wie man es sich erhofft. Und davon, dass der Status einer Beziehung in beiden Händen liegt und selten nur eine Person vollständig für das Scheitern verantwortlich ist.

    "Don't You Weep" stellt sich als listiges, von innerer Spannung angetriebenes Objekt heraus. Das Lied startet unspektakulär-abwartend als ein auf der Lauer liegender Pop, der ein aufmüpfiges Funk-Glitzern in den Augen vorweist. Der Track biegt mehrfach in Richtung einer einschmeichelnden Ballade ab, als wäre Sir Elton John zu Besuch gekommen. Die Emotionen wogen hin und her, Harmonie wechselt sich mit Unruhe ab, was der Klang-Schöpfung zusätzliche Individualität verleiht. Und die Moral der geschilderten Geschichte ist: Wenn aufgrund von verzehrender Liebe Freundschaften vernachlässigt werden, kann das eventuell zu großem Verdruss führen.

    Und wenn aus Liebe Hass wird, dann ist das eine aufwühlende, traurige, zumal auch langfristig an den Nerven nagende Angelegenheit. Davon berichtet "Let It Bleed". Das Stück wird von einem dringlich auftrumpfenden Afro-Beat-Rhythmus getragen, der von Fela Kuti stammen könnte und hier als motivierender Impuls für Feuer unter der Oberfläche des undurchsichtigen Thriller-Jazz-ähnlichen Gebildes sorgt.
    Man sollte trotz Stress und Belastung nicht aufhören, an sich selber zu denken und im Zweifel einen Gang zurückschalten. Diese Binsenweisheit ist das Thema von "Live A Little". Der Song ist musikalisch in einer Pop-Periode angesiedelt, in der sich der teilweise komplex arrangierte Country-Rock allmählich in Richtung Soft-Rock orientierte. Also etwa Anfang bis Mitte der 1970er-Jahre. In dieser Übergangsphase entstanden Bands wie Firefall, Pure Prairie League, Ozark Mountain Daredevils oder The Amazing Rhythm Aces. Diese Entwicklung ist auch die Geburtsstunde des Yacht-Rocks, mit Vertretern wie Seals & Crofts, Kenny Loggins oder Michael McDonald.

    Entsprechend spielt sich "Live A Little" in einem Umfeld ab, das für einen milden, aber griffigen Groove sorgt, Leichtigkeit und Unbeschwertheit verbreitet und einen schönen Kontrast zwischen künstlerischer Verspieltheit und harmonischer Behaglichkeit darstellt.

    Was macht man nicht alles, um eine Frau zu beeindrucken? In diesem Fall werden Bücher von F. Scott Fitzgerald, J.D. Salinger und Stephen King ausgeliehen, um bei der Bibliothekarin Eindruck zu schinden. Um "Jack Of All Trades" bei Laune zu halten, quengelt der Bass permanent und versucht, sich auf diese Weise gegen den teils aufgeregten, teils beschwichtigenden Gesang durchzusetzen.

    Zwischendurch faucht die E-Gitarre kurz wütend und die Rhythmik agiert hyperaktiv.

    Hinsichtlich des Tempos überholt "Humble Call" seinen flotten Vorgänger "Jack Of All Trades" und plustert sich gekonnt, effektiv und mitreißend als selbstbewusster Voodoo-Blues-Pop auf. Inhaltlich geht es nicht so temperamentvoll zu, denn die beschriebene Trennung hat beim Verlassenen förmlich zum "Broken-Heart-Syndrom" geführt ("Du hieltest mein Herz. In der Handfläche deiner Hand. Du nahmst es weg. Und du hast mich im Graben liegen lassen").

    In einem herausforderndem Mid-Tempo-Fake-Karibik-Sound ertönt das stilistisch unscharf gestaltete, sich mondän dahinschleppende "You Know Why" in einer überwiegend trüben Umwelt. Phasenweise klingt das verschreckt oder mahnend. Der Text kündigt eine menschliche Tragödie an, lässt das Ende aber offen.

    Gesanglich gibt es bei "I Don't Think I've Ever Really Had It" schon recht bald eine Kehrtwende. Das Stück beginnt mit einer Stimmlage, die an den nachdenklich-dunklen Tonfall von Mark Lanegan erinnert, der sich aber zunehmend in eine hellere, euphorische Variante verändert. Der Track ist im Prinzip aufgrund seiner schillernd-verspielten Abläufe und den unorthodoxen Tempo- und Dynamik-Wendungen dem Psychedelic-Rock zuzuordnen. Ein voran eilender Swing lässt jedoch nicht zu, dass sich Drogen-schwangere Ego-Tripps verselbständigen könnten. Die Kompaktheit der Komposition ist der Band nämlich wichtiger als eine improvisatorische Fantasie-Auslebung. Aber was ist es eigentlich, was der Protagonist vermisst und letztlich für einen Trugschluss hält? Ist es die wahre Liebe oder das totale Glück? ("Ich habe nach etwas gesucht, das nicht existiert. Also liegt es an mir, ob ich frei sein werde").

    "Cry Alone" beschäftigt sich oft mit tragischen Zweierbeziehungen, schaut ins Innere und hat ein Herz für die Gescheiterten. Das Album steckt voller Überraschungen, ist stilistisch nicht nur einer Sparte zuzuordnen und glänzt mit einem Füllhorn an Ideen. Es kann eine transparenten, aber dennoch vollen Sound und instrumentelle Reize vorweisen, die die Songs zu ganz besonderen Leckerbissen werden lassen. Grade auch wegen der vielen Bezüge zur Pop-Historie. Und der Sänger Bas van Holt hat für sich eine Ausdrucksform gefunden, die jede gewünschte Gefühlslage optimal abdeckt. Dabei spielt es keine Rolle, ob er die vorhandene Grundstimmung bestätigt oder einen Gegenpol dazu bildet. Er meistert jede Herausforderung (zeitweise mit Unterstützung seiner den Raum füllenden Gesangs-Kollegen) souverän, ohne emotionale Brüche. Dabei ist es egal, in welchem Gebiet oder in welcher Stimmung die Gruppe grade unterwegs ist.

    Für Anhänger und Anhängerinnen des anspruchsvollen, ausgereiften, Genre-sprengenden Pop ist "Cry Alone" sicher eine willkommene Bereicherung des Horizontes und ein höchst befriedigendes Hör-Vergnügen. Tolle Band, tolle Platte!
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    Apr 2, 2025
    Sound:
    4 of 5
    Music:
    4 of 5

    Das Thema Geister und Tod zieht sich wie ein roter Faden in unterschiedlichen Ausprägungen durch "Spirits", dem aktuellen Album von The Devil Makes Three.

    Die Beschäftigung mit spirituellen Gedanken kommt nicht von ungefähr, denn innerhalb von vier Jahren verlor der The-Devil-Makes-Three-Musiker Pete Bernhard seine Mutter, seinen Bruder und seinen engsten Freund aus Kindertagen. Neben diesen persönlichen Einflüssen findet man auch Aussagen zur politischen Lage und der Spaltung der Gesellschaft in den Texten der Songs auf "Spirits".
    Die Redewendung "The Devil Makes Three" kann bedeuten, dass eine zusätzliche dritte Person in einer Zweierkonstellation Unheil auslösen kann. In solch einer Beziehung wird die dritte Person sinnbildlich auch als Teufel angesehen, der für Versuchung oder Sünde steht. Entsprechend sind die Themen von The Devil Makes Three oft auf die problematischen Seiten des Daseins ausgerichtet. Als musikalische Untermalung orientiert man sich dabei am weiten Americana-Umfeld, also hauptsächlich an Folk, Country und Blues. Aber gerne zitiert man auch Einflüsse aus Pop, Punk, Soul, Funk und Jazz, was die Kompositionen offen und reizvoll klingen lassen.

    Im Jahr 2016 brachte das muntere, vielfältig begabte und interessierte Dreier-Gestirn die Cover-Versionen-Platte "Redemption & Ruin" heraus. Eine Studio- und eine Live-Aufnahme später erscheint am 28. Februar 2025 nun ihr siebentes Studio-Werk "Spirits". Pete Bernhard (Gesang, Gitarre, Kompositionen), Lucia Turino (Kontrabass) und Cooper McBean (Gesang, Saiteninstrumente, Kompositionen) gründeten die Band bereits im Jahr 2002 in Santa Cruz (Kalifornien), und sie veröffentlichten im selben Jahr auch ihr Erstlingswerk. Inzwischen hat MorganEve Swain die Rolle als singende Bassistin von Lucia Turino übernommen. Bei den Aufnahmen zu "Spirits" waren außerdem noch Stefan Amidon am Schlagzeug und Piano als festes Band-Mitglied und Ted Hutt (Percussion) als Gast dabei. Wenn man die besonderen Kennzeichen der erzeugten Musik mit nur einem Begriff beschreiben sollte, dann passt "lebhafte und gefühlsechte Spielfreude" sehr gut zu den verbreiteten Schwingungen.

    "Lights On Me" dreht sich vermutlich ums Sterben. Engel und Hexen tauchen auf und es geht darum, was passiert, wenn der letzte Atemzug den Körper verlässt. Bedeutet dieses Ende auch ein Tor zu einem neuen Anfang? Der Takt des Liedes ist an den Gypsy-Swing angelehnt, geht aber auch als Folk-Funk durch. Die Musiker lassen sich also vom traurigen Thema nicht ins rhythmische Boxhorn jagen und verbreiten Lebenslust. Wahrscheinlich, weil dem jüngsten Gericht sowieso niemand entkommen kann. Warum also nicht vorher noch Spaß haben?
    Der Song "Spirits" setzt sich ausdrücklich mit den Verlusten der geliebten Menschen von Pete Bernhard auseinander. Er sucht nach Antworten, verständigt sich mit den Geistern der Verstorbenen und sieht das als Versuch an, weiter mit den Toten in Kontakt bleiben zu können. Eine knackige Country-Twang-Gitarre wird zur Übermittlung der niederschmetternden Gefühle in ein verschlepptes Tempo eingebettet, der Kontrabass spielt dazu die ganze Palette dunkler Gedanken aus und ein schepperndes Tamburin erinnert trotz der Trauerarbeit schemenhaft an die Sternstunden gemeinsamer Erlebnisse. Petes Stimme wirkt gefasst, ist aber von den Gedanken an die Verluste gezeichnet.

    Ein flottes Country & Western-Tempo bildet die Basis für "Ghosts Are Weak". In dem Song wird beklagt, dass die Kommunikation mit der Welt der Dahingeschiedenen nicht immer für Trost sorgen kann. Als Ersatz dafür müssen dann unter Umständen Drogen herhalten. Die Verwirrtheit in einem Leben mit der Sucht bestimmt daraufhin den Textinhalt. Es wird aber auch eine Dankbarkeit für das Erleben von guten Zeiten betont.

    Die Zeiten werden für die produktive Mittelschicht immer härter - nicht nur in den USA. Politisch wird eine rosige Zukunft verkauft, aber die Realität gibt eine andere, schwierige Situation frei. "Half As High" verweist auf zunehmend rauere Umgangsformen und zeichnet ein Bild einer verängstigten Gesellschaft ("Wir schalten besser einen Gang runter, aus Angst, dass alles zusammenbricht"). Als Konsequenz aus der veränderten Umwelt droht Realitätsverlust ("Wie kommt es, dass wir die Träume von jemand anderem träumen?"). Ein swingender Country mit Jazz-Nähe verhilft dem Lied zu einer gewissen abgebrüht-gleichgültigen Stimmung, die die trüben Aussichten erträglich gestaltet.

    Die Missstände der Inflation, der ungerechten Bezahlung und des Betrugs durch Menschen, die Notlagen ausnutzen, werden in "Hard Times" aufgegriffen. Diese dunkle Mountain-Folk-Ballade geht an die Nieren, ist transparent instrumentiert und trotzdem atmosphärisch dicht umgesetzt worden.

    Manchmal kann man sich noch so sehr anstrengen, um ein Ziel zu erreichen, aber es liegen einfach zu viele Hindernisse im Weg, sodass der angestrebte Plan nicht aufgeht. "The Devil Wins" beschreibt diesen Zustand des Scheiterns, die Musik vermittelt als Kontrast dazu eine selbstsichere Einstellung, bei der Aufgeben keine Option darstellt. Die Rhythmusabteilung sorgt für einen ausgelassenen Schwung, der sich auf alle Beteiligten überträgt. Das ist eine Strategie, um die bösen Geister der negativen Vorsehung besiegen zu können.

    Die ergreifende Folk-Pop-Ballade "The Dark Gets The Best Of You" blickt tief in die Seele und stellt unter anderem die Frage, unter welchen Umständen wir den ersten Stein werfen würden, wenn es um die Brandmarkung eines Menschen geht: "Sie verteilen kostenlose Steine. An alle, die reinen Herzens sind. An jeden mit Feuer in den Augen, der den Krieg beginnen sehen will."

    Lebendig, spritzig, aufrüttelnd und energiereich kommt "Fallen Champions" daher. Der Song lässt keinen Zweifel daran, dass Musik in jeder Lebenslage und egal, welche Inhalte vermittelt werden, euphorisierend und kraftspendend sein kann. Dieses Country-basierte Konstrukt groovt jedenfalls unwiderstehlich, nicht unbändig, dafür aber hypnotisch, was tief unter die Haut kriecht. Das Stück ist ein Loblied auf alle, die sich für andere eingesetzt, aber keinen Ruhm geerntet haben: "Die Geschichte zeigt nicht die gefallenen Champions. Alle, die kämpften, damit wir den Glanz der Sonne spüren können. Es sind die, die ihr nie kennen werdet."

    "The Gift" beinhaltet Bezüge zur ägyptischen Mythologie. Es finden Osiris, der Gott des Todes und der Unterwelt, sowie Isis, die Göttin der Geburt und Wiedergeburt und auch Seth, der Gott des Chaos und Verderbens, in dem bizarren Text Erwähnung. Passend dazu wird ein cooler Voodoo-Blues geboten, der sowohl eine melodische Raffinesse vermittelt als auch eine geheimnisvoll zurückhaltende Atmosphäre verbreitet.
    Ein beweglich-zügiger Bluegrass-Sound, der von Geige und Banjo angetrieben wird, findet seine Erfüllung in "Divide And Conquer". Eine Aussage des Liedes ist, dass alles besser ist, als Krieg gegeneinander zu führen: "Kommt jetzt, lasst uns all diese Kriegslieder singen. Solange niemand mehr kämpfen oder sterben muss."
    Wenn die Geister, die man rief, die Kontrolle übernehmen, dann hat man ein Problem: "I Love Doing Drugs" schildert ironisch-bizarr die fatalen Folgen, wenn Drogen das Leben bestimmen und sich die Realität immer mehr verzerrt. Der locker ablaufende Country-Folk-Sound täuscht darüber hinweg, welche Hölle sich inhaltlich auftut.

    Unter der cremigen Oberfläche von "Poison Well" passiert eine Menge an akustischen Kabinettstückchen und der Klang verbreitet eine wohlige, karibische Leichtigkeit. Die Lead-Gitarre agiert leicht und locker wie ein Schmetterling an einem Sommermorgen, und die Rhythmus-Gitarre bringt einen milden Funk-Groove ein. Der Kontrabass brummelt gemütlich vor sich hin, wie Balu der Bär im Dschungelbuch, und das Schlagzeug verhält sich so dezent, dass es mehr zu ahnen als zu hören ist. Dieses Gebilde klingt sehr delikat und Pete Bernhard adelt es mit seinem besonnen-weisen Gesang. Die Wörter lassen unterschiedliche Interpretationen ihrer Bedeutung zu: gescheiterte Liebe, Drogenmissbrauch mit Abrutschen in die Kriminalität und schließlich die Ermordung der Geliebten.

    Die Hillbilly-Ballade "Holding On" wird von einer leidenden Fiedel und von stoisch den Takt vorgebenden akustischen Gitarren bestimmt. Beide Elemente sorgen dafür, dass die Geschichte, die vom Tod und vom Leiden erzählt, authentisch untermalt wird. Letztlich geht es im Leben darum, durchzuhalten, koste es, was es wolle. Das ist zumindest die Grundhaltung des Trios ("Oh, eines Tages wird alles, was ich liebe, weg sein. Ich glaube nicht an Zufall. Ich glaube nicht an das Schicksal. Ich glaube einfach daran, durchzuhalten.")
    The Devil Makes Three haben einen Sound kultiviert, der gleichzeitig traditionelle Werte hochhält und sich dabei zeitgemäß-flexibel anhört. Die Musiker biedern sich an keine Mode an, wirken glaubwürdig und stehen mit allen sechs Beinen tief im musikalischen Vermächtnis der USA. Die Säulen der Kompositionen und Arrangements bestehen aus folgenden Bestandteilen: Die Lead- und Background-Stimmen sind verantwortlich für den ausgewogenen und stimmigen Sound, selbst in einem aufgewühlt-spritzigen Milieu. Die Instrumentierung ist hochwertig, abwechslungsreich und sehr songdienlich, gradezu virtuos. Die Textstrukturen beweisen Charakter, liefern Themen zum Nachdenken, sind poetisch verschlungen und dabei intelligent ausformuliert. Die Musiker stehen den hochgelobten Studio-Cracks aus Nashville hinsichtlich Kreativität und Fingerfertigkeit in nichts nach.

    The Devil Makes Three haben mit "Spirits" eine durchgängig interessante Platte an den Start gebracht, die allen Americana-Liebhabern wärmstens empfohlen werden kann.
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    Mar 2, 2025
    Sound:
    4 of 5
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    4 of 5

    Die drei Horsegirl-Damen präsentieren bissigen Pop mit attraktiven Widerhaken.

    Für Bands ist es manchmal eine Herausforderung, ihre Live-Energie auch bei Studio-Aufnahmen abzurufen und umzusetzen. Horsegirl ist ein Damen-Trio aus Chicago, das aktuell in New York lebt. Die Musikerinnen kehrten im Januar 2024 in ihre Heimat zurück, um unter Anleitung der Musikerin und Produzentin Cate Le Bon das zweite Album aufzunehmen. Die bittere Kälte, die bei den Sessions herrschte, zwang die Horsegirls dann zu einer erhöhten Konzentration und förderte zudem die innige Teamleistung.

    In dieser angespannten, aber auch liebevoll betreuten Situation entstanden elf Songs, die aufgrund ihrer Dichte und Energie tatsächlich die Spontanität eines Konzertes erahnen lassen. Wenn unbekümmertes Drauflosspielen auf leidenschaftlich-lustvolle, hypnotische Rhythmik trifft, dann fliegen Funken, die Endorphine freisetzen. Wenn dann noch beim Komponieren ein Hang zu simpel-griffigen Melodien sowie einprägsamen Refrains vorliegt, dann entstehen Songs, deren unpolierter, authentischer Do-It-Yourself-Charme pure Freude auslösen kann.

    Die Ideenfindung von Penelope Lowenstein (Gesang, Gitarre), Nora Cheng (Gesang, Gitarre, Bass) und Gigi Reece (Schlagzeug) ist unter anderem am rumpelig-kantigen Punk der Raincoats, am intelligenten Post-Punk von Pavement, am edlen, minimalen New Wave der Young Marble Giants und am experimentellen Underground-Rock von Sonic Youth geschult worden. Das Trio bleibt aber nicht beim achtlosen Kopieren stehen, sondern überführt die gewonnenen Eindrücke in eine individuelle Sichtweise. Eindeutig dominiert dabei ein Sound, der spontan entworfen zu sein scheint und in der Gunst der Musikerinnen auf jeden Fall vor einer kalkulierten Präzision steht.

    Mit diesem Einblick in die zu erwartende Musik kann man dem Album nun unverkrampft begegnen und die gewollte Unvollkommenheit als Teil des Konzeptes akzeptieren und unter Umständen sogar lieben lernen.

    "Where'd You Go?" ist gleich zu Beginn ein prächtiges Beispiel für die freche und lockere Umsetzung von Inspirationen aus der Pop-Geschichte. Horsegirl gehen dabei furchtlos, ohne Berührungsängste vor und setzen ihre Anregungen originell aus diversen Eingebungen zusammen. Bei diesem Stück hat der suggestiv-primitive Rhythmus seinen Ursprung beim vom Funk beeinflussten Rock ’n’ Roll von Bo Diddley. Die verwendeten E-Gitarren-Sounds lassen hingegen an zwei Phasen von The Byrds denken: den flirrenden, optimistisch gestimmten Folk-Rock ("I`ll Feel A Whole Lot Better") und den psychedelischen Garagen-Rock, mit dem sie "Eight Miles High" über dem Boden schwebten.

    Ohne einen The Velvet Underground-Vergleich kommt keine Band aus, die reduzierte Rhythmen, stoisch klirrende E-Gitarren und trockene Folk-Harmonien verwendet. Das sind jedenfalls genau die Zutaten, die "Rock City" zu einem Song werden lassen, bei dem Unschuld und Leidenschaft heftig miteinander konkurrieren und um die Gunst der Hörenden ringen.

    Eine besonders charmante Form von Coolness entwickelten die Young Marble Giants im Jahr 1980 auf ihrem einzigen Album "Colossal Youth". Von dieser Errungenschaft profitieren Horsegirl unter anderem auf "In Twos": Ein monotones Minimal-Art-Sound-Design trifft hier nämlich auf melodische Leichtigkeit und Aufsässigkeit im Gesang.

    Bei "2468" spielt zunächst eine Geige, die leicht angeschrägt schunkelnd zum Tanz aufspielt, eine Hauptrolle. Sie wird jedoch bald von einer mehrstimmigen Gesangseinlage unterbrochen, die herumalbernd einen Kanon-artigen Stimmen-Sog-Effekt erzeugt. In einem Wall-Of-Sound-ähnlichen Klangwirbel schaukelt sich der Song danach hoch und bekommt mächtige Dauer-Akkorde verordnet, die ihn bis zum Ende begleiten.

    Die Grundidee von "Well I Know You're Shy" ist eine alternative Übermittlung von fröhlichem Bubblegum-Pop. Horsegirl übersetzen dieses Anliegen in einen von beherztem Rhythmus angetriebenen Garagen-Rocker, der mit feurigen E-Gitarren-Tönen bei Laune gehalten wird.

    "Julie" lässt das Bass-Herz bis zum Hals schlagen. Die E-Gitarren erzeugen Sternschnuppen-Töne, die nur kurz aufleuchten und schlagen unerwartete Haken. Penelope Lowenstein füllt diese funkensprühend-liebevolle Ballade mit ihrem weisen, beruhigend-erzählerischen gesanglichen Talent aus, mit dem unter anderen auch Bill Callahan gesegnet ist.

    Mit "Switch Over" folgt ein energiegeladener Power-Pop, der von seiner instrumentalen Vitalität lebt. Textlich ist der Song dagegen eher einer limitierten Sprache unterworfen worden: Aus den Worten "umschalten", "ausschalten", "sagen" und "Was du sagen wolltest" besteht der ganze Text.

    Für "Information Content" finden die Ästhetik von sich permanent wiederholenden Abläufen, einem scheppernden Schlagzeug und widerborstigen Gitarren, die um die Wette kratzen, zusammen.

    "Frontrunner" ist ein bis aufs Skelett reduzierter Country & Western-Song, der wie selbstverständlich eine kitschfreie Lagerfeuer-Romantik verbreitet.

    Mit "Sport Meets Sound" veröffentlichen Horsegirl einen munter swingenden Folk-Jazz mit Tiefgang, bei dem sich eine kunstvolle atmosphärische Dichte und punkige Ausbruchsversuche begegnen.

    "I Can't Stand To See You" kommt hinsichtlich des schwungvollen Ablaufs und einer kontrollierten Süße in der Melodie von allen Songs auf "Phonetics On And On" einem klassischen Pop-Song am nächsten und bietet sich deshalb als Single-Auskopplung an.

    Somit zeigt "Phonetics On And On" eine relativ große stilistische Bandbreite. Gleichwohl bleiben Horsegirl sich und ihrem ungeschliffenen Sound trotz des transparenten, klaren Klangbilds stets treu.

    Die Frauen gründeten ihr Trio im Jahr 2019 in Chicago, Illinois. 2020 veröffentlichten sie ihre erste EP ("Horsegirl: Ballroom Dance Scene et cetera"), auf die das Label "Matador" aufmerksam wurde. 2022 brachten die Frauen dort ihr erstes Album mit dem Namen "Versions Of Modern Performance" heraus, das sehr gute, teils begeisterte Kritiken erhielt (unter anderem viereinhalb Sterne bei allmusic.com).

    Mit "Phonetics On And On" optimieren sie sich - obwohl der Erstling eine hohe Messlatte vorgibt - auf ganzer Linie: Die Songs kommen noch mehr auf den Punkt, Soli unterstreichen dabei die Griffigkeit und Attraktivität der knackig auftrumpfenden Stücke. Der Gesang ist noch verständlicher in den Vordergrund gemischt worden und wirkt anziehend-reizvoll, ist dabei voller Wagemut, der erotische Zwischentöne zulässt. Die Musikerinnen erfinden eine Konzeption, bei der ihre Schöpfungen zeitlos ruppig daherkommen. In jeder (Schräg)-Lage tritt stets auch ein versöhnlicher Kern zutage. So funktioniert bissiger Pop mit attraktiven Widerhaken!
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    Cowards Squid
    Cowards (CD)
    Mar 2, 2025
    Sound:
    4 of 5
    Music:
    4 of 5

    Die schwierige dritte Platte: Squid erweisen sich mit "Cowards" als kreative Klang-Forscher auf riskanten Wegen.

    Das Quintett Squid, das 2016 in Brighton gegründet wurde, scheint mit ihrem dritten Album "Cowards" nach Orientierung zu suchen. Es ist uneinheitlich-vertrackt ausgefallen, verzichtet weitestgehend auf längere Melodiebögen und auf markante, herausstechende Tracks. Vor allem aber ist das Werk herausfordernd, originell und auf eine köstliche Art widerspenstig. Es hinterlässt den Eindruck eines tragisch-bizarren Schauspiels in neun Akten, das nicht durch ausschweifende Aggressionen provoziert, sondern durch sperrige, zerrissen wirkende Musik. Die Incredible String Band ist mit ihrem Tanztheater-Werk "U" 1970 auch solch einer Herausforderung gefolgt und die dritte, ungewöhnliche Platte der Dexys Midnight Runners ("Don`t Stand Me Down", 1985) sorgte ebenfalls für Verwirrung bei den Fans. Zwei Beispiele für eine mutige, aktive Auseinandersetzung mit dem eigenen Werk und der künstlerischen Entwicklung. Squid stehen nun auch an solch einer Position, die richtungsweisend für ihren weiteren Weg ist.

    Inhaltlich setzt sich die Band mit dem Bösen, der Verblendung und dem Zweifel auseinander, die in unterschiedlichen Blickwinkeln betrachtet werden. "Crispy Skin" spielt in einer Welt, in der Kannibalismus einen regulären Platz in der Gesellschaft hat. Der Sänger und Schlagzeuger Ollie Judge vermutet, dass er in diesem Konstrukt die Rolle eines Feiglings einnehmen würde, was zum Beispiel einen Bezug auf den Album-Titel darstellt. Der Synthesizer erzeugt zu Beginn Töne, die an wild gewordene Insektenschwärme erinnern. Bass und Schlagzeug übernehmen dann mit massiven, eiligen Beiträgen die Führung, und Ollie singt, als wolle er jemandem durch seinen seltsamen Gesang Angst einflößen oder ihn intensiv manipulieren. Tempo, Instrumentierung und Dynamik sind hier keine festen Größen, wodurch der Track in rauschhafte Gefilde eintaucht.

    "Building 650" atmet zwischendurch orientalische Luft, ohne Weltmusik zu sein. Ein experimenteller Art-Rock-Ansatz behält die Oberhand und zerstört alle Rock-Konventionen - so wie es typischerweise von Squid erwartet wird. Aber der Song versinkt dadurch nicht in Anarchie, sondern baut eine individuelle, bröckelige Melodik auf. Es geht ganzheitlich um die Bewältigung von Konflikten. Textlich steht die Beziehung zu einem Menschen mit schlechtem Charakter im Vordergrund.

    "Blood On The Boulders" lässt die Morde der Charles-Manson-Gefolgsleute an der schwangeren Schauspielerin Sharon Tate und ihren Freunden am 9. August 1969 in Los Angeles aus der Sicht eines unbeteiligten Beobachters aufleben. Das Stück beginnt mit lyrisch-empathischen, sich hypnotisch wiederholenden Passagen, die die Einleitung zu einer sich bis in den Irrsinn hinein steigernden Sequenz bilden. Plötzlich fällt alles in sich zusammen und die bedrückende Intimität lässt einen schaudern.

    Für "Fieldworks I" wird der Klang eines manipulierten Cembalos prominent herausgestellt. Der Klassik-Mief, der ursprünglich mit dem Instrument verbunden ist, wurde dabei eliminiert, sodass die Töne jetzt wie eine Mischung aus Xylophon und E-Piano klingen. Im letzten Drittel ziehen bedrohliche Streichinstrumente auf, die die Exotik verdrängen und für Panikstimmung sorgen.

    Das Klicken in "Fieldworks II" suggeriert eine übermäßig schnell dahinfließende Zeit, was durch den eher schläfrig-nachdenklichen Gesang abgefedert wird. Die Rhythmik ist zäh, während Geigen und Saiteninstrumente Schwung aufnehmen. Zum Ausklang folgt eine Phase, die beinahe zum Stillstand führt. Der Kontrast ist Kalkül und gehört in diesem Fall zum variablen Programm.

    "Cro-Magnon Man" ist die Bezeichnung für den anatomisch modernen Menschen des westlichen Eurasiens, der in der Zeit von vor 45.000 bis vor etwa 12.000 Jahren lebte und für uns in gewisser Hinsicht ein Vorfahre ist. Aber sein Gehirn hat sich womöglich aufgrund von Veränderungen in der Ernährung oder Lebensweise nicht so stark entwickelt wie das des Homo-Sapiens und deshalb konnte er keinen dauerhaften Platz in der Evolution beanspruchen. Aber vielleicht wäre er aufgrund von anderen geistigen Fähigkeiten nicht so egoistisch mit seiner Umwelt und seinen Mitmenschen umgegangen, wenn er nur eine Chance gehabt hätte. Für das Lied begeben sich die Squid-Musiker quasi auf einen musikalischen Abenteuer-Spielplatz, auf dem der Einsatz von unkonventionellen Klängen zum guten Ton gehört. Neben diesem Gebot verfügt der Song noch über eine stabile Melodieführung, die jegliche Extravaganz ausgleicht und entschärft.

    Das titelgebende Stück "Cowards" ist emotional dreigeteilt. Der erste Teil bleibt unverbindlich, wobei eine verwaschene, neblig-intime Atmosphäre mit schwirrenden Zwischentönen erzeugt wird. Es folgt ein durch Soul-Bläser und -Stimmen lebendig gehaltener Abschnitt. Der Track klingt danach durch einen Mix aus den ersten beiden Darstellungen aus.

    "Showtime!" präsentiert sich angriffslustig, setzt dazu alternative Funk-Spielarten und Minimal-Art-Rhythmen ein, die sich im Verbund gegenseitig anstacheln und den Song, der sich mit "Ausbeutung, Ego und Missbrauch" befasst, auf diese Weise brodeln lässt.

    "Well Met (Fingers Through The Fence)" entzieht sich vollständig der Einordnung in irgendwelche Stil-Kategorien. Die verwendeten Bestandteile werden ineinander verschoben zusammengesetzt. Von zärtlich bis stressig, intim bis opulent, gleichförmig bis verwirrend sind viele Schattierungen dabei. Der Song erkundet laut Gitarrist Anton Pearson die "Beziehung zur Landschaft und zu allen Dingen, die uns am Herzen liegen".

    Sind das noch (im weitesten Sinn) Pop-Songs oder handelt es sich bei den Stücken von "Cowards" um Klang-Installationen? Wenn man schon eine Umschreibung sucht, dann trifft wohl der Begriff "Kunstlied" ganz gut auf die Kreationen zu. Neben Bands wie Black Country, New Road gehören Squid zur Speerspitze junger und mutiger britischer Avantgarde-Rock-Formationen, die ihre Ideen clever und fantasievoll in Szene setzen können. Das führt dazu, dass trotz spielerischer Experimentierlust ein hoher Unterhaltungswert gewährleistet ist und erhalten bleibt.

    Es ist angebracht, dass "Cowards" zunächst mit Kopfhörern genossen werden sollte, damit alle Nuancen wahrgenommen und in einen Zusammenhang gebracht werden können. Das ist anspruchsvoll, aber es lohnt sich, sofern man sich auf komplexe Musik einlassen mag. Als der Vorgänger "O Monolith" am 9. Juni 2023 veröffentlicht wurde, war "Cowards" schon formal fertiggestellt gewesen. Das Album hat also einen relativ langen Reifeprozess hinter sich und hält für Neugierige eine Menge Überraschungen und Ideen bereit.
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    Soundtrack For A Movie That Has Not Been Written Yet (180g) Rikas
    Soundtrack For A Movie That Has Not Been Written Yet (180g) (LP)
    Mar 2, 2025
    Sound:
    4 of 5
    Music:
    4 of 5
    Press quality:
    4 of 5

    Frischer Pop für jung gebliebene Erwachsene.

    Jetzt ist es auch mal genug! Mit der nassen Kälte und der abgestorbenen Vegetation. Es wird Zeit für den Frühling! Da kommt der "Soundtrack For A Movie That Has Not Been Written Yet" von Rikas genau richtig. Die Kunst, Easy-Listening-Musik zu erschaffen, die eingängig und zugleich herausfordernd ist, was die Konstruktion von komplexen Strukturen angeht, sollte nicht unterschätzt werden. Rikas befinden sich hinsichtlich dieser Art der Schöpfung von Unterhaltungsmusik auf den Spuren von Burt Bacharach und Sergio Mendes.

    Im Frühjahr 2016 fanden sich Sascha Scherer (Gesang, Gitarre, Keyboards), Sam Luca Baisch (Gesang, Bass), Ferdinand Hübner (Gesang, Schlagzeug) und Chris Ronge (Gesang, Gitarre) zusammen (die alle aus der Nähe von Stuttgart stammen), um unter dem Namen Rikas gemeinsam Musik zu machen. Besondere Kennzeichen: von den Beatles beeinflusste Harmonien, gepflegt-bewegliche Rhythmen, wechselnde Lead-Stimmen und gekonnter mehrstimmiger Gesang. Bei dieser Kombination kommt der von der Band selbst als "Swabian Samba" bezeichnete Sound heraus, was für schwäbische Eigenart und weltoffene Rhythmik und Melodik steht. Die Bezeichnung Rikas wurde übrigens vom Namen der Hündin von Ferdinand Hübner ("Rika") abgeleitet. Aus Sicht der Musiker verströmt der Begriff ein südländisch-exotisches Flair.

    Das Prinzip, mit Pop-Musik Botschaften zu verbreiten oder seinen Protest zu äußern, ist so alt, wie es Menschen gibt, die vor anderen auftreten. In den 1960er-Jahren gab es eine starke Folk-Bewegung, die politisch aktiv war und in den 1980er-Jahren brachten Gruppen wie Heaven 17 ("(We Don`t Need That) Fascist Groove Thang") oder The Specials ("Nelson Mandela") ihren Unmut auf die Tanzfläche. Rikas beleuchten wechselnde Perspektiven der Persönlichkeit, was bei näherer Betrachtung auch ein höchst politisches Thema ist. Denn nur starke Charaktere, die gelernt haben, mit den schnellen Veränderungen in der Gesellschaft umzugehen, sind in der Lage, einem Leben, das aus den Fugen zu geraten droht, einen intelligenten Ruhepuls entgegenzusetzen.

    Rikas setzen also nicht auf eine wütende Auseinandersetzung mit Missständen, sondern auf einen konstruktiven Umgang damit, bei dem das Vergnügen nicht zu kurz kommen darf. Und somit ist "der Film, den es noch nicht gibt", eine Metapher für das Leben, was noch vor einem liegt. Und der dazugehörige Soundtrack sollte überwiegend optimistisch gestimmt sein.

    Die Bandmitglieder haben festgestellt, dass man in Los Angeles nur beschwerlich und langsam mit dem Fahrrad vorankommt. Für "Bike In L.A." hat Keyboarder und Gitarrist Sascha Scherer daraus abgeleitet, dass "es bedeutet, dass wir Geduld brauchen, um unseren Weg zu finden, unsere Kunst zu gestalten und unsere Beziehungen zu pflegen. Denn man muss erst einmal herausfinden, wie das eigene Fahrzeug funktioniert und wo es hingehört." Als Untermalung für diese philosophischen Betrachtungen haben die Musiker einen locker swingenden Pop-Song gebastelt, den man nicht mehr aus dem Kopf bekommt. Unaufdringlich, aber mit einer gehörigen Portion Ohrwurmqualität setzt er sich fest und bringt die Zuhörenden mit einem guten Gefühl durch den Tag. Kitsch- und zuckerfrei lädt er dazu ein, einfach mal abzuschalten und sich entspannt in die coole Melodie und den packenden Refrain fallen zu lassen.

    Es ist mutig, sein Scheitern einzugestehen und zum Ausgangspunkt zurückzukehren, um einen neuen Versuch zu starten. Für "Driving Down Slow With My 505" wurde dieser Zustand in Worte gefasst: "Weißt du, ich hatte einen Plan, ich hatte große Ideen. Ich war sicher, dass es klappen würde. Aber zurückzukommen ist der schwerste Teil. Wenn du kein Benzin hast." Nur mit Galgenhumor lassen sich manchmal schwere Zeiten ertragen. Der Song trägt die Lässigkeit des ungezwungenen Umherfahrens in sich. Man spürt die angenehme Stimmung, bei gutem Wetter mit einem Cabrio unterwegs zu sein, obwohl einem ein unangenehmes Thema im Nacken sitzt, das aber zunächst verdrängt werden kann.

    Würde Barcelona nicht von Touristenhorden überrannt werden, könnte die Stadt von den sensiblen Sinn-Suchenden noch mehr genossen werden. In dem Lied "Barcelona (Learning To Love Myself)" geht es um jegliche Form der Veränderung. Die bezaubernde Atmosphäre der Stadt könnte einen Neuanfang unterstützen. Aber die Tage sind zu heiß und die Nächte fühlen sich kalt an, wenn sich Einsamkeit breit macht. Das sind keine guten äußeren und inneren Bedingungen, um Seelenschmerzen zu überwinden und wieder zu lernen, sich zu lieben. Der elegante Blue-Eyed-Soul spiegelt zwar ein sonniges, mediterranes Lebensgefühl wider, eine gewisse abgehobene Distanziertheit, die auch Unsicherheit bedeuten kann, ist jedoch auch nicht zu verleugnen:"‘Barcelona’ handelt von dem Gefühl, umziehen zu wollen, aber es nie zu tun. Es ist ein Song über das Weitermachen und das Entdecken neuer Lebenswege".

    "Strangers" ist eine Hommage an den Song "Stranger" von Celeste aus 2019. Er zeigt die Phasen von unglücklich gescheiterten Beziehungen auf: aus Fremden werden Freunde, aus Freunden werden Liebende und aus Liebenden werden unter Umständen wieder Fremde. Der Soft-Funk stellt sowohl Romantik als auch durch die zackige E-Gitarre eine Leidenschaft in den Raum, die kurz davorsteht, in Missklang umzuschlagen.

    Nach einer verpassten Chance folgt eventuell eine quälende Sehnsucht, welche in "Heartbreak Big Mac" eine große Rolle spielt. Selbstvorwürfe und Trauer gehören zum Stimmungsbild und alle diese Emotionen prägen diese von trüben Gedanken durchzogene, relativ gleichförmig-niedergeschlagen ablaufende Ballade.

    Die Poesie von "Passenger" fordert Vertrauen ein und verspricht Geborgenheit und Vergnügen für den Rest des Lebens. Dazu klingen Tonkombinationen an, die dem perfekten Pop-Song sehr nahekommen. Verspielte, dezente Sound-Effekte, karibisch anmutende Rhythmen, eine originell aufflackernde E-Gitarre, schwebendes Orgelrauschen und sehnsüchtige Hintergrundstimmen sind spezielle Zutaten, die die unwiderstehliche Melodie, den hypnotischen Refrain und den grundsympathischen Gesang ins rechte Licht rücken. Das weitläufige, schwelgend-abenteuerliche Outro versetzt die Hörerschaft dann endgültig in einen rauschhaften Bann. Edel!

    Das Quartett hat sein Pulver aber noch nicht verschossen. Auch "Souvenir Shop" glänzt mit klug eingesetzten Dynamikverschiebungen, einem geschmeidigen Groove und einer Melodieverliebtheit, die das pure Glück zu kristallisieren scheint. Dabei deuten die Texte auf einen Hilferuf aus großer Not hin ("Ich habe meine tiefsten Tiefen gesehen. Können Sie mir hier raushelfen?") Die Kombination von anmutig-gewandter Musik mit persönlichen Problemen erinnert sofort an "Help" von den Beatles. In einer besseren Welt wäre "Souvenir Shop" wahrscheinlich ein sicherer Radio-Hit geworden.

    In den nur zweieinhalb Minuten von "Opposite Opinions" vermittelt die Band den Eindruck, dass sie jede Idee zu Pop-Gold werden lassen kann. Das Lied erzeugt eine innere Spannung, die sich augenblicklich und ununterbrochen als positive Energie überträgt. Eine gewisse Anspannung entsteht trotzdem, weil es hier um ein Paar geht, das sich auseinandergelebt hat ("Ich glaube, wir sind wie ausgelatschte Schuhe").
    "Just Like Ice Cream" ist ein Titel wie aus der Produkt-Werbung und tatsächlich wirkt der Track sozusagen suggestiv-einschmeichelnd, sodass er den Boden unter den Füßen zu verlieren scheint. Ein flotter Smooth-Jazz-Pop, dem ein Mehr an Stabilität allerdings gut zu Gesicht gestanden hätte. Was leichtfüßig klingt, hält unter der Oberfläche tiefsinnige Gedanken bereit: "Textlich symbolisiert die Idee, dass Eiscreme schmilzt, eine Midlife-Crisis oder das Gefühl, viele Temperatur- oder persönliche Veränderungen an einem Tag durchzumachen."

    Dieser Mangel an konstruktiver Griffigkeit setzt sich leider bei "Where Do You Go?" fort. Das Lied wurde sauber umgesetzt und produziert, aber es fehlen die bei vielen anderen Liedern oft charmant untergebrachten Ecken und Kanten, die für besonders prickelnde Momente verantwortlich sind. Musikalisch wurde für Unbeschwertheit gesorgt, aber inhaltlich werden Konflikte aufgeworfen: "Wir haben überlegt, was ich für mich selbst sehen möchte in einer Welt, die scheinbar auseinanderfällt", kommentiert Sam Luca Baisch den Sachverhalt.

    Aber das Album ist noch nicht zu Ende: "Jude Bellingham" knüpft an die Klasse von zum Beispiel "Opposite Opinions" an. Heraus kommt wieder einmal ein unbekümmerter, einfallsreicher Sound für jung gebliebene Erwachsene mit Niveau. Jude Bellingham ist ein englischer Fußballspieler, der in der dortigen Nationalmannschaft, bei Real Madrid und auch bei Borussia Dortmund gespielt hat. Dort ist er aufgefallen, weil er nach einem verlorenen Spiel gegen Bayern München den Schiedsrichter öffentlich bezichtigt hatte, parteiisch gewesen zu sein. Diese Behauptung kam nicht von ungefähr, denn der gemeinte "Unparteiische" war 2005 in den Wettskandal um Robert Hoyzer verwickelt gewesen.

    Mit "It’s A Beautiful World (When I’m On My Own)" senden die Musiker als kurzen Abschied freundliche Schwingungen ins Universum.

    Rikas ist mit "Soundtrack For A Movie That Has Not Been Written Yet" ein über weite Strecken hinweg ergötzliches Adult-Pop-Werk gelungen, bei dem der Pegel oft zu Gunsten von anspruchsvoll-einschmeichelnder Unterhaltung ausschlägt. Dass dieses schwierige Unterfangen je nach Erwartungslage unter Umständen nicht als perfekt wahrgenommen werden kann, liegt in der Natur der Sache, weil der Grat zwischen erfrischender Leichtigkeit und banalem Kitsch ein sehr schmaler ist. Mit "Soundtrack For A Movie That Has Not Been Written Yet" ist den Musikern von Rikas auf jeden Fall eine sehr schöne Platte gelungen, die mehr als nur angenehm ist.
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    You & I Are Earth Anna B. Savage
    You & I Are Earth (CD)
    Feb 1, 2025

    Anna B Savage bekennt sich zur unbedingten Verantwortung für die Erde, denn wir sind alle auf Gedeih und Verderb mit unserem Planeten verbunden.

    Die in London geborene Anna B Savage gibt Antworten darauf, wie ein Song sowohl harmonisch als auch erfinderisch aufgebaut sein kann. "You & I Are Earth" ist thematisch unter anderem ein Liebesbrief an einen Mann und an Irland, das seit etwa 10 Jahren die Heimat der Musikerin ist. Das Werk handelt in diesem Zusammenhang von heilenden Kräften als auch von ungebrochener Neugier. Zwei an und für sich konkurrierende Kräfte, die sich jedoch nicht im Wege stehen, sondern zum gegenseitigen Nutzen ergänzen.

    Das Album wird durch einen kurzen Ablauf aus echten Naturgeräuschen und naturidentischen Instrumental- und Stimmen-Impressionen eingeleitet, die ohne Pause zum Kern von "Talk To Me" führen. In diesem Lied wird die Verbundenheit mit dem Meer beschworen. Die akustische Gitarre plätschert dazu mit einem Picking, welches an die konstante Wiederkehr von Wellen erinnert. Das Keyboard-Schwirren lässt in Ergänzung dazu den beinahe ununterbrochen vorhandenen Küsten-Wind erahnen. Annas Stimme trägt dieses Wechselspiel genüsslich-erregt mit und zaubert eine intim-verzückte Atmosphäre herbei.

    Auch "Lighthouse" spielt mit Metaphern, die mit dem Leben am Meer zu tun haben. Es enthält zudem autobiografische Züge, weil es von einer Beziehung berichtet, die innige Geborgenheit vermittelt ("Plötzlich war er da. Und ich bin glücklich mit ihm am Meer. Wir haben etwas von einem Glühen. In der Gesellschaft des anderen."). Der Bass tönt durchdringend-rumpelnd wie fernes Donnergrollen. Es gibt zudem künstliches Seevogel-Kreischen und sanft gezupfte Saiten, die dicke Regentropfen zu imitieren versuchen. Komplettiert wird die maritime Stimmung noch durch Piano-Geklimper in Anlehnung an das Geräusch von abklingendem, kaltem Niederschlag. Was sich womöglich in geschriebener Form wie billiger Kitsch anhören mag, übermittelt in Wirklichkeit ein feines Gespür für die Ähnlichkeit zwischen Natur- und Instrumenten-Klängen.

    "Donegal" ist eine Stadt und ein Bezirk im Nordwesten der Republik Irland, dem Zuhause von Anna. Die ursprüngliche Bedeutung des Namens ist: "Festung der Fremden".

    "Mo Cheol Thú" kommt aus dem Irischen und steht für: "Du bist meine Musik". Das ist ein traditionelles Lob für herausragende Leistungen. Der Begriff wird allerdings auch als Ausdruck für "Ich liebe Dich" verwendet.
    Beide Tracks tragen schon im Titel die tiefe Heimatverbundenheit von Anna B Savage in sich. Ihnen liegt quasi die Verheißung auf Stabilität und Geborgenheit im Leben zugrunde. Die Stücke sind aber dennoch keine beschaulichen Werbe-Botschafter, die die touristische Anziehungskraft der Landschaft herausstellen, sondern sie setzen sich textlich mit Wünschen und Erwartungen auseinander. Ihr Sound transportiert zwar die Weisheit alter Folk-Songs, die Lieder stehen aber musikalisch mit beiden Beinen im Hier und Jetzt. So ist "Donegal" ein attraktiver, dynamisch pulsierender Folk-Jazz auf Minimal-Art-Rhythmus-Basis und "Mo Cheol Thú" brilliert als kontrastreiche, intim gesungene und lebendig instrumentierte Ballade.

    Zwischen den eben besprochenen Irland-treuen Schöpfungen wurde "Big & Wild" platziert. Ein eineinhalbminütiges Zwischenspiel, das den Anschein erweckt, als sei es der Auftakt zu einer episch angelegten Art-Pop-Nummer.

    Diese Erwartung bleibt jedoch unerfüllt, denn mit "Incertus" wird danach eine weitere Überleitung, die dieses Mal instrumental ausgefallen ist, angeboten. Das lateinische Wort "Incertus" hat mehrere Bedeutungen, wie zum Beispiel unsicher, ungewiss, unbestimmt, trübe, düster oder noch nicht sichtbar. Jedes dieser Adjektive kann zur Beschreibung dieses aus akustischen und elektronischen Tönen zusammengesetzten Gebildes herangezogen werden. Kaum hat man begonnen, sich mit dem Geflecht auseinanderzusetzen, ist die Minute, in der sich diese neblig-hypnotischen Klänge abspielen, schon wieder vorbei.

    Nahtlos geht es mit dem romantisch-poppigen "I Reach For You In My Sleep" weiter, einem der eingängigsten Stücke der Platte. Wobei "eingängig" hier keineswegs "belanglos" oder etwa "abgedroschen" bedeutet. Das Lied kommt eher auf sympathische Weise einem herbeigesehnten Wohlklang entgegen und wurde dazu wertig arrangiert und klug interpretiert. Joni Mitchells eigenständiger Umgang mit Melodie und Rhythmus lässt grüßen.

    "Agnes" entspringt einer spirituellen Erfahrung, die Savage während einer Meditation machte. Sie fühlte sich vereint mit der Erde, als wäre sie Teil eines Netzwerkes, ähnlich dem eines Pilzgeflechtes. Vielleicht handelt es sich bei "Agnes" um einen Geist oder um eine Fantasiegestalt, die dem Wunschdenken entspringt. Auf jeden Fall gibt es aber eine übersinnliche Verbindung zwischen Anna und Agnes, die mit der Beziehung zur Erde als lebender Organismus zu tun hat. Der Track hat luftige Momente zu bieten und füllt als Gegensatz dazu den Raum auch mal üppig aus, was zu anregenden Dynamiksprüngen beiträgt.

    Ein klarer, sonniger Himmel und Gewitterneigung sind Natur-Phänomene, die für Freude oder Bedrohung stehen. Die Empfindungen, die mit beiden Ausprägungen in Zusammenhang gebracht werden, sind im Song "You & I Are Earth" akustisch vereint worden und finden als zart gesponnener Art-Jazz-Pop ihre Erfüllung.

    Feierlich, sakral und mit Zuversicht und Dankbarkeit wird bei "The Rest Of Our Lives" auf die irdische "Restlaufzeit" geschaut und die positive Energie, die sich daraus ergibt, führt zu einem stimmungsvoll-demütigen Folk-Gospel.

    Als Kind hörte Anna in ihrem Elternhaus oft die Musik von Ella Fitzgerald, was ihr Gespür für Melodievielfalt, Energievermittlung und Taktgefühl schulte. Später wurde sie durch ihre Geschwister mit Alben von zum Beispiel Nick Drake, Radiohead, Stevie Wonder und India Arie mit anderen Auffassungen bekannt gemacht. Als sie anfing, selber nach Vorlieben Ausschau zu halten, gefielen ihr zunächst Owen Pallett und My Brightest Diamond. Aus dieser breit gefächerten Mischung lässt sich ableiten, dass sie als Komponistin neugierig auf unterschiedlichste Formen der Soundgestaltung ist, was ihrer Arbeit nützt und der Attraktivität der Schöpfungen zugutekommt. Die poetische Ader, die die intelligente und sensible Musikerin durch ein Studium in englischer Literatur und einen Kurs in kreativem Schreiben schärfen konnte, rundet das originelle Konzept ab. Es bestehen also beinahe perfekte Grundlagen für das Schreiben von anspruchsvollen Songs. Zudem sind Annas Eltern Sänger klassischer Musik. Das Talent sollte deshalb schon alleine aufgrund der Macht der Gene vorhanden sein. Kein Wunder, dass sich die Lieder - wie selbstverständlich - klug und eindringlich anhören.

    Auch "You & I Are Earth", das dritte Werk von Anna B Savage, ist hinsichtlich Musik und Text wieder eine ambitionierte Angelegenheit geworden: Mystische Sagen und altehrwürdige Folklore konkurrieren mit der Informationsüberflutung und Schnelllebigkeit unserer Tage um Aufmerksamkeit. Anna besinnt sich dabei auf traditionelle Werte und ist trotzdem bestrebt, ihren eigenen Weg zu gehen. Sie ist momentan sehr glücklich mit ihrem Leben, was sich musikalisch so auswirkt, dass ihre Stimme bei den persönlichen Themen vor Hingabe vibriert. Schließlich ist das Album voll von Liebesliedern, die sich an die Natur und an den Partner wenden.

    Oft wird behauptet, dass ernsthafte, große Kunst nur unter Leid und Schmerz entstehen kann. Anna B Savage beweist mit "You And I Are Earth", dass das auch im Rausch des Glücks möglich ist. Auch wenn "You & I Are Earth" ihr zugänglichstes Werk im Vergleich zu "A Common Turn" (2021) und "in|FLUX" (2023) darstellt, so ist es keinen Deut weniger interessant als die Vorgänger. Denn unabhängig von ihrem Befinden erzeugt Anna auch aktuell intensiv-reichhaltige Musik und gibt sich nicht verliebtem Gesäusel hin, sondern stellt im Kern die wichtigsten Anliegen der Menschheit in den Mittelpunkt ihres Schaffens: den sorgsamen Umgang mit unseren Liebsten und unserer Erde. Es ist ein kurzweiliges und mit 31 Minuten leider auch ein kurzes Vergnügen, Anna B Savage beim Eintauchen in ihre eigentümliche Welt zuzuhören.
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    Press quality:
    5 of 5

    Die Magie der Nacht diente Michael Moravek als Inspiration für die Entstehung von Songs, die auf intime Weise zerbrechliche Seelenzustände beleuchten.

    Erlebnisse und Empfindungen, die mit der Nacht in Verbindung gebracht werden, sind vielfältig und kontrastreich. Für die einen ist es die Zeit der schäumenden Träume, die die Seele reinigen. Für andere bedeutet sie quälende Schlaflosigkeit mit kreisenden Gedanken. Manche machen die Nacht zum Tag und geben sich dem ausgelassenen Feiern hin. Für einige Leute sorgt die Dunkelheit dagegen für Angstzustände. Sie kann aber auch eine meditative Stimmung hervorrufen, was die Möglichkeit bietet, innere Ruhe herbeizuführen oder hilfreiche Erkenntnisse zu erlangen.

    Die besondere Stimmung der Nacht hält also je nach Kontext zahlreiche Geschichten und Fantasien bereit, und elf davon erzählt Michael Moravek in seinen neuesten Songs.

    Wie kann man Seelenfrieden finden, wenn Einsamkeit und Sehnsucht das Leben schwer machen? "Peace Of Mind" widmet sich diesem Thema und tunkt die Verse in Noten, die Wehmut und Besinnlichkeit transportieren, also zwischen Zweifel und Hoffnung angesiedelt sind, wie Michael bemerkt. Der traurig angelegte Folk-Song breitet einen zerbrechlich gewobenen, aus positiven Schwingungen bestehenden Teppich aus, der nur von einer gleichförmig angeschlagenen akustischen Gitarre, zarten Mandolinen- und Keyboard-Schwebeklängen, sparsamen Mundharmonika-Tönen und dem vorsichtig-leisen Gesang von Michael Moravek gestützt wird. Der Song kommt ohne Verschiebungen der Lautstärke und ohne Dynamiksprünge aus, was eine friedvoll-liebevolle Atmosphäre erzeugt.

    Es gibt unterschiedliche Gründe, warum Menschen beim Schlafen das Licht anlassen. Auf poetisch-kluge Art und Weise beleuchtet Moravek für "People Leave Their Lights On" dieses Verhalten. Der Track transportiert hypnotisch-monotone und schlingernde Akustik-Gitarren-Akkorde, die ihm eine stoisch ablaufende Grundstimmung verleihen. Moravek nutzt diese stabile, gleichförmige Basis, um darauf seine Überlegungen sachlich, aber aufgrund der ausdrucksstarken Konstruktion auch eindringlich vorzutragen.

    "Shiny Blue Hair" lebt von einer schillernden Symbolik, wobei ein Spielzeugkarussell eine Metapher für unbeschwert-freudige Zeiten bedeuten kann, ein Kaleidoskop mystische Welten darstellt und die Schneekugel den Wunsch nach etwas Beständigkeit in einer sich ständig veränderten Welt heraufbeschwört. Diese Empfindungen werden lyrisch mit einer geliebten Person verknüpft. Als besonders herausragend-attraktiv wird aber das glänzende blaue Haar der Partnerin, also ein optisch hervorstechendes Merkmal, erwähnt. Der swingende Folk lässt auch Jazz-Phrasen zu, was ihn zu einem leichtfüßig-unverkrampften Song mit Tiefgang werden lässt. Obwohl die Mandoline im Klangbild nicht prominent herausgestellt wird, ist sie hauptverantwortlich für den schwungvollen Aspekt der Komposition.

    Die Wahrnehmung von Ungerechtigkeit macht sich im Text von "Chickenman's Blues" breit ("Die Unschuld stirbt für den Ruhm eines anderen reichen Mannes. Wenn du nicht reich bist, sondern arm."), die sich aber nicht bedrückend auf die Ausstrahlung des Tracks auswirkt. Die Musik schöpft ihre Faszination aus einem langsamen Groove, der das Stück genussvoll-lasziv vibrieren lässt.

    Das Erstaunen über das eigene Dasein hat zu "Hush" geführt, einem Lied, das schlicht, beinahe nackt daherkommt, was die Instrumentierung angeht. Bescheidenheit und Demut kennzeichnen nicht nur den Inhalt, sondern auch den Ablauf. Daraus erblüht anmutige Folk-Gospelmusik, die originell gedacht und alternativ umgesetzt wurde.

    "Kicking Stones" handelt von einer freigeistigen, unabhängigen Person, deren Reichtum ihre unerschütterliche Zuversicht ist. Der Song atmet schwülen US-Südstaaten-Soul und verleibt sich zwischenzeitlich auf raffinierte Weise einen anregenden Rhythm & Blues-Takt ein - und das alles im Rahmen eines vollmundigen Art-Folk-Gewandes. Die Musiker ermöglichen unter anderem durch den Kurzeinsatz einer selbstbewusst improvisierenden Orgel und durch beherzte Dynamikwechsel am Ende des Tracks die Entstehung einer ausgelassenen Southern-Rock-Jam-Band-Atmosphäre - und das alles bei einer Laufzeit von nur drei Minuten. Michael Moravek nennt seine Homepage übrigens nicht ohne Grund "novembersoulmusic". Wie passend, denn hier ist dieser Name mal wieder Programm!

    "Dreams Seep Into The Earth" ist dagegen ein unspektakulär wirkendes Lied, welches auf eine eingängige Melodie als Hör-Reiz setzt. Der Track verweist auf Landschaftsbilder aus dem ehemaligen Jugoslawien, wo Michael aufgewachsen ist. Es sind Eindrücke aus einer fernen Zeit, die sich neben anderen Kindheitserinnerungen fest ins Bewusstsein eingebrannt haben. Das Gehirn überlagert dabei zum Glück die schönen Eindrücke gegenüber den verstörenden Momenten. Das Lied bewertet allerdings nicht nach angenehmen und belastenden Situationen, es zählt auf, versucht, die im Gedächtnis gebliebenen Bilder zusammenzusetzen und nach Möglichkeit realistisch wiederzugeben.

    "One Day I Will Write A Gospel Song": Dieser Wunsch hat sich eigentlich schon mit "Hush" erfüllt. Hier geht es nun mehr um die Strahlkraft eines Gospel-Songs, weniger um die musikalische Annäherung an diesen von religiöser Hingabe geprägten Musik-Stil. Ein fiktiver, optimal die Sinne erregender Gospel soll aus der Sicht von Michael zum Beispiel Ängste nehmen, eine Mauer gegen alle Bedrohungen aufbauen und das Selbstwertgefühl stärken. Er soll also genau das bewirken, was eindringlich-anspruchsvolle Musik im Grunde immer erreichen kann. Das Lied stellt Herzlichkeit und Besonnenheit in den Vordergrund. Das ist Easy-Listening in Form von purer Harmonie.

    Der Leitspruch "was du nicht willst, was man dir tu, das füg`auch keinem andren zu" steht als eine der Aussagen bei "Station Of The Heart" im Raum. Es geht aber auch um persönliche Weiterentwicklung ("Bleib ruhelos wie der Wind und das Meer") und um das angsteinflößende Drohgebaren einiger Kirchenvertreter ("Der Prediger, der streng sprach, erschreckte uns mit dem ewigen Abgrund"). Aber letztlich wird das höchste Gut der menschlichen Verbundenheit gefeiert, die Liebe. Michael verpackt seine humanitären Aussagen in einen nachdenklichen Barock-Folk, bei dem die Bratsche eine führende Betroffenheits-Rolle übernimmt. Diese Atmosphäre erzwingt Aufmerksamkeit und das Ergebnis kann als milde melancholische Singer-Songwriter-Musik für Fortgeschrittene deklariert werden. Was die sympathische Qualität und die Intensität erklären soll.

    "Merry Ship Of The Soul" bedeutet für Moravek "die Idealvorstellung einer Schiffsreise", wobei auf der Fahrt lauter Seelenverwandte dabei sein sollten, "die sich der Hoffnung verschrieben haben". Alle "Last und alles Krankmachende" wird zurückgelassen. "Stürmische Wellen zerlegen dann alle Ordnungen in ihre Bestandteile und fügen sie neu zusammen". So definiert der Musiker die Inhalte dieser Traumreise, die ihm Freiheit und Glück verspricht. Musikalisch beamt sich Moravek zurück in die intellektuelle Folk-Szene von New Yorks Greenwich Village, die um Mitte der 1960er Jahre nicht nur Bob Dylan, sondern auch hochsensible und/oder politisch aktive Musiker und Musikerinnen wie Phil Ochs, Eric Andersen, Odetta, Richard & Mimi Fariña oder Dino Valente hervorgebracht hat. Die Künstler haben versucht, mit einem individuellen Stil und stolzer Haltung die Gesellschaft positiv zu beeinflussen und die Welt etwas friedlicher und anständiger zu machen.

    "Carefree State" verbreitet zum Abschluss des Albums hoffnungsvolle Gedanken. Das Lied kommt als Begleitung mit zwei Akustikgitarren aus, die forsch angeschlagen werden, aber auch Ruhepunkte bereithalten, sodass trotz der sparsamen Instrumentierung für einen interessanten Ablauf gesorgt ist.

    Michael Moravek hat schon ein bewegtes Musikerleben hinter sich. 1998 gründete er das alternative Folk-Rock-Trio Planeausters, mit dem er fünf Platten produzierte. "Night Songs" ist jetzt auch Michaels fünftes Soloalbum, sein erstes ("In Transit (Is What We Are")) erschien 2017.
    "Night Songs" wurde in der Besetzung: Michael Moravek (Gitarren, Vocals, Mundharmonika), Tomáš Skřivánek (Bassgitarre), Christian Krischkowsky (Schlagzeug), Andrej Polanský (Viola, Mandoline), Štěpán Vodenka (Keyboards) und Wibke Becker (Backing Vocals) eingespielt.
    Michael Moravek erweist sich in dieser Konstellation einmal mehr als einfühlsam-glaubwürdiger Komponist sowie als gewandter Verfasser von klugen Texten und damit als kreativer Gestalter seiner Ideen. Sein unaufgeregter, aggressionsfreier Gesang erscheint häufig kumpelhaft-zurückgenommen und besticht dabei durch Ausgeglichenheit, nicht durch einen wilden Ritt durch die Oktaven. Die Musik spart jegliche klangliche Provokation aus. Stattdessen findet man neben jungfräulich-unschuldig modellierten Arrangements auch konstruktive Sound-Tüfteleien, die manchmal sogar dezent-psychedelische Effekte aufweisen.

    Der Verehrung und dadurch dem Einfluss seiner Helden Bob Dylan und Mike Scott von The Waterboys ist Michael Moravek längst entwachsen. Sie tauchen höchstens nochmal am Horizont der Kompositionen als höfliche Ehrerbietung auf. Ansonsten sind die elf von nächtlichen Eingebungen durchdrungenen Tracks mit eigenständigen Konzepten gespickt worden, die ihnen eine unabhängige Substanz verleihen.

    Moravek erweist sich als ein exakt beobachtender, poetisch-kluger Geschichtenerzähler, was er nicht nur mit seinen feinfühligen Songs beweist, sondern auch bei literarischen Ausflügen. Ein eindrucksvolles Beispiel dafür sind die drei überaus unterhaltsamen Beiträge zur Anthologie „Pop Steht Kopf“.
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    Lives Outgrown (CD)
    Dec 7, 2024
    Sound:
    5 of 5
    Music:
    5 of 5

    „Lives Outgrown“ ist das erste richtige Solo-Album von Beth Gibbons, der Stimme von Portishead.

    Das erscheint merkwürdig, weil Beth Gibbons schon nach „Third“, dem letzten Portishead-Studio-Album aus 2008, zwei Platten aufgenommen hat, die sie in den Fokus rückten. Nämlich „Out Of Season“, die Zusammenarbeit mit Rustin Man alias Paul Webb (ex-Talk Talk) von 2002 und die Einspielung von Henryk Góreckis „Sinfonie Nr. 3“ („Symphonie der traurigen Lieder“), die mit dem Dirigenten Krzysztof Penderecki und mit dem Symphonieorchester des Polnischen Nationalen Rundfunks im Jahr 2014 eingespielt wurde, prägte und mit ihrem besonderen geheimnisvoll-fragilen Zauber belegte. Beide Werke klangen mehr nach ihr als nach den sehr talentierten Beteiligten.

    Mit „Lives Outgrown“ festigt Beth Gibbons - die am 4. Januar 1965 in Exeter, England, geboren wurde - ihr Alleinstellungsmerkmal zwischen Pop, Klassik und Avantgarde, welches sie als ausdrucksstarke Sängerin, gehaltvolle Komponistin und fantasievolle Arrangeurin ausweist. Die dabei entstandene Musik ist ernsthaft, kunstvoll und dabei dennoch höchst unterhaltsam. Sie transportiert mysteriöse Stimmungen, mit der die dunklen Komponenten in David-Lynch-Filmen untermalt werden könnten.

    Für „Tell Me Who You Are Today“ webt Beth einen verwunschenen Sound, bei dem die akustische Gitarre sensibel auf Tuchführung mit den anderen Instrumenten geht. Percussion, Bläser und Streicher wechseln sich in ihrer herausragenden Rolle ab, sodass der Eindruck eines sich voran bewegenden Organismus entsteht. Gibbons begleitet diesen lebendigen Zustand mit mysteriösem, verhalten-beschwörendem Gesang. Die Zeilen "Sag mir alles, was du sagen möchtest. Sag mir, wer du heute bist. Frei von allem, was ich in meinem Inneren höre", sprechen von Vertrauensvorschuss und nagenden Zweifeln. Das wahre Geheimnis des Songs bleibt aber im Dunkeln verborgen.

    Kunstvoll verschlungene Saiten-Akrobatik lassen "Floating On A Moment" zunächst intellektuell hochfliegend erscheinen. Diese Wahrnehmung löst sich jedoch schnell zugunsten eines bittersüßen Stimmungsbildes auf, das kurz von einem frostig glitzernden Vibraphon und von um Harmonie bemühten Chor-Stimmen zusammen eingeleitet wird. Die einnehmende, liebliche Melodie nimmt sofort Besitz vom Wohlfühlzentrum im Gehirn und sorgt dort in Verbindung mit dem Mitleid erzeugenden Gesang für Entzücken. Poetisch verpackt macht der Text bewusst, dass das menschliche Leben nur ein Wimpernschlag im Vergleich zum kosmischen Dasein ausmacht und mahnt, damit bewusst umzugehen.

    Und das sollte man berücksichtigen, obwohl uns die Last des Lebens nicht in Ruhe lässt, wie es in "Burden Of Life" heißt. Der kammermusikalisch ausgestattete Track erzeugt eine bedrückende Dramatik, die sich bleiern auf die Seele legt und nur bedingt durch die vertraute Stimme von Beth Gibbons aufgehellt wird.

    Liebe verändert sich, Dinge verändern sich, die Zeit verändert sich - also verändert sich zwangsläufig auch das Leben. Dieses "Naturgesetz" liegt "Lost Changes" zugrunde. Das Stück transportiert diesen Gedanken mit einem leichten Schaukeln, was an ein Wiegenlied erinnert. Der Refrain vermittelt milde Zuversicht und die allgemeine Stimmung setzt auf die Verbreitung von Besinnlichkeit.

    "Rewind" lässt es ein wenig kratzbürstig angehen und klingt außerdem orientalisch und eigenwillig ruppig. Dazu trägt auch die auffällige Percussion-Arbeit bei: Scheppernde Becken und wilde Trommelwirbel mischen den sowieso schon wogenden Ablauf noch zusätzlich ordentlich auf.

    "Wo ist die Liebe geblieben, wo ist das Gefühl? Wo ist der Glaube an die Worte, die wir atmen?". So lauten die Fragestellungen, die in der Beziehungsproblematik von "Reaching Out" eine große Rolle spielen. Der rhythmische Takt zeigt sich bei dieser belastenden Gefühlslage beschleunigt, manchmal sogar aufgewühlt. Die Hintergrundstimmen haben eine klagende Färbung. Streicher und Bläser proben ab und zu den Aufstand, setzen sich aber nicht generell durch. Zwischendurch gibt es aber auch immer wieder Phasen der Einkehr und des Kraftschöpfens.

    Zu Beginn des als schlicht aufgebauten Folk-Song getarnten Stückes "Oceans" ahnt man noch nicht, welche brillante, zu Tränen rührende Melodie und welche hinreißenden Wendungen noch entblättert werden. Die Sätze "Aber ich werde in den Ozean eintauchen. Auf dem Boden werde ich meinen Stolz sammeln. Und ich werde die Länge der Emotionen spüren. Unter der Oberfläche habe ich keine Angst mehr" leiten das Ende des Songs ein, der zu den betörendsten Kompositionen des an Höhepunkten reichen Albums gehört.

    Die Folklore der Welt hat deutliche Spuren auf "Lives Outgrown" hinterlassen. Bei "For Sale" sind es verwaschene Eindrücke aus Nordafrika, die sich durch exotisch klingende Geigen bemerkbar machen. Sie unterstreichen, dass bei dem Lied die Traurigkeit ein zu Hause gefunden hat.

    "Beyond The Sun" beinhaltet eine Aufzählung von Fragen, die mögliche Alternativen im Verlauf des Lebens an persönlichen Meilenstein-Entscheidungen festmachen. Die dazu entworfene Musik ist grundsätzlich lebhaft und steigert sich allmählich bis knapp davor, eine Ekstase auszulösen. Kurz vom Ende des Stücks fällt der Druck dann ab und die Spannung implodiert.

    "Whispering Love" verspricht, ein behutsam ablaufender Track zu werden und hält diese anfängliche Erwartung auch eine Weile aufrecht. Das gilt bis zu dem Zeitpunkt, als Geigen Töne verbreiten, die sich in etwa wie eine quietschende Tür anhören. Trotz dieses deutlichen Störgeräusches behält die Harmonie die Oberhand und der Song entlässt die Hörerschaft mit einem hoffnungsvollen Gefühl: "Oh, flüsternde Liebe, wehe durch mein Herz, wenn Du kannst."

    Ganz gleich, in welcher Konstellation Beth Gibbons bisher in Erscheinung getreten ist, sie hat es immer verstanden, ihre Persönlichkeit prägend und überzeugend in die Waagschale zu legen. "Der Entstehungsprozess von "Lives Outgrown" erstreckte sich über zehn Jahren hinweg. Es war eine Zeit des Abschieds von Familie, Freunden und sogar von dem, der ich vorher war. Die Texte spiegeln meine Ängste und schlaflosen nächtlichen Grübeleien wider, daher der Titel "Lives Outgrown" (der unter anderem mit "Zurückgelassene Leben" übersetzt werden kann). Nicht nur wegen der Art und Weise, wie wir emotionale oder psychologische Übergänge in unserem Leben durchlaufen, sondern mehr im Zusammenhang mit der Zeit, in der wir diesen Planeten verlassen und uns ins Unbekannte bewegen," sagt Beth zu den Gegebenheiten, die zu ihrem Werk geführt haben. Beth Gibbons erschafft einen in sich abgeschlossenen Lebensraum, der bei aller Melancholie die Zuversicht nicht aus den Augen verliert.

    Ihre Klang-Entwicklung beschreibt sie folgendermaßen: "Der Sound war auch ein Prozess, bei dem ich Strukturen innerhalb meiner persönlichen Möglichkeiten erkundete. Ich wollte weg von Breakbeats und Snares und mich auf das holzige Gewebe der Klangfarben konzentrieren, weg von der süßen Sucht nach hohen Frequenzen, die befriedigen wie Zucker und Salz".

    Mit "Lives Outgrown" wurde zeitlose, hochwertige Kunst erschaffen. Sie kommt als ein flexibles, in sich stimmiges Art-Pop-Gefüge daher und veredelt jede Musik-Sammlung.
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    Slo Mo Fat Freddy's Drop
    Slo Mo (CD)
    Dec 7, 2024
    Sound:
    4 of 5
    Music:
    4 of 5

    Fat Freddy`s Drop bezeichnen SLO MO als „afrorhythmische Soulmusik und eine Erkundung der schwarzen Musik aus Polynesien“.

    Seit ihrer Gründung im Jahr 1999 wächst die Anhängerschaft der Formation Fat Freddy’s Drop aus Wellington in Neuseeland, ständig. Das liegt zum einen an den spannenden Tonträgern, aber auch an den mitreißenden Konzert-Darbietungen. Zurzeit besteht die dynamische Truppe aus DJ Fitchie alias Chris Faiumu (Drums, Samples), Joe Dukie alias Dallas Tamaira (Gesang und Gitarre), Chopper Reeds alias Scott Towers (Saxofon), Tony Chang alias Toby Laing (Trompete), Kuki Blaze alias Iain Gordon (Keyboards), Hopepa alias Joe Lindsay (Posaune) und MC Slave alias Mark Williams (Raps).

    Die Diskografie von Fat Freddy`s Drop reicht bis ins Jahr 2001 zurück und begann mit "Live At Matterhorn". "SLO MO" ist bereits die 31. Veröffentlichung der Gruppe, jedenfalls laut der auf der Bandcamp-Seite aufgelisteten Titel. Das Werk beinhaltet neun Tracks mit einer Laufzeit von 61 Minuten und "ist die bisher stärkste Studiodarstellung einer Freddy's Live-Show", wie Saxofonist Chopper Reed findet.

    Das Eröffnungs-Lied "Avengers" ist ein Sahnestück. Der Song groovt so lässig, dass automatisch jeglicher Stress von den aufmerksam Zuhörenden abfällt. Der Sound ist dicht, hält komplexe Abläufe bereit, die oft in die Beine gehen, aber auch das Gehirn füttern. Man kann sich das in etwa so vorstellen, als ob das filigrane Vibrieren von Little Feats "One Love Stand", das rauschhafte Innehalten bei "Wooden Ships" von Crosby, Stills & Nash und das brodelnde Soul-Funk-Gebräu, welches bei "The Cisco Kid" von War entstand, aufeinander treffen. Köstlich!

    Der Funk-Jam-Track "Slo Mo" hinterlässt gar keinen besonders stark abgebremsten Charakter. Das Takt-Gefüge bewegt sich über acht Minuten hinweg fließend, unangestrengt und wach. Auf Dauer entsteht allerdings der Eindruck, dass das gefundene Leit-Thema arg ausgewalzt und überstreckt wird. Ein weniger an Laufzeit hätte für mehr Konzentration auf das Wesentliche gesorgt.

    Der Reggae-Hip-Hop "Next Stop" präsentiert MC Slave als Rapper im Mittelteil und ist so einladend eingängig, dass er problemlos als Werbe-Jingle für alles eingesetzt werden könnte, was ein gewisses Sunshine-Feeling ausstrahlen soll. Trotz der besonderen Güte-Klasse der Musiker kommt dieser Song aber aufgrund seiner Berechenbarkeit nicht über das Niveau eines durchschnittlichen Gassenhauers heraus.

    Das war es dann aber auch schon mit der biederen Hausmannskost. Ab nun wird es wieder (und bleibt beständig) hochklassig: Der geschmeidige Reggae "Stand Straight" lässt an The Beat denken, die unter anderem mit "Save It For Later", "Doors Of My Heart" oder "Can`t Get Used To Losing You" Anfang der 1980er Jahre eine ähnliche Philosophie der Generierung von leichtfüßigen Kompositionen mit Ohrwurmqualität und instrumentaler Brillanz verfolgt haben. Das Stück ist so anschmiegsam und lässig, dass man sich seinem hypnotischen Charme nicht entziehen kann.

    Für "Oldemos" treffen unheilvoll klingende, dumpfe Trommeln, eine Ärger ankündigende Spaghetti-Western-Twang-Gitarre, sphärische Sounds und Echo-artige Dub-Reggae-Effekte bedeutungsschwanger aufeinander. Das Tempo bleibt stets verhalten und der Track zieht seine Anziehungskraft aus der geheimnisvollen Stimmung und den sich unerforscht anhörenden Hintergrundgeräuschen.

    Ein bildhaftes Easy-Listening-Feeling, gepaart mit Dub-Reggae-Hall, leitet "Out To Sea" ein. Joe Dukie federt das Stück dann gesanglich mit viel Seele in der Stimme ab und umgarnt die Noten liebevoll. Schließlich nimmt der Song aufgrund der instrumentalen Dominanz eine Wendung: Eine lebhafte Funk-Gitarre und galoppierende Percussion-Beiträge lassen ihn Fahrt aufnehmen und zügig-elastisch ausklingen.

    Mit "Roland" gibt es einen bannenden, polyrhythmischen Afro-Funk ohne Gesang zu hören, der die rauschhafte Wirkung von Minimal-Art-Sounds entfaltet.

    Ähnlich verführerisch ist auch "Getting Late" unterwegs, wobei sich der Rhythmus aus den stoisch agierenden Elementen der Electronic-Dance-Music speist, was ihn weniger nahbar als "Roland" klingen lässt. Diese Empfindung kann selbst Joe Dukie nicht verhindern, der dem Track mit seiner einfühlsam-sympathischen Stimme verwöhnt.

    "I Don’t Wanna See You" nimmt den eben gesponnenen Faden auf und macht daraus einen ausgedehnten, keyboardlastigen, mit Space-Sound-Effekten garnierten Track, der sich teilweise jazzig-improvisiert oder Kraut-rockig-experimentell anhört. Dukies Gesang taucht dabei nur geisterhaft im Hintergrund auf.

    Fat Freddy`s Drop ist eine gut geölte Groove-Maschine, die mühelos Soul, Funk, Reggae, Karibik-Sounds und psychedelische Töne zu einer erregend pulsierenden Mischung verbindet. Und "SLO MO" ist somit eine Geheimwaffe gegen schlechte Laune, denn durch die Musik kann man sich anspornen lassen oder den Geist auf anregende oder erholsame Reisen schicken.

    Mit leichter Hand wickeln die Musiker ihre Hörerschaft um den Finger. Es ist schwer, der Zauberkraft, die ihrer Musik innewohnt, zu widerstehen. Auch wenn nicht jeder Song einer kritischen Würdigung vollständig standhält, so ist es (immer wieder) das Gesamtkonzept, das überzeugt und zu guter Letzt begeistert.
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    Mahashmashana Father John Misty
    Mahashmashana (CD)
    Nov 26, 2024
    Sound:
    5 of 5
    Music:
    5 of 5

    Josh Tillman legt mit "Mahashmashana" einen Musterkoffer seiner Fähigkeiten vor und gibt damit eine sehr überzeugende Visitenkarte ab.

    Joshua Michael Tillman alias Father John Misty komplettiert und festigt seine bisherigen Sound-Vorstellungen. Nach dem 2022er-Werk "Chloe And The Next 20th Century", das vom Swing, dem Great American Songbook und von ehrwürdigen Songwritern wie Harry Nilsson beeinflusst war, schenkt der umtriebige Singer-Songwriter mit "Mahashmashana" wieder ausschweifenden und wuchtigen Kompositionen seine Aufmerksamkeit. Das sechste Father-John-Misty-Album beinhaltet acht Stücke mit einer Laufzeit von 50 Minuten. Von denen ist keiner kürzer als vier Minuten und der längste läuft sogar über neun Minuten.

    Für die Realisierung der aktuellen Platte hat sich der eigenwillige, 1981 in Rockville (!) (Maryland) geborene Künstler, wieder mit Drew Erickson, der schon beim Vorgänger-Werk für die Produktion mitverantwortlich war, zusammengetan. Der gleichgesinnte Jonathan Wilson besitzt ein Händchen für extravaganten Art-Rock und fungiert als kompetenter Gönner und Geldgeber. Josh hat sich erneut eine spezielle Form der Poesie ausgedacht, die neben klaren Aussagen auch jede Menge bizarre Wortkombinationen enthält. Gut so, das eröffnet Räume für eine breite Deutungsvielfalt.

    Das Album "Mahashmashana" beginnt mit dem Song "Mahashmashana". Das Wort stammt aus dem Sanskrit, einer indischen Gelehrtensprache und bedeutet wörtlich übersetzt "großer Feuerbestattungsplatz". Im Hinduismus und Buddhismus wird diese Bezeichnung als Umschreibung für die Vergänglichkeit des Lebens und den sich nach dem Tode anschließenden Übergang in eine andere Daseinsform benutzt. So tiefgründig die Erklärung ist, so mächtig ist auch die Komposition. Und zwar nicht nur aufgrund ihrer opulenten Erscheinung, die einen aufwändigen Hollywood-Blockbuster mit packender Dramatik ausfüllen könnte, sondern auch wegen der Länge von fast neuneinhalb Minuten.

    Souverän steuert Mr. Tillman den Song, lässt keine Langeweile aufkommen und nutzt die Gunst einer voluminösen Instrumentierung zur Erzeugung von großen Gefühlen: Wehmut, Leidenschaft, Optimismus und Zuversicht schwingen in den orchestral aufgeschichteten Noten mit.

    "She Cleans Up" ist ganz anders drauf. Hier hört man punkigen Rock & Roll, der mit einer gehörigen Portion Funk-Erdung versehen wurde. Aufruhr liegt in der Luft und wildes Saxofon-Getröte heizt die Stimmung an. Ein motivierendes Gefühl befreit den Geist von jeglicher grüblerischen Beschränktheit und deshalb ist der Track eine Quelle zur Erlangung von Unbeschwertheit. Da es Verbindungen zwischen Tillman und den schwedischen Viagra Boys gibt, weist die Komposition in ihrer lässig rockenden Grundhaltung nicht ohne Grund Ähnlichkeiten mit deren "Punk Rock Loser" auf.

    "Josh Tillman And The Accidental Dose" wurde knifflig-vielschichtig und spannungsgeladen zusammengesetzt und dabei mit einer köstlichen Melodie versehen. Dynamiksprünge, überraschende Einschübe und kurze Soli gehören zu dieser kunstvollen Gestaltung wie selbstverständlich dazu. Die dabei prominent eingesetzten Streichinstrumente streicheln die Sinne, erzeugen Schockmomente und lassen die Luft wie bei großer Hitze flirren.

    Bei "Mental Health" offenbart Misty seine herausragenden Schnulzen-Sänger-Qualitäten, wobei er auf die Unterstützung eines weit ausholenden, weichen, üppig gestalteten Sound zählen kann. Mithilfe dieser Verbindung lässt er selbst solche Crooner-Urgesteine wie Andy Williams, Tony Bennett oder Barry Manilow alt aussehen. Wäre er mit dieser Stimmlage Verkäufer geworden, hätte ihm kein Kunde aufgrund seiner charmanten Ausstrahlung widerstehen können.

    Das facettenreiche "Screamland" weist hintergründige, wenig auffallende und vordergründige, das Ohr einnehmende Bestandteile auf. Kaum merkbar ahmen Trommeln den Herzschlag im Ruhezustand nach, der sich trotz des stellenweise aufkommenden Getöses nicht aus der Ruhe bringen ließ. Auf der großen Bühne der gemischten Gefühle ist einiges los: Traurigkeit hält Einzug, Unbehagen breitet sich aus und tumultartige Szenen spielen sich ab. Sakrale Spiritualität findet genauso statt wie schrille Verzweiflung, die den Track bis zu seinem plötzlichen Ende begleitet.

    Josh Tillman litt ab 2016 fünf Jahre lang unter einer Persönlichkeitsstörung, durch die er nicht richtig mit anderen Menschen und seinem "geistigen Ich" in Beziehung treten konnte. "Being You" setzt sich damit auseinander. Musikalisch bezieht sich die Ballade auf einen langsamen Trip-Hop, der mit entrückten kammermusikalischen Referenzen und behutsamen Jazz-Träumereien veredelt wurde.

    Wurden dem Saxofon eben noch Zügel angelegt, so darf es sich für "I Guess Time Makes Fools Of Us All" funky und ungezwungen geben. Das Stück transportiert durch sein polyrhythmisch angelegtes Schema karibischen Schwung, der sich in der Mitte des achteinhalb Minuten langen Songs in einem kurzen Percussion-Solo tonangebend manifestiert. Weitere stimulierende Einzelaktionen von E-Gitarre und Saxofon schmiegen sich genauso passgenau in den durchgängig mild groovenden Ablauf ein.

    "Summer`s Gone" reflektiert Sound-technisch das alte, sentimentale Hollywood, bei dem die Stars noch mindestens Halbgötter waren. Inhaltlich setzt Joshua den vergangenen Sommer mit einer ausgelaugten Liebe gleich: "Was wird aus der Sehnsucht. Wenn deine Liebe erschöpft ist?"

    Josh Tillman ist mit seinen 43 Lebensjahren schon ein alter Hase im Showgeschäft. Er begann seine Karriere während der College-Zeit als Schlagzeuger, schrieb aber nebenher schon eigene Songs. Seine Demo-Aufnahmen gelangten in die Hände von Damien Jurado, der ihn spontan als Support-Act mit auf Tournee nahm. Von 2008 bis 2011 stieg Tillman als Drummer bei den Fleet Foxes ein, danach konzentrierte er sich wieder auf seine Soloarbeit. Unter dem Namen J. Tillman nahm Josh von 2006 bis 2010 acht regulär veröffentlichte, überwiegend intim-leise und melancholisch-verletzliche Alben auf, bevor er 2012 mit "Fear Fun" zu Father John Misty mutierte, der es eher vollmundig-schwelgerisch und hymnenhaft-prunkvoll mag.

    Ist "Mahashmashana" die bisher überzeugendste Platte von Josh Tillman als Father John Misty? Wahrscheinlich, aber sie ist auf jeden Fall seine abwechslungsreichste. Ist "Mahashmashana" die letzte Platte von Josh Tillman unter dem Spitznamen Father John Misty? Vielleicht könnte die Feuerbestattungs-Verbindung im Titel ein versteckter Hinweis darauf sein. Was soll denn auch noch nach "Mahashmashana" an Steigerung folgen, wo sich das Werk in seiner satten, großzügigen, beinahe vollkommenen Fülle sowieso wie ein zufriedener, am Ziel angekommener Abgesang anhört? "Mahashmashana" ist ein Meisterwerk und lässt musikalisch keine und textlich einige Fragen offen.
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    Wide Open Space Roosmarijn
    Wide Open Space (CD)
    Nov 26, 2024
    Sound:
    5 of 5
    Music:
    5 of 5

    Vom Geheimtipp zum Superstar? Nichts ist unmöglich bei der konstant hohen Qualität, die Roosmarijn mit "Wide Open Space" abliefert!

    Die 29-jährige hauptamtliche Sängerin und an der Klassik geschulte Bratschistin Roosmarijn Tuenter aus Arnhem in den Niederlanden legt mit "Wide Open Space" ihr erstes Volle-Länge-Album vor. Bisher gab es nur die EP "Inside Out" aus 2019 von ihr zu hören. Für die reichhaltig und kreativ untermalte Umsetzung des aktuellen Werkes standen elf Musikerinnen und Musiker zur Verfügung, die mit Roosmarijn zu einer homogenen Einheit verschmolzen. Die dabei erzeugte Musik speist sich aus etlichen Stilen, besonders ragen dabei malerischer Dream-Pop und psychedelischer Folk-Jazz sowie hypnotische Minimal-Art Strukturen hervor.

    Diese drei Bestandteile sorgen beim Opener "Outside" dafür, dass der Song mal verträumt in den Wolken hängt, dann wieder geerdet einem festen, monoton ablaufendem Rhythmus folgt, um sich außerdem plötzlich in einem spirituell verschwommen erscheinenden Umfeld unter der Führung von wogendem, lautmalerischem Gesang als kundiger Bote und extravaganter Experte zeigt. Viele Einflüsse bereichern diese Klanglandschaft, die trotz experimenteller Ansätze jederzeit zugänglich bleibt. "Outside" bewahrt sich neben seinem anspruchsvollen Rahmenprogramm einen aufmunternden Groove, der dem interessanten Art-Pop eine individuelle Note beschert.

    Roosmarijn erweist sich nicht nur hinsichtlich des Titels ihrer Platte als naturverbunden. So ist es wohl kein Zufall, dass der Einsatz eines nach Harfe klingenden Saiteninstrumentes für "Belonging" an kühl plätscherndes, klares Wasser erinnert. Als Kontrast dazu hört man einen melodisch starken Bass und schnell getaktete Percussion-Töne, die an asiatische Folklore denken lassen. Über diesen lebendigen Rahmen breitet Roosmarijn ihre reine, beinahe unschuldig klingende, friedvolle Stimme aus. Emotional gibt es kein Entrinnen vor dieser süßen Verführung, die die Sinne vor Verzückung tanzen lässt. Trotz dieser harmonisch prickelnden Ausrichtung ist Roosmarijn im Ergebnis nicht frei von Zweifeln: "Ich hatte einmal das Gefühl, zu jemandem zu gehören. Es brachte mich an einen Ort von zarter Schönheit, einen sanften und nicht enden wollenden Tagtraum. Doch als ich anfing, ein Lied darüber zu schreiben, war die Musik nicht nur glücklich und unbeschwert. Was wäre, wenn ich aus diesem Gefühl der Zugehörigkeit nicht mehr herauskäme? Was, wenn ich den Bezug zur Realität verlieren würde?"

    "The Mother" verbreitet einen heimeligen Home-Recording-Charme und offenbart dabei ganz unauffällig virtuose Raffinessen. Hinter dem Intro aus gezupfter akustischer Gitarre und gesummtem sowie sehnsuchtsvollem Gesang treten Vogelgezwitscher und Alltagsgeräusche hervor. Ein quengelndes Saxophon zerreißt später die andächtige Stimmung und stoisch-monotone Piano-Akkorde bringen ein unruhiges Klang-Element ein.

    Eine stupide klopfende Trommel legt die Basis für "Room For Another Chest". Gegen diese Einsilbigkeit kämpfen der um optimistische Flexibilität bemühte Gesang, das beschwichtigende Piano und beschwingte Streicher erfolgreich an.

    "Fire Walk With Me" ist ein Plädoyer für die Stärkung des Selbstbewusstseins. Das ist wichtig, damit man gegenüber anderen unerschrocken die eigene Meinung vertreten kann. Orientalisch eingefärbte Streichinstrumente leiten den Track ein, der sich danach bald in einen druckvoll pressenden Art-Rock verwandelt, aber immer wieder zum wellenartig schwingenden Beginn zurückfindet.

    Die unverhoffte Begegnung mit der Anmut eines Rehs prägte die Lyrik für "Dear Deer". Als Mensch sind wir Sammler von eindrucksvollen Momenten, die wir genießen und als abrufbare Wohltat in unserem Gedächtnis speichern sollten. Intuitiv benutzte, klassische Ausdrucksweisen treten für dieses Stück zutage. Die Bratsche wird sowohl gestrichen als auch gezupft und verleiht dem Lied eine feierlich-kultivierte Strenge und Würde.

    Bei "Shattered Heart" geht es natürlich um ein gebrochenes Herz. Aber statt in Selbstmitleid zu zerfließen, schöpft Roosmarijn aus dem Desaster Kraft. Denn sie erkennt, dass dieser Zustand ihre Fähigkeit offenbart, tief und innig lieben zu können. Und dieses sich Hingeben geht eben manchmal nicht ohne Blessuren ab. Repetitive E-Gitarrenakkorde, die an das Schaukeln von Ästen im Wind erinnern, Blechbläser, die zum Tränen erfüllten Happy-End blasen und ein wiegender Background aus Geigen-, Percussion-, Bass- und Synthesizer-Klängen sorgen für hilfreiche Schwingungen. Stimmungsvoller kann man ein gebrochenes Herz nicht heilen!

    Albtraum oder Fieber? LSD oder psychedelische Pilze? Irgendeine der aufgeführten Zustände oder Substanzen scheinen "Different Pace" beeinflusst haben. Beginnt der Track noch lebendig und munter, so entwickelt er zunehmend bizarr-ausschweifende, verschnörkelte Tendenzen, die ihn schließlich in die Verwirrung führen. Seltsam und unbequem, aber dadurch auch sehr reizvoll!

    Mit den Worten: "Es geht um die stillen Momente, in denen wir uns wirklich die Zeit nehmen, einander zu sehen, eingehüllt in eine Wärme, die noch lange nach dem Morgengrauen anhält", erklärt Roosmarijn die Botschaft hinter "Taking Time". Die Musik friert anfangs förmlich die Zeit ein und man kann in der Folge dem Auftauen zuhören und so einem vor Inspiration glänzenden Pop-Song mit großer Anziehungskraft lauschen. Roosmarijn singt sinnlich-erotisch und ihre Begleiter und Begleiterinnen betten sie dabei förmlich auf Rosen und Samt.

    Trocken gezupfte Ukulelen und ein rollender Bass begleiten die exakt formulierende Stimme von Roosmarijn bei "Where Bones Become Roots" zuverlässig und erschaffen fast durchgehend eine von Disziplin geprägte Stimmung. Erst ganz am Schluss öffnet sich ein erwartungsvoll-ehrfürchtiger Blick in die Unendlichkeit.

    Bei "Wide Open Space" folgt auf die elektronisch erzeugten, ploppenden, rhythmisch anstachelnden Sounds eine Phase der pulsierend angespannten Atmosphäre. Danach fällt dieses Konstrukt in sich zusammen und die mächtig aufgetürmte Dramatik der Schlussphase beendet den Track pompös.

    Roosmarijn ist mit "Wide Open Space" ein erstaunlich vielseitiges, tiefgründiges und melodisch zart gesponnenes, reizvolles Album gelungen. Sie erschafft einen der seltenen Glücksfälle, bei denen komplex verbundene solistische oder gruppendynamische Glanzstücke mit einer zärtlich-introvertierten Stimme eine attraktive, leichtfüßig-harmonische und bei aller Geschmeidigkeit auch fordernde Einheit eingehen. Menschen, die für die Musik von Susanna, Tindersticks, Andrew Bird, Pentangle oder David Sylvian schwärmen, werden wahrscheinlich auch großen Gefallen an dem Meisterwerk "Wide Open Space" von Roosmarijn finden.
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