Inhalt Einstellungen Privatsphäre
jpc.de – Leidenschaft für Musik Startseite jpc.de – Leidenschaft für Musik Startseite
  • Portofrei ab 20 Euro
  • Portofrei bestellen ab 20 Euro
  • Portofrei innerhalb Deutschlands Vinyl und Bücher und alles ab 20 Euro
0
EUR
00,00*
Warenkorb EUR 00,00 *
Anmelden
Konto anlegen
Filter
    Erweiterte Suche
    Anmelden Konto anlegen
    1. Startseite
    2. Alle Rezensionen von LittleWalter bei jpc.de

    LittleWalter Top 25 Rezensent

    Aktiv seit: 03. September 2010
    "Hilfreich"-Bewertungen: 1112
    472 Rezensionen
    Beach Day Another Sky
    Beach Day (CD)
    29.05.2024
    Klang:
    4 von 5
    Musik:
    4 von 5

    Die Abhängigkeiten zwischen Text und Musik, welche extreme Emotionen hervorbringen, spielen bei "Beach Day" von Another Sky eine entscheidende Rolle.

    Es gibt endlich Nachschub von Another Sky, dem 2017 in London gegründeten Quartett, das 2020 ihr erstes Album "I Slept On The Floor" veröffentlichte. Das Werk enthielt zum Großteil interessanten Dream- und Art-Pop sowie kratzbürstigen Post-Punk. Im Mittelpunkt dieser spannungsgeladenen Musik befand sich die schneidend intensive, teils verwirrend extravagante Sängerin Catrin Vincent. Sie lässt sich weder stilistisch noch geschlechtlich oder emotional eindeutig zuordnen und das ist gut so. Besonders eindringlich und herausfordernd sind ihre Falsett-Gesangs-Exkursionen, die die Hör-Nerven unter Umständen mächtig anstrengen können.

    Hohe Gesangs-Töne offenbaren eventuell Einblicke in eine mysteriöse Zwischenwelt: Geschlechter-Rollen verschwimmen in einem Bereich, in dem irdische und überirdische Erscheinungen sowie psychische Innen- und Außenansichten auftauchen. Eine Stimme, die Rock-Musik und Kunstlied bedienen kann, nimmt dadurch verschiedene Gestalten an. Wir befinden uns dann in einem Wirbel aus Geräuschen, der aus einer Vielzahl von Gefühlsregungen gespeist wird: Sind das eventuell die Klänge des Leidens oder doch der Lust? Wird etwa tiefes Entsetzen oder vielleicht eher heftiges Erstaunen ausgedrückt? Alles ist möglich, nichts muss so sein, wie es beim ersten Eindruck erscheint. Glaubwürdigkeit bestimmt das Handeln. Die textlichen Aussagen klären in der Regel über Zusammenhänge und Zuordnungen der Wahrnehmungen auf. Verletzlichkeit, Angst, Zorn, Mut und Willensstärke haben die Gedanken von Catrin Vincent beeinflusst und tragen zum kontrastreichen Eindruck von "Beach Day" bei.

    Das flexibelste Instrument, das es gibt, ist die menschliche Stimme. Sie demonstriert hier ihre Wandlungsfähigkeit und Macht. Und im Einklang mit gleich gesinnten, eingestimmten Instrumentalisten kann daraus ein überzeugendes, packendes, gediegen-verzückendes Gesamtpaket entstehen.

    Der Song "Beach Day" schleicht sich vorsichtig aus dem Nebel ins Licht. Er wartet mit absurd übertriebenem, jubilierendem Gesang auf, der sich mehr und mehr als Markenzeichen durchsetzt. Coole E-Gitarren-Akkorde, ein beharrlich-unauffällig klopfendes Schlagzeug, ein stützend-verbindender, sich energisch aufschwingender Bass und glitzernde Keyboard-Verzierungen erzeugen eine erwartungsvolle Stimmung, die sowohl vertraute als auch exotische Akzente bereithält.

    Der Falsett-Gesang begibt sich für "The Pain (Makes Me Feel Like I'm Alive)" in seltsame Höhen, sodass befürchtet werden muss, dass die Stimme plötzlich versagen könnte oder wegen der bizarren Schwingungen Glas zum Bersten gebracht wird. Unterschiedlich stark galoppierende Momente laufen hintereinander ab, was zu beflügelnden Effekten führt. Diese zeigen sich in gitarrenlastigen Passagen mit zerrenden Ausbrüchen, die dem Track eine prickelnde Schärfe verleihen. Es geht inhaltlich darum, mit sich ins Reine zu kommen, also auch darum, mit den Fehlern der Vergangenheit wohlwollend zum eigenen Nutzen abzuschließen.

    Das Prinzip der sich überlagernden Gegensätze - ein Yin & Yang der Gefühle - setzt sich fort und zieht sich wie ein roter Konzept-Faden durch das Album.

    Nach einer ungeduldig wirkenden Einleitung brechen brachiale, vehement zupackende Grunge- und Heavy Rock-Klanggewitter-Schübe über "A Feeling" herein, die von Augenblicken der Einkehr unterbrochen werden. ""A Feeling" entstand nach einem Gespräch mit einem Ultrakapitalisten. Ich habe meinen Job durch den Lockdown verloren und sie sagten, ich solle akzeptieren, dass es meine Strafe dafür sei, "einfach nicht hart genug gearbeitet zu haben"". So kommentiert Catrin Vincent die Motivation zur Entstehung des Songs. Kein Wunder, dass er so viel Wut enthält.

    Der sprudelnd frische Pop-Punk "Uh Oh!" mag es übermütig und spielt flankierend mit futuristischen Effekten. Die Musiker finden sogar vor ungebremstem Tatendrang kein schonendes Gegengewicht zu ihrem wilden Eifer. Allerdings wird auf eine aufreizend hohe Lead-Stimme als Stimulation verzichtet.

    Ausgleichende balladeske Ausdrucksformen tragen für "I Never Had Control" zu einem sich in leidenschaftlicher Hingabe suhlendem Stück bei. Die Essenz des Leidens, der Verzweiflung und des Flehens finden sich in Noten wieder, die vor Inbrunst vibrieren. Gefühlslagen von schmerzlicher Intensität treten hervor und hinterlassen eine fiebrige Erregung inmitten von hinreißend erblühender Schönheit.

    "Death Of The Author" entpuppt sich als Wolf im Schafspelz. Über eine lange Zeitspanne hinweg täuscht der Song so etwas wie eine kontrolliert-seriöse Folk-Rock-Atmosphäre vor. Bis dann plötzlich alle Dämme zu brechen scheinen und mächtige Sound-Wände eine Lärm-Flutwelle erzeugen.

    ""Burn The Way" wurde nach einem Gespräch mit jemandem geschrieben, der den Klimawandel leugnet. Es geht um das Gefühl, machtlos zu sein und vor dem Verhalten einer Person davonlaufen zu müssen, bevor man ihre Realität annimmt", erklärt die Komponistin. Das Lied wirbt für sich mit peitschend-dröhnenden Attacken, die den Weg für hymnische Gesangseinlagen freimachen. Der Track benutzt alarmierende, elektrisch verstärkte New-Wave-Tonfolgen, die Ideen von Killing Joke, Siouxsie & The Banshees und The Comsat Angels einbeziehen und feiern.

    Beim aggressiven "Psychopath" findet man überwiegend breitschultrigen Hardrock im Gepäck, der von einem nach vorn gemischten, grob-massivem E-Bass angetrieben und von giftigen, gehetzten E-Gitarren dominiert wird. Aus der Auseinandersetzung mit den Taten des bekannten Psychopathen quillt Verachtung heraus und gipfelt in der Aussage: "Wie konntest du das all deinen Freunden antun?"

    Minimalistisch-hypnotische Partituren lassen "Playground" vordergründig unnachgiebig erscheinen. Durch den konzentrierten, empathischen Gesang verliert der Song jedoch seine strenge Form und wächst zu einem rührend-erregendem Erlebnis heran.

    Schwungvoll, beinahe tanzbar, geht es bei "City Drones" zu. Der kompakt gestaltete Track baut ordentlich Druck auf und hält diesen bis zum Schluss unbeirrt und konstant aufrecht.

    Der Refrain von "I Caught On Fire" begibt sich auf leisen Sohlen, fast unmerklich, sozusagen hinterlistig, auf den Weg ins Gehirn. Er überlistet dabei die natürlichen Schutzmechanismen, die vor allzu romantischen Schnulzen-Angriffen schützen sollen und nistet sich gefühlvoll-gefällig ein.

    "Star Roaming" kann auf diesem Gebiet nicht überzeugen, sucht melodisch und vom Songaufbau her eine gewisse U2-Nähe und verliert sich dadurch in lauen Allgemeinplätzen.

    "Star Roaming" geht dann nahtlos in das meditativ-sphärische "Swirling Smoke" über, das sich vorsichtig Minimal Art-Rhythmen einverleibt, ohne dabei als typische Electronic-Dance-Music durchzugehen.

    Die Kompositionen auf "Beach Day" verströmen den herben Duft des Aufruhrs und des Zweifels. Deshalb traut man auch den lieblichen Passagen nicht über den Weg, weil meistens eine verunsichernde Bedrohung in der Luft liegt. Jack Gilbert (Gitarre), Naomi Le Dune (Bass), Max Doohan am Schlagzeug und Catrin Vincent als Sängerin, Pianistin und Song-Autorin haben eine ganze Reihe von merkwürdig verschachtelten Psycho-Drama-Kombinationen auf Lager. Das mag man gelungen, oder nicht nachvollziehbar oder zu anstrengend finden, auf jeden Fall ist das Vorgehen der Gruppe im besten Sinne des Wortes als progressiv, also fortschrittlich, zu bezeichnen.

    Nachdem die Band nach einer Überschwemmung ihr Equipment verloren hatte, war die Moral am Boden. Aber man darf ruhig an Wunder glauben, denn ein Pfarrer, der ein begeisterter Musikfan war, stellte die Krypta seiner Kirche als Studio zur Verfügung und trotz aller Einschränkungen, Entbehrungen und Schwierigkeiten durch die Lockdowns ging es dadurch weiter.

    Another Sky haben ihre Ausnahme-Stellung mit "Beach Day" gefestigt. Sie sind eine gute Adresse für Menschen, die glaubwürdige Musik mit Ecken und Kanten suchen, in denen heftige Gefühlsausbrüche, stilistische Verrenkungen und extravagante Schlenker als Sinn bildende Provokationen zu Hause sein dürfen.

    Bei "Beach Day" geht es inhaltlich um die "glühende Wut, die dich nach innen und tiefer in dich selbst führt, sowie um Ängste und all die verborgenen Wahrheiten, die du verzweifelt zu verbergen versuchst, während du dich selbst findest", lautet eine zusammenfassende Erklärung der Gruppe.

    Das Quartett geht dahin, wo es weh tut. Es führt aber auch wohltuenden Balsam mit sich, um die entstandenen Wunden zu versorgen. "Beach Day" plagt sich mit ernsten Problemen. Ein Tag am Strand kann dann dabei helfen, die Welt etwas entspannter zu sehen.
    Meine Produktempfehlungen
    • Beach Day Another Sky
      Beach Day (LP)
    • Beach Day (Limited Edition) (Red Vinyl) Another Sky
      Beach Day (Limited Edition) (Red Vinyl) (LP)
    • Beach Day Another Sky
      Beach Day (CD)
    • I Slept On The Floor (Limited Edition) (Dark Green Vinyl) I Slept On The Floor (Limited Edition) (Dark Green Vinyl) (LP)
    • I Slept On The Floor Another Sky
      I Slept On The Floor (CD)
    Video Days Cape Sleep
    Video Days (CD)
    29.05.2024
    Klang:
    4 von 5
    Musik:
    4 von 5

    Pop-Musik, die leicht und kultiviert erscheint. Ein schwieriges Unterfangen, von Cape Sleep souverän umgesetzt.

    Manche musikalischen Veröffentlichungen sind wie Visitenkarten. Sie sind kompakt, verzichten auf ausschweifende Darstellungen, halten sich an das Wesentliche und machen neugierig darauf, demnächst mehr von den Vortragenden zu erfahren. So verhält es sich auch mit "Video Days" des niederländischen Musikers Kim Janssen, der sich nach drei Platten unter eigenem Namen nun als Cape Sleep vorstellt. Mit neunundzwanzigeinhalb Minuten Laufzeit ist das Werk relativ kurz geraten, hinterlässt aber dennoch einen deutlichen, aussagekräftigen Eindruck der ästhetischen Ideen des Künstlers.

    Janssen erweist sich als umtriebiger, freigeistiger Gestalter und diese Toleranz spiegelt sich auch in den Klängen seiner Pop-Musik wider. Sie schöpft aus mehreren Epochen, hätte also auch so ähnlich in den 60er- oder 70er-Jahren entstanden sein können. Die harmonische Stärke des damaligen Adult-Pop von beispielsweise The Association oder The Young Rascals lebt bei "Video Days" unter Berücksichtigung von impulsiv-kräftigen Rhythmusschüben beschwingt weiter. Was die Lieder aber zeitlos macht, ist ihr Qualitätsanspruch an eine einschmeichelnde, aber dennoch kluge Melodieführung, einen draufgängerischen, einnehmenden Refrain und interessant-volltönende Arrangements. Einfallslose, ausgelutschte Ideen haben da keine Chance, clevere Unterhaltungs-Tricks schon.

    Bei den aktuellen Aufnahmen handelt es sich um wohlklingend-raffinierte Ton-Konstruktionen, wie sie über die Jahrzehnte hinweg in ähnlicher Form und in unterschiedlichen Genres immer wieder gerne aufgegriffen werden. So wie in den 1980er-Jahren durch Stephen Bishop oder in den 1990er-Jahren von Mac McAnally. Die Einflüsse, Referenzen und Retrospektiven in der Pop-Musik bewegen sich eben in Wellenbewegungen, wie es im Buch "Pop steht Kopf" anhand von zehn "Belegen" exemplarisch dargelegt wird.

    Leichtfüßig, nicht leichtgewichtig, unter Hinzunahme eines weichen, runden Gesang-Stils, tänzeln die Songs durch die Jahreszeiten. Sie flirten mit der warmen Witterung, retten ihre milde Ausstrahlung aber bestimmt noch in den Herbst und Winter hinüber. So wie es ähnlich auch Jimmy Buffett vermochte. In dessen Liedern - auch den traurigen - schwingt immer die Sonne Floridas mit und die Tage werden dadurch zu lässigen "Floridays". Textlich vermischen sich erlebte, erträumte und fantasierte Ereignisse und Gedanken, sodass die Analyse der Poesie zur Herausforderung gerät. Ein weiteres Indiz dafür, dass diese Pop-Musik trotz der glatten Oberfläche interessant ist.

    Als verkleideter Marsch-Rhythmus schleicht sich "Telephone" langsam, aber wirkungsvoll in Gefilde vor, die in Harmonie gebadet und einen stillen Optimismus gepachtet haben. Aufeinander geschichtete Takte verwirren rauschhaft die Sinne und der seriös-geschmeidige Gesang bildet die elastische Gleitcreme, auf der der Song in Richtung Glückseligkeit rutscht. Kim Janssen singt nämlich sowohl mit besänftigender, natürlicher als auch mit froh gestimmter, leicht verfremdeter Stimme. Stellenweise ist er sogar mit sich selbst im Duett zu hören. Das verschafft der Komposition einen flockig-aufgelockerten Aspekt, der wie Mousse au Chocolat für die Ohren wirkt. Korrespondierend dazu ertönen Sequenzen aus dem reichhaltigen Keyboard-Arsenal, die wahlweise mystisch-wallend oder übermütig-hüpfend daherkommen. Kein Widerspruch: Schließlich liegen im richtigen Leben Spaß und Ernst ja auch oft eng beieinander.

    Die Dichte der Instrumentierung ist bei den "Video Days"-Tracks oft verblüffend hoch, sie wirkt wegen einiger geschickt gesetzter Tempo- und Dynamik-Abstufungen allerdings nicht übertrieben aufgebläht. Das gilt auch für "Vienna In The Rain", wo die anfänglich markant heraus gespielte Dramatik ausschließlich dazu dient, die Aufmerksamkeit zu schärfen. Eine angespannte Stimmungslage führt oft in dunkle Abgründe, hier trägt sie zum Aufbau eines würdevoll verzierten Gefühlsausbruchs bei.

    Für die Power-Pop-Ballade "Boy Scout" baut das Schlagzeug einen Groove auf, der Break-Beat-Motive andeutet, jedoch hauptsächlich ein stetiger Antreiber, seriöser Unruhestifter und verbindender Partner ist. Dieser psychedelisch schwirrenden Konstruktion werden durch elektronisch erzeugte Töne und durch ein verwehtes Steel-Gitarren-Jauchzen leidenschaftliche Sinneseindrücke eingehaucht. Sie stehen im Kontrast zum abgeklärten, ungekünstelten Gesang, was in Summe zu einem erregt-geheimnisvollen Erlebnis führt.

    Das Zusammenspiel von monotonen Drums und lieblichen Keyboard-Akkorden führt bei "The Movers" zu einem prickelnd-aufreizenden Kontrast. Ähnliches gilt für die Kombination von brummend-grollendem Bass und schmerzhaft-leidendem Falsett-Gesang. Das Stück mag es, wenn es sich romantisch-verklärt anhört und verarbeitet dafür Trompeten-Fanfaren, die an Choräle von Johann Sebastian Bach und an reife Beatles-Arrangements erinnern.

    "I Want To Be Your Friend" erweist sich als ein ideales Transportmittel für Glücksgefühle und ist dem Song-Titel entsprechend hoffnungsvoll gestimmt. Das zuversichtlich gestimmte Lied klingt somit vortrefflich nach einem passenden Soundtrack für einen Frühling im Freien.

    Die Stärke von "Your House" liegt in einem unwiderstehlich attraktiven Refrain, der sich fest im Hirn einnistet und unerwartet ins Bewusstsein gespült wird, auch wenn das Lied schon lange verklungen ist. Der prominent zur Schau gestellte, sommerlich-sonnige und sanft-entspannte Charme zeigt dabei herzerwärmend freundliche Züge.

    "Cape Canaveral" wurde als hymnisch-ausschweifender Track mit hypnotischen Takten, sprudelndem Schlagzeug, drängelnden Synthesizer-Ausdünstungen und mahnendem Gesang konzipiert. Es erfordert wegen der zwischenzeitlich wie Zwiebelschalen aufgeschichteten Soundwände eine hohe Konzentrations-Bereitschaft, um alle verwendeten Zutaten erfassen und separieren zu können.

    Als rauschendes Finale erweist sich das filmreif inszenierte "The Afternoons", das andächtig beginnt, dann aber glitzerndes Klang-Lametta in Form von hochgestimmten Geigen-Tönen und feierlichen Trompeten bereithält.

    Die "Video Days" beziehen sich auf Lebens-Phasen, in denen wir zurückblicken, Erkenntnisse bekommen oder Visionen ablaufen lassen. Kim Janssen zeigt bei seiner akustischen Untermalung Vorlieben für große Gesten, einen Hang zu emotionalen Überschwangs-Handlungen und ein Talent für die Gestaltung von üppigen Arrangements. Diese Zutaten bereitet er zusammen mit einigen Gästen unter Heranziehung von Inspirationen aus dem bunten Pop-Universum akustisch liebevoll-volltönend auf. Das Ensemble taucht dabei in eine Gefühlswelt ein, bei der erfüllte und unerfüllte Erwartungen eine große Rolle spielen. Dadurch entsteht ein schmachtend-ergriffenes Kopf-Kino-Erlebnis. "Video Days" ist ein anschauliches Beispiel dafür, dass Easy-Listening kein Schimpfwort sein muss, sondern für kluge Schönheit stehen kann.
    Meine Produktempfehlungen
    • Video Days Cape Sleep
      Video Days (CD)
    • Video Days Cape Sleep
      Video Days (LP)
    • Cousins Kim Janssen
      Cousins (CD)
    Blu Wav Grandaddy
    Blu Wav (CD)
    29.05.2024
    Klang:
    4 von 5
    Musik:
    4 von 5

    Andacht im Rahmen von bittersüßen Country-Folk-Serenaden: Das Projekt Grandaddy streichelt mit "Blu Wav" behutsam die Seele.

    Grandaddy ist im Kern Jason Lytle aus Kalifornien und Jason Lytle ist ein sympathischer Sonderling, ein Heimstudio-Tüftler, ein abenteuerlustiger, neugieriger Komponist, Arrangeur und Musiker. Ein Singer-Songwriter-Grenzgänger und ein Individualist, der unabhängig von Trends und Moden sein Ding durchzieht. Abgesehen von seinem Projekt Grandaddy ist Lytle auch Solo tätig und beteiligt sich an anderen Formationen wie Admiral Radley oder BNQT.

    Grandaddy besteht seit 1992 und nach einigen EPs erschien im Jahr 1997 der erste offizielle Longplayer "Under The Western Freeway". Das allwissende All Music-Portal beschrieb es damals als "ein ziemlich brillantes Album, das ein warmes, ernstes und rustikales Gefühl mit manchmal albernen Experimenten kombiniert". Auf dem neuen Werk, das erste seit "Last Chance" aus 2017, finden sich weder stürmische Rock-Ausbrüche noch anstrengende Experimente. Hektisches Getöse wurde weitestgehend durch friedvolle Intimität abgelöst.

    Jason Lytle lebt auf "Blu Wav" drei Vorlieben genüsslich aus: den Einsatz einer Pedal-Steel-Gitarre zur Steigerung von sehnsüchtig-traurigen Eindrücken, romantisch-tiefgründige Morricone-Western-Bass-Linien, die von weiten, stillen Landschaften künden und einen schunkelnd-wiegenden Rhythmus zur Herstellung von harmonisch-freundschaftlichen Gefühlen. Dazu erschallt die ausgeruht-weise Stimme von Lytle, die den Songs einen lieblich-tröstenden Schmelz verleiht, der unter die Haut geht. Und dann ist da natürlich wieder diese kurios-kreative Titel-Schreibweise, die es auch schon bei "The Sophtware Slump" (2000) und "Sumday" (2003) gab. "Blu Wav" steht als Synonym für eine Verschmelzung von Musikstilen wie Bluegrass mit New Wave, wobei New Wave Bestandteile nur dezent-sparsam zugeführt wurden - schon fast in homöopathischen Dosen.

    Die Ouvertüre "Blu Wav" verfügt über folkloristische Einflüsse, die von Texas bis nach Griechenland reichen und die heilsame Kraft der Gelassenheit als Triebfeder nutzen.

    "Cabin In My Mind" und "You're Going To Be Fine And I'm Going To Hell" sind wesentlich opulenter aufgebaut, wobei synthetische, wattige Hintergrund-Schleier, schmachtende Chorstimmen und eine jauchzende Pedal-Steel-Gitarre aus Tönen bittere Tränen entstehen lassen. Lytle begleitet diese Mini-Dramen gesanglich mit einem konstruktiven Weltschmerz, der sowohl mitfühlend als auch ermutigend ausgedrückt wird.

    Elektronische Spielereien gehören einfach zum Repertoire von Grandaddy dazu. Sie vertragen sich in Form von wenigen Spezial-Effekten und monotonen Drums ohne Berührungsängste mit der Wehmütigkeit des Country-Folk-Stücks "Long As I'm Not The One". Auch ein Großstadt-Cowboy kann schließlich zartbesaitet sein.

    Die Songs sind allesamt als feinsinnig - also empfindsam abgestimmt - zu bezeichnen. So kann es auch gelingen, dass ein sentimentales Lied wie "Watercooler" zu keiner Zeit als belanglos-rührselige Schnulze wahrgenommen wird, sondern seine anteilnehmend-sanfte Wirkung nicht verfehlt.

    Space-Sounds und sphärische Gesänge führen beim kurzen Intermezzo "Let's Put This Pinto On The Moon" die Gedanken dahin, wo es noch viele Rätsel zu lösen gibt, hinauf ins bisher unergründliche Weltall. Und plötzlich werden diese Gedanken als Verpflichtung zurückgespielt, trotz bescheidener Möglichkeiten jedes Einzelnen, erst einmal für eine bessere Welt zu sorgen.

    Beinahe schwerelos geistert "On A Train Or Bus" wie ein Wiegenlied durch den Äther. Zwischendrin kommt es bei dem Gebilde zu einer Reduzierung, wo kurz nur noch der Gesang in die Welt geschickt wird, was zu einem schreckhaft-verlorenen Moment führt, der durch die wieder einsetzenden Instrumente geheilt wird. Das zeigt, dass es im Leben immer gut ist, wenn es Mitstreiter gibt, die einen auffangen, wenn man völlig wehrlos dasteht.

    Mit einem unkontrolliert wilden Ausbruch beginnt "Jukebox App", der Song wird aber kurz darauf in ruhige Fahrwasser geleitet, wo er gemächlich dahingleitet. Dieser Ambient-Country bewegt sich in einer melodisch meditativen Dimension, die passgenau für dieses Trennungs-Szenario hergerichtet wurde.

    Aufnahmen von wilden Kojoten und piependen Satelliten (oder sind es Kontakt suchende Außerirdische?) begleiten das von Piano-Akkorden und rauschenden Synthesizer-Tönen getragene Zwischenspiel "Yeehaw Ai In The Year 2025".

    Bei "Ducky, Boris And Dart" handelt es sich um verstorbene Haustiere von Jason Lytle, denen hier mit einer vollmundig-geschmeidig und wechselweise üppig und schlicht begleiteten Country-Folk-Ballade gedacht wird. Ducky und Boris waren Katzen und bei Dart handelte es sich um einen Vogel, der gegen die Windschutzscheibe seines Autos flog.

    Geradezu feierlich-getragen verhält sich "East Yosemite", denn der weihevolle Gesang hat die suggestive Wirkung einer Predigt und die musikalische Begleitung zeigt sich dazu in weihevoller, förmlicher Ausstrahlung.

    Für "Nothin' To Lose" wird die Stimmung weiter herunter gedimmt und es entsteht eine nachtgraue, intime Schöpfung, die sich an den eigenen Haaren durch einen willensstarken, optimistischen Rhythmus aus der Niedergeschlagenheit befreit.

    Mit "Blu Wav Buh Bye", einer besinnlichen, instrumentalen Solo-Piano-Nummer, endet das Werk, das einen homogenen, altersweisen, ausgewogen-tiefsinnigen Eindruck hinterlässt. Man kann es auch einfach nur als schön bezeichnen.

    Dadurch, dass alleine sieben der 13 Songs und Intermezzi eine Walzer-Injektion erhalten haben, wirkt sich der Einsatz dieses Stilmittels auf das ohnehin schon melancholisch schwelgende Werk beruhigend-gemütlich aus. Es gibt kaum Hektik oder Aggression auf dem Album. Eher ein Bekenntnis zur Beschaulichkeit, Demut und Liebe, bei dem ein sensibel nachempfundenes Americana-Erbe die Gestaltung der Songs prägt. Und das auf eine Art und Weise, die nicht esoterisch einlullt, sondern zu Herzen geht und die Hörerschaft akustisch in den Arm nimmt. "Peaceful Easy Feeling" haben die Eagles mal einen Song genannt. Dieser Ausdruck und dieses Gefühl passt auch für "Blu Wav", einer Oase der Friedfertigkeit - wie gemacht für diese verrückte Zeit!
    Meine Produktempfehlungen
    • Sumday (White Vinyl) Grandaddy
      Sumday (White Vinyl) (LP)
    • Sumday: The Cassette Demos Grandaddy
      Sumday: The Cassette Demos (LP)
    • Blu Wav (Opaque Baby Blue) Grandaddy
      Blu Wav (Opaque Baby Blue) (LP)
    • Sumday Twunny (20th Anniversary) (remastered) (Limited Edition Box) Grandaddy
      Sumday Twunny (20th Anniversary) (remastered) (Limited Edition Box) (LP)
    • Blu Wav Grandaddy
      Blu Wav (CD)
    • Blu Wav (Nebula Vinyl) Grandaddy
      Blu Wav (Nebula Vinyl) (LP)
    • The Sophtware Slump ..... On A Wooden Piano (Cloudy Clear Vinyl) Grandaddy
      The Sophtware Slump ..... On A Wooden Piano (Cloudy Clear Vinyl) (LP)
    • Last Place Last Place (LP)
    • Sophtware Slump.....On A Wooden Piano (Limited Edition) (Pink Vinyl) Grandaddy
      Sophtware Slump.....On A Wooden Piano (Limited Edition) (Pink Vinyl) (LP)
    • Sophtware Slump.....On A Wooden Piano Grandaddy
      Sophtware Slump.....On A Wooden Piano (CD)
    Cristal Medium Blue Lewis OfMan
    Cristal Medium Blue (LP)
    29.05.2024
    Klang:
    4 von 5
    Musik:
    4 von 5
    Pressqualität:
    4 von 5

    Lewis OfMan serviert mit "Cristal Medium Blue" einen sympathisch verschrobenen Retro-Sound-Cocktail.

    "Cristal Medium Blue" ist Teil einer Easy-Listening-Renaissance, die sich unter anderem auf den Space-Age-Sound der 1950er-, die psychedelischen Reize der 1960er-, den Soft-Rock der 1970er- und den Synthie-Pop der 1980er-Jahre beruft. Daneben finden zum Beispiel auch Karibik- und Disco-Rhythmen sowie Sunshine-Pop-Harmonien ihren Platz auf dem zweiten Album des in Frankreich geborenen Musikers Lewis OfMan.

    Der "Frisco Blues" ist eine Collage aus nachempfundenen Westcoast-Sound-Erinnerungen seiner Teenager-Vorlieben, die Santana und Crosby, Stills, Nash & Young hießen. Und dieses Konstrukt wird mit beiläufigem, belanglosem Kinder-Gesang, nachtgrauen Jazz-Anklängen, formelhaften Spoken-Word-Einwürfen sowie optimistischem, melodischem Lead-Gesang gepaart. Solch eine risikofreudig-wohlklingende Mischung, die sich um einen hohen Unterhaltungswert und gleichzeitig um eine bizarre Pop-Darstellung bemüht, gibt es selten zu hören. Wer sich noch an die Fusion-Band Mark-Almond (Jon Mark & Johnny Almond) erinnert, der hat eine ungefähre Vorstellung davon, was hier passiert. Lewis OfMan gibt quasi eine Visitenkarte von einigen seiner im Erfahrungs-Verbund gewachsenen Klangvorstellungen ab und macht damit neugierig auf das, was noch kommen mag.

    "Flowers In The Car" weckt in seiner stürmisch-freudigen Herangehensweise angenehme Erinnerungen an die feurig-verzerrten und dennoch eleganten E-Gitarren-Soli von Steely Dan ("Reelin` In The Years"), den aufgeweckten, rhythmisch aktiven Pop-Groove der Doobie Brothers ("Listen To The Music") und die hitzige Melodie-Verliebtheit der Posies ("Dream All Day").

    Wie eine manipulative Animation zu einem Jane-Fonda-Aerobic-Video aus den 1980er-Jahren wurde "Get Fly (I Wanna)" als eine von leidenschaftlichen karibischen Rhythmen getragene Salsa-, Disco- und Psychedelic-Pop-Darbietung leicht verdaulich und entschlossen arrangiert. Die Grenze zwischen Ernsthaftigkeit, Kitsch und Satire verschwimmt hier völlig, und das wahrscheinlich absichtlich. Besonders deutlich wird die Doppel- oder Dreifach-Deutigkeit, als zum Schluss bei Gastsängerin Gabriela Richardson aus "I Wanna Get Fly" ein "I Wanna Get High" wird - für das sie sich auch noch reumütig entschuldigt. Das Stück kommt ebenso lustig wie beschwingt rüber, ohne dabei albern zu wirken.

    Für den intim-verführerischen Folk-Soul "Come & Gone" überlässt Lewis OfMan große Teile des Lead-Gesangs Alaska Reid, mit der er sich auch sinnlich im Duett umgarnt. Heraus kommt dabei eine lasziv-dunkle, teils basslastige, teils glockenhelle Stimmung, wie sie zum Beispiel auch bei "Spooky" von Dusty Springfield vorherrscht.

    Auf kratzigem Vinyl wird zunächst die Vision eines uralten Liebesfilm-Soundtracks heraufbeschworen, bevor "El Amor" in ein Hörspiel mit Untermalung durch spanische Folklore abzweigt.

    Dies ist aber nur der Vorspann zu "Caballero", einem weiteren Weltmusik-Track, der effekthaschend aufbereitet wurde und in erster Linie für Spaß und Lebensfreude steht.

    Exotische, flirrende Klänge entführen das Stück "Cristal Medium Blue" dann in eine Welt, in der es sowohl freundlich-ästhetisch als auch märchenhaft-versponnen oder rauschhaft-abgehoben zugeht. Als Vergleich lassen sich die atmosphärisch verträumt aufgestellten Kompositionen der High Llamas und die einfallsreichen Spielereien von Stereolab heranziehen.

    Die multikulturell aufgewachsene Künstlerin Sofie Royer konnte für "Miles Away" als Lead-Sängerin gewonnen werden und sie stattet den lockeren Funk-Rock-Groove mit erotisch aufgeladenen Tönen aus.

    Elektronischer Minimalismus prägt "Hey Lou" und lässt den Track, der die Angst vor dem unaufhaltsamen Zeitverlust thematisiert, maschinell-kühl erscheinen. Gegen diesen Eindruck mag sich der Gesang nicht stemmen, der auch unter Hinzunahme der Stimme des Pariser Models Camille Jansen relativ unbeteiligt-übersättigt-gelangweilt klingt, was wohl den Coolness-Faktor erhöhen soll. Die E-Gitarre bringt dann jedoch Spritzigkeit ein, sodass die Bestandteile zusammen betrachtet für belebenden Kontrast und Attraktivität sorgen, was durch die Andeutung an den stoisch-hypnotischen Velvet-Underground-Sound noch gesteigert wird.

    Der ausladende Instrumental-Titel "Cruisin’" könnte in seiner künstlich durch Solo-Passagen angereicherten, pseudointellektuell dahinplätschernden Unverbindlichkeit als bloße "Fahrstuhl"- oder "Pausenfüller"-Musik abgetan werden und wirkt tatsächlich schon nach wenigen Hördurchgängen relativ sinnleer.

    "Highway" schmückt sich mit dem jugendlich-klaren Gesang von Lorely Rodriguez (alias Empress Of). Der Track versteht es vortrefflich, zwischen strahlendem Space-Rock, eleganter Bossa Nova und antreibenden Folk-Akkorden zu vermitteln. Und so entsteht ein Gebilde, das sowohl energetisch als auch empathisch überzeugt.

    "Eternity" zeigt sich danach unaufgeregt und erneut unbeeindruckt von gängigen Trends. Der Instrumental-Track könnte als Abspannhintergrund für einen Film taugen, denn man sieht vor dem geistigen Auge quasi etliche Namen langsam nacheinander hochrollen. In diesem Augenblick der emotionalen Leere gibt es keine Erwartungen mehr. Die Höhepunkte des Film-Geschehens werden allmählich ins Gedächtnis zurückgerufen und die Gedanken driften zunehmend in Richtung der nächsten Aktivitäten ab. "Eternity" stört diesen Ablauf nicht, setzt sich aber auch nicht im Gedächtnis fest. So ist der Song ganz nett, hinterlässt aber keinen bleibenden Eindruck.

    Gelobt sei, was Spaß macht: So könnte das Motto von "Cristal Medium Blue" lauten, denn Lewis OfMan packt lustvoll alles zusammen, was ihm in den Sinn kommt, völlig unabhängig davon, ob die Ideen offenkundig zueinanderpassen oder nicht. Es befinden sich nur wenige aktuelle Stil-Elemente darunter, das meiste läuft unter der Kategorie "Retro". Darunter sind auch Tonkombinationen, die nicht unbedingt höchsten künstlerischen Anforderungen genügen. Es ist eben nicht "alles Colt, was ballert", wie es schon in der 1970er-Jahre-Sketch-Serie "Klimbim" hieß (um den Retro-Begriff auch anderweitig einzusetzen). Aber die Mischung macht den Reiz aus, der hier in einer unberechenbaren Kombination aus angenehm merkwürdigem, angestaubtem Firlefanz besteht.

    Lewis OfMan beweist Mut, indem er größtenteils unmoderne, unter Umständen sogar als uncool oder seicht empfundene Musik frisch aufpoliert. Er präsentiert die Ausgrabungen charmant-ironisch, mit einem Selbstbewusstsein, als wären sie das nächste große Ding, sodass er durchaus wie ein Pop-Erneuerer erscheinen kann. Ganz nebenbei wird bei dieser Vorgehensweise zusätzlich belegt, dass die Popmusik von Einflüssen, Referenzen und Retrospektiven lebt, die wellenartig auftreten. Genauso, wie es im Buch "Pop steht Kopf" belegt und beschrieben wird.
    Meine Produktempfehlungen
    • Cristal Medium Blue Lewis OfMan
      Cristal Medium Blue (LP)
    Polaroid Lovers Sarah Jarosz
    Polaroid Lovers (CD)
    29.05.2024
    Klang:
    5 von 5
    Musik:
    3 von 5

    Der aktuelle Karriere-Schnappschuss von Sarah Jarosz dreht sich mit vermehrter Pop-Ausrichtung um die Liebe.

    Es gibt diese Künstler, die mit ihrem Auftreten den Raum für sich einnehmen und mit ihrer Stimme eine ultimative, über alle Maßen weise Darbietung präsentieren. So wie Matt Berninger (The National) oder eben Sarah Jarosz. Die 1991 in Austin geborene und nach New York jetzt in Nashville lebende Musikerin, wurde als musikalisches Wunderkind im Country-Folk- und Bluegrass-Genre gehandelt. Denn schon mit 12 Jahren stand sie als Mandolinen-Virtuosin mit den Szene-Größen Ricky Skaggs und David Grisman auf der Bühne. Als Sechzehnjährige erhielt sie einen Plattenvertrag und brachte zwei Jahre später ihr erstes Album "Song Up In Her Head" heraus. "Polaroid Lovers" ist jetzt ihre achte eigene Platte (neben einem Werk als I`m With Her mit Sara Watkins und Aoife O`Donovan) und beinhaltet einen Kurswechsel.

    Bei der ersten Single "Jealous Moon" handelt es sich im Grunde um einen stramm getakteten Track mit minimalistischen und psychedelischen Einlagen. Die ausgleichende Stimme von Sarah Jarosz schubst die Komposition vom Hard-Rock-Sockel und lässt sie als vollmundig-bittersüßen Country-Pop mit bodenständigen Bluegrass-Mandolinen-Verweisen erstrahlen. Der Track verfügt über einen aufmunternden Rhythmus, beschwichtigenden Gesang, einer lieblichen Melodie, einem süffigen Refrain und inspirierenden Soli. Das Ergebnis hinterlässt eindeutige Ohrwurm-Qualitäten und ist eine attraktive Bewerbung für die Pop-Charts. "Es ist ein Song über die Zeiten, in denen die Teile von uns selbst, die wir zu verbergen versuchen, an die Oberfläche kommen und wir keine andere Wahl haben, als auf dieser Welle zu reiten", verrät die einfühlsame Musikerin.

    "When The Lights Go Out" und "Good At What I Do" lassen die lockere Geschmeidigkeit der Fleetwood Mac-Songs des Gespanns Stevie Nicks und Lindsay Buckingham auferstehen. Die harmonischen Melodien legen behutsam ihre schützenden Arme um die Texte und Sarah fungiert dabei als achtsame Wortführerin. Die Band sorgt unterdessen für eine angemessene, liebenswerte Behaglichkeit. "Wer bist Du, wenn der ganze Glanz und die Aufmerksamkeit nicht mehr auf Dir ruht? Wer bist Du wirklich?", das ist die Fragestellung, die sich hinter den Worten von "When The Lights Go Out" verbirgt. "Good At What I Do" beschäftigt sich hingegen mit dem Thema Selbstzweifel.

    Die optimistisch gestimmte, freundlich-aufgeschlossene Country-Rock-Seligkeit der Desert Rose Band um Chris Hillman und Herb Petersen stand eventuell bei "Runaway Train" als Anregung zur Verfügung. Inhaltlich wird die prickelnde Hochstimmung zu Beginn einer Beziehung heraufbeschworen.

    Die rhythmisch lebhaft auftrumpfende Ballade "The Way It Is Now" schafft es nicht, gesanglich auf kitschige Schwärmerei zu verzichten. Die sauber-gefühlvolle Instrumentierung und die nachhaltigen Gedanken rund um die Würdigung der guten Dinge des Lebens können nicht darüber hinwegtäuschen, dass das Stück trotz aller Bemühungen kompositorisch einen faden Beigeschmack hinterlässt. Das Pendel schlägt leider im Endeffekt zuungunsten von seichter Sentimentalität aus.

    "Dying Ember" zeigt, wie es besser geht. Eine kompakte Schlagzeug-Sequenz hebt den Song aus der Gefahr einer vermeintlichen Klebrigkeit heraus. Die E-Gitarre packt energisch zu und Sarahs Gesang ist auf einem Niveau angesiedelt, das sinnliche Überlegenheit signalisiert. Dem Song liegt die Möglichkeit zugrunde, "Hoffnung in einer Beziehung zu finden, wenn es sich so anfühlt, als würde sie sich dem Ende nähern."

    "Columbus & 89th" ist ein zärtlich-sensibler, feingliedriger Country-Folk, der einer sphärisch-jazzigen Auslegung eines transparenten Roots-Music-Sounds begegnet. "Dieser Song birgt so viel Nostalgie in sich... er trauert gleichzeitig um den Lauf der Zeit (gemeint sind die sieben Jahre in New York) und freut sich darüber, wohin er führen kann (durch die Umsiedlung nach Nashville)."

    Für "Take The High Road" wird eine Stimmung simuliert, die sich im Hintergrund mystisch-verschwommen zeigt, sich aber vordergründig aufgeweckt-vorpreschend präsentiert. "Es geht darum, nicht an sich selbst zu zweifeln und seinen Selbstwert anzuerkennen", lässt Sarah wissen.

    Die bedächtige Seite bleibt, aber das Tempo wird heruntergefahren: "Don’t Break Down On Me" bindet den Eindruck von Verzweiflung und Sehnsucht in Noten, hat das Licht am Ende des Tunnels aber stets im Blick. Die Steel-Gitarre hinterlässt dazu als Orientierung schmückende, schnell verglühende, gleißende Lichter am Firmament. Der Track befürwortet, in einer schwierigen Phase einer ehemals herzlichen Beziehung nicht vorschnell aufzugeben, sondern zunächst für den Erhalt zu kämpfen.

    Der erste Eindruck: "Days Can Turn Around" klingt wie die Fortsetzung von Neil Youngs "Harvest Moon", also wie ein schlurfend-langsamer Pseudo-Country-Walzer, der alle Zeit der Welt für sich gepachtet hat. Das Motto des Stücks lässt sich auf die Binsenweisheit verkürzen, dass auch die belastendsten Zeiten einmal vorbeigehen. Der zweite Eindruck bestätigt den ersten Eindruck.

    Die melancholische Eleganz der Bossa Nova hat Einzug bei "Mezcal And Lime" gehalten. Der Song lässt es sich zwischen sonniger Leichtigkeit und Folk-Jazz-Raffinesse gut gehen und spricht somit sowohl Soft-Rock- als auch Hippie-Folk-Anhänger an. Er soll "das Gefühl eines nie endenden Sonnenuntergangs mit einem Cocktail in der Hand" vermitteln.

    Sarah Jarosz ist wahrlich in der Lage, magische Momente zu erzeugen. Nicht nur auf ihren eigenen Alben, sondern auch als Gast bei anderen Künstlern. So wie bei "You Can Close Your Eyes" auf "Cover To Cover" aus 2022 der Brother Brothers. Ihr Harmonie-Gesang ist dort zwar zurückhaltend, aber voller Empathie und dadurch unglaublich wirkungsvoll. Herrlich!

    Als versierte Singer-Songwriterin nutzt die vierfache Grammy-Gewinnerin für "Polaroid Lovers" die Möglichkeiten des Americana-Sounds als Vehikel, um die Tiefe ihrer Emotionalität in einem Pop-Umfeld adäquat darstellen zu können. Dabei zeigt sie sich in der Vertonung sowohl stilvoll-anspruchsvoll als auch eingängig-unterhaltsam.

    Konzeptionell gibt es eine Klammer, die den Album-Titel erklärt: "Was ich an einem Polaroid-Foto so liebe, ist, dass es etwas Flüchtiges festhält, aber gleichzeitig macht es diesen Moment ewig haltbar. Es machte Sinn als Titel für ein Album, bei dem alle Songs Schnappschüsse von verschiedenen Liebesgeschichten sind und man das Gefühl hat, dass sich die Zeit trotz dieser Vergänglichkeit ausdehnt".

    Der Schwenk in Richtung Mainstream-Pop ist Sarah Jarosz mit "Polaroid Lovers" mit kleinen Einschränkungen gut gelungen. Sie hat sich nicht als trendiges Abziehbild vereinnahmen lassen, bleibt glaubwürdig und verleugnet nicht ihre musikalischen Wurzeln. Was die realisierbare, starke, durchdringende Wirkung ihrer Sensibilität angeht, wäre allerdings an der einen oder anderen Stelle etwas mehr dunkle Patina statt wehleidiger Romantik angebracht gewesen.
    Meine Produktempfehlungen
    • Polaroid Lovers Sarah Jarosz
      Polaroid Lovers (LP)
    • Polaroid Lovers Sarah Jarosz
      Polaroid Lovers (CD)
    • Undercurrent Undercurrent (LP)
    Ein Kommentar
    Anonym
    02.06.2024

    danke!

    Eine der großartigsten Rezensionen, die ich hier bei jpc gelesen habe!
    Wonder, Won't You? Harrison Storm
    Wonder, Won't You? (LP)
    29.05.2024
    Klang:
    4 von 5
    Musik:
    4 von 5
    Pressqualität:
    4 von 5

    Harrison Storm beschwört mit schmerzhafter Sensibilität und rhythmisch aufmunternden Lichtblicken die heilenden Kräfte von Klängen.

    Über fünf EPs hinweg, die zwischen 2015 und 2022 veröffentlicht wurden, hat der australische Singer-Songwriter Harrison Storm seine Verletzlichkeit kultiviert, bis er nun am 12. Januar 2024 sein erstes vollständiges Album "Wonder, Won`t You?" herausbringen konnte. In zehn Songs breitet er seine Vorstellungen von der Liebe und seine Innenansichten aus und musiziert dazu gefühl- und geschmackvoll im Sinne eines nachdenklichen Troubadours, der Harmonie und Eigenart zu einer innigen Kompositionsstruktur zusammenschweißt.

    Der Opener "Warm A Cold Heart" gibt die grobe Richtung vor. Der liebliche, melodische Pop-Song bezieht seine Seriosität aus minimalistisch ausgerichteten rhythmischen Strukturen in Verbindung mit einer wirklich herzerwärmenden, sympathischen Stimme. Wie aus dem Song-Titel hervorgeht, führt der akustische Kontrast aus herzlicher Zuneigung und kalter Abneigung zu einer kreativen Reibung, bei der die Empathie als Sieger hervorgeht. Die Kernaussage des Stückes ist: "Alles, was ich von der Liebe wissen will, ist, wie man ein kaltes Herz erwärmt."

    "Stone" setzt dieses Konzept fort, gleitet durch den Falsett-Gesang jedoch ins Kitschige ab, verlässt also die authentische, melancholisch-süße Basis des Vorgängers. Manchmal ist es eben nur ein kleiner Schritt zwischen ehrlicher Ergriffenheit und aufgesetzter Anteilnahme. Inhaltlich geht es währenddessen um Zweifel in einer Beziehung, die zum Bruch führen.

    Genau umgekehrt verhält es sich mit "My Way Home": Die Partnerschaft verleiht in diesem Beispiel Sicherheit. "Wenn ich ehrlich bin, ist diese Liebe der Flug, den ich wollte. Und ich weiß, dass sie uns überall hinbringen könnte, wo wir hinwollen", berichtet der Protagonist voller Überzeugung. Qualitativ hat sich der Künstler wieder gefangen und erfindet ein Tongespinst aus elektronischen und akustischen Tönen, das als filigran und auch als versponnen bezeichnet werden kann.

    Unter den Namen "Daylight Sun", "In Good Time" und "Better With You" gibt Harrison Storm Folk-Songs zum Besten, die sich sowohl an die Intimität von Nick Drake als auch an die Lässigkeit des Soft-Rocks der Pousette-Dart Band und an die Verspieltheit solcher Folktronica-Acts wie Fink anlehnen.

    Bei "This Love" steht eine aktive, schwungvoll swingende rhythmische Komponente im Mittelpunkt, die der Nachdenklichkeit im Gesang entgegenwirkt. Auf diese Weise gerät der Song zu einem griffigen, kultivierten Ohrwurm mit Langzeitwirkung. Das Lied beschreibt "die blinde Anziehungskraft, die eine neue romantische Verbindung auf dich ausüben kann."

    "Life Ain't Ordinary" badet in Selbstmitleid und Tristesse, durchschreitet dabei einige Jammertäler, ohne zu guter Letzt Licht am Ende des Tunnels zu signalisieren. "Versuche, das Licht zu finden. Stolpere vorwärts, wenn die Beine schwer sind", heißt es ermutigend. Und wieder fällt in der poetischen Ausgestaltung der Begriff "Zuhause", der bei Harrison als Synonym für Geborgenheit und Zielerreichung verwendet wird. Harmonie ist ihm also wichtiger als Abenteuerlust.

    Für "The Wind And The Wild" singt Harrison mit sich selbst im Duett: Seine hohe Stimmlage ist dabei prominent im Vordergrund vertreten und ein tiefer Zwillings-Gesang sorgt genauso wie zartes Synthesizer-Schwirren für angenehmes Grummeln im Hintergrund. Der schleppende Takt wird dabei manchmal durch lässige Piano-Akkorde und knurrende Bass-Töne angereichert.

    Überlegene Coolness, spritzige Raffinesse und eine romantisch-sinnliche Melodik machen "Tomorrow" aus. Damit erinnert das Stück an die ebenso gelagerten, eleganten und sinnlichen Glanzstücke von Junip, dem Projekt von José González. Bei dem Track "... geht darum, sich von der Realität nicht unterkriegen zu lassen, sondern sie zu akzeptieren und mit ihr zu leben".

    Harrison Storm mag es lieber leise als laut. Er wirkt introvertiert und legt Wert auf kontrastreiche Instrumentierungen und aussagekräftige Texte. Dass er sich dabei musikalisch in einem relativ engen, festgelegten Rahmen bewegt, stört nicht unbedingt - sofern man keinen stark abweichenden Sound pro Lied erwartet. Homogenität ist hier Trumpf, Vielseitigkeit würde die intime Stimmung wahrscheinlich ohnehin nur unnötig stören oder aushebeln.

    Der Musiker erklärt seine Kunst so: "Für mich hat Musik viel mit Selbsterkenntnis und Ehrlichkeit zu tun. Meine Geschichten beschäftigen sich viel mit mir, aber auch mit dem Versuch, eine Verbindung zur Welt herzustellen. Als ich aufwuchs, konnte ich nie wirklich meinen Platz finden oder mich einfügen - und das liegt daran, dass ich übermäßig sensibel bin, was meiner Meinung nach eine gute Sache ist. Wenn ich einen Song schreibe, hilft es mir zu erkennen, dass all diese Emotionen und Erkenntnisse einfach Teil der menschlichen Erfahrung sind, und dass es okay ist, diese schweren und introspektiven Gedanken zu haben".

    Deshalb sollte man den Titel "Wonder, Won`t You?" hinsichtlich seiner eigensinnig-introvertierten Bedeutung ernst nehmen: Bitte nicht wundern, wenn hier jemand unbeeindruckt von marketingtechnischen Kalkülen seinen individuellen, kompakten Weg geht. Zum perfekten Entertainment fehlt nur noch etwas Feinschliff im Hinblick auf einen insgesamt ungekünstelten Ausdruck. Dann kann vielleicht schon das nächste Werk vollständig überzeugen und zum introvertierten Singer-Songwriter-Klassiker werden!
    Meine Produktempfehlungen
    • Wonder, Won't You? Harrison Storm
      Wonder, Won't You? (LP)
    The Bath Forum Concert Van Der Graaf Generator
    The Bath Forum Concert (CD)
    26.05.2024
    Klang:
    5 von 5
    Musik:
    5 von 5

    Van Der Graaf Generator ist immer noch die intelligenteste, spannendste und energiereichste Art-Rock-Band der Welt. Ende der Durchsage.

    Heimspiel für die englischen Art-Rock-Helden, die leider vom Quartett zum Trio geschrumpft sind, da der grandiose, stilprägende Saxofonist/Flötist David Jackson das Ensemble 2006 verlassen hat. Am 1. März 2022 feierte die Formation das Ende ihrer Europa-Tournee in Bath (Südengland), wo ihr Chefdenker Peter Hammill zu Hause ist. Hammill ist jetzt 76 Jahre alt, schon seit fast 60 Jahren öffentlich musikalisch aktiv und hat nichts von seiner Kreativität eingebüßt. Klar ist seine Stimme nicht mehr so dynamisch wie mit 20, aber er gibt sich keine Blöße und setzt seinen Gesang so ein, dass er die Töne sicher modulieren kann. Und das hört sich immer noch außergewöhnlich und elektrisierend an.

    Obwohl der Meister schon so lange im Geschäft ist, gibt es nicht viele Van Der Graaf Generator-Konzerte in guter Tonqualität. Was bei einigen Wiederveröffentlichungen der klassischen Alben als Bonus-Live-Aufnahmen präsentiert wurde, war klanglich eine Frechheit. Aber "The Bath Forum Concert" klingt transparent, klar und volltönend.

    Hammill & Band hatten ihre besten Jahre in den 1970ern, aber dieser Mitschnitt kann sich auch hören lassen. Weil die aktuellen Versionen von den Studio-Aufnahmen abweichen, weil die Band perfekt interagiert und weil es die Musiker handwerklich immer noch drauf haben. Das ist erstaunlich, denn schließlich handelt es sich um komplexe Musik, die schwer zu spielen ist.

    Der Auftritt beinhaltet einen Mix aus Band-Standards und Liedern, die nach der Reunion im Jahr 2005 entstanden sind. Spätestens, wenn Hammills quengelnde, energische Punk-Gitarre mit den schäumenden Orgeltönen von Hugh Banton und den kreativen Schlagzeug-Sounds von Guy Evans zu einer Tour de Force ansetzt, ist es wieder da, das Kribbeln, was jedem Fan Gänsehaut beschert. So zum Beispiel geschehen beim energisch pulsierenden "La Rossa", dem ersten Track auf der zweiten CD. In diesem Fall vermisst man nicht einmal den Ur-Van Der Graafen David Jackson am Saxofon (ansonsten schon eher), für den dieser Titel eine Paradenummer war.

    Aber los geht das Konzert mit "Interference Patterns" vom 2008er-Album "Trisector". Die Band versucht, den nervösen Minimal-Art-Rock Nerven anspannend auf die Spitze zu treiben. Das Instrumental-Gefüge läuft aber noch nicht vollkommen homogen und rund ab. Ein etwas wackliger Beginn, der zur Findung genutzt wird. Dennoch: Ein Titel zum Luft anhalten und mitfiebern.

    "Every Bloody Emperor" musste unbedingt gespielt werden, da ging laut Hammill kein Weg vorbei. Denn am 24. Februar 2022 hatte Russland die Ukraine überfallen. Und Hammill trifft mit seinem allgemeingültigen, psychologisch präzise analysierenden und politisch anklagenden Text den Nagel auf den Kopf: "Das ist es, was uns alle trägt: der Glaube an die menschliche Natur, an Gerechtigkeit und Gleichheit ... alles, was wir haben, ist der Glaube, weiterzumachen... Ja, und jeder blutige Herrscher behauptet, dass Freiheit seine Sache sei". Der Song steigert sich langsam von einer betroffen wirkenden zu einer wütenden Stimmung, wobei sich Hammills Stimme erregt in das Thema der menschenverachtenden "Volksvertreter" hineingräbt und Bantons Orgel-Arsenal sowie Evans Percussion-Tumult für Aufruhr sorgen. Aber es gibt auch Augenblicke der Einkehr, des sich Zurücknehmens und der Besinnung. Die Musiker loten die passende Situation aus, reagieren mit Eifer und mit Trauer und lassen die Zuhörer mit einem offenen Ausgang auf schwierigen Fragen des Lebenszurück.

    "A Louse Is Not A Home" ist ein Stück, das Hammill ursprünglich für Van Der Graaf Generator geschrieben hatte, aber während einer Band-Pause mit seinen Kollegen dann für sein drittes Solo-Album "The Silent Corner And The Empty Stage" (1974) aufgenommen hat. Das dramatische, sich wellenartig aufbäumende und zusammenfallende Stück zieht seine Faszination aus ungewöhnlichen Dynamiksprüngen, einem engagierten Gesang und einer sich langsam aber sicher mächtig auftürmenden, bis ins Mark gehende, leidenschaftlich ausgedrückten Empathie.

    "Masks" ist im Original auf dem von Reggae-durchtränkten, oft unterbewertetem Album "World Record" aus 1976 und erweist sich zuweilen als groovend-kratzbürstige oder stellenweise lyrische Art-Punk-Nummer.

    Seit Jahren ist "Childlike Faith In Childhoods End" eine Konzert-Paradenummer, was besonders an dem ausladenden Spannungsbogen des Stücks liegt. Peters pathetisch aufgeladener Gesang wird von Bantons donnernden Orgel und Evans swingendem Schlagzeug eingefangen und dynamisch verschlungen begleitet. Als Kontrast dazu setzt der VDGG-Chef seine eckig-zickig-giftige Gitarre ein, die er nebenbei lyrisch singen lässt.

    "Go" setzt - relativ untypisch - durchgängig ätherisch-meditative Klangwellen frei und bietet deshalb eine Ablenkung vom ansonsten überwiegend Multi-emotionalen Sound, der die Sinne heftig herausfordert.

    Durch das Zuspielen von Umweltgeräuschen, wie unterschiedliche Sirenen, fahrende Autos und aufgeregte Stimmen, vermittelt "Alfa Berlina" zunächst den Eindruck eines Hörspiels. Dann setzt eine sakral-bedrohliche Stimmung ein, die kurz darauf durch einen raumfüllend-federnden Art-Rock-Sound ab- und aufgelöst wird. Die gefahrvoll anmutende Stimmung kehrt später noch einmal zurück, kann sich aber nicht langfristig durchsetzen und verliert erneut zugunsten einer mächtig zuversichtlich auftrumpfenden Klanglandschaft.

    "Over The Hill" vom Album "Trisector" aus 2008 ist eine epische, verschachtelte Nummer, die das Zeug hat, ein Klassiker im Repertoire von VDDG zu werden. So wie ""Childlike Faith In Childhoods End". Es liegt eine ähnliche Dramatik, Verschrobenheit und mystisch-hymnische Kraft in der Luft, die das Stück ehrfürchtig und mächtig zugleich erscheinen lässt.

    Peter Hammill empfindet die Umgebung eines Hotelzimmers während einer Tournee als Ort der Geborgenheit. Um diese Wahrnehmung geht es im Wesentlichen bei "Room 1210" (im Original von "Do Not Disturb" aus 2016). Das Trio fühlt sich hörbar wohl dabei, den Track langsam aufzubauen, mit Ecken und Kanten zu versehen und in einen minimalistisch aufgebauten, zentralen Mittelteil zu überführen. Die hohe Kunst der beunruhigenden Stimulation und zugeneigten Harmonisierung wird hier vorbildlich umgesetzt!

    Und noch ein unverwüstlicher Klassiker: "Man Erg" von "Pawn Hearts" aus 1971 gilt vielen Fans als Musterbeispiel und Markenzeichen für den originell-abwechslungsreichen Sound von Van Der Graaf Generator. Die Gruppe hat wieder einmal die Aufgabe, das berauschende Saxofon-Getöse von David Jackson adäquat zu ersetzen. Diese Aufgabe übernimmt Hugh Banton mit seinem Keyboard-Arsenal und er hat sich eine ähnlich wild-chaotische Instrumentierung wie auf dem Studioalbum ausgedacht, die den gewollt kakofonischen Ausbrüchen der Vorlage sehr nahekommt. So macht man aus der Not eine Tugend!

    Der Abschlusstrack "House With No Door" ist ein ganz besonderer Song: im Kern ist das nämlich eine Pop-Ballade, die auch gerne mal von den Musikern zur pompös-aufbrausenden Nummer aufgepustet wird. Das hält sich hier in Grenzen, sodass der Song seine melodische und dynamische Stärke voll ausspielen kann. Herrlich!

    "The Bath Forum Concert" ist ein gutes Live-Album geworden. In Anbetracht des Alters der drei Akteure sogar ein Ausgezeichnetes. Klar gibt es ein paar Spielfehler und Hammill hat nicht mehr den Stimmumfang eines Zwanzigjährigen, aber zu keinem Zeitpunkt wirken die Musiker überfordert oder altersmild. "The Bath Forum Concert" ist zwar nicht so brachial wie "Vital" (von 1978) und nicht so ausgefeilt wie "Live At Rockpalast Leverkusen 2005", wurde aber trotzdem beherzt, engagiert und temperamentvoll umgesetzt. Das aktuelle Werk offenbart allerdings auch, dass David Jackson schmerzlich vermisst wird.

    Das Trio zeichnet aus, dass es die Verbindungslinien zwischen den bewährten Songs der Siebzigerjahre und den Liedern nach der Reunion aus 2005 perfekt miteinander verbindet, sodass das Programm wie aus einem Guss klingt - alte und (relativ) neue Kompositionen sind quasi hinsichtlich ihrer Qualität und Intensität nicht voneinander zu unterscheiden. Schließlich ist die Kreativität und Leidenschaft der Musiker ja auch ungebrochen, was dieses Konzert bedeutend werden lässt. Es zeigt nämlich, dass Künstler in Würde altern können, ohne nur vom Geist der Vergangenheit leben zu müssen - ein Ansatz, den nicht viele Musiker erfüllen können. Es mag der Impuls vorliegen, die Gruppe nach dem Ausstieg von David Jackson als weniger interessant anzusehen - "The Bath Forum Concert" ist in diesem Punkt jedoch ein versöhnliches Beispiel für die ungebrochene Begeisterungsfähigkeit von Hammill, Banton und Evans.

    Am 11. Mai 2022 gaben Van Der Graaf Generator ihr vorerst letztes Konzert in Reutlingen. Die Tournee musste aufgrund einer Erkrankung von Peter Hammill danach abgebrochen werden. Man kann nur hoffen, dass die musikalische Reise weitergeht, denn die Geschichte von Van Der Graaf Generator ist noch lange nicht zu Ende erzählt...
    Meine Produktempfehlungen
    • Pawn Hearts Van Der Graaf Generator
      Pawn Hearts (CD)
    • Trisector (SHM-CD) (Papersleeve) Van Der Graaf Generator
      Trisector (SHM-CD) (Papersleeve) (CD)
    • Interference Patterns: The Recordings 2005 - 2016 Van Der Graaf Generator
      Interference Patterns: The Recordings 2005 - 2016 (CD)
    • A Grounding In Numbers Van Der Graaf Generator
      A Grounding In Numbers (CD)
    • Vital (Live) Van Der Graaf Generator
      Vital (Live) (CD)
    • The Aerosol Grey Machine (SHM-CD) (Digisleeve) Van Der Graaf Generator
      The Aerosol Grey Machine (SHM-CD) (Digisleeve) (CD)
    • The Bath Forum Concert Van Der Graaf Generator
      The Bath Forum Concert (CD)
    • Do Not Disturb (SHM-CD) Van Der Graaf Generator
      Do Not Disturb (SHM-CD) (CD)
    • H To He Who Am The Only One (remastered) Van Der Graaf Generator
      H To He Who Am The Only One (remastered) (CD)
    • Godbluff (remastered) Van Der Graaf Generator
      Godbluff (remastered) (CD)
    • The Charisma Years (Limited Boxset) The Charisma Years (Limited Boxset) (CD)
    • Live At Rockpalast: Leverkusen 2005 Van Der Graaf Generator
      Live At Rockpalast: Leverkusen 2005 (CD)
    • Still Life (remastered) Van Der Graaf Generator
      Still Life (remastered) (CD)
    • Present (SHM-CD) (Digisleeve) Van Der Graaf Generator
      Present (SHM-CD) (Digisleeve) (CD)
    Donlands Jerry Leger
    Donlands (CD)
    26.05.2024
    Klang:
    4 von 5
    Musik:
    4 von 5

    Americana und darüber hinaus: Jerry Leger erweitert die Grenzen des melancholisch angehauchten Roots-Pop auf zarte Weise.

    Manchmal sind die Namen von Musik-Produktionen reine Fantasie-Gebilde oder das Ergebnis von Assoziations-Ketten, aber gelegentlich haben sie einen konkreten Bezug. So wie es bei "Donlands" ist, dem aktuellen Werk des mit bisher 16 Alben ausgestatteten kanadischen Singer-Songwriters Jerry Leger. "Donlands" ist nämlich der Name der Straße in Toronto, wo die neue Platte im ehemaligen Donlands Theatre aufgenommen wurde.

    Betreut wurde der Entstehungsprozess vom Produzenten Mark Howard, der unter anderem als Toningenieur für "Time Out Of Mind" von Bob Dylan oder für "Real Gone" von Tom Waits arbeitete. Ein Werk, welches mächtigen Eindruck bei Jerry Leger hinterlassen hat.

    "Donlands" wurde unter Live-Bedingungen mit Dan Mock (Bass, Synthesizer, Gitarre, Gesang), Kyle Sullivan (Schlagzeug), Alan Zemaitis (Keyboards, Gitarre, Gesang) und Aaron Goldstein (Gitarre, Pedal Steel, Gesang) eingespielt, die aktuell als The Situation Jerrys Begleitband sind.

    Eine akustische Gitarre erzeugt für "Sort Me Out" zu Beginn lässig angeschlagene Akkorde, zu denen das E-Piano unterstützend perlend glitzernde Töne beisteuert. Das Tempo ist schleppend und deutet emotional auf Einsamkeit und Trauer hin. Diese Gefühle werden auch vom einsetzenden Gesang vermittelt, der einfühlsam-betrübt, aber nicht verzweifelt klingt. Die Stimmung ist ruhig und bedächtig, da ändert auch das gemütliche, ins Zentrum des Klangbilds gesetzte Schlagzeug nichts dran. "Du kannst nicht gewinnen, wenn du nicht weißt, wofür du kämpfst" steht als Motto im Mittelpunkt der Lyrik und vermittelt trotz des nachdenklichen Hintergrunds einen entschlossenen Durchhaltewillen.

    Der wird auch für "I Was Right To Doubt Her" benötigt, denn es geht um ein Trennungs-Szenario: "Ich war gefangen in dem, was ich wollte. Und was sie wollte, lag in der Vergangenheit: Zurück in seine Arme". Aber aufgeben gilt nicht, das Befinden ist vorsichtig optimistisch und die Klang-Ebene verspricht Besserung, wobei Country auf Soul trifft. Ein harmonisch swingender Southern-Soul-Rhythmus mit warmen Hammond-Orgel-Schüben und elegant groovendem Takt bestimmt den zwanglos dahinfließenden Sound.

    "I’ll Stay" führt diesen attraktiven Stil-Mix fort, schaltet aber mindestens einen Gang zurück. Die Instrumentierung beinhaltet merkwürdige Percussion-Geräusche und vollführt eine Hinwendung zur seidig-geschmeidigen Klangwelt von Gram Parsons, bei der sich lieblicher Country und spirituell geprägter Soul hingebungsvoll vereinigten. Im Grunde ist der Track eine Liebeserklärung, die die Hoffnung auf ein gegenseitiges Bekenntnis zur Zweisamkeit in sich trägt. Das ist klassischer Lovestory-Stoff mit romantisch-melodischer Ausprägung. Leider wird der Song mitten in einem schunkelnd-sehnsuchtsvollen Orgel-Solo ausgeblendet, sodass ein eventuell leidenschaftlich aufflammender Verlauf verborgen bleibt.

    "Three Hours Ahead Of Midnight" ist der dritte Teil der innigen, vor Inbrunst glühenden "Country Got Soul"-Show, die allerdings kein Happy End bereithält: "Breche nicht zusammen mit mir. Solange wir noch Freude haben. Bevor sie mich aus deiner Reichweite nehmen".

    Über "The Flower And The Dirt" liegt akustisch und textlich der Schmerz einer Trennung, wobei wahrscheinlich mindestens ein dunkles Geheimnis unausgesprochen bleibt und bei der Analyse trotzdem offenkundige, Erkenntnisse zugänglich gemacht werden: "Es ist ein Krieg der Meinungen. Bis wir es schließlich aufgeben". Die Dramatik bewegt sich wellenartig und dynamisch auf und ab. Sie reicht empfindsam von sanft bis erhaben.

    Mit einer gehörigen Portion sentimentaler Ergriffenheit wurde "Wounded Wing" ausgestattet. Dadurch wirkt der Track würdevoll und betroffen. Das Piano lässt John Lennons "Imagine" am Horizont erscheinen, die Steel-Gitarre schreit leidend auf und der Bass pumpt manchmal so stark wie ein Herz bei Höchstleistung.

    Kratzig-raue, von sattem Funk durchdrungene Orgel- und E-Gitarren-Akkorde leiten "You Carry Me" ein. Das Stück bekommt durch seine trocken-stumpfe Schlagzeug-Begleitung und die groben Gesangseinlagen die Grund-Elemente des aufrührerischen Rock & Roll-Erbes eingeimpft. Der Zweifel brennt sich in die Noten ein und nagt an der Seele: "Ich will nicht, dass du auf mich wartest. Aber ich will auch nicht, dass du gehst". Leider führt auch hier ein zu frühes Ausblenden zu einer gewissen Unzufriedenheit, da noch eine orgiastische Steigerung drin gewesen wäre.

    "I Need Love" ist ein herzzerreißend intimes Lied, bei dem die Steel-Gitarre für bittere Süße sorgt und Jerry seine verführerischen Country-Crooner-Qualitäten auslebt.

    "Out There Like The Rain" imitiert Synthesizer-Pop und garniert diese Fantasie mit wehmütigen Country-Rock-Splittern, sodass eine surreale Atmosphäre entsteht, die weder die Vergangenheit noch die Gegenwart oder die Zukunft realistisch einbezieht und abbildet, sondern zwischen den Zeiten vermittelt und dort hängenbleibt. Auch erwähnenswert: Jerrys Gesang stemmt sich großartig und vehement gegen eine Einordnung zu maskulin oder feminin. Eine schöne, eigenartige Gemüts-Fusion!

    Klassischen, sensiblen Country-Folk mit Weite im Erscheinungsbild und Sehnsucht im Gesang bietet "Slow Night In Nowhere Town" und kann aufgrund seiner feinsinnigen Ernsthaftigkeit voll überzeugen.

    "Donlands" ist mit wenigen Ausnahmen ein reines Balladen-Album geworden. Das birgt hinsichtlich der Aufrechterhaltung der Aufmerksamkeit ein gewisses Risiko. Nicht aber für Jerry Leger, der durch seine melodische Vielfalt und kompositorische Raffinesse den Spannungsbogen hochhält. Das Engagement von Mark Howard hat sich auch gelohnt: Der Sound ist transparent, klar und wohltuend ästhetisch. Die Instrumente hat er überdies filigran aufeinander und mit dem Gesang abgestimmt. Eine Wonne!

    Emotionen, die mit Liebesglück und Liebesleid verbunden sind, prägen die Poesie. Das ist nicht unbedingt originell, aber zeitlos wichtig. "Donlands" verstärkt durch die Beschränkung auf diese Themen den Eindruck eines stimmigen Konzeptalbums und so ist die Platte musikalisch und inhaltlich eine runde Sache geworden!
    Meine Produktempfehlungen
    • Donlands Jerry Leger
      Donlands (LP)
    • Donlands Jerry Leger
      Donlands (CD)
    • Nothing Pressing Jerry Leger
      Nothing Pressing (CD)
    • Time Out For Tomorrow Jerry Leger
      Time Out For Tomorrow (CD)
    • Nothing Pressing Jerry Leger
      Nothing Pressing (LP)
    • Time Out For Tomorrow Jerry Leger
      Time Out For Tomorrow (LP)
    • Nonsense & Heartache Jerry Leger
      Nonsense & Heartache (CD)
    Der Lärm der Welt Neuschnee
    Der Lärm der Welt (CD)
    26.05.2024
    Klang:
    4 von 5
    Musik:
    4 von 5

    Nie war "Der Lärm der Welt" angenehmer und kultivierter als bei Neuschnee.

    Hans Wagner stammt aus Berlin und ist Chef, Sänger, Musiker und Komponist der Wiener Band Neuschnee, die mit "Der Lärm der Welt" ihr fünftes Album vorlegt. Ein Markenzeichen des Sounds des Septetts ist das flexibel agierende Streichquartett, bestehend aus zwei Violinen, einer Viola und einem Cello. Komplettiert wird die Instrumentierung noch durch Gitarre, Bass, Klavier, Schlagzeug und Live-Tontechnik.

    Was die Musiker in dieser Besetzung zu Gehör bringen, spielt sich jenseits gängiger Pop-Musik-Muster ab, hat aber trotzdem einen enorm attraktiven Unterhaltungswert.

    Gläsern-metallische Töne, die sich nach splitternden Materialien anhören und ein erzählerischer, leicht betrübter Gesang leiten das Album und dadurch den Track "Ganz leise" ein. Rauschend auf- und abschwellende Klänge packen dann diese Stimmung in Watte, bevor gezupfte Streichinstrumente, eine unbeeindruckt stumpf auftrumpfende Basstrommel und monoton tickende Percussion eine kühle Realität einblenden. Nach einem weiteren nachdenklichen Abschnitt künden unheilvolle Geigen einen aufkommenden Klangsturm an. Und dieser erscheint dann in Form eines Schlagzeug-Donnerwetters, verzerrt-wilden E-Gitarrentönen, einer verfremdeten Stimme und dramatisch brodelnder Kammermusik. Wenn sich diese aufmüpfige Ton-Breitseite verzogen hat, übernimmt der traurige, lautmalerische Gesang die Führung bis zum Schluss. Das Stück beschäftigt sich poetisch und subtil mit den Situationen, die sich beinahe unmerklich - also ganz leise - als Energie-Räuber erweisen. Ohne diese alle konkret aufzuzählen, gehören wahrscheinlich Selbstzweifel und "diese Tage, bei denen du innerlich weinst und äußerlich lachst" dazu.

    Fiktive künstliche Bläser erzeugen für "Diese Welt ist schöner" ein blumig-fantasievolles Klangbild, welches vom herausfordernd illustrierten Cover-Motiv inspiriert zu sein scheint. Elektronische und akustische Schwingungen gehen eine gemeinsame Verbindung ein, bei der es hinsichtlich der überraschenden, ästhetisch anregenden Gestaltung nur Gewinner gibt.

    Der barocke Dream-Pop von "Feuer in mir" bekommt mittendrin unverhofft Druck und Tempo auf den Kessel, was den grundsätzlich harmonisch linear ablaufenden Track zwischendrin unberechenbar und positiv willkürlich erscheinen lässt. Die Texte "Und wieder prügel ich mich mit dem Bodyguard meiner Seele. Wird es nicht langsam mal Zeit, dass wir mal Frieden schließen" und "Irgendwo, irgendwo brennt ein Feuer in mir" zeigen eine innere Zerrissenheit, die sich musikalisch widerspiegelt.

    Klassik, Pop, Funk und Jazz gehen bei "Was noch möglich ist" eine begeisternde Allianz ein, die Genre-Grenzen durch eine gehörige Portion Leichtigkeit und Überschwang aufheben.

    Die ausladende, raue, nach Verständnis suchende Sperrigkeit der orgiastischen Prince-Hymne "Purple Rain" scheint bei der Komposition von "Metronom" mindestens im Unterbewusstsein Pate gestanden zu haben. Die aufmerksame, stellenweise sogar dominante, krachend-knurrige, aggressiv oder melodisch rockende E-Gitarre begleitet das Stück durch sein sechseinhalb minütiges, wechselhaftes Dasein.

    "Schattenkind" entführt in eine märchenhaft verwunschene, idyllische und auch lebhafte Soundlandschaft. Die Sätze "Manchmal bin ich wie ein Schiff ohne Kompass, dann wieder ein leuchtender Stern" oder "Du mein Schattenkind sag mir, was brauchst du denn um glücklich zu sein" symbolisieren eine innere Zerrissenheit, die viele Menschen umtreibt.

    Das betrübliche Kammermusik-Intro im Nick-Drake-Modus bei "Auf hoher See" verwandelt sich schnell in einen wogenden, abenteuerlich vorpreschenden Barock-Rock im euphorischen Power-Pop-Dunst. Lieblingszitat: "Das Leben ist ein langer Kuss, der sich wehrt mit langen Zähnen".

    Vor Schwermut triefende Melancholie trifft bei "U-Boot" auf Hip-Hop-Break-Beats sowie fiepende, klatschende, wummernde und pumpende Effekte. Die elektronischen Spielereien fügen sich dabei experimentell, aber dennoch relativ organisch ins Klangbild ein und sprengen den elitären Rahmen, den die klassische Musik traditionell vorgibt. Der Zusammenhang zum Titel "U-Boot ergibt sich folgendermaßen: "Und du fragst mich, wie leb ich mein Leben: Na als U-Boot, ja, als U-Boot", nämlich "Mittendrin, doch nicht dabei, doch nicht dabei. Heimatlos, doch dafür frei, doch dafür frei"

    "Alles schwimmt davon" erfüllt viele Kriterien von dem, was guten psychedelischen Folk ausmacht: ein versponnen-verdrehter Melodie-Ansatz, eine mystisch-rauschhafte Stimmung, ein transparenter Klang und seltsam-geheimnisvoller Gesang. Inhaltlich wird unter anderem das Problem der Vermarktung von Teilnehmern bei Casting-Shows angeprangert: "In der Show singt die alleinerziehende Mutter, viele Emotionen, viel Applaus. Die Jury lobt: Musik kennt ja kein Alter. Und dann fliegt sie raus. Ja, es wollen alle hören, die Chancen, die sind gleich. Aber nur was sich verkaufen lässt, macht dich und andre reich."

    Der Barock-Pop von "Fliege durch den Tag" hat mehr aufmunternde als bedrückende Anteile, verbreitet aber im Gesamtzusammenhang nicht den Eindruck eines eigenständigen Stückes, sondern wirkt wie die geordnete Einleitung zum über sechzehn Minuten langen, zentralen Titel-Track "Der Lärm der Welt".

    "Lärm der Welt" hört sich erst einmal wie das Einspielen eines Orchesterensembles mit Beimischung von Umweltgeräuschen an. Es wird also eher Chaos statt Disziplin verbreitet. Erst nach über sieben Minuten kommt Song-Struktur in das unübersichtliche Sound-Gebilde, das zu einem theatralischen Klassik-Pop-Rap-Hybriden heranwächst.

    "Der Lärm der Welt" hat eine verheißungsvolle, kontrastreiche Emotions-Kombination auf Lager! Die eingesetzten Instrumente vermitteln einträchtige Traurigkeit und Lebensfreude. Die konkurrierenden Bestandteile tanzen gemeinsam oder getrennt sowohl in den Schatten als auch ins Licht und erschaffen auf diese Weise eine kunstvoll-lebensnahe Atmosphäre mit bewegten und bildhaften Zwischentönen.

    "Die Produktion dieses Albums hat viel Kraft, Zeit und Ressourcen verschlungen. Ich bin an einem Scheideweg und kann nicht versprechen, dass es noch einmal so ein Album geben wird. Neuschnee wird es aber sicher weiterhin in einer anderen Form geben". Soweit Hans Wagner zur Zukunft des Projektes Neuschnee. Dabei sind die kompositorischen und textlichen Möglichkeiten noch gar nicht voll ausgeschöpft worden, sondern stehen entwicklungstechnisch noch ziemlich am Anfang. Diesen Eindruck vermittelt der unverbrauchte, prickelnd-originelle Sound jedenfalls ständig. Bitte mehr davon!
    Meine Produktempfehlungen
    • Der Lärm der Welt Neuschnee
      Der Lärm der Welt (LP)
    • Der Lärm der Welt Neuschnee
      Der Lärm der Welt (CD)
    I/O Peter Gabriel
    I/O (CD)
    26.05.2024
    Klang:
    5 von 5
    Musik:
    4 von 5

    Neue Songs nach 21 Jahren Pause: Ist Peter Gabriels Musik noch zeitgemäß?

    Gründer und Sänger von Genesis, Solo-Megastar und Erfinder des WOMAD Musik-, Kunst- und Tanz-Festivals: Das sind nur drei Eckpfeiler in der bewegten Karriere von Peter Gabriel, der im Februar 2023 seinen dreiundsiebzigsten Geburtstag feierte. Er blieb seit 1977 über die Jahre durch Tourneen im Gespräch, machte sich aber in der letzten Zeit rar, was neues Songmaterial angeht.

    Deshalb ist die physische Veröffentlichung von "i/o" am 1. Dezember 2023 schon eine kleine Sensation, denn es ist das erste Werk mit frischen Liedern seit "Up" aus 2002. Herausgekommen ist eine umfangreiche Werkschau von 12 Songs in zwei unterschiedlichen Mixen auf CD und Vinyl (Bright-Side- und Dark-Side-Abmischung) nebst einer zusätzlichen, exklusiven Dolby-Atmos-Version auf Blu-ray-Audio. Digital wurde bereits ab Januar 2023 zu jedem Vollmond ein aktueller Titel bereitgestellt, sodass die offizielle Publikation jetzt "nur noch" eine Zusammenfassung und Ergänzung darstellt.

    Das reguläre Werk beginnt mit dem Song "Panopticom". Ein Panoptikum ist sowohl die Bezeichnung für ein Kuriositätenkabinett, als auch ein Konzept zur Überwachung vieler Menschen durch einzelne Personen. Dies wurde vom Philosophen Jeremy Bentham um 1791 herum entwickelt und sollte unter anderem als Vorlage für den Bau von Gefängnissen genutzt werden. Peter Gabriel wandelt nicht nur diesen Begriff in "Panopticom" um, sondern ändert auch die Philosophie. Er meint, dass frei verfügbare Informationen und somit der Zugang zum Wissen der Welt zu mehr Freiheit für das Individuum und damit zu einer effektiveren Demokratie führt. Es wird also die ursprüngliche Definition umgedreht, weil die Macht der Bildung mündige Bürger hervorbringt, die sich nicht mehr kritiklos alles von den Herrschenden gefallen lassen. Musikalisch liegt eine beruhigende Seriosität über dem Song, die oft durch die aktive Rhythmik verschleiert wird. Vermittelnde und antreibende Elemente halten sich die Waage und erzeugen konstruktive Gegensätze, die dem Track einen hinreißenden Ohrwurm-Sog verleihen. Der Dark-Side-Mix unterscheidet sich davon hauptsächlich durch einen härteren Drum-Beat.

    Ein Prinzip von Peters Musik war es stets, akustische und elektronische Töne nebeneinanderzustellen. Außerdem ist er ständig auf der Suche nach interessanten Sounds, die der Umwelt entliehen oder selbst hergestellt sind. Diese Kombination wird auch für "i/o" genutzt. Elektronische Töne klingen dabei warm und akustische Instrumente nicht antiquiert. Diese gegenseitige Annäherung der unterschiedlichen Klangstrukturen macht einen erheblichen Reiz der Tongestaltung aus.

    Das Verfahren der technisch-harmonischen Sound-Kollagen wird bei "The Court" attraktiv demonstriert: Verfremdete Steel-Drums, transparent aufgebaute Polyrhythmen, verschachtelte Melodie-Linien und spontan wirkende Tempo-Wechsel sprechen eine eindeutige Sprache für die Ausgestaltung origineller Song-Abläufe, wobei das Thema Gerechtigkeit inhaltlich der zentrale Bestandteil des Liedes ist. Der Dark-Side-Mix des Stücks grenzt sich unter anderem durch eine hymnische Background-Gesangs-Einlage vom Bright-Side-Mix ab.

    Gabriel kann mit seinem Gesang wehmütige Momente heraufbeschwören, die zu Tränen rühren. So wie bei "Playing For Time", einer Piano-Ballade mit sehnsüchtigen Streichern und erdigen Bass-Tupfern. Das Lied "handelt von Zeit, Sterblichkeit und Erinnerungen – also von der Idee, dass jeder von uns einen ganzen Planeten voller Wahrnehmungen in sich hat", erklärt Gabriel. Er geht auch der Frage nach, "ob wir Gefangene der Zeit sind". Das feierliche Stück besitzt zurückhaltende und sich aufbäumende Momente, die zu einer enormen Dynamikabstufung führen.

    "i/o" bedeutet "Input/Output" oder auch "An/Aus". Peter denkt in diesem Zusammenhang über physische und psychische Transformationen nach und dass alle natürlichen Vorgänge auf der Erde irgendwie miteinander verbunden sind. Diesen metaphysischen Ansatz steckt er in einen Pop-Song, der sich langsam entwickelt, dann aber plötzlich mächtig und ekstatisch in verzückende Höhen abhebt.

    "Four Kinds Of Horses" verbreitet eine düstere Dramatik, die sich durch das gesamte Lied zieht. In der buddhistischen Lehre gibt es ein Gleichnis von vier Pferden, die vier unterschiedliche spirituelle Wege aufzeigen. Der Song bezieht sich indirekt auf diesen Ansatz und weist auf den Konflikt zwischen friedvollen und gewalttätigen Ansätzen in der Auslebung von Religionen hin. Der Track verbreitet instrumentell eine bedrohliche Unruhe, die Peter beschwichtigt. Er sorgt andererseits manchmal gesanglich mit aufgekratzten Schwingungen für eine Verstärkung der gefahrvollen Stimmung. Somit bildet er quasi die Schnittstelle zwischen Vernunft und Fanatismus ab. Diese Spannungen werden im Dark-Side-Mix noch etwas deutlicher herausgearbeitet.

    Das Format von "Road To Joy" spricht sowohl Classic-Rock- als auch Alternative-Disco-Liebhaber an. Es ist eine Rückbesinnung an die Zeit, als Peter Gabriel mit dem deftig auftrumpfenden "Sledgehammer" 1986 die Charts eroberte und wirkt deshalb gleichzeitig zeitlos wie auch altmodisch. In dem Lied geht es um eine Person, die nach längerer Zeit im Koma zurück ins Leben findet. Als Co-Produzent und Begleit-Musiker wirkt Brian Eno mit, der sich nebenbei als verständiger Groove-Initiator betätigt.

    Entspannt und in sich gekehrt läuft "So Much" ab, auch wenn zum Ende hin das Raunen, Schwirren und Pfeifen etwas anschwillt. Der ehrfürchtig klingende Song wurde wohl schon um 2015/2016 herum geschrieben und handelt unter anderem davon, dass die von uns individuell gesteckten Ziele aufgrund von limitierter Zeit gelegentlich nicht zu verwirklichen sind.

    "Olive Tree" möchte gute Laune und Optimismus verbreiten, verzettelt und verheddert sich aber in einem plump animierenden Sound, der im Gegensatz zu fast allen anderen Tracks aufgeblasen und unangebracht aufdringlich daherkommt. Deshalb bleibt in dem sonstigen, kultiviert wirkenden Umfeld ein eigenartiges Störgefühl zurück. Der Eindruck ist eventuell deshalb so hemmungslos lebhaft, weil der überwältigende Wohlfühlfaktor, der sich bei der Verbindung mit der Natur ergibt, akustisch abgebildet werden soll.

    Peter Gabriel gefällt sich häufig in der Rolle des nachdenklich-intellektuellen Beobachters. So auch bei "Love Can Heal", dessen Botschaft sich schon aus dem Namen ergibt. Versponnen, geheimnisvoll und idyllisch umgarnen sanft-verführerische Töne die Sinne und Peter singt dazu betont freundlich und gutmütig.

    Etwas hüftsteif hört sich der zum Tanz animierende Takt von "This Is Home" an. Er kommt hinsichtlich einer eleganten Aufforderung zur Bewegung nicht so richtig aus dem Quark - ist also weder Fisch noch Fleisch, wenn es um die Tanzbodentauglichkeit geht. Es gelingt allerdings trotzdem, eine erwartungsvolle, positiv gestimmte Grundhaltung zu transportieren, weil Peter - wenig überraschend - mit dem Begriff Heimat sowohl Liebe als auch Geborgenheit verbindet.

    Niederschmetternd bedrückend beginnt "And Still", das von Tod und Einsamkeit berichtet. Der satte Beat holt die Nummer bald darauf aus der Trübseligkeit heraus und die Streichinstrumente klingen im weiteren Verlauf trotz ihrer Schwere sogar manchmal nach Sonnenaufgang statt nach Sonnenuntergang. "The Hour Of Not Quite Rain" von Buffalo Springfield scheint auf "To Be By Your Side" von Nick Cave zu treffen. Das süße Aroma der Melancholie lädt zum Grübeln oder Meditieren ein: "Bonjour Tristesse".

    "Frieden entsteht nur, wenn man die Rechte der anderen akzeptiert" ist ein Denkansatz, den Peter Gabriel für sich übernommen hat und der "Live And Let Live" zugrunde liegt. Vorsichtig zuversichtliche Klänge unterstreichen dieses Bekenntnis, wobei die Musik zusätzlich ein erhebendes Gemeinschaftsgefühl und nach und nach sogar Lebensfreude verbreitet. Auf- und abschwellende Keyboard-Schwaden werden in einen straff swingenden Rhythmus überführt, den zackige und weichzeichnende Streicher harmonisch auffüllen.

    Mit dem Album "i/o" bewegt sich Peter Gabriel auf vertrautem Terrain. Die Fans bekommen, was sie erwarten durften: Dunkel dräuende und erhabene Pop-Songs mit hohem Melancholie- sowie Pathos-Faktor und kontrastreichen Arrangements. Böse Zungen werden eine fehlende Weiterentwicklung kritisieren, Verehrer die Kontinuität begrüßen. Gabriels Kompositionen werden oft dicht und üppig, mit etlichen Tonspuren und unterschiedlichen Klangfarben gestaltet. Die Kunst dabei ist, die Lieder trotzdem nicht mit Eindrücken zu überfrachten - was nicht immer, aber meistens gelingt.

    Stramme Rhythmen beherrschen zeitweilig dieses Konstrukt, was je nach Auffassung als unsensibel oder erregend angesehen werden kann. Gabriel hat bisher einige lange nachhallende Songs wie "San Jacinto" oder "The Drop" vollbracht. Aber es sind auch Lieder darunter, die selbst nach längerer Hör-Abstinenz nicht aus der Mittelmäßigkeit herauskommen, wie "DIY" oder "Shock The Monkey".

    Der englische Superstar feilte akribisch an seinen neuen Songs, änderte immer wieder Zusammensetzungen und brachte neue Ideen ein. Solch ein Vorgehen kann leicht zu einer Überproduktion führen - hat es aber nicht, weil der erfahrene Musiker diese Gefahr erkannte und die Endabmischung folgerichtig in versierte Hände legte. Den Bright-Side-Mix besorgte Mark "Spike" Stent, den Dark-Side-Mix vollbrachte Tchad Blake und den Inside-Mix in Dolby-Atmos erdachte Hans-Martin Buff. Die aktuellen Songs sind in der Regel reichhaltig mit Klangfarben ausgestattet worden, behalten aber dennoch eine durchlässige Struktur mit Raum zum Atmen. Thematisch wird gerne ein spiritueller Überbau mit humanistischen Grundgedanken verwendet, das ist zeitlos und zwingt oft dazu, um die Ecke zu denken.

    Fazit: "i/o" ist klanglich ein Vergnügen, sowohl für Audiophile als auch für den verwöhnten Nebenbei-Hörer. Kräftig, klar, vollmundig und gleichzeitig transparent schallen die Töne aus den Lautsprechern. Das ist ein Genuss, genauso wie die Umsetzung der vielfältigen Ideen der meisten Songs. Das Werk zeigt Peter Gabriel in Reinkultur und einwandfreier Form. Es sind jedoch keine bedeutenden Entwicklungsschritte im Vergleich zu seinen bisherigen Solo-Arbeiten wahrzunehmen. Manchmal finden offensichtliche Rückblicke auf das bisherige Schaffen statt, dennoch fällt das Album nicht aus der Zeit und hat auch heute sowohl inhaltlich als auch musikalisch seine Berechtigung. Damit nicht genug: Es handelt sich bei "i/o" eigentlich um ein Gesamtkunstwerk, denn jedem Song wird ein Objekt zugeordnet, das unterschiedliche Künstler beisteuern: So kam als Illustration von "Panopticom" das beleuchtete Gebilde "Red" aus Acryl und Plexiglas von David Spriggs aus dem Jahr 2019 infrage und für "Road To Joy" steuerte Ai Weiwei das Gemälde "Middle Finger In Pink" bei.

    Die Bright- und Dark-Side-Mixe unterscheiden sich nicht wesentlich voneinander und sind vom Klangbild her nicht wörtlich zu nehmen, denn sie wurden atmosphärisch nicht gegeneinander abgegrenzt. Es ist allerdings interessant, die unterschiedlichen Klangauffassungen miteinander zu vergleichen. Das Warten auf "i/o" hat sich gelohnt. Peter Gabriel hat seine Relevanz unter Beweis gestellt. Der angebliche Art-Pop-Dinosaurier ist erwacht und erinnert mit herausragender Qualität an seine Einmaligkeit. Willkommen zurück!
    Meine Produktempfehlungen
    • Back To Front: Live In London (4K Ultra HD Blu-ray) Peter Gabriel
      Back To Front: Live In London (4K Ultra HD Blu-ray) (BR)
    • Long Walk Home Peter Gabriel
      Long Walk Home (CD)
    • New Blood Peter Gabriel
      New Blood (CD)
    • Plays Live Peter Gabriel
      Plays Live (CD)
    • Live '77 Live '77 (CD)
    • So (2012 Remaster) (25th Anniversary Edition) Peter Gabriel
      So (2012 Remaster) (25th Anniversary Edition) (CD)
    • Peter Gabriel 4: Deutsches Album (remastered) (180g) Peter Gabriel
      Peter Gabriel 4: Deutsches Album (remastered) (180g) (LP)
    2 Kommentare
    Anonym
    10.02.2025

    Chapeau

    Derart ausführliche Rezensionen, detailliert und kritisch zugleich, sind selten. Es ist ein Genuss, dem Renzensenten zu folgen und gleichzeitig das von ihm gewürdigte Werk zu hören. Die von ihm aufgefächerten Facetten neben den eigenen Höreindruck zu stellen, ist für jeden Audiophilen ein "Muss". Am Ende entsteht der Eindruck: Jede Ergänzung bedeutete, Eulen nach Athen zu tragen.
    The Perfectionist
    22.09.2024

    Olive Tree

    Sehr gute Rezension. Ich muss sagen, dass mir Olive Tree im Dark-Side-Mix deutlich besser gefällt, der Song hat da etwas mehr Fundament, während die Bright-Side-Variante irgendwie klingt, als wäre sie aus den frühen 90ern - dünn.
    Boah! Boah! (CD)
    26.05.2024
    Klang:
    4 von 5
    Musik:
    4 von 5

    Boah: Was für eine herrlich bunte, verrückt-spaßige Zumutung!

    Unberechenbar, ungezügelt, ungekünstelt und unangepasst. So präsentiert sich der Sound des Septetts Botticelli Baby aus Essen seit zehn Jahren. Pünktlich zum Jubiläum brachte das Ensemble nach "SAFT" aus 2021 mit "Boah" am 27. Oktober 2023 ihr viertes Album raus. Für die Beschreibung der Musik haben sich die Band-Mitglieder den Ausdruck "Junk" ausgedacht, der eine Mischung aus Jazz und Punk bedeuten soll. Diese Wortfindung wird dem Stil-Mix aber nicht voll gerecht, denn es stecken noch viel mehr Elemente in den Songs drin. So kann der Titel "Boah", der für einen Laut der Überraschung oder Verblüffung steht, durchaus auch auf die Wirkung der frischen, reiz- und temperamentvollen Klänge der Platte übertragen werden.

    Bloß nicht vom "Intro" täuschen lassen und davon auf den Rest der Stücke schließen! Botticelli Baby haben schon bei "SAFT" mit ihrer launigen, stimmungsvoll eröffnenden Balkan-Zirkus-Nummer "Prelude" die Hörer und Hörerinnen auf die falsche Fährte geführt. Dieses Spielchen wiederholen sie nun wieder: Das Orgel-Solo klingt nach Gottesdienst, die Klänge sind mächtig und es werden schwere, lang gezogene Noten gespielt. Das ist Dramatik pur!

    Der moderat anklagende bis feurig-aggressive Sänger Marlon Bösherz verwandelt beim sich anschließenden "Poems" die vorherige, angespannte Verfassung in humane Betroffenheit, die sich nach und nach bis hin zur ungezügelten Leidenschaft steigert. Das stürmische Schlagzeug von Tom Hellenthal und das wild entschlossene Power-Bläser-Trio um Alexander Niermann (Trompete), Max Wehner (Posaune) und Christian Scheer (Saxofon) folgen ihm dabei aufmerksam sowie gleichzeitig saft- und kraftvoll. Die Tasteninstrumente werden derweil von Lucius Nawothnig abwechslungsreich zur Bildung einer atmosphärisch dichten, brodelnden Zweckgemeinschaft eingesetzt. Die E-Gitarre von Jörg Buttler spielt bei diesem Klang-Zirkus allerdings nur eine untergeordnete Rolle.

    Das sieht bei "Storms On My Skin" ganz anders aus. Die zackige Gitarre bestimmt den treibenden Funk-Rhythmus, sie kann aber auch auf Folk-jazzige Weise sensibel glitzernde Töne hervorbringen. Das druckvolle Bläser-Gespann und der nörgelnd-grummelnde Bass setzen sich allerdings immer wieder dominant durch und dadurch attraktiv in Szene. Psychedelischer Jazz-Rock ist eine Beschreibung, die als Annäherung an diese Klänge Sinn macht. Sie beschreibt aber nur die Hauptbestandteile des Songs, die Feinheiten sind jedoch genauso wichtig und schließen unter anderem Kraut-Rock mit ein.

    "We're One" setzt danach auf einen swingenden Jazz-Groove, der sich frech und munter vom traditionellen Alt-Herren-Swing abgrenzt.

    Mit "Blue Dots" geht es auf vergleichbar energischem Niveau weiter. Für die Komposition wurden Dixieland-Spielarten benutzt, die völlig auf den Kopf gestellt sind. Als Ergebnis dieser Transformation entsteht ein Wirbel aus sprudelndem New-Orleans-Jazz und überdrehtem Hippie-Rock. "Mit den 'Blue Dots' ist der blaue Himmel hinter den weißen Wolken gemeint. Man schaut in den Himmel und denkt fast automatisch über etwas Vergangenes nach. In diesem Fall über den Suizid einer geliebten Person und darüber, ob man vielleicht eine Mitschuld an der Entscheidung trägt, das eigene Leben zu beenden", erklärt Marlon Bösherz den Beweggrund des Liedes.

    Eine flirrende Resonator-Gitarre und locker-flockiges Drum-Klickern lauten zusammen mit einem freundlich gestimmten Gesang den entspannten Song "Lips" ein. Danach übernehmen Blasinstrumente, die darauf aus sind, dass weiterhin Harmonie die Vorherrschaft behält. Dieser Reigen wiederholt sich anschließend in leicht abgewandelter Form, wobei sich besonders alles, was mit dem Mund gespielt wird, durch Fantasie und Einfühlungsvermögen stark auszeichnet.

    Aufsässig, laut und monoton macht sich "Digge Digge Dig" Luft und kommt damit dem provozierend-primitiven Punk-Gedanken, der im Bekenntnis "Junk" verankert ist, sehr nahe.

    Hitzig und nervös geht es bei "Bloody Orgasm" zu. Plötzliche Dynamik- und Tempo-Wechsel lassen den Track noch aufgewühlter, streitbarer und angriffslustiger erscheinen, als er ohnehin schon ist, "Dieter Grey" gibt auf Deutsch Erläuterungen dazu ab, wie der Name Song-Kollektion ausgesprochen und verinnerlicht werden kann: "Gehen Sie in den Schneidersitz, recken Sie die Arme nach oben, soweit es geht. Am besten zur Glühbirne über Ihnen und sagen Sie in aller Deutlichkeit und aus tiefstem Herzen 'Boah'". Fortgesetzt wird diese Anleitung mit einer schwülen Nachtclub-Jazz-Nummer, die man sich gut in einer verräucherten Bar zur Blauen Stunde kurz vor Sonnenaufgang vorstellen kann. Dann, wenn fast alle Gäste das Etablissement verlassen haben und die Band ihre letzten Reserven mobilisiert. So euphorisch wie hier hat wohl noch niemand das Thema Depressionen vertont.

    Die Aufnahmen von "SAFT" beschrieben Botticelli Baby als vielschichtig und facettenreich. Selbiges gilt auch für "Boah". Das häufige Auftreten vor Publikum hat die Musiker handwerklich reifer und dadurch noch sicherer und einfallsreicher werden lassen. Sie trauen sich nun sogar, ihre Instrumente noch ausführlicher und kunstsinniger Geschichten erzählen zu lassen, wobei die Soli nie selbstverliebt, sondern immer vollmundig-köstlich und im Verhältnis zu konventionellen Jazz-Combos doch relativ knapp sind. "Boah" macht Spaß, ist pfiffig, gehaltvoll und ideenreich. Aber mit knapp 27 Minuten Laufzeit ist das kurzweilige Werk definitiv viel zu kurz!
    Meine Produktempfehlungen
    • Boah! Boah! (LP)
    • Boah! Boah! (CD)
    Water Made Us Jamila Woods
    Water Made Us (CD)
    26.05.2024
    Klang:
    4 von 5
    Musik:
    4 von 5

    Die Eigenschaften des Wassers inspirierten Jamila Woods zu "Water Made Us".

    Das Leben auf der Erde entstand im Wasser. Wir bestehen ungefähr aus 80 % Wasser. Ohne Nahrung kann der Mensch etwa 30 bis 50 Tage überleben, ohne Wasser nur maximal 4 Tage. Unter diesen Umständen trifft Jamila Woods, die Musikerin und Poetin aus Chicago, mit "Water Made Us", dem Titel ihres dritten Albums, voll ins Schwarze. Er deutet die komplexen Zusammenhänge an, die dazu geführt haben, dass sich die Menschheit entwickeln konnte. Es wird aber auch deutlich, wie angreifbar und empfindlich unsere Existenz ist.

    Der Titel beruht aber letztlich auf einem Ausspruch der Literatur-Nobelpreisträgerin Toni Morrison: "Jedes Wasser hat ein perfektes Gedächtnis und versucht immer, dorthin zurückzukehren, wo es war". Im Wasser sollen universelle Informationen auf molekularer Ebene gespeichert sein, was die Mystik um dieses Lebenselixier so besonders macht. Geleitet von diesen spirituellen Gedanken hat Jamila Woods ein Werk erschaffen, das sie emotional tief mit dem Verlauf ihres Lebens, ihrem Lieben und ihrem Leiden verbunden hat. Der Kreislauf des Wassers hat Jamila inspiriert und taucht als Metapher immer wieder in den Liedern auf.

    Musikalisch fühlt sie sich keinem Genre verpflichtet, sie schöpft aus Traditionen, nutzt aber auch die aktuellen Strömungen in der schwarzen Musik, um ihren Gedanken den gewünschten Ausdruck zu verleihen.

    Mit einem transparenten und räumlich wirkenden Klang stellt sich Jamila Woods zunächst mit "Bugs" vor. Durch seinen sinfonisch-sphärischen Unterbau erlangt der Track eine fast körperlose Leichtigkeit, die durch erdige Bass-Töne auf dem Boden der Tatsachen gehalten wird. Und so streift der Song sowohl wohliges Soul-Terrain als auch verschachtelte Art-Pop-Gefilde. Im Text stellt sich die Frage: Wie weit bin ich bereit, mein Leben einer Beziehung anzupassen? ("Werde ich mein Leben verändern?
    Es nervt mich, aber ich tue es für dich.)"

    Bei "Tiny Garden" wird Jamila von der Band duendita aus dem New Yorker Stadtteil Queens unterstützt. Gemeinsam gelingt ihnen die Realisierung eines federnden Pop-Sounds, der aus dem Song einen unwiderstehlichen Ohrwurm entstehen lässt. ""Tiny Garden" ist ein Lied über die Art und Weise, wie mein Herz schlägt, die langsame und stetige Art, wie ich liebe", lässt Jamila wissen. Sie beschreibt somit das gegenseitige Abtasten, die Ängste und Erwartungen in der Sturm- und Drang-Phase einer Beziehung.

    "Practice" verbreitet einen ansteckenden Optimismus. Der frisch-belebende Flow wird allerdings von unorganisch wirkenden Rap-Einlagen empfindlich gestört. Sie sind im Gegensatz zu den weiteren gesprochenen Zitaten ein Zugeständnis an gängige Trends, werten die jeweiligen Stücke aber nicht musikalisch auf. Die eingeimpfte Fröhlichkeit hat ihre Wurzeln in dieser Aussage: ""Practice" ist ein Song, in dem es darum geht, den Druck abzubauen, den wir uns in Beziehungen selbst auferlegen. Ich habe versucht, die Art und Weise zu ändern, in der ich Beziehungen oft auf der Grundlage ihres Potenzials für Langlebigkeit bewerte und nicht danach, wie ich mich im Moment fühle".

    In dem Spoken-Word-Beitrag "let the cards fall" sinniert Jamila: "Ich möchte wissen, wie ich mir selbst vertrauen kann, um zu wissen, wann ich in einer Beziehung bleiben muss, um weiter daran zu arbeiten oder sie loszulassen, wenn sie nicht sicher ist oder nicht funktioniert".

    Bei "Send A Dove" dominieren elektronische Instrumente und Effekte. Dennoch bewegt sich der Song in einer warmen Strömung innerhalb eines mild-andächtigen Gospel-Feelings. Jamila beschreibt, wie eine Beziehung im Alltag Risse bekommt: hin- und hergerissen zwischen Verlangen, Hingabe und Zweifel steht die Taube im Titel für ein Friedensangebot, es weiter miteinander zu versuchen.

    Für "Wreckage Room" wird der Gesang, der die spärliche Avantgarde-Jazz-Begleitung unterstützt, anfangs so verfremdet, dass er den eigenartigen Stimmbandübungen von James Blake ähnelt. Nach einer Minute wandelt sich der Song komplett zu einer fantasievoll arrangierten Ballade. Inhaltlich kommt es zum Bruch: "Ich konnte nicht mehr frei sein. Ich habe versucht, deinen Hunger zu stillen, bis er mich verschluckte".

    "Thermostat" wurde vom Musiker und Produzenten Peter CottonTale geprägt, mit dessen Hilfe das Stück reizvoll zwischen klassischem Pop, Jazz und Hip-Hop eingependelt wird. Jamila formuliert einen Grundsatz, der für sie in einer Partnerschaft unverzichtbar ist: "Und ich denke, ein Teil einer guten Beziehung ist so etwas wie … den gestrigen Tag zu vergessen, und das geht nur mit jemandem, dem man wirklich vertraut".

    Es folgt der Monolog "out of the doldrums", der das zynische Zitat enthält: "Ich war ein Schurke. Und ich habe meiner Frau seit fünfzig Jahren geraten, mich nicht zu heiraten."
    Eingebettet in ein sensibles Country-Folk-Gerüst, bekommt der Neo-Soul-Titel "Wolfsheep" ein liebevolles wie auch lebhaftes Antlitz. Auf Deutsch würden wir wohl "Wolf im Schafspelz" über eine Person sagen, die vorgibt, es gut mit uns zu meinen, aber eigentlich nur den eigenen Vorteil im Sinn hat. Diese Erfahrung musste auch Jamila machen: "Ich fürchte, du bist kein guter Mensch. Aber ich habe dich trotzdem geliebt. Ich frage mich, ob ich ein guter Mensch bin. Da ich dich immer noch bleiben lasse".

    In der von psychedelischem Jazz untermalten Erzählung "I Miss All My Exes" stellt die Musik-Dichterin Situationen mit ihren Ex-Freunden heraus, an die sie sich gerne erinnert. Und es ist nicht eine einzige negative Erinnerung dabei!

    Lustvoll betreibt Jamila auch bei "Backburner" das Spiel mit der Zusammenführung von eigentlich kaum zusammenpassenden Genres. Intimer Folk-Rock, elektronische Space-Sounds und fette Hip-Hop-Beats bilden ein Konstrukt, welches vor Leidenschaft knistert - es kann aber auch die Eifersucht sein, die das Kribbeln verursacht.

    Der Satz "Frag mich nicht, weil ich nicht weiß, welchen Weg ich gehen soll", wird bei "libra intuition" zitiert. "Boomerang" lässt ganz ohne Tiefgang eine positive Haltung entstehen. Hier steht eindeutig der Wunsch nach Unbeschwertheit im Vordergrund. Der Takt ist schnell, aufrüttelnd und erquicklich - so funktioniert die akustische Umsetzung von Frohsinn. Die Freude an den Beziehungen, die im Laufe des Lebens nicht zerbrechen, sondern immer wieder aufleben, gibt dem Lied seine positive Ausstrahlung.

    Die alte Liebe ist Vergangenheit, kann aber nicht vergessen werden, deshalb kann sich keine neue Partnerschaft entfalten. Davon berichtet der rockende Soul von "Still" mit einem schnell klopfenden Herzschlag-Takt und abgeklärtem Gesang.

    "the best thing" ist der kurze Dialog zwischen Bischof Derrick Fitzpatrick und Fatimah Asghar, in dem es darum geht, dass es sinnvoll ist, sich an den guten Dingen des Lebens zu orientieren.

    Als moderner Rhythm 'n' Blues lebt "Good News" von klatschenden Rhythmen, über die romantisch wehende Töne gelegt werden, die von der einfühlsamen Stimme von Jamila Woods getragen werden. Lebhaftigkeit und Romantik in einem Stück? "Good News" macht es möglich. Die gute Nachricht ist, dass die Kraft des Wassers erhalten bleibt, aber ihre Unentschlossenheit macht Jamila weiter zu schaffen.

    "Water Made Us" entlässt uns mit dem entspannt fließenden "Headfirst", einem Song, der trotz seiner Lässigkeit einen straff organisierten Eindruck hinterlässt. Jamila beginnt das Lied mit dem Resümee: "Ich kann nicht für das, was ich fühle. Ich kann nicht für das, was ich nicht fühle". Sie scheint doch noch ihre Mitte gefunden zu haben...

    Das Album handelt genau genommen davon, welche Spuren Beziehungen bei uns in ihren unterschiedlichen Phasen, vom Kennenlernen bis zur Trennung, hinterlassen können. Jamila Woods hat für sich einen Weg gefunden, allen menschlichen Begegnungen, ob sie nun erfreulich oder belastend waren, ihren festen Platz in der Erinnerung zuzuweisen. Dabei schließt sie Frieden mit schlechten Erfahrungen und versucht mehr über ihre Empfindungen zu ergründen, um sich selber besser verstehen zu lernen. "Ich war in der Lage, diese kleinen Dinge über mich selbst zu verstehen und zu sagen: "Okay, ich möchte über jedes dieser Gefühle, zu denen ich immer wieder zurückkehre, oder über Muster, die ich bemerke, schreiben und ihnen eine Sprache geben", verrät die Künstlerin ihre Motivation und Gefühlslage bei der Konzeption der Songs. Durch die eingestreuten gesprochenen Texte vermittelt das Werk den Eindruck einer psychologischen Dokumentation, die aus der Erfahrung empirisch gespeist und mit akustischen Schwingungen zum Leben erweckt wird.

    Das Erstaunliche an "Water Made Us" ist, dass das Werk sowohl Soul-Traditionalisten als auch Hip-Hop- und Neo-Soul-Fans zufriedenstellen kann. Was zum großen Teil an der sorglosen Unbekümmertheit von Jamila Woods liegt, mit der sie sich ohne Scheuklappen in der Pop-Kultur bedient. Diese Platte ist ein intelligenter Weckruf an alle Schubladendenker, die glauben, Musik müsse sich strikt an Genre-Grenzen halten!
    Meine Produktempfehlungen
    • Legacy! Legacy! Jamila Woods
      Legacy! Legacy! (CD)
    • Heavn Jamila Woods
      Heavn (CD)
    Hadsel Beirut
    Hadsel (CD)
    26.05.2024
    Klang:
    5 von 5
    Musik:
    4 von 5

    Durch die Aufnahmen für "Hadsel" wurde Zach Condon der Blick auf das Wesentliche ermöglicht.

    Zach Condon kann nicht nur als Musiker, sondern auch als Klangforscher bezeichnet werden. Unter dem Pseudonym Beirut, welches er schon mit 14 Jahren ins Leben rief, bereist er neugierig die musikalische Welt, um sich bei interessanten Ton-Mustern aus unterschiedlichen Kulturen zu bedienen.

    Das achte Beirut-Werk "Hadsel" entstand allerdings unter einschneidenden Bedingungen. Vorausgegangen waren schwerwiegende Probleme mit dem Hals, die Condon 2019 dazu zwangen, seine Tournee abzusagen, was den Fortbestand seiner Karriere infrage stellte. Diese Sinnkrise münzte der sensible Künstler in einen Schritt der radikalen Abnabelung von seinem bisherigen Leben um: Er verschanzte sich Anfang des Jahres 2020 in einer Hütte auf der Insel Hadseløya im Norden von Norwegen. In dieser herausfordernden Umgebung musste sich Zach "mit vielen Dingen aus der Vergangenheit und Gegenwart herumquälen, während die Schönheit der Natur, die Nordlichter und die furchterregenden Stürme" die Sinne anregten.

    In der Hütte befand sich ein Harmonium, das den Tatendrang des Tüftlers anstachelte und so richtete er ein kleines Aufnahmestudio mit zusätzlichem Equipment in seiner Bleibe am Rande des Polarkreises ein. Durch eine glückliche Fügung kam es zum Kontakt mit dem örtlichen Ersatzorganisten, der einen Zugang zur Kirchenorgel verschaffte, was den Aussiedler zu weiteren sinnlichen Sound-Schöpfungen inspirierte. Was als Erholung mit Fluchtpotential begann, führte letztlich zu einem unverhofften Klangabenteuer. Der Mann aus Santa Fe arbeitete wie in Trance, spielte alle Instrumente und Gesangsspuren selber ein und überwand durch die kreative Beflügelung auch seine mentalen Probleme. Heraus kamen dann Kompositionen mit einer spirituellen Ausstrahlung voller Güte und Dankbarkeit.

    Für das Stück "Hadsel" wird eine feierliche Stimmung erzeugt. Dafür sorgen die zackig gespielte Kirchenorgel, hymnische Blechbläser und ein sphärischer Background-Chor. Zach Condon begleitet diese herzerweichende Situation mit sakralem Gesang. Ein ergreifender Auftakt.

    Mindestens genauso erhaben geht es mit "Arctic Forest" weiter. Das Lied erinnert in seiner würdevollen Ausführung an die großen Songs von "Pet Sounds" der The Beach Boys, wie "Let`s Go Away For Awhile".

    Dieser Eindruck wird mit dem sowohl melancholischen als auch beschwingten "Baion" fortgeführt, das rhythmisch an den brasilianischen Bossa Nova angelehnt ist.

    Überhaupt verbreitet das Album ständig eine Atmosphäre, die Leichtigkeit und Besinnlichkeit zusammenbringt, was auch bei "So Many Plans" zu hören ist.

    Melbu liegt auf der Südseite von Hadseløya und ist durch seine Hafenanlagen für Sportboote ein beliebtes Ziel von Freizeitkapitänen. Der Track "Melbu" besteht aus einem Pump-Orgel-Solo, das die Gedanken in eine Dimension fernab der Realität fortschweben lässt.

    Künstliche Bläser prägen das Eingangsbild zu "Stokmarknes" und lassen den melodisch ausgefeilten Track wie ein Zerrbild eines Synthie-Pop-Hits erscheinen. Aber kurz darauf wandelt sich der Eindruck zugunsten eines feinsinnigen Art-Pops mit ausgefeilten, abwechslungsreichen und detailverliebten Arrangements. Stokmarknes ist übrigens der Hauptort der Kommune Hadsel.

    "Island Life" entpuppt sich durchaus als waschechte Ballade, die allerdings von einem luftig-leichten Karibik-Flair umhüllt wird. Dieses Konstrukt verbreitet wiederum eine andächtig-pastorale Aura.

    Und obwohl das anschließende "Spillhaugen" (Berg in Norwegen) über einen aufmunternden Rhythmus verfügt, verfügt das Lied dennoch über ein sakrales Klima.

    Synthetische Keyboards verpassen "January 18th" danach ein schmieriges Antlitz, bevor Zach Condon mit seiner ehrfürchtigen Stimme für eine andachtsvoll-besinnliche Vorstellung sorgt.

    Die geografische Zuordnung der Musik von "Süddeutsches Ton-Bild-Studio" ist im Kern nicht Deutschland, sondern als Weltmusik ohne feste Zuordnung anzusehen. Sphärisch klingende Keyboards mit kristallinem Schneeflocken-Effekt und dezent eingeblendetem Regen bilden dabei einen zusätzlichen, von allem irdischen Überfluss befreiten Reiz.

    Ein schneller Metronom-Takt löst bei "The Tern" zunächst eine aus dem Hintergrund aufsteigende Hektik aus. Obwohl Orgel und Gesang gelassen dagegenhalten, entwickeln sich die Rhythmen durch zusätzlich eingebrachte exotische Trommeln zu drängenden Elementen, die sich bis zum plötzlichen Ende des Songs prägend behaupten.

    Das hymnische "Regulatory" legt sich zum Abschluss wohltuend sanft auf die Seele, wird aber durch einen lateinamerikanischen Takt lebhaft im Fluss gehalten.

    Internationale Folklore-Einflüsse, wie vehemente Balkan-Grooves, sind bei "Hadsel" weniger offensichtlich ausgeprägt als bei früheren Aufnahmen. Zach erzeugt ein Paket voller weihevoller Lieder, die er allerdings nicht in eine Ansammlung schwermütiger Noten packt. Er bestäubt die Stücke mit einem meditativen Flair und lässt sie nach einem erfüllten Leben streben, wobei sie befreiend durchatmen können. Die mild-freundliche Stimme erzeugt eine positive suggestive Wirkung, die durch die wiegenden, warmen Orgeltöne gutmütig gestützt wird. Die beeindruckende Landschaft Norwegens und die Reinigung der Seele haben Spuren bei der Wahl der Klänge hinterlassen. Der Rückzug nach Hadsel schärfte Condons Blick für das Wesentliche und ließ Musik entstehen, die von zeitloser Schönheit durchdrungen ist.
    Meine Produktempfehlungen
    • Artifacts: The Collected EPs, Early Works & B-Sides Beirut
      Artifacts: The Collected EPs, Early Works & B-Sides (CD)
    • Gallipoli Beirut
      Gallipoli (CD)
    • No No No Beirut
      No No No (CD)
    Ozarker Israel Nash
    Ozarker (CD)
    26.05.2024
    Klang:
    4 von 5
    Musik:
    3 von 5

    Israel Nash umgibt sich auf "Ozarker" streckenweise mit süßem Pop und bleibt manchmal daran kleben.

    Der Alternative-Rock- und Americana-Musiker Israel Nash (seit 2013 verzichtet er auf den Namenszusatz Gripka) rückt mit seinem achten Album "Ozarker" ein Stück näher an den Mainstream-Pop heran, ohne allerdings seinen angestammten Rock- und Americana-Sound vollends aufzugeben.

    Es gibt auf "Ozarker" zehn neue Songs zu hören, die die Familie als Keimzelle für die Weitergabe von Erfahrungsberichten nutzt. Auf diese Weise gelangen Geschichten in die Öffentlichkeit, die Israel Nash von seinen Vorfahren über die Freuden und das Leid der Menschen im ländlichen Amerika erzählt wurden.

    Die Eröffnungsnummer "Can't Stop" ist extrem Radio-tauglich, besitzt einen teilweise nach Drum-Machine, teilweise nach lebendigem Trommler klingenden Rhythmus und ist so aufstachelnd-euphorisch, dass ein Stillsitzen beim Hören kaum möglich ist. Bei allem Pop-Schwung verzichtet Israel Nash nicht auf zündend-feurige Gitarren-Soli, was ihn trotz Kurskorrektur auch mit den alten Fans versöhnen wird. In einer besseren Welt wäre dieser Track jedenfalls stark Hit-verdächtig. Der Song will dafür werben, dass man sich auch in schwierigen Zeiten den Widerständen stellen und nicht aufgeben soll. Hier passen Botschaft und Song-Dynamik perfekt zusammen.

    Das gilt im Grunde nach auch für "Roman Candle", das nicht ganz so stürmisch, dafür aber gefühlvoll-packend daherkommt. Spätestens beim engagiert gesungenen Refrain erzwingt das Stück eine ungeteilte Aufmerksamkeit. Die markante E-Gitarre und der unnachgiebige Stampf-Rhythmus halten die geneigten Hörerinnen und Hörer bei Laune, zumindest wenn diese Ausprägungen auf fruchtbaren Boden fallen, also für attraktiv gehalten werden. In dieser Konstellation werden die Roots-Rock-Jahre von Nash in New York wieder wachgeküsst, wo er von 2006 bis 2010 lebte.

    Israel Nashs Familie stammt aus dem Ozark-Hochlandplateau in Missouri. Deshalb der Heimat-verbundene Titel des Albums. Der Track "Ozarker" handelt von der Liebes- und Lebensgeschichte seiner Urgroßeltern, die gegen alle Standes-Widerstände geheiratet haben: Er, Thomas Forster, war ein Saisonarbeiter, der sich in Susan Plowman - die Tochter eines Obstplantagenbesitzers - verliebte und ihr versprach, sie ein Jahr nach seinem Erntejob zu heiraten. Susans Eltern wollten eigentlich, dass sie den jungen Arzt James Christoffer ehelichen sollte, doch Susan wartete sehnsüchtig das Jahr ab. Und am Tag des Erntedankfestes, wo Thomas ein Jahr zuvor sein Versprechen abgab, kehrte er tatsächlich zurück. Das Paar war daraufhin 57 Jahre glücklich verheiratet. Das Lied ist genau genommen eine wehmütige Ballade, die leider kurz in einen Schmalztopf gefallen ist: Die schmachtenden "Schallala"-Gesangs-Einlagen verderben den prinzipiell interessanten Ton-Brei und führen dazu, dass die Musik trotz gesanglicher Hingabe weder Fisch noch Fleisch geworden ist.

    "Pieces" und "Firedance" schlagen grundsätzlich in die gleiche emotional übersteuerte Kerbe, sind relativ langsam, lassen aber die extremen Schnulzen-Klischees weg. Sie atmen dafür mehr hintergründiges, gelassenes Country-Rock-Feeling, gewinnen dadurch an Format und bekommen deshalb noch die Kurve, bevor es in den Kitsch-Abgrund gegangen wäre. "Pieces" erzählt davon, wie sehr eine gescheiterte Liebe zum Trauma werden kann und dass es eine enorme innere Stärke braucht, um aus diesem Jammertal herauszukommen.

    Bei "Firedance" beschwört Israel Nash nachdrücklich seine Liebe und versinkt dabei knietief in einen flehenden, sehnsuchtsvollen Ton, der manchmal von straffen Gitarrenakkorden begleitet wird.

    "Going Back" offenbart einmal mehr Melodie-Stärke und Enthusiasmus beim Gesang, zeigt aber auch eine Schwäche im Rhythmusgeflecht auf: Die monotonen Takt-Anteile nutzen sich nach und nach stark ab, weil sie auf Dauer zu gleichartig-uninteressant klingen. Die scharfen Gitarren-Soli, die aufmunternden Piano-Einlagen und die Tempo- und Dynamik-Wechsel retten das Stück jedoch eindeutig vor dem Mittelmaß. "Going Back" ist ein geschichtsträchtiger Song über die Newton Gang, die von 1919 bis 1924 etwa 87 Bankraube in texanischen Kleinstädten begingen und sechs Zugüberfälle verübten.

    "Lost In America" ist das introvertierteste Stück des Albums und verzichtet auf einen schnellen Herzschlag-Drum-Puls. Nash setzt hier auf Gefühlsduselei und bleibt dabei beinahe in diesem schwülstigen Sumpf hängen. Vielleicht agiert er deshalb so übertrieben, weil ihm das Thema der posttraumatischen Belastungsstörung eines Vietnam-Kriegs-Veteranen sehr nahe geht.

    "Midnight Hour" ist danach schon interessanter aufgestellt. Trotz langsam nervendem, stupidem 80er-Jahre-Billig-Rhythmus schafft es die Ballade, Sympathie und einen kraftvollen Klang zu erzeugen.

    "Travel On" setzt das Leben mit einer Reise gleich. Der Track knüpft musikalisch an den Opener "Can`t Stop" an, verbreitet also ausgelassenes, gut gelauntes Radio-Futter, das selbst langweilige Arbeiten zum Vergnügen werden lassen kann.

    Zum Abschluss gibt es mit "Shadowland" noch eine Rock-Pop-Nummer, die alle vorhergehenden Song-Bestandteile, wie eingängige Melodien, Ohrwurmrefrains, aber auch den stupiden Rhythmus und die abgenudelten Hintergrundgesänge zu einem angenehmen Mainstream-Pop werden lassen. Das Lied beschreibt die wirtschaftlich schwierige Lage vieler Menschen im ländlichen Missouri, die an der Armutsgrenze leben müssen. Die USA sind eben für Viele nicht das gelobte Land. Die Wirklichkeit sieht häufig anders aus, als man es uns manchmal suggeriert: Es gibt in der Regel keine soziale Absicherung, keine bezahlbare Krankenkasse und keine lukrativen Jobs. Da kann der Verlust der Arbeitsstelle oder eine teure Krankheit leicht zur Obdachlosigkeit führen. Ein heikles Thema mit gesellschaftlichem Zündstoff.

    "Ozarker" ist ein durchwachsenes Werk geworden. Mit Stärken in der Melodiebildung, einem engagierten, die Gehörgänge ausfüllenden, voluminösen Gesang sowie einer prägnanten, knackigen Gitarrenarbeit. Schwächen bestehen in der rhythmischen Ausgestaltung und der altbackenen Produktion, die an verunglückte Singer-Songwriter-Alben der 1980-er Jahre erinnert, welche sich abhängig von einer damals angesagten monoton-aufdringlichen Taktstruktur machten. Einerseits muss die positive Motivation zur Weiterentwicklung gelobt werden, andererseits ist eine teilweise halbgar ausgeführte Pop-Schiene mit Hang zur Schnulze wahrzunehmen. Dennoch: Die positiven Aspekte überwiegen bei "Ozarker" bei Weitem.

    Israel Nash ist ein Guter, der allerdings schon großartigere Alben aufgenommen hat, unter anderem gehören "Israel Nash`s Rain Plans" von 2013 und "Israel Nash`s Silver Season" aus 2015 dazu. "Ozarker" ist im Gegensatz dazu nicht unbedingt innovativ, dafür aber bodenständig-solide und markiert eventuell den Aufbruch zu einer weiteren Entwicklungsstufe. Warten wir es einfach mal gespannt ab, was der Mann noch an Ideen im Köcher hat.

    Wer sowohl Tom Petty mit seinem "Full Moon Fever" oder den späten Bob Seger ("Against The Wind") oder Bruce Hornsby ("The Way It Is") schätzt, sollte sich "Ozarker" unbedingt anhören, denn eine gewisse Geistesverwandtschaft ist zwischen den eben genannten Künstlern vorhanden. Auch unter Musikern gibt es ja schließlich so etwas wie familiäre Verknüpfungen - auch beim Sound.
    Meine Produktempfehlungen
    • Israel Nash's Rain Plans Israel Nash
      Israel Nash's Rain Plans (CD)
    • Topaz Israel Nash
      Topaz (CD)
    • Lifted Israel Nash
      Lifted (CD)
    • Israel Nash's Silver Season Israel Nash
      Israel Nash's Silver Season (CD)
    Give It To The Sky: Arthur Russell's Tower Of Mean Peter Broderick & Ensemble 0
    Give It To The Sky: Arthur Russell's Tower Of Mean (CD)
    26.05.2024
    Klang:
    5 von 5
    Musik:
    5 von 5

    Achtung! Kunst! Peter Broderick interpretiert "Tower Of Meaning" von Arthur Russell in einer angepassten Fassung.

    Der 1987 in Carlton, Oregon geborene Multiinstrumentalist, Komponist, Produzent und Tontechniker Peter Broderick ist ein unkonventioneller, abenteuerlicher, Genre-Grenzen sprengender Artgenosse. Genauso wie der von ihm mit "Give It To The Sky" gewürdigte, 1952 geborene und leider schon 1982 verstorbene, wagemutige Querkopf, Komponist und Multiinstrumentalist Arthur Russell. Beide Künstler lieben es zu experimentieren und sich jenseits vom Massengeschmack auszudrücken. Deshalb ist die Zuneigung von Broderick zu Russell nicht ungewöhnlich, sondern logisch. Ebenso passend ist die Einbeziehung des 12-köpfigen französischen Ensemble 0 zur Realisierung der Neuauflage von "Tower Of Meaning", einem Orchester-Werk von Russell aus 1983. Die Begleit-Musiker um Stéphane Garin und Sylvain Chauveau bringen die entsprechende Vorbildung mit, um beurteilen zu können, welche Klangfarben zielführend dafür sind, um das ehemals für eine Theateraufführung konzipierte Werk einfühlsam zu restaurieren.

    "Give It To The Sky" ist Herbstmusik, Kammermusik, traurige Musik, herausfordernde Musik, besinnliche Musik, meditative Musik. Es gibt keine schrillen, sondern nur warm-weiche Töne auf dem Album. Peter Broderick singt mit einer wenig modulierten und variierten Stimme, die dennoch in der Lage ist, einen hypnotischen Reiz mit innigen Gefühlsregungen zu erzeugen.

    Das Piano sucht für "Tower Of Meaning I" nach Identität, wirkt einsam und verloren. Ihm schließen sich dann nacheinander Streicher, Vibraphon und Bläser im Gleichklang an. Das gemeinschaftliche Anstimmen der Klänge sorgt für Halt und Harmonie in dunklen Zeiten. Pastoral-feierlich wirken die Blas- und Saiteninstrumente bei "Tower Of Meaning II", die zusammen Töne erzeugen, die einer wohltemperierten Kirchenorgel gleichen.

    "Tower Of Meaning III" unterbricht dann abrupt die andächtige Stimmung, um das Umfeld drohend-belastend einzufärben. Die Noten werden länger ausgespielt, was für ein weiteres Plus an Bedächtigkeit sorgt.

    Trommeln, die klingen, als würden schwere Wassertropfen auf den Deckel einer leeren Regentonne fallen und Streicher, die einen verirrten Eindruck hinterlassen, prägen das instabile "Tower Of Meaning IV", das auch aus dem Schulwerk von Carl Orff stammen könnte.

    Der Gesang zum Lagerfeuer-Folk von "Corky I" scheint von weit herzukommen oder aus dem Telefon zu schallen. Das sich im selben Stück anschließende "White Jet Smoke Trail I" lässt die Töne fliegen. Sie schweben friedvoll-sanft und drücken somit Demut vor dem Dasein aus.

    "Consideration" und das später auftauchende Lied "Give It To The Sky" sind heftig zu Herzen gehende Pop-Balladen mit sensibel-verwundetem Gesang, wunderschönen, unaufgeregten Melodien und zarter, kammermusikalischer Begleitung. Zum Dahinschmelzen!

    Und weil es so schön ist, hier noch einmal "Give It To Sky" als Live-im-Studio-Aufnahme (nicht auf dem Album vorhanden):

    Manche Blasinstrumente geben für "Tower Of Meaning V" nur ein Rauschen von sich, so vorsichtig werden sie angeblasen. Man traut sich kaum zu atmen, um die intime Atmosphäre nicht zu stören. Hier herrscht die Kunst der Langsamkeit und Ruhe, die zu innerer Einkehr führen kann.

    Eine kratzige Geige, ein flirrend-schwirrender, außerirdisch erscheinender, aus der Konzentration herausführender Ton und dezent gezupfte Saiten bilden für "Tower Of Meaning VI" ein Muster, welches viel Spielraum zur Interpretation bietet: Traumgebilde, die akustische Abbildung der Aura eines Hochsensiblen oder Science-Fiction-Stimmungen könnten hier die Grundlage für die Entstehung der Komposition gewesen sein.

    Bei "Tower Of Meaning VII" stimmen die Bläser zurückhaltende, hymnische Schwingungen an, die das Stück in einem Dämmer-Zustand zwischen Schlaf- und Wach-Zustand halten. Bei "Tower Of Meaning VIII" tauchen sie wieder auf, die fast tonlos klingenden, mageren Bläser. Sie werden von anderen, sphärisch-weitläufig schwelgenden Fanfaren und dezenten Streichern liebevoll in den Arm genommen.

    "Tower Of Meaning IX" ist klanglich die Fortsetzung von "Tower Of Meaning VIII", nur noch weltabgewandter, meditativer und versunkener inszeniert. Das ist quasi ein Abbild des spirituellen Jazz von Alice Coltrane mit anderen Mitteln. Das angegliederte "Corky II" wird als Abwandlung von "Corky I" als geisterhafte Song-Erscheinung ausgeprägt. Bei "Tower Of Meaning X" sind dann Bläser und Streicher im Einklang vereint, wie bei einem Choral ohne Stimmen. Die dazu eingestreuten Bässe wirken massiv-erhaben wie eine Kirchenorgel.

    Dunkel drohende Töne lassen kein Sonnenlicht durch, sie benutzen für "Tower Of Meaning XI" die Dehnung der Zeit zur Erhöhung der Intensität und kennen keine Gnade, wenn es um die Darstellung von Schwermut geht. Das geht im Prinzip bei "Tower Of Meaning XII" so ähnlich weiter. Statt tiefschwarz herrscht nun aber dunkelgrau, denn es erklingen schüchterne, helle, glockenartige Töne, die an einen Wind, der durch einen Kristallpalast streift, denken lassen. Ein Ende der Tristesse kündigt sich an.

    Der Weg zum Licht wird mit "Corky III" fortgesetzt. Der Song ist zwar auch kein Ausbund an Fröhlichkeit, erblüht aber allmählich von melancholisch-gediegen zu hoffnungsvoll-harmonisch. Wie ein sich öffnendes Bewusstsein erlangt das Stück eine Präsenz, die allumfassend, selbsttragend und süffig ist. Die Seele wurde vertrauensvoll ans Universum übergeben. Der Kreis ist geschlossen.

    Jetzt kann gefeiert werden und "White Jet Smoke Trail II" liefert als unbekümmerter, tapsig klingender, Jazz-Pop-Instrumental-Track den Soundtrack dazu.

    Die beteiligten Musiker haben sehr viel Zeit, Leidenschaft und Kreativität in die Verwirklichung von "Give It To The Sky" gesteckt. Peter Broderick hatte Zugriff auf den Nachlass von Arthur Russell, der sich auf über 1.000 Stunden auf Tonband aufgenommenes Material erstreckt. Aus diesem Fundus hat er noch vier nicht fertiggestellte Stücke ausgewählt, die die Würdigung ergänzen. Dabei handelt es sich um den Song "Give It To The Sky" und "Corky I bis III". Julian Pontvianne, der Saxofonist vom Ensemble 0, beschäftigte sich in aufwendiger Kleinarbeit damit, den Ursprüngen veränderte Arrangements anzupassen, weil sich die Vorlagen unfertig anhörten. Das sollte aber ganz in Gedanken daran ablaufen, wie sie wohl Russell vervollständigt hätte. Um Spontanität walten zu lassen, wurde das Album dann fast ohne Nachbearbeitung in einem kleinen Theater im Südwesten von Frankreich eingespielt.

    "Tower Of Meaning" lag bei Peter Broderick und dem Ensemble 0 in guten Händen. Das Ursprungs-Album und die neuen Stücke sind unter der Wandlung zu einer stabilen, sich gegenseitig stützenden Einheit zusammengewachsen. Die bedächtig-betrübte Stimmung der Tracks vermag es, einen tröstenden Charakter heraufzubeschwören, weil die Schwingungen trotz aller Dunkelheit von Wärme durchflutet sind. Deshalb legen sie sich wie eine anschmiegsam-weiche Decke um die Sinne und lassen aus Melancholie Mitgefühl auferstehen. Das ist große Kunst, denn es sind wertige Klänge von originell-konstruktiver Qualität geschaffen worden. So wurde aus dem Avantgarde-Ansatz eine anspruchsvolle Unterhaltungsmusik erzeugt.
    Meine Produktempfehlungen
    • Piano Works Vol.1 (Floating In Tucker's Basement) Peter Broderick
      Piano Works Vol.1 (Floating In Tucker's Basement) (CD)
    • Music For Confluence Peter Broderick
      Music For Confluence (LP)
    • These Walls Of Mine (Explicit) Peter Broderick
      These Walls Of Mine (Explicit) (CD)
    • Partners Peter Broderick
      Partners (CD)
    • All Together Again Peter Broderick
      All Together Again (CD)
    • Blackberry Peter Broderick
      Blackberry (CD)
    • Colours Of The Night (Digisleeve) Peter Broderick
      Colours Of The Night (Digisleeve) (CD)
    Superblue: The Iridescent Spree Superblue: The Iridescent Spree (CD)
    26.05.2024
    Klang:
    5 von 5
    Musik:
    4 von 5

    Der Name ist Programm: "The Iridescent Spree" beinhaltet einen schillernden Reigen von transformiertem Jazz ohne Genre-Scheuklappen.

    SuperBlue ist eine Allstar-Formation. Ähnlich wie bei den Jazz-Projekten Weather Report oder The Mahavishnu Orchestra besteht die Besetzung nur aus bewährten, hochgradig begabten Musikern: Kurt Elling, Jahrgang 1967, verfügt über eine vier Oktaven überspannende, flexible Bariton-Stimme, die ihm in den letzten 25 Jahren seines Schaffens etliche Auszeichnungen eingebracht hat (unter anderem wurde er 17-fach zwischen 2000 und 2021 vom renommierten „Downbeat“-Magazine zum besten Sänger des Jahres gekürt). Der umtriebige Fusion-Gitarrist und Produzent Charlie Hunter, der auf seiner achtsaitigen Hybrid-Gitarre gleichzeitig Lead-Gitarre und Bass spielt, ist ein gern gesehener Gast bei Kolleginnen und Kollegen, hat aber auch schon einige Alben unter eigenem Namen aufgenommen. Der Schlagzeuger Corey Fonville und der Multiinstrumentalist DJ Harrison kommen von der aus Virginia stammenden Band Butcher Brown und stellen dort das unbändig temperamentvolle Rhythmusgeflecht dar. Butcher Brown sind vom 1970er Jahre Jazz und Funk beeinflusst und bezeichnen ihre Musik als "Hip-Hop-Mahavishnu". Manche Aufnahmen auf "The Iridescent Spree" werden durch die saftigen, kraftvollen Huntertones Horns aus Brooklyn (Jon Lampley: Trompete; Dan White: Saxophon; Chris Ott: Posaune) veredelt, die für eine besondere, feurig-volltönende Würze verantwortlich sind.

    Von einer unbekannten Inspirationswelle wurde Joni Mitchells „Black Crow“ auf „The Iridescent Spree", dem zweiten Studio-Album nach "SuperBlue" aus 2021, gespült. Dadurch, dass die Gruppe den Noten einen flotten, eleganten Funk-Jazz-Groove beibringen, verleihen sie „Black Crow“ eine lebensfrohe Erscheinung. Diese wird durch einen strammen Rhythmus, dem variabel-süffigen Gesang und der exakten, markigen Saitenarbeit modelliert. Die endgültige Ausgestaltung geschieht unter Einbeziehung einer schäumenden Scat-Gesangs-Einlage in Al Jarreau-Manier und einer swingenden, im Gedächtnis an Herbie Mann geblasenen Querflöte. Bei dieser Gelegenheit begegnen sich also einmal mehr Vergangenheit und Gegenwart, um gemeinsam eine gute Zeit zu verbringen.

    Der Groove bleibt, der Gesang ändert sich für "Freeman Square": Kurt Elling dehnt die letzten Worte eines Satzes und erzeugt auf diese Weise mit seiner Stimme eine bizarre, unnatürlich wirkende, schwerfällige Stimmung. Als würde der Moment nachempfunden, der den Übergang von der Wachphase zu einer Sedierung ausmacht. Alsbald passt Kurt dann seine Stimme dem hektisch pulsierenden Rhythmus an und lässt die Dehnung weitestgehend weg. Der Track wandelt sich durch diese Wendung zu einem Hip-Hop-Jazz-Song mit Tendenz zum großspurigen Broadway-Entertainment. Zwischendurch ertönt ein Harmonie-Gesang, der so rein, weich und unschuldig ist, wie die Stimmen der Singers Unlimited. Am Ende des Stückes werden dann die Anfangs-Sequenzen wieder aufgegriffen. Der Kreis ist geschlossen. Vielseitigkeit charakterisiert diesen Track, der sich quer legt, was einen durchgängigen Flow angeht, sanft gegen den Strich gebürstet ist und dabei die Harmonie aber nicht ganz vergisst.

    "Naughty Number Nine", das durch den Jazzsänger Grady Tate 1973 bekannt gemacht wurde, schaltet mehrere Gänge zurück und atmet rauchige Kellerbar-Jazz- oder coole Nachtclub-Atmosphäre ein. Elling präsentiert sich dabei als gewandter, swingender Balladensänger, der es bei aller Empathie vermeidet, rührselig zu sein. Seine Mitstreiter klingen galant, transparent und aufgeweckt, sind ständig mit Elling auf Ballhöhe, sodass sie sich wie eine eingeschworene Einheit anhören, die jede musikalische Hürde gemeinsam souverän nimmt.

    Ein schläfriger Gesang lässt bei "Little Fairy Carpenter" sofort Entspannung aufkommen. Der schleppende, elektrisch aufgeladene Country-Twang, den Charlie Hunter beiträgt, erzeugt flirrende Schwüle und das Rhythmus-Gespann hält dieses fiebrige Gebilde an langer Leine locker zusammen.

    Der Funk von "Bounce It" ist trocken und wirkt zunächst etwas steif. Ellings High-Speed-Gesang und die fetten Bläser der Huntertones Horns lösen die Sterilität der Produktion schließlich jedoch tatkräftig und originell auf.

    Für "Lonely Woman", das der Saxophonist Ornette Coleman 1959 herausgebracht hat, verfasste Kurt Elling einen Text und hat das Stück nun "Only The Lonely Woman" genannt. Er beschwört darin stimmlich den Geist des Crooners Frank Sinatra, lässt sich aber nicht gänzlich von ihm vereinnahmen. Empathie dringt ein, Sentimentalität bleibt draußen. Im Kontrast dazu trägt Corey Fonville am Schlagzeug nervöse, schnelle Takte bei. Der Bass von DJ Harrison pumpt stoische Donnerschläge in den Raum. Das Keyboard und die Gitarre spielen die Space-Sound-Karte aus und verschaffen dem Song somit einen ätherisch-mystischen Hintergrund. Atmosphärisch bewegt sich das Stück auf der Ebene der drogenschwangeren Tim Buckley-Aufnahmen von "Lorca" - abgesehen von dem hibbeligen Rhythmus.

    Der empfindsame Pop-Song "Right About Now" von Ron Sexsmith wird als langsame, jazzige Smooth-Soul-Ballade interpretiert, bei der sich Kurt Elling ausgiebig in Herz-Schmerz suhlen darf.

    Zurück zum druckvollen Groove: "Not Here / Not Now" kombiniert Funk mit Jazz, was nicht neu und nicht unbedingt aufregend ist, aber durch die Brillanz der Akteure in diesem Fall durchaus stimulierend wirkt.

    Der Spoken-Word-Beitrag für "The Afterlife" steht für eine Vergeudung von Talent. Statt zu singen, zitiert Kurt Elling die Poesie, dieses Unterfangen unterfordert ihn eindeutig. Es ist immer eine Freude, Kurt singen zu hören, da er zu den ausdrucksstärksten lebenden Sängern gehört und im Nullkommanix eine entgegenkommend-verbindliche Beziehung zwischen ihm und seinen Zuhörern herstellen kann. Aber hier ist die Nummer nicht vor der musikalischen Belanglosigkeit zu retten.

    Im Allgemeinen fehlt dem Fusion-Sound oft eine erdige, emotionale Durchsetzungsfähigkeit und Verbundenheit, weil es in dem Genre meistens auf technische Brillanz ankommt. Das SuperBlue-Ensemble hat auch manchmal einen Hang zur Perfektion: Es gehört schließlich instrumental zur Spitzenklasse und die beteiligten Instrumentalisten spielen exakt wie ein Uhrwerk. Einige Jazz-Nerds und Liebhaber von elektronischer Musik genießen diese Präzision der Instrumentenbeherrschung, während andere diese Tugend als zu kühl wahrnehmen.

    Bei SuperBlue ist aber entscheidend, dass der Faktor "menschliche Wärme" in Form des leidenschaftlich agierenden Sängers Kurt Elling dazukommt, welcher einen Großteil der Aufmerksamkeit auf sich zieht. Elling beherrscht alle Klang-Schattierungen - vom Great American Songbook bis zur Avantgarde - in Vollendung und durchdringt die Noten mit seiner emotional gesättigten Stimme. Deshalb ist dieses Ensemble so bemerkenswert, weil es versteht, wie man Zuverlässigkeit und Feingefühl lückenlos miteinander verbindet. Und auf diese Weise entziehen sich die Musiker einer sterilen Darstellung und können ihre Fingerfertigkeit in den Dienst von lebendigen Songs stellen, über deren gehaltvolle Präsentation man nur staunen kann.
    Meine Produktempfehlungen
    • Secrets Are The Best Stories Secrets Are The Best Stories (CD)
    • Passion World Passion World (CD)
    • Superblue Superblue (CD)
    In The Throes Buddy Miller & Julie
    In The Throes (CD)
    26.05.2024
    Klang:
    5 von 5
    Musik:
    5 von 5

    Americana Deluxe: Buddy & Julie Miller haben Maßstäbe gesetzt und sind immer noch eine Klasse für sich.

    Buddy & Julie Miller machen sich rar, was gemeinsame Veröffentlichungen angeht und deshalb ist es jetzt besonders erfreulich, dass es trotz der psychischen und Schmerz-Erkrankung von Julie wieder ein gemeinsames Album gibt! Hoffentlich ist das ein Zeichen dafür, dass es ihr besser geht!

    Buddy und Julie teilen sich die Gesangs-Aufgaben bei ihren Songs je nach Fundament und gewünschtem Ausdruck auf oder ergänzen sich stimmlich. Julie kann dabei erotisierend-frech, aber auch verletzlich-sensibel klingen, während Buddy das liebevolle Raubein darstellt. Das Paar beherrscht nicht nur kantigen Folk- und beherzten Garagen-Rock, sondern auch sanft-intime Balladen und zu Tränen rührende, dunkle Country-Schmachtfetzen. Das Ganze wird gerne zusätzlich noch mit einer Prise "Sweet Soul Music" versehen.

    Neben erlesenen Eigenkompositionen interpretieren die Beiden immer wieder delikate Stücke von Kolleginnen und Kollegen. Auf "In The Throes" befindet sich allerdings mit "Don`t Make Her Cry" nur ein Lied mit Fremdbeteiligung, hinter dem sich eine kuriose Entstehungsgeschichte verbirgt: Die Musikerin Regina McCrary war Ende der 1970er Jahre Mitglied der Tournee-Band von Bob Dylan. Ihr Vater ermahnte Bob damals mit den Worten: "Don`t Make Her Cry" und Jahrzehnte später versuchten McCrary und Dylan aus dieser Erinnerung ein Lied zu generieren, welches sie jedoch nicht vollenden konnten. Daraufhin riet Bob Dylan, das Fragment an Buddy Miller zu geben. Dieser gab die Vorlage an seine Frau weiter und jetzt kann die Überarbeitung auf "In The Throes" begutachtet werden.

    Somit ist Julie Miller direkt oder mit Vorleistung von anderen an allen Kompositionen beteiligt. Das Album ist quasi eine Erweckung für sie, da sie die Tracks in einer Phase von übersprudelnden Ideen verfasste. Eingebung, Kreativität und blindes Verständnis füreinander machten dann das neue Album überhaupt erst möglich. "In The Throes" ist erst die vierte offizielle Zusammenarbeit der Millers, zumindest was die Nennung beider Namen auf einer Platte angeht. Die Vorgänger-Werke waren "Buddy & Julie Miller" (2001), "Written In Chalk" (2009) und "Breakdown On 20th Avenue South" (2019).

    Auf ihren Solo-Platten unterstützten sich die Eheleute allerdings auch immer tatkräftig. Buddy Miller hatte daneben sogar die Ehre, beim wiederbelebten Projekt Band Of Joy von Robert Plant (so hieß seine erste Gruppe) mitzuwirken. Durch seine individuelle Persönlichkeit setzte er den Studio- und Konzert-Aktivitäten einen markanten Stempel als Musiker und Produzent auf. Buddy & Julie Miller haben 1981 geheiratet und alle musikalischen Aktivitäten, die sie seitdem unternommen haben, sind außergewöhnlich: voller Wärme, Leidenschaft und Originalität. Da bildet auch "In The Throes" keine Ausnahme.

    Für die Liebeserklärung "You’re My Thrill" legt Julie ihre ganze Sensibilität in die Waagschale und singt mit einer zerbrechlich-durchdringenden Stimme, die eine tief empfundene Sehnsucht und eine starke Verletzlichkeit ausdrückt. Die geschmeidig-entspannt ablaufende Ballade transportiert ruhig-wohlige Töne, die in einem eindringlich-schönen Refrain und einer sanften Melodie münden. Traumhaft!

    Der Song "In The Throes" erzählt von Existenz bedrohenden Gefühlen, die jemand nach einer Trennung erfährt. Es ist so, als würde einem der Boden unter den Füßen weggerissen werden ("Ich bin so hilflos und niedergeschlagen..."). Diese Situation spielt sich in einem trocken rockenden Stück ab, das eher Wut als Trauer vermittelt.

    "Und als er meine Hand schüttelte, fühlte es sich wirklich an. Wie die Kraft der Liebe, die dein Herz zum Schmelzen bringt", heißt es bei "Don’t Make Her Cry" aus der Sicht von Bob Dylan, der diese innig flehenden Worte vom Vater seiner Band-Kollegin Regina McCrary hörte, der damit um Schutz für seine Tochter bat. Das muss Dylan stark beeindruckt haben, weil diese Begegnung noch viele Jahre später zu einer Song-Idee führte. Regina McCrary steuert nun bei der Verwirklichung Hintergrund-Gesang bei und Buddy Miller übernimmt die selbstbewusste, aber melancholisch angehauchte leitende Stimme. Julies Harmonien sind sehr dezent, der Bass brummt übersteuert, das Schlagzeug wird mehr getupft als geschlagen, die Orgel zischelt verhalten im Hintergrund und die E-Gitarre füllt manche Sound-Lücken malerisch aus. Und fertig ist ein gefühlsbeladener Americana-Pop-Song, dem man die Bob Dylan-Kompositions-Beteiligung nicht unbedingt anhört.

    "Niccolo" ist eine feine Mischung aus hymnischem Country-Folk, reifem Pop, romantischem Bluegrass und robustem Roots-Rock mit Ohrwurm-Garantie. Einmal im Gehörgang angekommen, setzt sich der Song dort unweigerlich für eine lange Zeit fest.

    Im Duett beteuern Julie und Buddy bei "I Love You" poetisch ihre Liebe zueinander. Der Song wurde als kraftvolle Ballade mit omnipräsentem Schlagzeug konzipiert und entwickelt im Verlauf eine sich steigernde Sogwirkung.

    "The Last Bridge You Will Cross" ist dem Kongressabgeordneten und Bürgerrechtler John Robert Lewis gewidmet. Er hat in seinem Leben starke Signale in Richtung Gleichberechtigung, Frieden und Vergebung ausgesendet, starb aber leider im Jahr 2020. Zusammen mit Martin Luther King organisierte er 1963 den berühmten Marsch auf Washington, der in der denkwürdigen "I Have A Dream"-Rede mündete. 1965 wurde er beim ersten von ihm initiierten Selma-nach-Montgomery-Marsch (der als "Bloody Sunday" in die Geschichte einging) durch Polizeigewalt schwer am Kopf verletzt. Trotzdem setzte er sich mit einem unerschütterlichen Kampf für Vergebung, Gerechtigkeit und die Beendigung der Rassentrennung ein. Intim und in sich gekehrt untermalen Buddy & Julie ihre Ehrenbekundung an ihn, die stimmlich von Emmylou Harris veredelt wird. Gemeinsam erzeugen die Musiker und Musikerinnen eine sakrale, feierliche Stimmung, deren andächtige Wirkung man sich nicht entziehen kann.

    "The Painkillers Ain’t Workin’" ist eine erschütternde Zustandsbeschreibung über Julies Schmerz-Attacken ("Es fühlt sich an, als ob unter dem Bett, auf dem ich liege, Feuer brennt"). Trotzig stemmt sich die Musik mit akustischen und elektrischen Folk-Rock-Klängen gegen die entsetzliche Lage und es werden Rhythmen eingebaut, die aus dem arabischen Raum als aufmunternder Trost hinzugeweht sein könnten.

    "I Been Around" ist ein dreckig-kaputter Blues-Rock, für den Julie wie in Trance, im Rausch oder leicht betäubt singt. Alex Chilton hätte seinen Spaß an dem destruktiven Zustand des Songs gehabt. In der Nacht fiel Julie das gesamte Lied ein und da ihr Mann gerade im hauseigenen Studio war, konservierten sie eine spontane Version, die gleich darauf von Buddy weiter bearbeitet wurde. Danach vergaßen sie die Aufnahme. Beim Sichten der Demo-Tapes fand Buddy sie zufällig wieder und brachte sie in den ursprünglichen, spröden Zustand aufs Album.

    Bei den zärtlichen Country-Folk-Balladen "Tattooed Tear" und "I’ll Never Live It Down" ist Buddy der Chef im Ring. Neben den akzentuierten Gitarren- und Piano-Tönen trägt sein erzählerisch-markanter Gesang sehr zum demütigen Ausdruck der Songs bei.

    Karger Hillbilly Folk + eingängiger Pop + eindringliches Gospel-Feeling = "We’re Leavin’". Auf diese einfache Formel kann man die Bestandteile dieses Lieds, das mit unbekümmerter Aufbruchstimmung wirbt, vielleicht verdichten.

    Zum Abschluss gibt es mit "Oh Shout" noch einen unspektakulären Pop-Song, in den ein kindlich-alberner Singsang eingebaut wurde. Das soll anscheinend eventuell vorhandene trübe Gedanken vertreiben.

    Zusammengefasst ist "In The Throes" wieder ein tolles Album von Buddy & Julie Miller geworden. Das war auch nicht anders zu erwarten. Aber es ist natürlich schön, wenn Vorfreude in wahre Begeisterung umschlägt und dieses Gefühl auch nach einigen Hördurchgängen immer noch anhält. Das mag daran liegen, dass das Ehepaar einen souverän-wirksamen Umgang mit den Instrumentarien des Americana-Sounds beherrscht. Ihre Songs besitzen nicht nur Strahlkraft, sondern verbreiten auch Empathie und Herzblut. Sie wirken nach, bleiben im Gedächtnis und sind scheinbar keinem Alterungsprozess unterworfen. Das sind die Qualitäten, aus denen Evergreens gemacht werden!
    Meine Produktempfehlungen
    • Cruel Moon / Midnight & Lonesome Cruel Moon / Midnight & Lonesome (CD)
    • Your Love And Other Lies / Poison Love Buddy Miller
      Your Love And Other Lies / Poison Love (CD)
    • Cayamo Sessions At Sea Buddy Miller
      Cayamo Sessions At Sea (CD)
    • Majestic Silver Strings (CD + DVD) Buddy Miller
      Majestic Silver Strings (CD + DVD) (CD)
    • Universal United House Prayer Buddy Miller
      Universal United House Prayer (CD)
    • Buddy & Julie Miller Buddy Miller & Julie
      Buddy & Julie Miller (CD)
    • Breakdown On 20th Ave. South Buddy Miller & Julie
      Breakdown On 20th Ave. South (CD)
    Sahel Bombino
    Sahel (CD)
    22.05.2024
    Klang:
    4 von 5
    Musik:
    4 von 5

    Die Wüste lebt: Bombino vermittelt mit Vehemenz und Sanftmut zwischen Tradition und Gegenwart.

    Es ist eine Binsenweisheit, dass Musik eine universelle Sprache ist und dennoch gilt weiterhin der anglo-amerikanische Raum als hauptsächliche Brutstätte und Region der alleinigen Rechte-Inhaber, was die Erzeugung von stilprägender Pop- und Rock-Musik angeht. Afrika hat da kaum jemand auf dem Schirm. Und das trotz solch vorbildlicher Künstler wie Fela Kuti oder Angelique Kidjo. An manche Ohren ist allerdings schon der Sound von Tuareg-Gruppen wie Tinariwen oder Tamikrest aus Mali gedrungen, der umgehend den Stempel Wüsten-Trance-Rock verpasst bekam.

    In diese Schublade passt auch Bombino, der schon mit Dan Auerbach von The Black Keys im Studio war und deshalb beinahe als etabliert angesehen werden kann. Und das aus gutem Grund, denn seine Musik ist gar nicht so weit weg vom Blues, Folk oder Garagenrock der Kollegen aus den USA. Der Sänger, Gitarrist und Komponist Bombino stammt aus Niger und gehört dem Nomaden-Volk der Tuareg an, das ursprünglich in der Sahara lebte. Er wurde am 1. Januar 1980 als Goumour Almoctar geboren und als Muslim erzogen. Seine Eltern lehrten ihn, Ehre, Würde und Großzügigkeit als Lebensprinzipien anzuwenden.

    In erster Linie waren die Tuareg Händler. Da sie aber gegen den Kolonialismus und eine strenge Auslegung des Islam rebellierten, haben sie sich den Ruf von erbitterten Kämpfern erworben. Bombino kämpft aber nicht der Waffe, sondern mit Worten für mehr Anerkennung für sein Volk. Im Sinne der Tuareg-Traditionen wurde der Sohn eines Automechanikers von seiner Großmutter erzogen, bis er 1990 mit seinem Vater und seiner Oma aufgrund eines Bürgerkriegs nach Algerien fliehen musste. Dort begann er, sich das Gitarre spielen selber beizubringen. Als 1992 im Niger die Militärregierung durch eine demokratisch gewählte Institution abgelöst wurde, kehrte Bombino in seine Heimat zurück. Hier erhielt er dann professionellen Gitarrenunterricht bei dem angesehenen Musiker Haja Bebe und wurde Mitglied seiner Band. Und da er der jüngste der Gruppe war, nannten ihn alle Bombino, was "kleines Kind" bedeutet. Da sein Vater nicht wollte, dass er Musiker wurde, zog er nach Libyen, arbeitete dort als Hirte und hatte nebenbei genügend Zeit, um seine Gitarren-Technik zu verbessern. Es stellten sich auch bald erste musikalische Erfolge ein und Begegnungen mit Musikern der Rolling Stones stärkten seinen guten Ruf. 2011 erschien dann das erste international veröffentlichte Album "Agadez", gefolgt von dem von Dan Auerbach produzierten "Nomad" aus 2013. In Woodstock entstand 2015 "Azel" und "Deran" wurde 2017 in Casablanca (Marokko) aufgenommen.

    Das aktuelle Album "Sahel" bezieht sich auf das Leben in der Sahel-Zone, zu der die Staaten Senegal, Mauretanien, Mali, Burkina Faso, Niger, Tschad und Sudan gehören. Sahel ist arabisch und bedeutet so viel wie "Küste" oder "Ufer der Wüste". Das Werk besteht aus zehn Songs, die sowohl persönliche Belange als auch politische Themen behandeln. Die hierzu verwendete Sprache ist Tamasheq, die Muttersprache von Bombino.

    Der Opener "Tazidert" (= Geduld) groovt wie Hölle! Als würden Neil Young & Crazy Horse, Can und Sly & The Family Stone um die Wette spielen. Es kommen also druckvolle Energie, verzückende Rauschhaftigkeit und erfrischende Lebensfreude zusammen. Der Rhythmus ist elektrisierend, herrlich primitiv und hypnotisch. Psychedelische Gitarren bringen die Hörerschaft um den Verstand, dezent zischende Synthesizer-Töne stellen die Verbindung zum Jenseits her und die Stimmen beschwören uralte Geister, die im Gehirn Endorphine freisetzen, sodass der wirbelnde akustische Irrsinn in Freude und Lust umgewandelt wird. Magisch, gewaltig, euphorisierend!

    "Alwane" (= Gedanken und Erinnerungen) zeigt danach eine folkloristische Ausrichtung mit transparenten, freundlichen, unverstärkten Tönen. Der mehrstimmige Gesang lässt einen ausgeprägten Gemeinschaftssinn und ein inniges Zusammengehörigkeitsgefühl inmitten einer rauen, lebensfeindlichen Umwelt und politisch instabilen Lage bildlich werden. Das Lied richtet sich an einen Freund, der in seiner Jugend einen Fehler gemacht hat, der sich negativ auf sein ganzes Leben ausgewirkt hat. Der Text beinhaltet die Botschaft, "weise und vorsichtig zu sein, denn das Leben ist zerbrechlich".

    Die scharfe, schneidende und quengelnde E-Gitarre von "Aitma" (= Mein Volk) ist das auffallendste Merkmal des flotten Garagen-Rockers, der von einer unnachgiebig vorwärtsdrängenden Percussion angetrieben wird. Das Lied ruft die Tuareg zur Solidarität auf, damit ihre Kultur erhalten bleiben kann.

    Tendenziell ist "Si Chilan" (= Zwei Tage) ein Pop-Song, aber einer mit einem locker swingenden Takt und einem abenteuerlichen, die Sinne betäubenden E-Gitarren-Solo. Das lockere Stück hat jedoch einen ernsten Hintergrund. Es erinnert an die Verfolgungen und Ungerechtigkeiten, die den Tuareg in den 1980er Jahren angetan wurden.

    Das ruhige "Ayo Nigla" (= Komm, lass uns gehen, mein Liebling) kann musikalisch mit Country-Folk verglichen werden. Der Track transportiert Gefühle der Einsamkeit und der Melancholie, die in einer bittersüßen Melodie verpackt sind. Kein Wunder, denn es geht um eine enttäuschte Liebe.

    Aufstachelndes Tuareg-Jodeln, sich hingebungsvoll umwerbende E-Gitarren und ein stoisches Schlagwerk-Stakkato machen aus "Darfuq" (= Die Sonne und der Mond, göttliche Macht) einen euphorischen Hypno-Rocker. Demütiger Glaube und Ehrfurcht vor der Natur liegen diesem Stück als Haltung zugrunde.

    "Ayes Sachen" (= Dieses Leben ist schwierig) lehnt sich an den Reggae-Rhythmus an. Bombino lässt seine E-Gitarren-Töne elegant fließen und die Percussion trägt geschmeidige Zutaten bei. Somit wird eine gelöste Stimmung erzeugt, obwohl sich die Poesie mit quälenden Problemen beschäftigt. Nämlich mit dem Misstrauen und Verrat zwischen sich nahe stehenden Personen.

    Für "Nik Sant Awanha" (= Meine Brüder, ich kenne unsere Situation) kommen eine wohlige Easy-Listening-Atmosphäre, eine bedächtige Swing-Beweglichkeit sowie stoische Minimal-Music-Abläufe und würdige afrikanische Klänge für ein harmonisches Stelldichein zusammen. Dabei ist das Lied eine Warnung an die Tuareg: Sie sollen sich weder spalten lassen, noch ins Exil gehen, sondern nach Freiheit streben. Zurzeit sind sie nämlich in keiner Regierung der Sahel-Zone vertreten und deshalb werden ihre Interessen nirgends berücksichtigt.

    "Itisahid" (= Ich denke an dich, meine Geliebte) kann sozusagen als Trance-Folk bezeichnet werden. Das Stück wird mit Akustik-Gitarren- und Gesangs-Loops versorgt, sodass der Eindruck eines Klang-Strudels entsteht. Die Erinnerungen an eine glückliche Beziehung, die durch eine plötzliche Trennung zerstört wurde, werden thematisiert. Dieser Schock-Zustand kann einem psychischen Schwindel gleichen, was akustisch ausgedrückt wird.

    Mit "Mes Amis" (= Meine Freunde) kommt "Sahel" langsam und sanft, mit zurückhaltenden Tönen, die Gedanken an eine unerwiderte Liebe begleiten, zum Ende.

    Durch seinen ausgeglichenen Gesang, der auch in den krachenden Momenten keine Spur von Aggressivität aufweist, gibt Bombino die Grundhaltung seiner Lyrik vor: Leben und leben lassen. Neben einer J.J. Cale-Lässigkeit und einer Crazy Horse-Raubeinigkeit ist es vor allem die spezielle, verzaubernde afrikanische Exotik, die der Musik ihren besonderen Charme verleiht. "Sahel" ist ein Werk, das sich auch bei völliger Unkenntnis über afrikanische Musik-Kulturen ohne Störgefühl durchhören lässt. Es biedert sich nicht an anglo-amerikanische Musik an, sondern durchdringt sie und stellt eine Fusion dar, die clever, reizvoll und zugänglich ist. Die Platte zeichnet sich durch ein hohes Maß an Mitgefühl und Leidenschaft aus. "Sahel" besitzt aufgrund der Integration verschiedener Kulturen zudem eine ähnlich verbindende Wirkung wie "Graceland" von Paul Simon.
    Meine Produktempfehlungen
    • Live In Amsterdam Bombino
      Live In Amsterdam (CD)
    • Nomad Nomad (CD)
    • Guitars From Agadez Vol. 2 Guitars From Agadez Vol. 2 (CD)
    • Deran Bombino
      Deran (CD)
    • Azel Bombino
      Azel (CD)
    Eat The Worm Jonathan Wilson
    Eat The Worm (CD)
    22.05.2024
    Klang:
    5 von 5
    Musik:
    5 von 5

    Das bunt schillernde Art-Pop-Album "Eat The Worm" ist mit verblüffenden Sound-Eskapaden und etlichen Künstler-Verweisen gespickt.

    Eine beliebte Mutprobe unter Kindern ist: Wer traut sich, den Regenwurm zu essen? Jonathan Wilson hat diese Herausforderung wahrscheinlich angenommen. Er traute sich so was, kann man sich zumindest vorstellen. Denn er beweist schon seit langer Zeit künstlerischen Mut. Für sein fünftes Werk "Eat The Worm" hebelt er nämlich mit leichter Hand konventionelle Song-Strukturen ohne Rücksicht auf kommerzielle Gesichtspunkte aus. Dennoch hält er vertraute Töne in der Hinterhand aufrecht. Ein Kunststück und eine wagemutige Angelegenheit, die sich lohnt und durch eine hohe Attraktivität auszahlt.

    Manchmal bedarf es eines Erlebnisses, das einen aus der Komfortzone holt und die bisherigen Vorstellungen auf erfrischende Weise durcheinanderbringt. Jonathan Wilson hatte solch eine magische Erfahrung, als er eines Abends zufällig den Track "Warm Rumours" von Jim Pembroke hörte. Ein völlig überdrehtes Vaudeville-Pop-Gebilde mit langer Ansage sowie wilden Dynamik-, Tempo- und Melodie-Varianten. Das hat Wilsons Kreativzentrum frei geblasen und ihn zu unkonventionellen Ideen inspiriert.

    Das erste Ergebnis, das sich aus der Arbeit des nächtlichen Improvisierens und der Begegnung mit dem Hirn öffnenden Sound von Jim Pembroke ergab, war "Marzipan". Ein schlurfender, am Ragtime-Jazz angelehnter Rhythmus gibt das gemächliche Tempo vor und Jonathan erzählt von musikalischen Prägungen: Hank Williams, Folk, Country, Jazz - das alles waren Einflüsse, aber eigentlich war der Rock & Roll bei ihm die treibende Kraft. Das Piano romantisiert, Streicher weinen Tränen, die voller Bedauern sind und das Schlagzeug wird vom Besen gestreichelt, wodurch automatisch eine sehnsuchtsvolle Rückblick-Taste gedrückt wird. Wilson vermittelt auf diese Weise Sensibilität, lässt die Komposition auf einer weichen Ebene laufen, baut Effekt-Überraschungen ein und versteht es, eine wohlige Stimmung zu erzeugen, die nicht in Gefühlsduselei versinkt.

    Künstlich erzeugte tropfende und hämmernde Töne, daneben Chor-ähnliche Stimmen, die vom zusammenschweißenden Leid der Gesänge von den Baumwollfeldern der USA-Südstaaten oder von römischen Galeeren inspiriert sein könnten, bilden das Empfangs-Komitee für "Bonamossa" und kehren zyklisch wieder. Das ist ein Lied, in dem sporadisch auf den Blues-Musiker Joe Bonamassa Bezug genommen wird. Warum nur gibt es beim Titel mit "Bonamossa" eine andere Schreibweise? Im Hintergrund lässt eine Maultrommel fast durchgängig eine ländliche Atmosphäre entstehen, während Geigen, Orgel und Bass mit erregenden Tönen den Ernst des Lebens symbolisieren. Ein perlendes E-Piano, kurze Jazz-Trommelwirbel und eine E-Gitarre im psychedelischen Pink Floyd-Modus mischen das Stück gegen Ende noch moderat auf. Die verwendeten Elemente passen eigentlich gar nicht zusammen, ergeben aber dennoch aufgrund der kompositorischen Kompetenz von Mr. Wilson einen Sinn.

    "Ol' Father Time" bringt dem Art-Pop den Groove bei, wobei barocke Motive neben Space-Sounds bestehen und sogar swingen können. Komplexe Strukturen müssen also nicht unbedingt kopflastig und schwierig zu verstehen sein, jedenfalls sind sie es hier nicht.

    Jonathan untermalt die akustische Folk-Ballade "Hollywood Vape" mit blubberndem Synthesizer-Schwirren und wild-orgiastischen Underground-Rock-Attacken. Das Lied übt Gesellschaftskritik und prangert die krassen gesellschaftlichen Gegensätze im "Land Of The Brave And The Free" an: Während manche Menschen in ihrem Van auf der Straße leben müssen, streben Super-Reiche die Kolonialisierung anderer Planeten an. Denen fehlt mindestens der Blick für das Wesentliche, von dem nicht besonders ausgeprägtem Anstand wollen wir gar nicht erst sprechen!

    In "The Village Is Dead" wird der Niedergang des Künstlerviertels Greenwich Village in New York beklagt. Und zwar nicht weinerlich, sondern aufrüttelnd-kämpferisch. Die Geigen erzeugen einen Klang-Sturm, das Schlagzeug wühlt sich unermüdlich durch das Geschehen und der Gesang klärt auf. Er verkündet wütend den Tod der Kreativzelle, wo einst originelle Avantgarde-Künstler wie Moondog zu Hause waren und ehrgeizige Folk-Musiker wie Bob Dylan groß wurden.

    Brasilianische Rhythmen versprechen bei "Wim Hof" eine Aussicht auf Leichtigkeit und Entspannung. Der Song verharrt jedoch in einer bedächtigen, grau gefärbten Stimmung, die eine weiche Melancholie verbreitet. Wim Hof ist ein niederländischer Extremsportler, der seine Fitness auf eine Mischung aus Eisbaden, Atemtechnik und Meditation zurückführt. Laut Song-Text hat Jonathan mit Wim Hof in einem Tauchbecken abgehangen, das kann aber auch ein Bestandteil eines Rauscherlebnisses sein, welches Wilson mit Daniel Lanois hatte, als sie sich spirituell dem Blues-Musiker Lightnin` Hopkins näherten. Oder das Ganze ist der blühenden Fantasie von Jonathan Wilson entsprungen. Manchmal möchte man die Wahrheit gar nicht wissen... Sie kann nämlich Illusionen zerstören.

    Das nachfolgende "Low And Behold" setzt sich aus zwei Bestandteilen zusammen: Einem ruhigen, ausgeruhten Folk- und einem bedrohlich brausenden kammermusikalischen Teil. Das hinterlässt den Eindruck, als hätten sich Neil Young und Van Dyke Parks zu einer Session getroffen.

    Charlie Parker war ein amerikanischer Saxophonist und Komponist, der entscheidend zur Entwicklung des Bebop beigetragen hat. Dafür brach er Mitte der 1940er Jahre aus den damals populären, aber relativ schlichten Anordnungen des Swing aus und erfand stattdessen abenteuerliche, herausfordernde Ausdrucksformen. Parker taucht beim Stück "Charlie Parker" als Traumsequenz auf, in der Jonathan Scat-Gesang zu Parkers "Lullaby In Rhythm" beisteuert. Auch Kurt Elling und Al Jarreau kamen in dieser Gespinst mit ihren besonderen Sangeskünsten vor. Und wie es bei einem ereignisreichen Traum-Geschehen üblich ist, hat auch dieser Song unterschiedliche Ereignisebenen. Die reichen von ausgeruhten Chanson-Beiträgen über durch Klassik infizierte Zwischenspiele sowie Heavy- und Country-Rock-Aromatisierungen bis hin zu Charlie-Parker-Jazz-Anleihen. Dieses Wirrwarr wurde unter den bewährten Händen ihres Schöpfers zu einer spannenden Pop-Sinfonie veredelt.

    "Hey Love" ist danach als Auflockerung ein schlichtes Liebeslied, das Jonathan an seine Frau, die Künstlerin Andres Nahkla (die auch für die Cover-Gestaltung von "Eat The Worm" verantwortlich ist) gerichtet hat. Schlicht bedeutet in diesem Fall aber auf keinen Fall banal, sondern heißt einfach, dass der Song ohne große Verwerfungen, bizarre Abläufe und Ideen-Bombardements auskommt. Schlicht ist in diesem Fall gleichbedeutend mit wohltuend harmonisch und ausgeglichen zu verstehen.

    Die Abkürzung "B.F.F." bedeutet "Best Friends Forever". Zu denen gehört aus Sicht von Jonathan für ihn sicherlich nicht John Mayer, denn er fordert seinen Kopf, weil er ihn für einen Betrüger hält. Es ist ja vielleicht nur sein lyrisches Ich, welches diesen Ausspruch wagt. Die Ballade enthält jedenfalls dramatische Züge, mit Tendenz zur Verzweiflung. So ein kalter, nach der Seele greifender Gefühlsausbruch wie bei "A Salty Dog" von Procol Harum ist gemeint. Bauschige Streicher im Kontrast zu hellen Vibrafon-Klängen und sanften Piano-Tönen bilden die eindringlichen Streichel- und Reibungspunkte dieses Liedes, das in einem raffiniert-beseeltem Ton-Taumel badet.

    Zärtliche Schönheit hat einen Namen und der lautet "East LA". Diese Ballade, die zunächst nur aus Piano, Bass und Gesang besteht, rührt in seiner Intimität und Verletzlichkeit zu Tränen. Im Verlauf werden weitere Zutaten, wie dezent flirrende Synthesizer-Schwingungen, disziplinierter Duett-Gesang mit sich selbst, gefühlvolle Bläsersätze, die direkt aus "After The Goldrush" von Neil Young stammen könnten, sphärisches Mellotron- und Geigen-Rauschen und wuchtige Trommel-Schläge zugesteuert. Das führt zu einer opulenten Verdrehung von innigen Emotionen.

    Das majestätische "Ridin' In A Jag" zeigt sich zum Abschluss unterschwellig dem Country und Folk verbunden, hängt aber mit dem Kopf in den Wolken und legt großen Wert auf ein zaghaft-wehmütig schwingendes Klangbild.

    Der 1974 in North Carolina geborene Jonathan Wilson trat 1997 mit seiner schwerblütig dröhnenden Band Muscadine erstmals öffentlich in Erscheinung. Seitdem hat er eine enorme kreative Entwicklung durchlaufen. Er ist nicht nur als Solo-Künstler ständig gereift, sondern hat sich auch als Gitarrenbauer sowie als Produzent, Komponist oder Begleitmusiker von unter anderem Roger Waters, Roy Harper, Dawes, Father John Misty und Sam Burton einen Namen gemacht.

    „Ich hab endlich das Gefühl, einen Weg gefunden zu haben, um die Dinge so auszudrücken, wie sie mir vorschweben", bewertet Jonathan Wilson das Ergebnis von "Eat The Worm". Die meisten Instrumente spielt der Tüftler hier selber. Diese Töne sind aber häufig die unaufdringlichen, die sich bescheiden zwischen die auffälligen Noten schummeln. Keyboards, Streicher und Bläser setzen die deutlicheren Duftmarken, bilden die Sound-Highlights und brechen mit den Sound-Erwartungen.

    Das Werk ist üppig: Üppig an Einfällen, üppig an Wendungen, üppig an Gefühlsregungen. Den Songs hört man den langen Reifungsprozess an, weil viele Tonspuren vorhanden sind. Denn die Versuchung ist groß, bei genügend Zeit zur Entwicklung immer mehr Ideen unterbringen zu wollen. Dennoch hören sich die Stücke nicht überladen an, weil die Details meistens fein voneinander getrennt wurden, und wenn sie sich dann doch mal überlagern, gibt es keinen Bombast-Einheits-Brei.

    "Eat The Worm" ist ein Lehrstück in zwölf Akten (die Vinyl-Version enthält noch den Bonus-Track "Stud Ram"), bei dem demonstriert wird, wie anspruchsvolle Kompositionskunst mit unterhaltsamen Zutaten zusammengebracht werden kann. Intellekt und Instinkt ergänzen sich dabei fabelhaft. Anspruch und Spaßfaktor haben eine ausgewogene Balance gefunden, sodass die Musik noch lange genüsslich nachwirken kann.
    Meine Produktempfehlungen
    • Dixie Blur Jonathan Wilson
      Dixie Blur (CD)
    • Gentle Spirit Jonathan Wilson
      Gentle Spirit (CD)
    • Fanfare Jonathan Wilson
      Fanfare (CD)
    Baudelaire & Orchestra Susanna
    Baudelaire & Orchestra (CD)
    21.05.2024
    Klang:
    5 von 5
    Musik:
    5 von 5

    Die bedeutungsschweren Baudelaire-Gedichte erhalten durch Susannas eindringlich-klaren Gesang und der verwinkelten, raumfüllenden Orchesterbegleitung ein geheimnisvoll-verführerisches Antlitz.

    Die norwegische Sängerin, Pianistin und Komponistin Susanna Karolina Wallumrød pflegt eine intensive Beziehung zur Poesie des französischen Dichters Charles Baudelaire, der mit seinem Gedichtzyklus "Les Fleurs Du Mal" ("Die Blumen des Bösen") von 1857 ein wegweisendes Werk im Spannungsfeld zwischen der Sehnsucht des Geistes und dem Schmerz der Realität verfasste.

    Susanna widmete schon 2020 die Platte "Baudelaire And Piano" und 2022 das Album "Elevation" der morbiden Sprachkunst des Franzosen. Nun bringt die bedeutende Künstlerin - die auch als Susanna & The Magical Orchestra oder Susanna & The Brotherhood Of Our Lady bekannt ist - seine "Les Fleurs Du Mal"-Poesie und ihre Vertonungen noch einmal in einem großen Rahmen mit Unterstützung des Norwegian Radio Orchestra zu Gehör. Hierbei handelt sich um acht Eigenkompositionen und drei Tracks von Stina Stjern, die auch Effekte und Stimme beisteuert. Dazu gehört auch das eröffnende "Sarcophagi": Über ein Hintergrundbrummen werden Stimmenfetzen und Geräusche eingeblendet. Stina zitiert das Gedicht "Alchimie De La Douleur", das sich anhört, als würde es über einen Lautsprecher in der Metro übertragen werden.

    Für "Obsession" baut das Orchester eine spannungsgeladene Dramatik auf, so als würde gleich Steven Spielbergs "Der Weiße Hai" aus dem Lautsprecher auftauchen. Diese Ton-Urgewalt bricht nach 40 Sekunden urplötzlich ab und Susannas helle Stimme erscheint wie Phoenix aus der Asche und wird leise von sinfonischer Hingabe umsorgt, gehegt und gepflegt.

    Bei "The Ghost" wird die Beziehung zwischen dem Lead-Gesang und dem Orchester noch intensiviert. Ein gegenseitiges Abtasten und Austesten der Erwartungen führt bei dieser nach einer Joni-Mitchell-Ballade klingenden Elegie zu einer innovativ-originellen Symbiose der sensibel agierenden Klang-Elemente.

    Melodische Lieblichkeit zeigt sich bei "Burial" im Wechsel mit blankem Schaudern, denn textlich geht es um den Horror einer Beerdigung, der in gruseligen Einzelheiten geschildert wird ("Dort wird die Spinne ihre Netze weben und die Viper ihre Brut gebären").

    In "Heavy Sleep" lässt Stina Stjern albtraumhaft wilde Bandschleifen von der Kette, die wie eine Schar von Ratten Angst und Panik verbreiten.

    Der Song "Destruction" füllt die Zeilen "Der Teufel, der fleißig an meiner Seite ist, infiziert die Luft mit vager, unmerklicher Unruhe. Ich schlucke sie und fühle, wie meine Lunge brennt und sie mit einer endlosen schuldigen Lust anschwillt" mit Leben. Nervöse Streichinstrumente bilden das Intro. Der Gesang wirkt ängstlich-eingeschüchtert, will aber Tapferkeit vortäuschen und arrangiert sich deswegen halbwegs mit den wirbelnd-unsicheren Ton-Kaskaden.

    "Rewind" ist ein weiteres kurzes Klangexperiment von Stina Stjern mit unorganischem Rauschen und Fiepen, das zu "Longing For Nothingness" überleitet, wo die befremdlichen Noten zunächst aufgegriffen, dann aber wieder abgestreift werden, was sich trotz des deprimierenden Themas noch zu einem lieblichen Lied auswächst: "Alte Freuden, locken dieses grübelnde Herz nicht mehr! Der Duft des Frühlings ist für immer verschwunden", heißt es da.

    Obwohl sich bei "Alchemy Of Suffering" eine bedrückende Befindlichkeit breit macht, keimt in manchen Schwingungen eine neue Hoffnung. Das Norwegian Radio Orchestra bringt das Kunststück fertig, in den schwingenden Instrumentalbögen sowohl Schrecken als auch Ermunterung darzustellen. Zum Ende des Tracks mischt sich dann Stina Stjern mit ihrem Effekt-Baukasten unter die zunehmend apokalyptisch klingenden Partituren.

    Diese Phase wird mit "Elevation" aufgelöst und weicht einer milderen Melancholie mit leidenschaftlich wallenden und hüpfenden Instrumental- und Vokal-Beiträgen.

    "The Vampire" zieht dann einen entschlossenen, nach Tatendrang klingenden Schlussstrich unter die anspruchsvolle Baudelaire-Würdigung.

    Die Baudelaire-Texte verbreiten keine positive Haltung, sind aber hinsichtlich ihrer Wortgewalt sehr anregend. Es ist Susanna hoch anzurechnen, dass ihre Vertonungen zwar angemessen ernsthaft-dunkel, aber nicht so bleiern-niederschmetternd wie es manche Aussagen sind. Die Orchestrierung sorgt für Wucht, Fülle und Dynamik. Susanna reichert die raffiniert verschachtelten Arrangements mit ihrem prominent herausgestellten, feingliedrigen Gesang, der sich wie ein über dem üppigen Orchester-Geschehen schwebendes Instrument anhört, attraktiv an.

    Deshalb ist dieses Gefüge mehr als nur eine Dichterlesung mit Musik. Es ist eine eigenständige Darstellung der Gefühlswelten, die die düsteren Schilderungen und bedrohlichen Situationen von Baudelaire auslösen können. Das Orchester erschafft eine Sound-Kathedrale, die als eigenständiges Gebäude nur für die Realisierung dieser Fusion aus Lyrik, Mystik und akustischer Ergriffenheit da ist. Ursache und Wirkung der emotionalen Beeinflussungen durch Gedanken und Klänge treten in eine Wechselwirkung ein, sodass sich Buchstaben und Noten gegenseitig künstlerisch aufwertend ergänzen. Klassische Literatur wird auf diese Weise für ein Pop-Publikum nachvollziehbar und spannend aufbereitet.
    Meine Produktempfehlungen
    • Susanna Susanna
      Susanna (CD)
    • Triangle Susanna
      Triangle (CD)
    • Susanna & The Magical Orchestra Susanna And The Magical Orchestra
      Susanna & The Magical Orchestra (CD)
    Through And Through Baby Rose
    Through And Through (CD)
    21.05.2024
    Klang:
    4 von 5
    Musik:
    4 von 5

    Vielfalt ist ihr zweiter Vorname: Baby Rose kann auf ihrem neuen Album eine Song-Kollektion vorlegen, die eine große Bandbreite aufweist.

    Wollte man die Künstlerin Baby Rose mit nur einem Adjektiv beschreiben, dann kommt als erstes "vielseitig" in den Sinn. Sie ist anscheinend eine Alleskönnerin, die mit verschiedenen Stilen wie Soul, Funk und HipHop so souverän umgeht, als hätte sie diese Musikrichtungen erfunden.

    Baby Rose wurde als Jasmine Rose Wilson in Washington D.C. geboren und wuchs in Fayetteville, North Carolina auf. Sie fand über die Eigenart, dass ihre Stimmlage tiefer war als bei anderen Kindern und Jugendlichen in ihrem Alter, zur Musik. Mit Singen, Komponieren und Klavier spielen konnte sie daraufhin ihre Persönlichkeit ausdrücken und formen. Es gelang ihr auf diese Weise, sich ihren Idolen Billie Holiday, Nina Simone und Janis Joplin zu nähern und ihre ganze Gefühlswelt in die Noten zu legen. 2019 erschien dann ihr erstes Album mit dem Titel "To Myself" und am 28. April 2023 schob sie das zweite Werk "Through And Through" mit elf Eigenkompositionen nach.

    Der Rhythmus schlängelt sich lasziv und cool durch "Go", dem ersten Lied auf der Platte. Baby Rose lädt die Atmosphäre durch ihren flehenden Gesang temperamentvoll auf. Und wenn dann noch die sinnlichen Background-Ladies in den Reigen einfallen, dann ist eine knisternd erotische Stimmung, wie sie Marvin Gaye 1973 für "Let`s Get It On" aufgebaut hat, zum Greifen nahe.

    Bei "Fight Club" fahren die treibenden Bass-Trommeln druckvoll in die Gehörgänge. So dumpf wie Schläge in die Magengrube. Perlend-spritzige Keyboard-Töne sorgen für ein Gegengewicht und die Duett-Partnerin Georgia Anne Muldrow tauscht sich unterdessen im Call & Response-Stil auf zart flüsternde Art liebenswürdig-bedachtsam aus.

    Die Ballade "Dance With Me" bekam einen dröhnend-kraftvollen Takt verordnet, sodass die Traurigkeit des leidenschaftlich leidenden Gesangs nicht ganz so bedrückend ins Gewicht fällt.

    Bei "Paranoid" wird es sentimental, die intim-verwinkelte jazzige Instrumentierung verhindert aber ein Abgleiten in schmalzige Gefilde.

    "I Won’t Tell" ist ein knackiger Disco-Funk, der direkt in die Beine geht und die Eleganz von Chic mit der Vehemenz von Funkadelic verbindet. Zum Schluss wird es durch eine geschwätzige HipHop-Einlage unruhig. Die Geschmeidigkeit wird in einen zerbröselnden Zustand versetzt und löst sich quasi in ihre Bestandteile auf.

    "Love Bomb" ist ein Smooth-Soul, der ein räumliches Sound-Gefühl hinterlässt, welches Wärme und Behaglichkeit suggeriert.

    "Tell Me It’s Real" verweilt in einem Schwebezustand, entzieht sich dabei eindeutigen Stilzuordnungen und macht aus einem unspektakulären, ausgeglichenen Ablauf eine raffinierte Tugend.

    "Nightcap" besticht durch seinen Ohrwurm-Refrain und eine raffinierte Melodie, ist aber leider viel zu früh vorbei und die erschütternde Dramatik von "Stop The Bleeding" erinnert an die hingebungsvoll gesungenen Tragödien von Anthony & The Johnsons.

    Elektronische Effekte und akustische Instrumente gehen für "Water" eine Fusion ein, die für beide Seiten Vorteile bietet. Durch die Verschmelzung wirkt die Elektronik nicht kühl und die herkömmlichen Instrumente verlieren ihren starren traditionellen Ausdruck.

    "Power" ist eine Mut machende Hymne mit einem einfachen, einprägsamen Ablauf. Ähnlich wie "Give Peace A Chance" der Plastic Ono Band verbreitet der Song ein Mantra, auf das sich wahrscheinlich viele Menschen einigen könnten: "Love Has The Power To Heal The Whole Wide World" ("Liebe hat die Kraft, die ganze Welt zu heilen").

    Baby Rose hat Talent und weiß, was sie will. Sie füllt ihre Rolle als süffige Balladensängerin genauso energisch aus wie die als groovende Soul- und Funk-Botschafterin. Das sehr gelungene, engagiert vorgetragene "Through And Through" sollte ihr weiteres Selbstbewusstsein verschaffen, damit Jasmine Rose Wilson den nächsten Entwicklungsschritt in Ruhe mit Überblick angehen kann.
    Meine Produktempfehlungen
    • Slow Burn (Limited Edition) (Clear Smoke Vinyl) Baby Rose
      Slow Burn (Limited Edition) (Clear Smoke Vinyl) (LP)
    • Lady In Satin (180g) (+8 Bonustracks) Lady In Satin (180g) (+8 Bonustracks) (LP)
    • You've Got To Learn You've Got To Learn (CD)
    • The Hits The Hits (CD)
    • Got Dem Ol Kozmic Blues Again Janis Joplin
      Got Dem Ol Kozmic Blues Again (CD)
    • Janis: Little Girl Blue Janis Joplin
      Janis: Little Girl Blue (CD)
    I Inside The Old Year Dying PJ Harvey
    I Inside The Old Year Dying (CD)
    21.05.2024
    Klang:
    5 von 5
    Musik:
    5 von 5

    Liebe, Tod und Auferstehung, Bibel-Motive, Elvis-Referenzen und Shakespeare-Anleihen: Polly Jean Harvey befand sich für "I Inside The Old Year Dying" auf der Suche nach Bedeutung.

    "I Inside The Old Year Dying" ist das zehnte Studio-Album von PJ Harvey und es ist ein ambitioniertes Art-Pop-Werk geworden. Extravaganz in Form von kraftvollen Brüchen und Ausbrüchen sind eher selten, es liegt jetzt eine spezielle, kultivierte Eigentümlichkeit in Form von ungewöhnlichen Abläufen, Klangfarben und Wendungen vor. Ein Spaß an der Schaffung von originellen Sounds ist zu spüren, die oft mit einer versöhnlich-übersinnlichen Komponente verschweißt werden. Die Kompositionen besitzen nicht die experimentelle Schärfe und kompromisslose Provokation der Schöpfungen von Björk, sie entziehen sich aber trotzdem hinsichtlich ihrer nicht übermäßig ausgeprägten Eingängigkeit dem Mainstream, stellen also quasi eine Soft-Variante der experimentellen Pop-Kunst dar.

    Wie ein Nebelhorn sendet "Prayer At The Gate" zu Beginn unklare Signale in den Äther und erhält durch den hohen Gesang von PJ Harvey Antworten, die von lieblich aussehenden Sirenen aus der griechischen Mythologie stammen könnten. Die Sagengestalten sonderten betörende Klänge ab, die in die Irre und dadurch ins Verderben führen sollten. Ähnliche Verlockungen gehen auch hier von der Stimme aus. Es ist nicht zu ermitteln, ob Polly Jean ein falsches Spiel treibt oder ob sie lediglich eine erotische Annäherung anbahnen möchte. Der kryptische Text rankt sich um die Verknüpfung von Leben und Tod und hat auf den ersten Blick so gar nichts Sinnliches an sich. Wobei Psychologen neulich allerdings festgestellt haben wollen, dass uns Todesfurcht empfänglich für Erotik machen kann.
    Stimmen, die sich am Rande zur Albernheit bewegen, umspannen "Autumn Term". Der gelassen groovende Blues-Verschnitt vermittelt eine Vorstellung davon, was passieren kann, wenn erwachsene Seriosität und kindliche Unbekümmertheit aufeinanderprallen.
    Elvis als Referenz, erste Zuordnung: Die filigrane Ballade "Lwonesome Tonight" zitiert nicht nur einen Elvis-Song, sondern textlich auch den Slogan "Love Me Tender" des Kings. Frau Harvey lehnt sich musikalisch an die jauchzende Melancholie von "Prayer At The Gate" an. Sie tiriliert in den höchsten Tönen und mit John Parish steht ihr ein Duett-Partner zur Seite, der durch vornehme Zurückhaltung und andachtsvolle Empathie Sicherheit ausstrahlt.
    Eine einsame Stimme, die im Schoße der Natur versonnen ertönt, leitet "Seem An I" ein. Der psychedelische Folk-Jazz grummelt danach mild und versprüht dabei einen unwiderstehlich weisen Charme. Energische Ausbrüche: Fehlanzeige. Dynamische Abstufungen: Kunstvoll und elegant.

    "The Nether-edge" bewegt sich auf rauschhaft verschlungenen Pfaden. Durch den teils warnend-schrillen Gesang von PJ wird die nebulöse Stimmung durchbrochen und durch die seriös klingenden Abschnitte erhält der Track seine Bodenhaftung.

    Eine offensive Akustik-Gitarre und verzerrte Synthesizer-Schwebetöne steuern "I Inside The Old Year Dying" durch den Sturm, während PJ Harvey bei all dieser Unruhe bestrebt ist, durch Überblick und Scharfsinn ausgleichend zu agieren.

    "All Souls" klingt, als würden psychische Schmerzen zu physischen Wunden werden, die dann wie Trophäen mit Stolz getragen werden. Elektronisch erzeugte Töne drücken Aussichtslosigkeit aus und tropfen zäh wie halb geronnenes Blut zu Boden. Der Gesang kämpft tapfer gegen die Pein an und erobert sich dadurch ein Stück vom Himmel zurück.
    Elvis als Referenz, zweite Zuordnung: Für "A Child's Question, August" wird abermals der Song-Titel "Love Me Tender" zitiert und als Lyrik-Vehikel ein melodischer Psychedelic-Pop gewählt, bei dem sich der Schauspieler Ben Whishaw ("My Brother Tom", 2001) als intim begleitender Gesangs-Partner auszeichnet.

    Dream-Folk ist ein Etikett, das als grobe Orientierung zum Track "I Inside The Old I Dying" passt. Akustische und elektronische Töne bilden ein Gewand aus verschleierten und Takt gebenden Klängen, die sich zu einem Gespinst ergänzen, welches sich sowohl nach leichtem Rausch als auch nach betriebsamer Aktivität anhören. Das dazugehörige Video erzählt dazu "eine kurze Geschichte von Liebe, Tod und Auferstehung, die zum Rhythmus und Gefühl des Songs passt", wie die Regisseure des Kurzfilms erläutern.

    Elvis als Referenz, dritte Zuordnung: Zärtlichkeit und Liebe sind Eckpfeiler jeder glücklichen Beziehung. Die Bitte "Love Me Tender" taucht wieder im Text auf und wird zu einer zentralen Aussage des Albums. Musikalisch brechen allerdings Aggressionen hervor, die sich durch knurrend-zerrende E-Gitarren bemerkbar machen. Dumpfes Trommel-Grollen erzeugt flankierend den Eindruck eines herannahenden Gewitters. Aber "August" beherbergt auch sanfte, zerbrechliche Momente, die über den Gesang und da besonders über den kurzen, fast unmerklichen Beitrag von Ben Whishaw verstärkt werden.
    "A Child's Question, July" ist von einer rätselhaften Unruhe befallen. Die Taktgeber klopfen im hektischen Herzschlag-Intervall, eine Synthesizer-Tonschleife macht nervös und lang gezogene Gitarren-Feedback-Klänge laden die Luft elektrisch auf. So schnell wie sich die Panik-Attacke angekündigt hat, ist sie auch schon wieder vorbei. Das Ereignis dauerte nur drei Minuten.

    Widersprüche und Gegensätze prägen "A Noiseless Noise". Das gilt inhaltlich und auch musikalisch. Ein geräuschloser Lärm ist ein schöner, poetischer Ausdruck für Stille, die hier zwar angedeutet, aber durch heftigen Lärm atomisiert wird. Soft-Rock trifft auf Noise-Rock.

    "I Inside The Old Year Dying" ist das erste Song-Album nach "The Hope Six Demolition Project" von 2016 und zeichnet sich hauptsächlich dadurch aus, dass spirituelle Momente in Töne gegossen wurden. Zärtlichkeit und Sensibilität triumphieren vordergründig über Wut und Krach. Dennoch haben auch laute, missmutige Ausprägungen ihren Platz in der Musik erhalten. Nur die Prioritäten haben sich gegenüber früher umgekehrt. PJ Harvey gelingt diese innig-intensive, klang-abenteuerliche Darstellung, ohne dass sie dafür ihre Haltung ändern muss. Empathie ist bei ihr auch immer mit der dunklen Seite des Lebens verbunden, sodass erst gar keine Sentimentalitäten aufkommen können.

    Laut Polly Jean sollen die Lieder aber in erster Linie einen Ruhepol, Trost und Seelenbalsam bieten und deshalb genau in diese Zeit passen. Es hört sich wie ein Klischee an, dass aus schwierigen Zeiten große Kunst entstehen kann. Die Zweifel, die PJ nach der "The Hope Six Demolition Project"-Tournee plagten, brachten jedoch nach einer Phase der Selbstreflexion die Lust und Kreativität zurück, die zu diesem originellen Neustart führten. "Ich glaube, das Album handelt von der Suche, der Intensität der ersten Liebe und der Suche nach Bedeutung...das Gefühl, das ich von der Platte bekomme, ist ein Gefühl der Liebe - es ist gefärbt von Traurigkeit und Verlust, aber es ist liebevoll", fasst PJ das Ergebnis zusammen.

    "I Inside The Old Year Dying" ist inhaltlich von dem surrealistisch-poetischen Buch "Orlam", das Harvey 2022 herausbrachte, beeinflusst worden. Es wurde im Dialekt der englischen Grafschaft Dorset geschrieben, wo PJ aufwuchs und wirkt sich in seiner gelegentlichen Hinwendung zu biblischen Ableitungen und Shakespeare-Zitaten auf die Texte der Lieder aus. Außerdem gibt es in "Orlam" den ständig blutenden Soldatengeist Wyman-Elvis, der "Love Me Tender" singt. Daher stammt der Bezug in den Songs "Lwonesome Tonight", "A Child's Question, August" und "August".

    PJ Harvey, John Parish, Adam "Cecil" Bartlett und Marc "Flood" Ellis haben eine Vielzahl an natürlichen und verfremdeten Geräuschen zusammengetragen, um die Songs abwechslungsreich zu gestalten. Sie wurden aber trotzdem nicht mit Tönen überladen, weil viele Effekte nur leise auftauchen. Deshalb empfiehlt sich ein Kopfhörer, um alle Einfälle wahrnehmen zu können. Ein Vorhaben, welches eine lange Zeit für unterhaltsame Beschäftigung sorgt.
    Meine Produktempfehlungen
    • Let England Shake - Demos PJ Harvey
      Let England Shake - Demos (CD)
    • Is This Desire? - Demos PJ Harvey
      Is This Desire? - Demos (CD)
    • White Chalk - Demos PJ Harvey
      White Chalk - Demos (CD)
    Rain Before Seven Penguin Cafe
    Rain Before Seven (CD)
    21.05.2024
    Klang:
    4 von 5
    Musik:
    3 von 5

    Nachdenklichkeit und Optimismus in Töne verpackt: Penguin Cafe liefern einen fremdartigen Sound-Teppich ab, der zu einer meditativen und belebenden konzentrativen Selbstentspannungs-Übung einlädt.

    Penguin Cafe ist das Nachfolgeprojekt vom Penguin Cafe Orchestra. Arthur Jeffes ist demnach der musikalische Erbe seines Vaters Simon Jeffes, der durch eine Fischvergiftung im Jahr 1972 eine Vision seiner speziellen Klang-Philosophie erlangte.

    Minimal-Art-Rhythmen, weiche psychedelische Tongebilde und komplex verschachtelte melodische Strukturen sind nur ein paar der Zutaten, mit denen Simon Jeffes exotische Schwingungen entstehen ließ. Beim Lauschen dieser Tondichtungen muss das Gehör aufnahmefähig und das Gehirn wach sein, um die Fülle der kunstvoll gestalteten Eindrücke verarbeiten zu können.

    Sein Sohn Arthur Jeffes entwirft Klang-Bilder zu erlebten Ereignissen oder erdachten Vorstellungen. Individuelle Assoziationen spielen bei der Gestaltung der Kompositionen also eine wichtige Rolle. So fußten die Klänge des letzten Werkes "Handfuls Of Night" aus 2019 auf einer im Jahr 2005 von Arthur begleiteten Expedition, welche auf den Erfahrungen des Polarforschers Robert Falcon Scott beruhten. Der Titel des am 7. Juli 2023 erschienenen Albums "Rain Before Seven..." ist der erste Teil einer Bauernregel, die mit "...Fine Before Eleven" weitergeht. Jeffes erläutert, warum ihn der Spruch inspiriert hat: „Er hat so einen dezent optimistischen Beigeschmack, und das gefällt mir sehr. Man verwendet ihn heutzutage kaum noch, aber der Reim beschreibt tatsächlich Wetterphänomene in England, die vom Atlantik aus über die Insel ziehen.“ Und so ist es nicht ungewöhnlich, dass die Musik häufig von einer gewissen Unbeschwertheit begleitet wird, was sowohl für Heiterkeit sorgt, aber unter Umständen auch als banale Ausführung empfunden werden kann. Diese Beurteilung liegt im Auge des Betrachters und hängt davon ab, ob er kulturelle Eigenarten oder zwanglose Unterhaltung erwartet. Und um es vorwegzunehmen: "Rain Before Seven..." bietet beides.

    Als Handelsmetropole ist London eine gesellschaftlich bunt aufgestellte Großstadt. Vielleicht klingt "Welcome To London" deshalb so weltoffen, folkloristisch vielfältig und pulsierend. Ein rituelles Rhythmus-Gefüge ist hier gleichrangig neben dem Schwelgen, das aus einer Hollywood-Love-Story stammen könnte und einem Spannung verheißenden, undurchsichtigen Spaghetti-Western-Flair zu hören.

    "Temporary Shelter From The Storm" hinterlässt hingegen den Eindruck, als würde die akustische Abbildung eines vergnüglichen Lebens einen unerwarteten Trauerflor tragen. Streicher und Bass verbreiten nämlich eine vorbeiziehende Melancholie, während das schnell angeschlagene, heimelig klingende Holzschlaginstrument Balafon und das Piano Schwingungen austeilen, die von Freude und Ausgelassenheit berichten.

    Ein ähnliches Muster führt bei "In Re Budd" zu einer volkstümlich beschwingten Atmosphäre, wie sie in Afrika oder in der Karibik vermutet wird.

    "Second Variety" kommt dagegen sphärisch-verschwommen und introvertiert-versonnen daher.

    Bei "Galahad" geht nach mystisch-undurchschaubarem Beginn doch noch die Sonne auf. Im Strudel von hypnotisch-gleichförmigen Tondichtungen findet der Track seinen individuellen Platz zwischen Fantasy-Soundtrack und Esoterik-Hintergrund-Beschallung.

    Das Piano sorgt bei "Might Be Something" für Bewegung und erzeugt Abläufe, die an das Fließen von Wasser in einem klaren Gebirgs-Bach denken lassen. Der massive Jazz-Bass suggeriert Stabilität und die flirrenden, aber auch tränenden Streicher-Töne zeichnen das Stück weich und lassen es sentimental erscheinen.

    Auch wenn "No One Really Leaves…" grundsätzlich von Traurigkeit geprägt ist, kann die Komposition auch aufmunternde Impulse verzeichnen, die sich zwar dezent in Szene setzen, aber nicht ohne belebende Wirkung bleiben.

    "Find Your Feet" bringt durch synthetisch erzeugte Rhythmen lateinamerikanischen Schwung in das Gefüge ein, der allerdings nicht hemmungslos, sondern kontrolliert dargeboten wird.

    Für "Lamborghini 754" tropfen manche Noten geduldig und schwer zu Boden, andere scheinen Sonnenstrahlen abzubilden, die durch eine Wolkendecke hervortreten - so aufhellend machen sie sich bemerkbar. Aus dieser Mischung entsteht ein emotional ausgeglichenes Gebilde aus Dur und Moll.

    "Goldfinch Yodel" zweigt vom Country & Western eine tanzbare Variante nebst Einsatz einer ausgelassenen Fiedel ab, ohne dabei diese traditionellen Muster schamlos zu kopieren.

    Simon Jeffes bewegt sich mit "Rain Before Seven..." auf dem schmalen Grat zwischen Kunst und Kitsch. Seine Kompositionen sind komplex, entbehren aber auch nicht einer gewissen Leichtigkeit und Ungezwungenheit, die unter Umständen als geläufig und damit als abgenutzt gedeutet werden kann. Das ist eine Einschätzung, die sich nur auf den Bekanntheitsgrad der verwendeten Abläufe bezieht. Nicht aber auf die originelle Konzeption, denn das Projekt Penguin Cafe genießt hinsichtlich seines Sounds beinahe ein Alleinstellungsmerkmal.
    Meine Produktempfehlungen
    • Union Cafe Penguin Cafe Orchestra
      Union Cafe (CD)
    • Handfuls Of Night Penguin Cafe
      Handfuls Of Night (CD)
    • Concert Programme (remastered) Penguin Cafe Orchestra
      Concert Programme (remastered) (CD)
    • A Matter Of Life... 2021 Penguin Cafe
      A Matter Of Life... 2021 (CD)
    • Best (Digipack) Penguin Cafe Orchestra
      Best (Digipack) (CD)
    • A Matter Of Life Penguin Cafe
      A Matter Of Life (CD)
    • Penguin Cafe Orchestra Penguin Cafe Orchestra (CD)
    • Umbrella EP Penguin Cafe & Cornelius
      Umbrella EP (CD)
    Alice, Gloria & Jon J.E. Sunde
    Alice, Gloria & Jon (CD)
    21.05.2024
    Klang:
    4 von 5
    Musik:
    4 von 5

    Pop-Musik im Zeichen von Erkenntnissuche: J.E. Sunde betreibt mit "Alice, Gloria And Jon" Seelenhygiene.

    Jon Edward Sunde ist nicht etwa ein Neuling im Zirkus der Pop-Musik. Zusammen mit seinem Bruder Jason und dem Sänger und Perkussionisten Jesse Edgington gründete Jon bereits 2004 die Soft-Psychedelic-Band The Daredevil Christopher Wright, die 2012 ihre bisher letzte Platte "The Nature Of Things" herausbrachte. Seit 2014 veröffentlicht J.E. Solo-Aufnahmen und "Alice, Gloria And Jon" ist jetzt schon sein fünftes Album unter eigenem Namen.

    Jon Edward stammt aus Wisconsin und lebt in Minneapolis. Er wuchs in einer musikalischen Familie auf, seine Eltern waren Folk-Fans und spielten Gitarre und Klavier. Das erfuhr das Online-Portal "Fifteen Questions" in einem Interview mit dem Künstler. Außerdem verriet er: "Mit 12 Jahren fing ich schließlich an, Gitarre zu spielen und Lieder zu schreiben. Nachdem ich an der Universität Musik mit Schwerpunkt Gesang studiert habe, bin ich zu der Überzeugung gelangt, dass mehr Wissen über Musik (Technik, Theorie usw.) in erster Linie dazu beiträgt, dass man seine Ideen schneller verwirklichen kann, es aber nicht unbedingt notwendig ist. Der kreative Impuls und die Erfahrung geben einem schließlich die Fähigkeit, alles zu schaffen, was man sich vorstellen kann."

    J.E. Sunde treiben existenzielle Fragen des Lebens um, die er für sich philosophisch folgendermaßen einordnet: "Das Leben scheint eine ständige Übung in Veränderung zu sein, gefolgt von unserer Anpassung an diesen Wandel, wobei Konfrontationen das ganze Konstrukt ständig durchziehen. Diese Kämpfe sind die Basis, von der ein Großteil unserer tiefgreifenden Entwicklungen ausgeht", vermerkt er unter anderem auf seiner Bandcamp-Seite als inhaltliche Beschreibung von "Alice, Gloria And Jon".

    Vor drei Jahren sang er noch "9 Songs About Love". Jetzt geht es darum, damit umzugehen, dass das erwachsen sein eine seltsame und überraschende Angelegenheit ist. Denn das Leben verläuft in der Regel eben nicht so, wie man es erwartet. In der Realität angekommen, macht sich J. E. Gedanken darüber, dass "die meisten Transformationen aus großer Liebe oder großem Leid heraus entstehen, und leider scheint es keine romantische Version des Leids zu geben".

    Zehn akustische Versionen seiner von Zweifeln durchzogenen Weltanschauung, bei der er nach Lösungen für die Bewältigung von Schwierigkeiten sucht, hat der Musiker jetzt in kompakten 31 Minuten zusammengetragen: Die Frische und der cool swingende Jazz-Rhythmus im Klangbild von "Stop Caring" steht im Kontrast zum durchwachsenen, um Optimismus bemühten, aber dennoch überwiegend trüb-wehmütigem Gesang. Das sind Reibungspunkte, die sofort stimulierende Reaktionen im Hirn hervorrufen. Die allgemeine Wahrnehmung kennt solche sich gleichzeitig widersprechenden Zustände in der Regel nicht. Meistens sind fröhliche und traurige Momente streng voneinander getrennt. Wenn nicht, nennt man sowas wohl eine bittersüße Stimmung, was beim Essen in etwa der Geschmacksnote "süßsauer" entspricht. Dieses sich nicht auf eine Gefühlslage festlegen wollen ist ein cleverer Schachzug des Pop-Künstlers, um eine individuelle Duftmarke zu hinterlassen. Dabei hilft ihm, dass seine Stimme einige Facetten bereithält: Eine traurige, eine hoffnungsvolle, sogar eine übermütige versteckt sich in seinen fein abgeschichteten Stimmband-Schwingungen. "Stop Caring ist ein ideales Beispiel für die komplexe Strategie, die sich Sunde für die Darstellung seines Problemlösungsverhaltens ausgedacht hat. Er hat dafür drei Verhaltensmuster destilliert, die beim Umgang mit Verzweiflung oder existenzieller Unsicherheit von ihm angewendet werden: Aufgeben oder mehr Geld verdienen oder die Verarbeitung der Probleme durch eine spirituelle Verhaltensstrategie - was er letztlich auch bevorzugt.

    Nach diesem emotional schwer zu verdauenden Brocken geht es dann Schlag auf Schlag mit diversen individuell unterschiedlich veranlagten Gefühlsneigungen weiter: Im klanglichen Fahrwasser von Wilcos "Kamera" (von "Yankee Hotel Foxtrot", 2002) wird "Turn The Radio On" fast unmerklich von einem gelassenen Americana-Song zu einem empfindsamen Pop-Ohrwurm übergeleitet. Der Track soll Mut machen und weist darauf hin, dass wir mit den meisten unlösbar scheinenden Herausforderungen gar nicht alleine dastehen, auch wenn es uns so vorkommen mag. Individuelle Kämpfe sind eher die Regel als die Ausnahme, meint Jon Edward zu der Häufigkeitsverteilung von psychischen Dilemmas.

    "You Don’t Wanna Leave It Alone" spielt sich im groovenden New Wave-Milieu ab. Das Stück lebt von dem Kontrast zwischen nüchtern erzählendem und freudig frohlockendem Gesang, gepaart mit elektronischen, monotonen Rhythmen und einer filigran eingesetzten Akustik-Gitarre. Der textliche Inhalt dreht sich wieder einmal um den Umgang mit unerfüllten Erwartungen.

    Der Barock-Pop von Left Banke hat bei "Glory, Gloria" ebenso Spuren hinterlassen wie der Power-Pop der dB`s. Dieser Stil-Mix bildet die Grundlage für eine Charakterstudie über zwei Menschen, die sich ineinander verliebt haben.

    Ein gemütlich-beruhigender Country-Folk-Takt ist eine der Hauptzutaten von "Blind Curve". Dazu werden unter anderem Synthesizer-Töne beigesteuert, die einer Tuba ähneln, was dem Song einen zusätzlichen volkstümlichen Anstrich und durch die synthetische Aneignung von ursprünglich akustischen Signalen eine kuriose Ausrichtung verleiht. Die "Blinde Kurve" steht dabei sinnbildlich für den Lebensweg, den wir nur zu einem geringen Teil einsehen und beeinflussen können.

    "Alice" nutzt eine Art von Pop-Funk, um eine tanzbare, aber dennoch seriös wirkende Ausdrucksform eines anspruchsvollen Pop-Songs zu erschaffen. Für Sunde bedeutet diese rhythmisch suggestive Ausrichtung eine Hinwendung hin zum Krautrock.

    "God" ist ein einminütiger Folk-Song, der nur zur Akustik-Gitarre vorgetragen und von Jon Edward mit einer seltsamen Betonung vorgetragen wird.

    Bei "Home" ist nach ein paar Durchläufen die Luft raus: Was sich zunächst als sensibler Pop darstellt, erweist sich nach einer Weile dann doch als zu leichtgewichtig aufgestellt. Das sorgt dafür, dass sich eine erhöhte Abnutzung bemerkbar macht. Die Idee hinter der Definition von "Heimat" ist hier, dass man zwar physisch der Heimat beraubt werden kann, das Zusammengehörigkeitsgefühl - das auch als Heimat bezeichnet werden kann - wird dadurch aber nicht ausgelöscht.

    Beim fantasievollen, instrumentalen "Morning" wird der Gesang schmerzlich vermisst. Den hat es allerdings ursprünglich tatsächlich gegeben. Aber Mr. Sunde war während des Aufnahmeverfahrens der Auffassung, dass von der Gitarrenlinie zu viel verloren gehen würde, wenn sich eine Stimme darüber legt.

    Die schwankend-schaukelnde Melodie mancher Robert Wyatt-Stücke, wie z. B. beim "Sea Song", hält Einzug in "Nurse". Die erzeugte zittrige Melancholie wird fürsorglich durch eine stabile, mit wechselndem Tempo ausgestattete, stützende Begleitung stabilisiert. Es geht in dem Stück um jemanden, der mit Dankbarkeit auf eine frühere Beziehung zurückblickt, denn sie tat ihm gut und hat seine Zukunft geprägt.

    J.E. Sunde vollbringt mit "Alice, Gloria And Jon" ein vollmundig-vollwertiges, geistreiches Pop-Werk voller Reife und Einfallsreichtum, wie es sonst zum Beispiel nur Paul Simon, Aimee Mann, Elvis Costello, Ron Sexsmith oder Joel Sarakula verwirklichen können. Die fiktiven Charaktere Alice und Gloria dienen dabei als Vehikel für die Beschreibung von Befindlichkeiten, die auch Jon (also J.E. Sunde) betreffen, sodass die Problematiken ohne den Verdacht der übertriebenen Selbstdarstellung verallgemeinert dargestellt werden konnten.

    J.E. Sunde verriet "Fifteen Questions" noch sein Verständnis des schöpferischen Prozesses: "Ich denke, Musik zu machen bringt auf alchemistische Weise so viele verschiedene Dinge zusammen. Es kann das Alltägliche und das Transzendente und alles dazwischen auf eine Weise verbinden, die meiner Meinung nach einzigartig ist, weil es auf all diesen verschiedenen Ebenen funktionieren kann (Lyrik, Melodie, Klangfarbe, Instrumentierung, Beziehung zum kulturellen Moment." Die Verbindung von smarter Eleganz, einfühlsam-raffinierten Arrangements und bedeutenden Textinhalten ist dem Musiker jedenfalls mit "Alice, Gloria And Jon" vortrefflich gelungen.
    Meine Produktempfehlungen
    • Original Album Classics Paul Simon
      Original Album Classics (CD)
    • Charmer Aimee Mann
      Charmer (CD)
    • The Boy Named If Elvis Costello
      The Boy Named If (CD)
    • The Songs Of Bacharach & Costello (Super Deluxe Edition) Elvis Costello & Burt Bacharach
      The Songs Of Bacharach & Costello (Super Deluxe Edition) (LP)
    • Forever Endeavour Ron Sexsmith
      Forever Endeavour (CD)
    • Companionship Joel Sarakula
      Companionship (CD)
    Birds Birds (CD)
    21.05.2024
    Klang:
    5 von 5
    Musik:
    4 von 5

    Wie aus einem Guss: Das Tingvall Trio ist schon lange zu einer akustischen Gemeinschaft zusammengewachsen.

    Mit ihrem neunten Album "Birds" feiert das mit etlichen Preisen ausgezeichnete Tingvall Trio ihr 20-jähriges Bestehen. 20 Jahre, in denen Martin Tingvall (Piano), Omar Rodriguez Calvo (Kontra-Bass) und Jürgen Spiegel (Schlagzeug) zu einer harmonisch-kreativen Einheit geworden sind. Ihre Instrumental-Stücke klingen dabei häufig so melodisch wie Kompositionen, die für Gesang ausgelegt wurden. Der Sound ist glasklar und transparent, ohne steril zu wirken. Die Instrumente werden darin räumlich getrennt abgebildet. Sie vereinen und entfernen sich voneinander wie in einem Rausch der Töne von spielenden Kindern.

    Während das Piano unter anderem die melodische Grundversorgung übernimmt, wechselt der Bass zwischen Beihilfe zur Harmoniebildung und Stabilisierung des Taktes hin und her. Jürgen Spiegel definiert seine Rhythmusarbeit je nach Anforderung neu. Mal setzt er präzise zyklische Wiederholungen exakt wie ein Uhrwerk und mal ist er der für originelle Zwischenklänge zuständige Gestalter. Im Tingvall Trio und bei seinem Duett-Projekt mit dem Pianisten Vladyslav Sendecki hat er sich mit diesen Fähigkeiten als sehr elastisch-dynamischer Schlagzeuger erwiesen.

    Das Album "Birds" "kann dazu anregen, die Umwelt um uns herum anders wahrzunehmen", meint Martin Tingvall und widmet seinen Kompositionen den Vögeln. "Sie umgeben uns tagtäglich mit ihrer Musik und können unglaublich inspirierend sein", fügt er noch hinzu. Aber nicht jeder Titel hat einen direkten Bezug zur Vogelwelt.

    Beim Eröffnungsstück "Woodpecker" besteht jedoch sofort eine Erwartung an schnell klopfende Töne innerhalb eines geruhsamen Grundrauschens: Ein Specht hämmert mit seinem Schnabel im ansonsten ruhigen Wald scheinbar aufgeregt gegen einen Baum, diese Schlussfolgerung ist gemeint. Aber mit solch einer banalen Assoziationskette hat man die bildhafte Vorstellungskraft des Trios unterschätzt: Das Stück hat viel mehr Aktivitäten zu bieten als pure Monotonie im Minimal-Art-Gewand. Der Specht hat ja schließlich auch noch mehr zu tun, als Futter aus der Rinde zu klopfen oder Nisthöhlen zu erschaffen. Und deshalb bildet der Track auch nicht nur eine Situation, sondern das pralle Leben ab, um im Specht-Alltags-Bild zu bleiben.

    "Africa" wirkt durchaus fröhlich, geschäftig, rhythmisch ausgelassen, fernab von einer betulichen Feuilleton-Beitrags-Untermalungs-Szenerie. Das Bass-Solo ersetzt die fehlende Stimme, das Piano glänzt und funkelt in der Sonne und das Schlagzeug freut sich des Lebens.

    Der Bass sendet die möglicherweise lebensrettenden Signale bei "SOS" aus, das Piano erzeugt Dramatik und die Percussion fährt eine hohe Pulsfrequenz. Der Ausgang dieser Aktion bleibt jedoch im Ungewissen.

    Es gab einen Film mit dem Titel "The Day After". Da ging es um den Tag nach einer Atombombenexplosion. Wer dieses inszenierte Grauen einmal gesehen hat, der wird die schrecklichen Bilder nie wieder vergessen. "Die Lebendigen werden die Toten beneiden" hieß es da, was den dargestellten Horror plastisch und drastisch in Worte fasst. Tiefe Traurigkeit wird auch durch die Komposition "The Day After" vermittelt. Auch wenn die dahinter stehenden Gedanken nichts mit der Endzeitstimmung des Films zu tun haben, so scheint in der Vorstellung auf jeden Fall vor einem Tag etwas Erschütterndes vorgefallen zu sein.

    Es gibt Meisterschaften, bei denen die besten "Air Guitar"-Spieler prämiert werden, die ihr Handwerk aber meistens zu Heavy Metal-Klängen vortragen. Für die Musik von "Air Guitar" wird stellenweise ein harter, kurzer Anschlag der Tasten gewählt, der als Gitarrenakkord gewertet werden kann, womit die Verbindung zur Luftgitarre hergestellt wäre. Ansonsten handelt es sich um ein wildes, schnelles Stück mit perlenden McCoy-Tyner-Gedächtnis-Ton-Kaskaden.

    Vögel im Allgemeinen und Paradiesvögel im Besonderen sind die akustischen Themen der nächsten beiden Stücke ("Birds" und "Birds Of Paradise"). Der gestrichene Kontra-Bass verbreitet für "Birds" eine kammermusikalische Dramatik und Schwere, während sich die Piano-Töne luftig-leicht, fantasievoll und beschwingt in die Höhe erheben.
    Die Paradiesvögel von "Birds Of Paradise" sind darauf bedacht, Haltung und Stolz zu bewahren. Sie bewegen sich deswegen zunächst galant-bedächtig. Wenn sie sich aber unbeobachtet fühlen, sind so auch ungezügelt unterwegs. Gleichwohl beherrschen sie es, sich stets anmutig und einfallsreich zu bewegen.

    Romantische Klassik-Piano-Partituren leiten "The Return" ein. Diese sentimentale Stimmung geht in einen ruhigen kammermusikalischen Jazz über, bei dem die melodische Komponente an erster Stelle steht.

    Der Kleiber ist ein etwa 15 Zentimeter kleiner, blau-oranger Vogel, der nur ungefähr 25 Gramm wiegt und eilig an Bäumen rauf und runter laufen kann, um in der Rinde nach Insekten zu suchen. Der Track "Nuthatch" entspricht erst in der zweiten Hälfte hinsichtlich des Tempos und der Dynamik dem umtriebigen Verhalten des auch Spechtmeise genannten gefiederten Waldbewohners. Vorher hinterlassen die Klänge eher den Eindruck eines gemächlichen Tagesablaufs mit wenig Aufregung.

    Der Kolibri ist dafür bekannt, dass er enorm schnell mit den Flügeln schlagen kann. So fix, dass es ihm gelingt, wie ein Hubschrauber auf der Stelle in der Luft stehen bleiben zu können. "Humming Bird" bildet diesen außergewöhnlich raschen Bewegungsablauf nicht akustisch ab, das Piano sondert aber zittrige Klänge ab, die unter Umständen als Flügelschläge gedeutet werden können. Im Kern ist der Track aber eine klassische Piano-Trio-Jazz-Komposition mit lauten, leisen, schnellen und langsamen Tönen im Wechsel.
    Die Nacht hat viele Gesichter und deshalb zeigt "Nighttime" auch mehr als nur eine musikalische Seite. Das Stück ist meditativ, aber über die Gelassenheit hinweg wird improvisiert. Die Musiker generieren auch einen lebhaften Ausdruck und finden eine feine Melodie als Orientierung.

    "A Call For Peace" ist heute wieder wichtiger denn je und die Aussage soll als Mahnung und Gedenken stehen bleiben. Die Noten ringen um Fassung, aber die Traurigkeit lässt sich in diesem Piano-Solo-Stück nicht gänzlich verdrängen.

    20 Jahre Tingvall Trio in Erstbesetzung. Und das ohne Ermüdungserscheinungen. Was für eine erstaunliche Leistung! Herzlichen Glückwunsch dazu und alles Gute für die nächsten 20 Jahre! Um den Eingangs-Gedanken nochmal aufzugreifen: Wie wäre es denn, wenn bei der nächsten Veröffentlichung tatsächlich Vokalisten eingebunden würden, die als zusätzliches Instrument dienen? Mit dieser Innovation hätte das Trio zumindest neue Herausforderungen zu bewältigen, die ihren Gestaltungs-Prozess weiter am Laufen halten.
    Meine Produktempfehlungen
    • Birds (Limited Edition) (mit signiertem Fotobuch, exklusiv für jpc!) Birds (Limited Edition) (mit signiertem Fotobuch, exklusiv für jpc!) (CD)
    • Birds (180g) (Limited Edition) (Black Vinyl) (mit signiertem Fotobuch, exklusiv für jpc!) Birds (180g) (Limited Edition) (Black Vinyl) (mit signiertem Fotobuch, exklusiv für jpc!) (LP)
    • Dance Dance (CD)
    • Cirklar Cirklar (CD)
    • In Concert (180g) In Concert (180g) (LP)
    • Skagerrak Skagerrak (CD)
    51 bis 75 von 472 Rezensionen
    1 2
    3
    4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19
    Newsletter abonnieren
    FAQ- und Hilfethemen
    • Über jpc

    • Das Unternehmen
    • Unser Blog
    • Großhandel und Partnerprogramm
    MasterCard VISA Amex PayPal
    DHL
    • AGB
    • Versandkosten
    • Datenschutzhinweise
    • Impressum
    • Kontakt
    • Hinweise zur Batterierücknahme
    * Alle Preise inkl. MwSt., ggf. zzgl. Versandkosten
    ** Alle durchgestrichenen Preise (z. B. EUR 12,99) beziehen sich auf die bislang in diesem Shop angegebenen Preise oder – wenn angegeben – auf einen limitierten Sonderpreis.
    © jpc-Schallplatten-Versandhandelsgesellschaft mbH
    • jpc.de – Leidenschaft für Musik
    • Startseite
    • Feed
    • Pop/Rock
    • Jazz
    • Klassik
    • Vinyl
    • Filme
    • Bücher
    • Noten
    • %SALE%
    • Weitere Weitere Bereiche
      • Themenshops
      • Vom Künstler signiert
      • Zeitschriften
      • Zubehör und Technik
      • Geschenkgutscheine
    • Anmelden
    • Konto anlegen
    • Datenschutzhinweise
    • Impressum
    • Kontakt