Spannend, emotional, erschütternd - ein absoluter Lesegenuss
Cosima Liefenstein ist „Die Erbin“. Eine junge Frau, die in eine Unternehmerfamilie hineingeboren wurde. Die Industriellenfamilie Liefenstein ist fiktiv, deren Verstrickungen in die Machenschaften des Nationalsozialismus dagegen bittere Realität. Sie waren Profiteure der Arisierung, sie beschäftigten Zwangsarbeiter, sie kungelten mit den Nazigrößen.
Claire Winter erzählt ihren neuen historischen Roman in zwei sich abwechselnden Zeitebenen. Durch Namen-, Orts- und Zeitangaben sind die Kapitel übersichtlich gestaltet, sodass der Überblick nie verloren geht und auch das vorangestellte Personenverzeichnis ist gerade anfangs hilfreich, bald aber sind mir die einzelnen Familienmitglieder und auch andere, wichtige Figuren, sehr vertraut.
Cosima will eine Stiftung für bedürftige Frauen und Mütter ins Leben rufen, ihr Onkel Theodor unterstütz t sie dabei und wie er sagt, ist es Tradition bei den Liefensteins, sich für die Schwächeren und Ärmsten der Gesellschaft einzusetzen. Nicht jeder findet ihr Engagement gut, letztendlich aber lässt sich Cosima nicht von ihrem Vorhaben abbringen. Als sie dann den Journalisten Leo Marktgraf kennenlernt, ist auch er von ihrer Idee überzeugt und trotzdem sein journalistischer Schwerpunkt anders gelagert ist, möchte er gerne über ihre Stiftung berichten. Wir scheiben das Jahr 1957…
…und gehen zurück ins Berlin der 1929er Jahre. Hier treffen wir auf Elisa, die bei der Familie Liefenstein als Hausmädchen angestellt ist. Wilhelm ist der unangefochtene Patriarch, seine Söhne Theodor und Albert werden eines Tages seine Nachfolge antreten, der jüngste Sohn Edmund ist nach Wilhelms Ansicht dazu nicht geeignet. Als sehr begabter Maler sieht ihn sein Vater eher kritisch, um nicht zu sagen, er verachtet alles, was nicht seiner Norm entspricht. Doch eine standesgemäße Heirat ist auch für Edmund unabdingbar. In der mondänen Rita findet er seine Ehefrau, die ihm ein bezauberndes Mädchen schenkt – Cosima. Bald ist Elisa ihr Kindermädchen und auch wenn Rita sich eher auf dem gesellschaftlichen Parkett tummelt, so kümmert sich ihr Vater liebevoll um die Kleine.
Um diese beiden Protagonistinnen rankt sich der historische Roman, der so viel mehr ist als eine Familiengeschichte. Als Cosimas Stifung eine große Summe von einem Freund von Theodor zugesagt bekommt, ist es Theo, der die Spende ablehnt. „Diesem Mann will man nichts schulden“ ist seine lapidare Erklärung, was Cosima stutzig macht und sie daraufhin mehr wissen will. Sie stößt auf eine Mauer des Schweigens und doch lässt sie nicht locker.
Die Geschichte dieser Familie ist turbulent und steckt voller Geheimnisse. Es geht um Liebe in all ihren Facetten, ein Mord wirft viele Fragen auf und auch ein Suizid hängt irgendwie damit zusammen sowie mehrere Einbrüche in Privatwohnungen und Kanzleien. Daneben ist es die beklemmende Zeit des Nationalsozialismus, dessen Profiteure auch Unternehmerfamilien wie die Liefensteins waren, die in ihren Fabriken Zwangsarbeiter beschäftigten, angetrieben von SA und SS. Durch Arisierungen vergrößerten sie ihr Firmenimperium immens, die Schicksale dahinter waren nicht mal zweitrangig, sie waren ihnen schlichtweg egal.
Claire Winter gibt darüber einen erschreckend realistischen Einblick. Und auch, wenn dieses Thema bekannt ist, so ist es nochmals etwas ganz anderes, hinter die Kulissen zu blicken. Da ist David, ein sehr guter Freund von Edmund, der als Jude sich nach Polen rettet. Sie schreiben sich, bis kein Brief mehr kommt. Edmund hofft, dass David es schafft, sich in Sicherheit zu bringen, aber einige Zeit danach sieht er ihn, schwach und abgemagert, als Zwangsarbeiter, mit blutigen Striemen. Er will ihn retten, ihm zur Flucht verhelfen, was die Aufseher brutalst zu verhindern wissen. Dies ist nur ein kleiner Abriss all der Grausamkeiten, denen die einen ausgesetzt waren und andere sich dadurch bereichert haben. Auch die Liefensteins haben sich den Nazis angebiedert und danach, als all die Verbrechen aufgeklärt werden sollten, wurden ganz schnell sämtliche Beweise vernichtet. In so manchen Unternehmen haben die mit verräterischen Akten gefütterten Feuer lange gebrannt.
„Die Erbin“ ist ein bestens recherchierter historischer Roman, der mir einen tiefen Blick in unsere gar nicht so lange zurückliegende Vergangenheit gewährt. Eine finstere Zeit, die man nie vergessen darf, die noch lange in die Nachkriegszeit hineinwirkt. Dies alles eingebettet in die Geschichte der fiktiven Familie Liefenstein und deren so unterschiedlichen Mitglieder. Es war eine intensive Reise zurück in die Jahre 1929 bis 1957. Ein unterhaltsamer Roman, spannend, emotional und absolut lesenswert. Mein Tipp: Lesen, einfach lesen. Es lohnt sich. Wer Claire Winters Bücher kennt, wird sowieso unbesehen danach greifen.