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    2. Alle Rezensionen von LittleWalter bei jpc.de

    LittleWalter Top 25 Reviewer

    Active since: September 3, 2010
    "Helpful" ratings: 1129
    480 reviews
    Poetry DEHD
    Poetry (CD)
    May 31, 2024
    Sound:
    4 of 5
    Music:
    4 of 5

    DEHD begegnen mit "Poetry" dem Beziehungs-Chaos und entfliehen mit ihrem belebendem Power-Pop-Sound den Zwängen des Erwachsenendaseins.

    Der etwas sperrig-kryptische Band-Name DEHD hat eine Vorgeschichte: 2015 taten sich Jason Balla (Gitarre, Gesang) von den Dream Eagles und Emily Kempf von den Heavy Dreams (Bass, Gitarre, Gesang) für ein Projekt zusammen und formten die vier Anfangsbuchstaben ihrer bisherigen Formationen zu einem neuen Begriff. Die Zusammenarbeit lief so gut, dass sie bereits ein Jahr später ihr 9-Track-Debüt herausbrachten und mit "Poetry" ist jetzt schon die siebente EP bzw. LP der Gruppierung aus Chicago erschienen, die durch Eric McGrady am Schlagzeug komplettiert wird.

    Das Trio pflegt auf "Poetry" einen Sound, der temperamentvoll, unbekümmert, energiegeladen und eingängig daherkommt. Power-Pop oder Punk-Pop und sogar College-Rock sind Einordnungen, die die Richtung der Musik in etwa vorgeben. Die Musiker gebärden sich beinahe wie Pubertierende, jedenfalls transportieren sie deren Aufmüpfigkeit, Sehnsüchte und Sorgen, welche sie akustisch und textlich kompetent in Noten fassen.

    Ein großes Thema ist dabei jegliche Form von verzehrendem Liebesglück und schmerzendem Liebesleid. In vierzehn Songs, von denen keiner die 4-Minuten-Grenze reißt, präsentieren sie sich als Architekten eines Klangbildes, das die Sturm & Drang-Zeit der Jugend feiert und entsprechend selbstbewusst-kraftvoll sowie unbeirrt-hartnäckig erscheint.

    Stürmisch vorwärts strebende Gitarren-Akkorde stacheln das Tempo bei "Dog Days" immer wieder an, welches vom Rhythmusgespann verlässlich stabilisiert wird. Jason Balla ist hier für den Leadgesang verantwortlich und Emily Kempf unterstützt dezent, aber wirkungsvoll die aufkommende Party-Stimmung. Adrenalin tropft aus jeder Pore und Bewegungsdrang macht sich breit. "Dieser Song ist eine Hommage an das Chaos des Lebens und die Suche nach Kameradschaft", erklärt Jason.

    Wenn man immer wieder auf die gleichen miesen Typen hereinfällt, ist das wie ein Fluch oder wie ein innerer Zwang. "Der Song ist mein Sonett darüber, dass ich immer betrunkene Männer wähle, Männer, die schwer zu lieben, ein bisschen gefährlich, immer unangemessen und auf verschiedene Weise traumatisiert sind", gibt Emily Kempf für "Hard To Love" zu Protokoll. Sie singt diese dramatische Feststellung nicht mit Groll, sondern trotzig und geläutert. Die Musik unterstützt diese kämpferische Sichtweise mit einer druckvollen Dynamik, die von profunden Inspirationen im Power-Pop-Kontext zeugt, welche von Badfinger bis Blondie reichen.

    Aggressive Noise-Attacken läuten "Mood Ring" ein. Danach schlägt die Stimmung komplett um und ein eingängiger Radio-Hit wird geboren. Emily Kempf verbreitet gesanglich gute Laune und Jason Balla ergänzt wohlwollend. Der Song ist leichtfüßig und freundlich, aber dennoch zu keinem Zeitpunkt banal oder langweilig.

    "Necklace" kommt in seinem psychedelischen Folk-Rock-Umfeld völlig lässig und überlegen daher. Als würden The Velvet Underground mit The Byrds gemeinsame Sache machen. Der Text bezieht sich auf Details aus dem Leben von Jason Balla, die Maßlosigkeit und Selbstzweifel betreffen.

    Emily begreift sich als Einsiedlerin in einer Welt mit 1.000 Freunden, in der sie sich wie ein "Alien" vorkommt. Jason bewertet den Tatbestand, "nicht in der Lage zu sein, die richtigen Worte zu finden oder sich in etwas zu verlieren, das größer ist als man selbst", als Kern-Aussage des Liedes an. Der Refrain weist eine gewisse wacklige Instabilität aus, während sich die Melodie für Liebreiz einsetzt. Aus diesen unterschiedlichen Koordinaten bezieht der Track seine fruchtbaren Differenzen.

    Die angedeuteten Break-Beats bei "Light On" machen es dem Stück nicht leicht, in die Beweglichkeit zu kommen. Was aber schließlich trotzdem vorzüglich gelingt, sodass die innere Kraft dieses manchmal holprig, manchmal elastisch gestalteten Rockers doch noch das Feuer der Erkenntnis entzünden kann. "Dieser Song ist eine Kerze im Fenster, ein Licht, das jemanden nach Hause führt, falls er versucht, es zu finden", meint Jason.

    Bei "Pure Gold" geht es darum, "jemand Neues kennengelernt zu haben und absolut davon überzeugt zu sein, buchstäblich die eine perfekte Person auf diesem Planeten Erde gefunden zu haben, die nichts Falsches tun oder sagen kann. Es ist diese schöne Lüge, die wir uns selbst erzählen, und es fühlt sich so gut an, daran zu glauben. Aber mit der Zeit beginnt man, die Person so zu sehen, wie sie wirklich ist." Die Schmetterlinge im Bauch sind fort, Ernüchterung macht sich breit. Und im Einklang zu dieser Aussage vermittelt das Folk-Pop-Stück eine abwartende, vorsichtig optimistische Stimmung.

    Hinter dem Song "Dist B" steckt die Erfahrung eines Nervenzusammenbruchs, den Emily erlebt hat. Trotz der Verarbeitung dieses traumatischen Erlebnisses befindet sich in dem Stück eine Menge positiver Energie, die sich durch den Gesang lieblich und durch die Instrumentierung lärmend offenbart.

    "So Good" "skizziert meinen fehlgeleiteten Glauben, dass ich, wenn ich ""gut bin", in diesem Leben bekomme, was ich will", meint Emily. Ausgangspunkt für diese Einschätzung war zunächst das Gefühl, den richtigen Lebenspartner gefunden zu haben: "Du bist derjenige, von dem ich glaube, dass ich dich will. Die Gewalt in dir macht mir keine Angst", heißt es in dem Song-Text. Aber Gefühle sind leider trügerisch. Das Lied ist eine Alternative-Folk-Ballade mit Surf-Sound-Anklängen, die nicht ins Rührselige abdriftet, sondern bei aller Romantik den Zweifel im Blick hat, was durch den Wechsel von einem gemächlichen in einen gestrafften Rhythmus dokumentiert wird.

    "Don't Look Down" "ist eine Herausforderung, meinem Herzen zu folgen, wohin auch immer es mich führt", sagt Jason. Er lässt das Stück mit einem belebend pulsierenden Drum-Beat eröffnen, ist aber gesanglich und melodisch bei diesem flotten, mitreißenden Song auf der versöhnlichen, ermutigenden Seite angesiedelt. Das ergibt einen ähnlichen suggestiven Effekt, wie ihn die Bands des Bubblegum-Pop aus den 1960er-Jahren hervorgerufen haben. Dazu zählten unter anderem Ohio Express "Yummy Yummy Yummy") oder The Archies ("Sugar Sugar").

    Auch "Knife" dreht sich um die Sehnsucht, den idealen Partner zu finden, was sich in diesem Beispiel aus inakzeptablen kulturellen Gegensätzen zerschlagen hat. In Emilys Gesang ist die Trauer über den Verlust deutlich zu spüren und die Wut über das Verhalten des ex-Partners manifestiert sich in einem hart rumpelnden Rhythmus.

    Die beste Therapie, mit enttäuschter Liebe fertig zu werden, ist es, den Frust abzuschütteln, was bei "Shake" mithilfe eines leidenschaftlichen, schnellen Punk-Pop-Grooves gelingt.

    Wenn eine platonische Liebe zu einer Liebesbeziehung wird, kann das den Blick auf den anderen Menschen und damit auf den Umgang miteinander vollständig verändern. Der schroffe Rock-Track "Magician" unterstützt diese Anschauung anhand eines fast schon militärisch straffen Schlagzeug-Taktes, eines Basses, der auch Lead-Gitarren-Funktionen übernimmt und eines Gesanges von Emily Kempf, der abwechselnd sinnlich, fordernd oder hymnisch ist.

    "Forget" ist genau genommen als Wiegenlied für Erwachsene gestaltet worden. "Wenn ich dir sagen würde, dass ich dich liebe, würdest du dann bleiben?", heißt es da aus dem Munde von Jason Balla. Denn es geht um den Wunsch, sich bei einer Trennung nicht zu verletzen und durch Liebe alles wieder in Ordnung bringen zu können. Leider bleibt es in der Realität meistens bei diesem Wunsch, der in der Regel nicht in Erfüllung geht. Deshalb ist es schön, wenn es eine warmherzig schunkelnde Melodie gibt, die die verletzte Seele tröstet und sie behutsam in den Arm nimmt. Auch wenn sich - wie hier - der Frust über das Zerwürfnis noch im Hintergrund lauthals meldet und keine Ruhe finden will.

    Die Songs auf "Poetry" sind von vitalen Kräften durchdrungen: Überzeugungskraft, Strahlkraft und Durchsetzungsvermögen. Mit den vermittelten Emotionen und Bildern kann jeder etwas anfangen und erkennt die Authentizität der erzählten Ereignisse. Die Musik ist einerseits eingängig und lieblich, zeigt andererseits auch Krallen und Zähne, denn die Gruppe verbirgt nicht das hässliche Gesicht, das hinter zerstörten Hoffnungen steckt. DEHD schreiben Lieder, die begeisternd, gefühlvoll und lebensnah sind, wobei häufig überschäumend intensive Gefühle durch kräftig-frische Klänge bei einer hohen Hit-Dichte übermittelt werden. Klasse Album, tolle Band.
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    Verbunden sein Karwendel
    Verbunden sein (LP)
    May 31, 2024
    Sound:
    5 of 5
    Music:
    5 of 5
    Press quality:
    5 of 5

    "Verbunden sein" oder: Was bedeutet Liebe in Zeiten wie diesen?

    Ein Liebeslied muss nicht unbedingt nur die schon vollzogene Beziehung zwischen zwei Menschen beleuchten. Es kann sich auch um die dazu gehörenden Motivationen, Hindernisse und Gefühle, wie Mut zum Risiko, gesellschaftliche Zwänge und die Sehnsucht nach Gemeinschaft handeln. Alles, was eben mit dem "Verbunden sein" mit anderen Menschen zu tun hat. Ein weiter Themen-Bereich, den sich Sebastian Król poetisch einverleibt und akustisch Ausdruck verleiht.

    Sebastian Król ist ein Musiker in den Mittdreißigern, der in Hamburg lebt und auch als Promoter tätig ist. Karwendel ist sein Vehikel, mit dem er Poesie, intime Klänge und sensiblen Gesang in die Waagschale legt, um seinen Kompositionen Substanz zu verleihen, was die deutschsprachige Popmusik-Landschaft definitiv bereichert. Król verfolgt bei seinen Veröffentlichungen das Prinzip des kontinuierlichen organischen Gedeihens: Zunächst gibt es eine EP, die die grobe Richtung vorgibt. Dann folgt das Album, das die Ideen mit ergänzenden Tracks zum krönenden Abschluss bringt.

    "Verbunden sein" enthält nun die als Vorbote erschienene 6-Track-EP "Geteiltes Herz", ergänzt um vier neue Kompositionen. Diese tendenziell von einem lockeren Groove erfüllten Stücke fügen sich organisch in das Gesamtbild ein und erweitern noch die ohnehin schon vorhandene, plastisch-griffige Attraktivität: Die Einleitung zu dem 10-Song-Zyklus übernimmt die neue Aufnahme "Zu lang zu leise". Das ist ein Lied, welches elegant, leicht und beschwingt bedeutungsschwangere Worte transportiert: "Willst du mit mir untergehen? Und das wird die schönste Reise", heißt es da, während die gut geölte, charmant-flexible kleine große Karwendel-Big-Band ins Zauberland des gepflegten Easy-Listening einlädt. Sebastian traut sich, der Schönheit einen Raum zu bieten, in dem sie sich frei von Zwängen ausbreiten kann. Das Rhythmusgeflecht weist eine einladende exotische Färbung auf, die dem zugkräftigen Takt von "Egyptian Reggae" von Jonathan Richman & The Modern Lovers nahekommt.

    "Hinter dem Feld" hält gut gelaunte, schwungvolle Folk,- Country,- und Rhythm & Blues-Klang-Farben bereit, die den Song optimistisch und weltoffen erscheinen lassen. Der Text verheißt eine Aussicht auf Aufbruch, die den Weg für neue Erfahrungen frei macht. Das kann manchmal jedoch nur mit Hilfe von anderen Personen, mit denen man verbunden ist, gelingen - worauf der Track hinweist.

    Das Schlagzeug scheint ein hektisches Eigenleben zu führen oder es symbolisiert Panik, während der Gesang den Anstand und das Gute im Menschen beschwört. Der Song "Trost" läuft also auf mehreren Bewusstseinsebenen ab: Im persönlichen Bereich geht es darum, dass Geld allein nicht glücklich macht. Im Gegenteil, es kann zur Isolierung führen. Auf der gesellschaftlichen Ebene werden die rassistischen Attentate von Hanau und der Angriffskrieg in der Ukraine thematisiert. Gegen die Ohnmacht von solchen schrecklichen Ereignissen setzt Sebastian die Freude am kleinen Glück: Mit jemandem eine gute Zeit haben, die Sonnenstrahlen genießen oder Freude an Musik haben. Trost geben auch freundliche Worte oder der Glaube an die Utopie, dass "die Liebe den nächsten Krieg zerstört, bevor er jemals beginnt" - auch wenn die Realisierung dieses Wunsches nicht in greifbarer Nähe zu sein scheint.

    In das Abschluss-Stück "Auf dem Weg" legen Karwendel noch einmal ihre ganze sensible Überzeugungs-Wirkung, ihre spielerische Leichtigkeit bei melancholischer Ausgangsbasis, ihre lyrische Besonnenheit und - nicht zuletzt - die Fähigkeit, raffinierte, nachhaltige, spezielle Ohrwürmer zu erzeugen. Und wieder macht uns Sebastian Mut, indem er die Hoffnung nicht aufgibt und vom Leben in einer gerechten Welt sowie vom Glück ohne Macht und Geld träumt. Ihn interessieren keine oberflächlichen Gespräche, sondern er möchte mehr aus dem Leben der Leute erfahren, als das, "was sie am Kiosk herumerzählen". Er schaut hinter die Kulissen und spürt das Authentische auf, also das, was die Menschen tief im Innern bewegt. Dazu entwirft er stimmungsvolle Musik, die für "Auf dem Weg" kunstvoll-intime Brücken baut, die von der Unsicherheit hin zur Zuversicht führen.

    Die sechs Lieder von "Geteiltes Herz", die den Ausgangspunkt von "Verbunden sein" bilden, wurden erstmalig im Oktober 2023 veröffentlicht und haben auch nach Dauerbeschallung nichts von ihrer Attraktivität eingebüßt. Deshalb ist die damals gewonnene Einschätzung immer noch gültig:
    „Geteiltes Herz“, aber doppelter Genuss: Karwendel steht für liebevolle Sensibilität, musikalisches Einfühlungsvermögen und geschmackvolle Zuneigung.

    Karwendel alias Sebastian Król ist bekannt für mitfühlend-wehmütige Lieder, die den Folk als Basis in sich tragen und weltoffen eine eigentümliche musikalische Bandbreite abdecken. Diese poetische Songwriter-Kunst konnte bisher schon auf den EPs "Für den Moment" (Veröffentlicht am 22. Januar 2021) und dem Album "Im Lichte der Zeit" (Veröffentlicht am 26. November 2021) genossen werden. Am 6. Oktober 2023 kam nun mit "Geteiltes Herz" ein neues 6-Track-Werk hinzu.

    Für Karwendel sind Text und Musik gleichwertig. Eine intim-hingebungsvolle Lyrik ist der Ausgangspunkt für kunstvoll-ästhetische, hochwertige Musik. Król sucht für "Geteiltes Herz" nach neuen Ausdrucksformen in der Verbindung von Poesie und Schönklang und findet sie in der Schnittmenge zwischen kammermusikalischem Folk, melodisch verschachteltem Jazz, anspruchsvollem Pop und anregend-unterhaltsamen Experimenten. Das Ensemble transportiert dabei einen warm-harmonischen, wohlig-einschmeichelnden, leidenschaftlich-eigenständigen Sound mit Hang zur konstruktiven Melancholie auf Basis von freigeistigen Klängen. Ausgeglichenheit und Nachdenklichkeit werden auf diese Weise dynamisch gemixt und betörend umgesetzt.

    Der Sänger, Akustik-Gitarrist und Komponist Sebastian Król hat sich als Verbündete auf dem Weg zur schöngeistigen Herrlichkeit die Talente der Künstler Max Braun (Bassgitarre, Produktion), Joshua Weiß (Schlagzeug, Percussion), Samantha Wright (Klarinette), Linus Kleinlosen (Altsaxofon, Baritonsaxofon), Anna Wydra (Gesang) und Sönke Torpus (Piano, Gitarren, Gesang) gesichert und mit ihnen einen virtuos-stimmungsvollen Beistand gefunden.

    Eine bekannte Redensart lautet: "Jeder ist seines Glückes Schmied". Das bedeutet, dass man für sein Glück selbst verantwortlich ist und sich nicht unbedingt auf den Zufall oder die Hilfe von Anderen verlassen soll, wenn es um die Erlangung von innerer Harmonie geht. "Mein Glück" macht da allerdings andere Hemmnisse auf dem Weg zum Seelenheil aus: "Es fehlt so oft an Mut, manchmal auch an Überzeugung", um einem Impuls zu folgen, der sich als vielversprechend darstellt. Die Hauptperson des Liedes hat jedenfalls sein Glück gefunden: "Ich setz’ dich doch nicht aufs Spiel. Ich lass’ dich nicht mehr los, du bedeutest mir zu viel", dichtete Sebastian für den Refrain. Bei aller textlich zur Schau gestellten Glückseligkeit ist der Song dennoch kein rührseliges Liebeslied geworden, sondern eine betrübliche Ballade, bei der sich der Sänger darüber bewusst ist, dass ein Wohlgefühl leicht zerbrechlich ist. Diese Gefahr steckt hinter jeder Note.

    Mit seinem belebenden, suggestiv-monotonen, afrikanischen Folk-Jazz-Rhythmus und den gefühlvollen Klarinetten- und Saxofon-Klängen erinnert "Du darfst lieben" gleichzeitig an Richie Havens und an Ralph Towners Oregon. Der Song wird von folgender Aussage begleitet: "Kein Thema wird in der Popkultur so sehr besungen wie die Liebe. Umso überraschender erscheint es, wie neu der Selbstzuruf "Du darfst lieben – Lieb‘ so viel du willst" klingt. Es geht um eine Liebe abseits der romantischen Liebesbeziehung, die zu wenig Aufmerksamkeit und Akzeptanz erfährt. Sie ist überall zu finden: In Freundschaften, im Umgang mit unbekannten Menschen, im Verhältnis zum Körper oder der Natur."

    Für "Neuanfang" teilt Sebastian den Lead-Gesang mit Anna Wydra und geht mit ihr auch ein verführerisches Duett ein. Was als Lagerfeuer-Romantik beginnt, entwickelt sich im Nachgang zu einem fragilen Singer-Songwriter-Track mit raffiniert-unorthodoxem Joni-Mitchell-Flair.

    Bleierne Schwere legt sich auf "Wie du gibst": Das Tempo ist gering und Hoffnungslosigkeit scheint zu regieren. Die Töne tropfen zäh wie Sirup herab und färben den Untergrund dunkel. Der Harmoniegesang ist so sanft und zärtlich, dass es förmlich wehtut, wenn er aufhört. Man möchte ihn am liebsten als Seelenwärmer ständig im Ohr behalten. Klarinette, Piano, Stimme und Schlagzeug gehen eine innige Liebesbeziehung ein, die das Lied weit über den Status einer gewöhnlichen Ballade hinaushebt. Es ist nämlich eine bekümmerte Hymne, die einem übersinnlichen Gospel gleicht, welcher die Herzen mit einem spirituellen Feuer erfüllt. "Ein guter Platz an meiner Seite bleibt immer frei für all das, was ich noch nicht kenn, für das Licht, was in dir schon brennt" ist ein Bekenntnis zur Offenheit und zum Vertrauen.

    "Nur ein Schritt" ist quasi das Kernstück der EP, weil sich hier alle bisher ausgedrückten Emotionen und Gedanken in einer Sound-Collage wiederfinden und auf die Spitze getrieben werden. Auch für dieses Stück gibt es eine Erklärung vom Komponisten: "So Du Wa Lo Wa Du So Sa Lo - ein chorales Mantra, das wir heute nicht verstehen. Es braucht mutige Schritte ins Ungewisse, um neue Türen zu öffnen und das Bewusstsein und Verständnisse zu erweitern. Auch, wenn Sicherheiten aufs Spiel gesetzt, Fehler oder gar Schuld riskiert werden. Der Antrieb, diesen einen Schritt zu gehen, diesen Sprung zu wagen, dies Wort zu sagen - der Antrieb ist die Sehnsucht nach einem lebendigen, erfüllten Leben".

    Bei "In der Sonne" gibt es keinen Gesang, dennoch verfehlt das Stück nicht einen inspirierenden Effekt. Es bleibt allerdings kein Raum mehr für weitere Innovationen, denn jetzt sind Einkehr und Besinnung gefragt, die durch die Reinheit und Transparenz der Töne gewährleistet werden. Deshalb musste wohl ein Instrumentalstück den Schlusspunkt setzen, das sich im Kern auf alte Werte bezieht und den Jazz an seiner Wurzel packt.

    "Van Morrison und Robert Wyatt sind Einflüsse für die offene Form, Bonnie "Prince" Billy und Manuel García für die organische Produktion", definiert und spezifiziert Sebastian Król seine Hauptanregungen bei der Umsetzung für "Geteiltes Herz". Das attraktive Folk-Jazz-Flair wurde passgenau in das bittersüße Befinden integriert, wobei die Atmosphäre letztendlich tröstend und nicht depressiv ist. Warme Blasinstrumente, dezent raumfüllende Keyboards und eine flexible Taktgebung setzen besondere Duftmarken. Der diskret-vertrauliche Gesang sowie die geistreichen und gütigen Texte sind dann noch das Tüpfelchen auf dem I. Sebastian Król setzt seine Empfindsamkeit stets unbestechlich durch und sorgt dadurch für einen hohen Wiedererkennungswert und für ein großes Maß an Identifikationspotential. "Geteiltes Herz" ist originell und bemerkenswert kraftspendend - trotz (oder gerade wegen) der vielen Moll-Töne!

    Karwendel entwickelte mit "Geteiltes Herz" eine barocke Folk-Jazz-Umgebung, welche passgenau in eine melancholische Klanglandschaft integriert wird, wobei die Stimmung letztlich tröstend und nicht depressiv erscheint. Holzbläser und Duett-Gesänge setzen besondere Duftmarken. Der sensible Gesang und die einfühlsame Lyrik sind dabei das Tüpfelchen auf dem I. Die Produktion von Max Braun (unter anderem auch tätig für BRTHR, Carolina Lee und Paul Armfield) hinterlässt einen warm-harmonischen, wohlig-einschmeichelnden Eindruck und verpasst dem eigenständigen Sound, der Ausgeglichenheit und eine kultivierte Instrumentierung bereithält, den letzten Schliff.

    Durch die vier neuen Stücke, die der "Geteiltes Herz"-EP für "Verbunden sein" als aktuelle Standortbestimmung zugeordnet wurden, erhält das Gesamtkonstrukt einen noch facettenreicheren Ausdruck. Die ergänzenden Lieder künden von einer stetigen, organisch wachsenden Entwicklung, die alle Richtungen offenlässt und auch möglich macht. "Verbunden sein" ist ein Glücksfall: Selten war deutschsprachige Pop-Musik künstlerisch so wertvoll und aufrichtig wie hier.

    In seinem Metier darf man Sebastian Król getrost einen gehaltvollen Dichter und Denker nennen, was nicht vermessen ist. Ihn hinsichtlich der poetischen Kraft in eine Linie neben Hölderlin, Heine und Hesse zu stellen, ist nicht übertrieben. Denn seine Texte sind extrem feinfühlig, scharfsinnig und lyrisch anspruchsvoll formuliert, sodass sie das Hirn auf Schwung bringen und das Herz in Flammen setzen.
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    The Cycle Laura Carbone
    The Cycle (CD)
    May 30, 2024
    Sound:
    4 of 5
    Music:
    4 of 5

    Laura Carbone - eine verführerische, zärtlich-wilde Schamanin.

    Herausfordernde Kunst basiert häufig auf einer individuell stark ausgeprägten Persönlichkeit. Die Musikerin Laura Carbone profitiert nicht nur von ihren deutschen und italienischen Wurzeln, sondern macht klangliche Kreativität und feinfühlige Spiritualität zu ihren Markenzeichen. Mit der wandelbaren Stimme regt sie die Empfindungen der Menschen an und als Medium geht sie auf Tuchfühlung mit Sehnsüchten, Ängsten, Hoffnungen und Glücksgefühlen. "The Cycle", das vierte Album der in Berlin ansässigen Künstlerin, stellt Kreisläufe in den Mittelpunkt der Überlegungen, was sinnbildlich für die Jahreszeiten, aber auch für das Leben stehen kann. Auf dreizehn Songs schlägt sie also gedanklich einen Bogen vom Werden bis zum Vergehen.

    Der Song-Zyklus beginnt mit "Mourning Each Day Away", wo Sehnsucht in intensiv aufgeladene Noten gegossen wird: "Ich sehne mich nach jemandem, der mich hält. Ich wünsche mir, dass du dieser Jemand bist". Aber es hilft manchmal kein Hoffen und kein Bangen, denn längst nicht alle Wünsche gehen in Erfüllung. Was eventuell bleibt, ist die Trauer über verpasste Gelegenheiten. Der Song steht aber auch für Erneuerung und präsentiert deshalb den Frühling im Sinne der Darstellung der Jahreszeiten bei "The Cycle". Laura nimmt uns mit in ein Wechselbad der Gefühle. Intime, akustische Folk-Gitarren erschaffen eine belastbare Struktur und die von Fantasie erfüllten Bass- und Keyboard-Figuren weisen den Weg in eine verschwommene Scheinwelt. Der Gesang wagt einen Spagat zwischen gedankenverlorener Träumerei und brutaler Realität, wobei die Wahl-Berlinerin die unterschiedlichen Stimmungslagen geschickt miteinander koordiniert. Sogar Wut findet einen passenden Platz in diesem dynamisch vielfältig ablaufenden Art-Rock-Emotionstaumel.

    Für "Oh Rosalie" wird der Druck und das Energielevel noch erhöht. Dabei fusionieren eingängige Pop-Strömungen mit rauschhaften Schwingungen, was zu einer akustischen Kernschmelze führt.

    "Lose My Love" braucht eine Weile, bis sich der Track aus seiner genussvollen, selbstgefälligen Schläfrigkeit befreit und sich stetig mit mächtigem Steigerungspotential zu einem aufbrausenden Monster mit schnarrend-kreischenden Gitarren-Wirbeln entwickelt. Dann gibt es kein Halten mehr und der Track endet in einem überschäumenden Klang-Inferno. Laura lässt sich davon gerne inspirieren und versetzt sich gesanglich in einen ekstatischen Zustand.

    "Silver Rain" zelebriert die hypnotische Wirkung eines monotonen Rhythmus, der in Verbindung mit einer angenehmen Melodik den Boden für umschmeichelnde Pop-Nuancen vorbereitet. Gemeinsam bringt das durch die sich gegenseitig anstachelnden Gegensätze einen reibenden Reiz mit sich.

    Die filigrane, vom Piano dominierte Ballade "Red Velvet Fruit" entwirft hingegen eine morbide, geisterhafte Atmosphäre, bei der der Stimme die Hauptrolle für die Erzeugung von Gänsehaut-Momenten zugesprochen wird.

    Laura singt für "Horses" in einer Tonlage, die sowohl lässig-lasziv als auch müde klingt und in ihrer selbstbewussten, sinnlichen Darstellung an Chrissie Hynde von den Pretenders denken lässt. Das Lied entwickelt durch diese attraktive Kombination eine inbrünstig schmachtende Präsenz, die einen süßen Duft verströmt. Im Jahreszeiten-Zyklus wurde das Lied dem Sommer gewidmet, was durch seine Gelassenheit untermauert wird. "Die Passion und den Mut, die es braucht, um sich zu trauen, für sich einzustehen" sind die Antriebe, die als philosophische Botschaft hinter den verführerischen Noten stecken.

    "Run" gehört zu der Kategorie von Songs, die psychedelische Züge tragen, dabei auch Aggressionen zulassen und bedrückende sowie panische Situationen erzeugen, sich aber gegen diese bedrohlichen Vorkommnisse auflehnen. Der Verlauf gleicht einem Vulkan, der sich vom inaktiven Zustand allmählich zur vollständigen Eruption hin entwickelt.

    Der sphärisch angehauchte, am Gospel geschulte Folk-Rock "I Miss The Soft Touch Of Rain" neigt zur Dramatik, welche durch Carbones raumgreifenden Lead-Gesang heraufbeschworen und genährt wird. Gegen Ende des Stückes sorgen überraschende Flamenco- und Country-Töne noch für frischen Elan und beruhigende Tendenzen in der vorher aufgewühlten Sound-Landschaft.

    Gitarren-Rückkopplungen, extravaganter Gesang und freigeistige, selbstständig agierende Begleitmusiker lassen "Tuesday" zu einer nervlich überspannten Grenzerfahrung am Rande eines durchkomponierten, aber dennoch rauschhaft-aufregend gestalteten Songs werden, der mit improvisierten Experimenten durchzogen ist. Das macht aus Lauras Sicht den Herbst in der persönlichen Betrachtung der Jahresuhr aus.

    "Season Without Light" bringt die nächste klangliche Herausforderung mit sich, denn hier mischen sich exotische, auf- und abschwellende Klangschalen-Schwingungen unter die sachlich-klaren Akkorde einer akustischen Gitarre. Laura lässt ihre Stimmbänder manchmal elfenhaft erklingen, wodurch der Track eine weitere esoterische Ausrichtung erhält.

    Langsam, weich, vorsichtig und sensibel wurde "The Good" gestaltet, sodass der Song nur durch die in schwindelnde Höhen aufsteigende Stimme aus seiner selbst gewählten Idylle - die den Winter im Jahreszeiten-Reigen symbolisiert - hervorsticht. Die Moral dieses Liedes liegt in der Erkenntnis, sein Schicksal nicht in die Hände von anderen zu legen, sondern aufgrund der eigenen Erfahrungen bei sich selbst zu ergründen, was einem guttut.

    Die sowohl versponnenen als auch kraftvollen Folk-Rocker "(You’re A) Star" und "Phoenix Rise" verfügen über eine fein gesponnene, klug auskomponierte, sich dynamisch verändernde Melodie, was die Songs als musikalische Erben des Westcoast-Sounds der Endsechziger Jahre ausweist.

    In den 66 Minuten Laufzeit von "The Cycle" bringt die engagierte Künstlerin einige Stil-Wendungen unter. Gesanglich schlüpft sie dabei in sanfte oder robuste Rollen: "Deine Stimme ist dein kraftvollstes Geschenk. Sie hat die Fähigkeit zu inspirieren, zu heilen, zu erschaffen und die Welt zu verändern", kommentiert die Sängerin die Bedeutung ihrer entschlossenen Gesangsbeiträge.

    Zusammen mit ihrer Band erschafft Laura Carbone teilweise magische Klangräume, die unter anderem nach unterirdischen Gewölben oder nach Prunksälen klingen. Diese Abwechslungen zeigen die kreativen Möglichkeiten der Künstlerin auf, die dadurch ein interessantes Werk erschaffen hat, das aber auch Durchhaltevermögen bei der Hörerschaft voraussetzt. Und das ist gut so, denn was gibt es beim Musik hören Schlimmeres, als unterfordert zu sein?
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    Self-Inclusion (CD)
    May 30, 2024
    Sound:
    4 of 5
    Music:
    4 of 5

    Jetzt erst recht: Dino Brandão trotzt den Widrigkeiten des Lebens.

    Die Diagnose einer schweren Krankheit kann zu tiefen Depressionen oder zur Freisetzung von bisher nicht ausgeschöpften Fähigkeiten führen. Oder es kann beides passieren. Wie beim Schweizer Musiker Dino Brandão. Das Leben des Künstlers ist von einigen Wechselfällen geprägt. Aufenthalte in psychiatrischen Kliniken und Erfolge als Kreativer stehen sich dabei kontrastreich entgegen. Aktuell wurde bei ihm Multiple Sklerose festgestellt. Dino Brandãos Leben ist dadurch sinnbildlich in einen Taumel zwischen Zweifel und Euphorie geraten. Kontraste, die dazu führten, dass "Self Inclusion" einen langen Entstehungsprozess benötigte und das Werk zu einem extravaganten, spannenden Erlebnis werden konnte. Durch die Lebensumstände erklärt sich, warum die Platte so viele unterschiedliche Facetten authentisch aufzeigen kann - sie sind eben alle intensiv durchlebt oder durchdacht worden.

    Zudem setzt "Self Inclusion" eine Reihe von Assoziationen frei, weil die Platte individuelle Eindrücke mit Mustern von musikalischen Vorbildern ineinander verdreht. Dazu gehören auch etliche Weltmusik-Strömungen und eine harmonisch eingebettete introvertierte Melodienvielfalt. Außerdem passen der erste Track "Sweet Madness" und der Abschluss "Loser" inhaltlich zusammen, weil beide Lieder aus der Erfahrung der Unterbringung in der Psychiatrie gespeist wurden. ""Loser" ist dabei nicht weniger als eine Hymne auf die vermeintlich dem Wahnsinn verfallenen Personen, die in Wahrheit vielleicht nur eine Auszeit brauchen von dem Wahnsinn, der uns alle umgibt", erklärt der Musiker seine Titel-Wahl und gleichzeitig verbindet er die Abschottung von der Gesellschaft in einer Klinik als Möglichkeit, die Gesundung zu unterstützen - wenn diese Phase professionell begleitet wird.

    "Self Inclusion" sollte allerdings nicht auf die persönlichen Belange von Dino Brandão reduziert werden, auch wenn die Isolierung von der "Normalität" natürlich prägend war. Deshalb bildet der Opener "Sweet Madness" die öffnende Klammer um das Album. Der Song verkündet als Einstimmung auf Dinos Erkenntnis-Gewinne eine poetisch-philosophische Aussage über den Umgang mit unbequemen Tatsachen: "Der Wahnsinn beginnt, wenn die Wahrheit verdunkelt wird".

    Während der Titel noch durchgehend in einem rauschhaft-schläfrigen Art-Pop-Zustand verharrt, schüttelt der abschließende Track "Loser" die Melancholie nach einer Weile ab und widmet sich aktiven rhythmischen Gestaltungen, die "Self Inclusion" immer wieder stilistisch breit gefächert begleiten und bereichern. Inhaltlich wird die Sicht von außen auf psychiatrische Einrichtungen erklärt: "In der Psychiatrie sind wir alle gleich, zugedröhnt, aber unschuldig. Alle meine neuen Freunde hier haben den Test nicht bestanden. Die Gesellschaft hat beschlossen, dass wir uns ausruhen sollen". Bei dieser Beschreibung läuft der bedrückende, tragisch-komische Film "Einer flog über das Kuckucksnest" mit Jack Nicholson in der Hauptrolle vor dem geistigen Auge ab.

    "Bouncy Castle" lädt über einen lässigen Bossa Nova-Takt zum eleganten Entspannen ein. Der Rhythmus kommt aus der Maschine und Brandãos Stimme erklimmt zur Spannungssteigerung auch schon mal hohe Tonlagen, betätigt sich ansonsten allerdings oft als gewandter Entertainer. "Das Leben ist eine Hüpfburg. Gefüllt mit Tränen und Lachen", ist die Kernaussage des Stücks.

    Medikamentenversuche in Luanda im Jahr 1965 an 50 Kindern, die Kopfläuse hatten, führt zum Tod: "Coma" lässt die Vergangenheit nicht ruhen und zapft zur Untermalung dieser abscheulichen Story den mexikanischen Mariachi-Sound an, der durch Calexico in den Mainstream gelangt ist. Aktive Percussion-Klänge bringen den Track auf Trab, Trompetenfanfaren drosseln die Euphorie wieder und Dino lässt sich gesanglich mal von der aufgewühlten und mal von der bedächtigen Stimmung anstecken.

    Das dunkle, sich anscheinend mühselig dahinschleppende Chanson "Coconut" spielt für seinen rätselhaften Ausdruck mit den undurchsichtigen Stimmungslagen in einer schwülen Nachtklub-Szenerie, bei der sich die Gestrandeten, die Zwielichtigen und die Unglücklichen zufällig versammeln und die Anonymität suchen. Der moderierende Gesang ist bisweilen beißend-schmerzend bis unangenehm-quälend, was dem Song eine einschneidende Intensität verleiht. Als würden sich die Noten ihren Weg durch eine zähe Masse hindurch bahnen müssen, wirkt der Ablauf auf anziehende Weise klebrig und langsam. Dabei geht es im Text eigentlich um die vergeblichen Liebesbemühungen beim Werben um eine Frau - was sich natürlich auch traumatisch auswirken kann.

    "Progress" punktet mit südländischem Temperament und überkandidelten, schrillen Gesangseinlagen. Die Spielfreude streift dabei die Grenze zur hemmungslosen Euphorie. Wie ferngesteuert oder hypnotisiert spulen Background-Stimmen ihre Formeln ab, aber der skizzierte kalkulierte Wahnsinn hat Methode: "Viele europäische Länder sind reich geworden, weil sie lange Zeit andere ausgebeutet und kolonialisiert haben. Und wenn die Menschen, die Generationen später noch immer unter den Auswirkungen davon leiden, nun zu uns kommen wollen, wirft man ihnen vor, uns ausnehmen und bestehlen zu wollen", diagnostiziert der Schweizer Musiker mit afrikanischen Wurzeln.

    Durch einen gefälschten Südsee-Feeling-Sound schwimmt "Everyday Happy Birthday" auf einer Wohlfühl-Welle ins Haus. Ob man allerdings solch ein aufgekratztes Geburtstagsständchen jeden Tag haben möchte, sei infrage gestellt. Denn der Song nimmt sich selbst nicht so ganz ernst und kann hinsichtlich der zur Schau gestellten, übertriebenen Fröhlichkeit sogar als Persiflage angesehen oder verstanden werden. Das Lied beschreibt gemischte Gefühle, die uns beschleichen können, wenn wir bewusst oder unbewusst inkonsequent handeln. Ein täglicher Geburtstagsgruß soll dann aber bewusst machen, dass wir uns trotzdem feiern lassen können, weil wir das Meiste doch immer richtig gemacht haben.

    Es gibt etliche illegale Diamanten-Minen im Dschungel von Südamerika. Die Arbeitsbedingungen sind erbärmlich, die Natur wird durch die Förderung zerstört, Krieg, Krankheit, Korruption, Kriminalität und Armut quälen die Menschen zusätzlich und nur wenige Personen werden durch die geförderten Edelsteine tatsächlich reich. Dieser problematische Themenkomplex liegt "Learning Portuguese" zugrunde, der durch spritzig-unbedarfte Latin-Rhythmen getarnt wird und so vorübergehend seine niederschmetternde Aussagekraft verlieren kann.

    Ein holpriger Afro-Beat-Takt bringt "Pretty" zunächst teilweise zum Schlingern, daneben gibt es aber noch Passagen, die von gemütlich-maritimem Schaukeln und quengelndem Gezerre durchzogen sind. Balladeske Momente und meditative Töne tragen ergänzend zu einem munteren Musik-Puzzle-Effekt bei. Thematisch geht es ernst zu: Einem 12-jährigen Mädchen wird klar, wie heftig die Globalisierung dem kleinen, bäuerlichen Erwerb der Familie zusetzt.

    "Hybrid" ist lebhaft, mystisch, melodisch, neugierig-verspielt, ausgeglichen und nervös. Heraus kommt dabei ein abwechslungsreicher Art-Pop mit künstlerischem Hintergrund, wie ihn Robert Wyatt gerne praktiziert. Dino Brandão gelingt es, mit dem Song eine unverkrampfte, originelle Arrangier- und Komponierkunst auf höchstem Niveau zu zelebrieren! Der Song macht darauf aufmerksam, dass Migration eine natürliche Entwicklung ist und die Grundlage für viele Fortschritte darstellt.

    Als wichtigste Erkenntnis bleibt bei der Beschäftigung mit "Self Inclusion", dass die Musik auch ohne die intimen Kenntnisse über die Lebensgeschichte von Dino Brandão interessant und rätselhaft ist. Neben traurigen, unscharf verletzlichen Schwingungen transportiert sie nämlich jede Menge von lustvoll-heiteren, klar und hell glitzernd-funkelnden Eindrücken, die sich nach bunter Knete im Kopf eines positiv "Verrückten" anhören.

    In den Songs pulsiert das Leben in all seinen Schattierungen. Ausgelassenheit und Lebensfreude nehmen dabei aufgrund von (poly)rhythmischen Auflockerungen einen großen Platz innerhalb der Kompositionen ein. Ob es sich dabei um eine tief empfundene Fröhlichkeit oder um Zweckoptimismus handelt, spielt keine Rolle, weil dem Art-Pop auf die eine oder andere Weise eine lässige Unbekümmertheit zugewiesen wird. Traurigkeit taucht nur am Rande des Werkes auf, sodass eine Ausgewogenheit der Emotionen gewahrt bleibt. "Ich mag es irgendwie, den Leuten schwere Themen mit beschwingter Musik unterzujubeln", erklärt der Musiker sein Vorgehen.

    Dino Brandão ist ein erfahrener Musiker. Bis 2019 war er Sänger und Gitarrist der Band Frank Powers. Danach folgte der Song "Ich liebe dich" mit Faber und Sophie Hunger sowie 2020 die EP "Bouncy Castle", die nun den Titel-Track und "Pretty" für das Album beisteuert. Der Schweizer hat seine Nische, seine persönliche Ausdrucksform gefunden und "Self Inclusion" fast alleine eingespielt. Er macht sich auf seinem Solo-Debütalbum die Tugend zunutze, dass die optimistische Schwester der Melancholie die Hoffnung ist. Mit dieser Erkenntnis und mit seiner künstlerischen Begabung überlistet er die Widrigkeiten des Lebens. Bravo, Dino!
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    May 30, 2024
    Sound:
    4 of 5
    Music:
    4 of 5
    Press quality:
    4 of 5

    Erstaunlich! Jedes Stück auf "A la Sala" beinhaltet eine spezielle Tonfärbung.

    Das Trio Khruangbin aus Texas vollbringt trotz nahezu gleicher Instrumentierung durch die Rumpfbesetzung von Laura Lee Ochoa am Bass, dem Schlagzeuger Donald "DJ" Johnson, Jr. und Mark "Marko" Speer an der E-Gitarre ein hohes Maß an Abwechslungsreichtum. Das gelingt, weil aufgrund der unterschiedlichen Gewichtung der wenigen eingesetzten Klangkörper ein vielfältiges Erleben der überwiegend instrumentalen Kompositionen entsteht. Dazu kommt ein gerütteltes Maß an Erfahrung, Vorstellungskraft und Mut, was zusätzlich zur Differenzierung der Stücke beiträgt. Dadurch, dass jeder Track einen originellen Weg verfolgt, benötigt man allerdings ein weites (Selbst)-Verständnis von Musik, um das Album in Gänze einordnen, honorieren und nachvollziehen zu können. Es ist ein Lehrstück für eine universelle Auffassung und Umsetzung von Klangstrukturen jenseits von eingefahrenen Stilgrenzen.

    Khruangbin ist thailändisch und bedeutet so viel wie Fluggerät. Der Ausdruck beschreibt genau den Überflieger-Gedanken der Musiker, der ihren Kreationen den Abstand zu gängigen Mustern verschafft, was sie akustisch über den Dingen stehen lässt, weil sie eben nicht an erwartete Abläufe angepasst sind. "’A la Sala' (= zum Zimmer), das habe ich als kleines Mädchen immer in meinem Haus herumgeschrien, um alle im Wohnzimmer zu versammeln; um meine Familie zusammenzubringen", beschreibt Laura Lee Ochoa ihre Gedanken zur Auswahl des Album-Titels. Für das Werk werden liebgewonnene Eindrücke - sozusagen familiär klingende Töne - und individuelle Klangvorstellungen zu einem großen Ganzen vereint. Das führt zu einer Vielfalt von Eindrücken, die alle voneinander abstammen, weil sie gemeinsame Ahnen haben. Die Konstrukte dürfen sich unterschiedlich frei entwickeln, was auch Gegensätze herausbilden kann.

    Die vorherrschende Stimmung bei "Fifteen Fifty-Three" ist Gelassenheit bis hin zur Tiefenentspannung. In der Ferne rauscht und fiept es leise. Der Bass eröffnet ruhig und langsam den transparenten Instrumenten-Reigen. Die E-Gitarre steigt entspannt-melodisch mit ein und das Schlagzeug übernimmt nach einem schüchternen Beginn die swingende Führung. Das Trio spielt zwar Muster, die an Jazz und an der Klassik angelehnt sind, aber in dieser losen Form keinem Genre eindeutig zuzuordnen sind. Um Orientierung ringend fällt eine Ähnlichkeit zu manchen Songs des experimentierfreudigen Folk-Jazz-Kollegen Ryley Walker, wie "Funny Thing She Said" aus 2016 ein. Dann kommt noch der romantische Rock von Peter Greens Song "Albatross" in den Sinn, den er 1969 für Fleetwood Mac verfasst hat. Es besteht sogar eine Wahlverwandtschaft zum wortlosen "Warm And Cool" des Television-Frontmannes Tom Verlaine. Diese Assoziationen erweisen sich aber nur als flüchtige Eingebungen ohne wirkliche Substanz - zu eigenwillig und eigenständig ist die freigeistige Khrungbin-Schöpfung.

    Die vorherrschende Stimmung bei "May Ninth" ist sonnig und mild. "May Ninth" hilft aber nicht weiter, wenn es darum geht, einen kleinsten gemeinsamen Nenner zu finden, der die Khrungbin-Musik in kurzen Sätzen beschreiben könnte. Die Klänge vollziehen hier einen Schlenker hin zum weichen Dream-Pop, was besonders durch den sensibel-anschmiegsamen Gesang von Laura Lee Ochoa Nahrung erhält.

    Die vorherrschende Stimmung bei "Ada Jean" ist geheimnisvoll und spannend. Mark Speers Gitarre erzählt halbseidene Geschichten aus der Sicht eines geläuterten Ex-Kriminellen, könnte man meinen. Dunkle Gassen, flackerndes Neonlicht, zwielichtige Gestalten und verrauchte Kneipen huschen gedanklich durch diese transparente Tonkonstruktion.

    Die vorherrschende Stimmung bei "Farolim de Felgueiras" (= Leuchtturm von Felgueiras) ist exotisch und berauschend. Nord-Afrikanische Folklore-Entwürfe schwingen genauso wie psychedelische Rausch-Erfahrungen mit und färben das Stück in zarte, ineinander fließende Pastellfarben.

    Die vorherrschende Stimmung bei "Pon Pón" ist aufgeregte Ausgelassenheit. Pon-Pons sind Stoff-Bommel, die in unterschiedlichen Ausprägungen zur Verzierung dienen. Kreativität wird beim Basteln genauso eingefordert wie auch in der Tondichtung: Die E-Gitarre quengelt unruhig, der Bass geht gemächlich seinen eigenen Weg und das Schlagzeug ist um einen sinnlich-begehrenswerten Takt bemüht.

    Die vorherrschende Stimmung bei "Todavía Viva" ist verführerisch und lasziv aufgeladen. Wie so viele Songs auf "A la Sala" taugt auch "Todavía Viva" (= immer noch am Leben) zur Untermalung von Dokus oder Reiseberichten, denn es werden sehnsüchtige Erwartungen freigesetzt. Der Song spielt erotische Gefühle gegen klare, markante Akzente aus, sodass sowohl verträumte als auch deutlich verdichtete Passagen ihre Berechtigung erhalten.

    Die vorherrschende Stimmung bei "Juegos y Nubes" (= Spiele und Wolken) ist ungefiltertes Fernweh. Rockabilly und Melodic-Rock befruchten und respektieren sich gegenseitig, indem sie eine friedliche Koexistenz führen. Das lässt Aromen entstehen, die von unendlichen Weiten und Freiheit künden.

    Die vorherrschende Stimmung bei "Hold Me Up (Thank You)" ist unwiderstehlicher Bewegungsdrang. Souliger Funk kam bisher schon manchmal unterschwellig zum Tragen, hier spielt er eine größere Rolle. Er stellt sich aber nicht breitbeinig in den Weg, sondern sorgt für befreiende Bewegungen in einem nach Körperlichkeit suchenden Track.

    Die vorherrschende Stimmung bei "Caja de la Sala" ist spirituelle Einkehr. Mit wenigen filigranen Tönen und einer bedächtigen Ausrichtung erschafft die Band eine Atmosphäre von innerer Einkehr, die unaufgeregt, aber trotzdem intensiv ist.

    Die vorherrschende Stimmung bei "Three From Two" ist bewusst gelebter Zweckoptimismus. Klingt "Three From Two" nun aber nach karibischem Urlaubs-Flair oder ist der Track eine Parodie darauf? Khruangbin bleiben stets zweideutig, zwiespältig und ihre Ideen sind deshalb hinsichtlich ihrer Bewertung Auslegungssache. Ernsthaftigkeit und Kitsch liegen nämlich nahe beieinander.

    Die vorherrschende Stimmung bei "A Love International" ist fordernde Unnachgiebigkeit. Das Stück scheut sich nicht, mit Nachdruck Tonfolgen so lange zu wiederholen und diese dabei massiv zu steigern, bis sie anfangen zu schmerzen.

    Die vorherrschende Stimmung bei "Les Petits Gris" (= die kleinen Grauen) ist eine meditative Verschnörkelung. Es wird ein stoisch aufspielendes Piano ins Spiel gebracht, das sich mit der lückenhaft auftauchenden Gitarre die Aufmerksamkeit teilt. Neben "Caja de la Sala" ist "Les Petits Gris" der ergreifendste Track der Platte.

    Es scheint, als wäre das Wort "unspektakulär" für "A la Sala" in bester Absicht zur groben Beschreibung ihrer Kunst erfunden worden. Zumindest, wenn es für "unaufdringlich" oder "zurückhaltend" steht. Der zarte Gesang von Laura Lee Ochoa und die dezent eingeblendeten Umweltgeräusche vermitteln eine wohlwollende, harmonisch geerdete Situation, die den Easy-Listening-Touch unterstützt.

    Die Musik versucht jedoch generell, einen Spagat zwischen unauffällig unterhaltsam und unangestrengt anspruchsvoll hinzubekommen, was in den meisten Fällen auch gelingt. Diese Mischung kann aber dazu führen, dass sich die Hörerschaft damit nicht voll identifizieren kann, weil sie es gewohnt ist, Eindeutigkeit vorzufinden. Zwischen den Stühlen fühlt man sich eben nicht unbedingt wohl. "A la Sala" lässt auch Fragen offen: Inwieweit beinhalten die Klänge persiflierende Elemente oder soll etwa bewusst eine alternative Form der Verbindung von Post-Rock und Mainstream-Pop ergründet werden?

    Aber genau dieses widersprüchliche Empfinden provoziert das Trio mit ihrem vierten Longplayer, was durchaus Unverständnis hervorrufen kann. Das wäre schade, denn die Klänge transportieren so viel mehr Emotionen, als es blasse Hintergrundmusik vermag. Wir erinnern uns an die Eingangsbemerkung: Der Ausruf "A la Sala" brachte die Familie zusammen. Eine Familie besteht in der Regel aus kontroversen Individuen, die trotzdem durch ihre Verbundenheit eine Einheit bilden können. Auf dieser Basis funktioniert auch diese Musik: Vertrautes und Unerwartetes, Gewöhnliches und Außerordentliches stehen Hand in Hand. Diese Konstellation kann gefallen, kaltlassen oder ärgern. Solche Interessenlagen können eventuell auch innerhalb der Familie auftreten. "A La Sala" schöpft also gefühlsbetont voll aus dem wirklichen Leben.
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    Townie X Ambassadors
    Townie (CD)
    May 30, 2024
    Sound:
    4 of 5
    Music:
    3 of 5

    Gibt es eine Zukunft für den rockigen Pop oder poppigen Rock?

    Der Rock ist tot! Diese pauschale Aussage hört man immer wieder und sie hat noch nie gestimmt. Aber tatsächlich findet sich in den Top-10 der deutschen Album-Charts von Media Control am 04.04.2024 nicht ein Werk, welches entfernt dem Pop-Rock/Rock-Pop zuzurechnen wäre. Und nun tritt das Trio X-Ambassadors aus New York mit ihrer vierten Platte "Townie" auf den Plan, mit der es diese Ausrichtung aufrechterhalten, beziehungsweise wiederbeleben könnte.

    Manchmal ist das neue Werk von Sänger Sam Nelson Harris, seinem blinden Bruder Casey an den Keyboards und dem Schlagzeuger Adam Levine von Lagerfeuerromantik geprägt, denn es gibt sogar akustisch gestimmte, ruhige Abschnitte. Diese Songs weisen aufgrund ihrer sparsamen Intimität einen ungezwungenen Übungsraum-Session-Charakter auf. Daneben gibt es ebendiese Art von Liedern, die für harten Rock ’n’ Roll zu sanft und für Chart-tauglichen Pop zu laut sind, die auffallen.

    Negativ zu Buche schlagen dabei allerdings Allerwelts-Schmachtfetzen wie "Fallout",
    "Women's Jeans" und "Half Life". Sie sind klischeehaft, übertrieben aufgeblasen und verbreiten mit krampfhaftem Gesang individuelles Leid und Weltschmerz. Diese Tracks schmälern den recht positiven Höreindruck eindeutig, weil sie jammervoll statt aufrichtig klingen und eingefahrene, massentauglich akzeptierte pseudo-sensible Ausdrucksweisen anwenden, statt authentisch wahrgenommene Emotionen abzubilden. Die X Ambassadors versinken in diesen Fällen trotz vielversprechenden Ansätzen leider im trüben Mittelmaß. Sie scheinen dann die Balance zwischen profitorientiertem Songwriting und engagiertem Künstlertum verloren zu haben.

    Die Counting Crows, Hootie & The Blowfish, R.E.M., The Wallflowers, Jackopierce, BoDeans, Dave Matthews Band oder Tom Petty & The Heartbreakers haben es einst vorgemacht, wie man Pop-Leichtigkeit und Rock ’n’ Roll-Gradlinigkeit interessant unter einen Hut bekommt, ohne sich an Chart-Gesetzmäßigkeiten anzubiedern. Die mit Platin-Verkaufszahlen verwöhnten X Ambassadors sollten sich an diesen Vorbildern orientieren, anstatt in die Beliebigkeit-Falle zu tappen.

    Bei "Townie" wechseln sich also Licht und Schatten ständig ab: Wenn sich der Bass und der sirrende, flirrende und kreischende Feedback-Sound der E-Gitarre im Hintergrund bemühen, die Luft unheilvoll vibrieren zu lassen, dann haben es die sauber gepickte akustische Gitarre, das cool driftende Schlagzeug und der selbstbewusst-kraftvolle Gesang leicht, "Sunoco" zu einem sowohl gefühlvollen als auch energisch auftrumpfenden Mystery-Track gedeihen zu lassen.

    "Smoke On The Highway" erzählt von der Aneignung des heiligen Bodens der amerikanischen Ureinwohner und fängt neben indigenen Rhythmus-Vorstellungen auch bodenständige Country-Folk-Takte ein.

    Unnachgiebige Folk- und erdige Blueswurzeln prägen das ihrem Mentor Todd Peterson gewidmetem "Your Town", das durch den dynamisch abgestuften Gesang dramatisch aufgeladen wird. Und die Feedback-Gitarre aus "Sunoco" stellt sich erneut in den Dienst der lärmenden Verzierung.

    "I'm Not Really Here" und "Start A Band" füllen die Schnittstelle zwischen Rock und Pop glänzend aus. Die Tracks verfügen über einen richtungsweisenden Groove, der durchgängig für Feuer sorgt und die Lieder zu attraktiven Radio-Hits werden lässt.

    Direkt auf den Einsatz auf der Tanzfläche zielen "Rashad" und "No Strings" mit ihren hypnotisch pumpenden Rhythmen ab, während "(first dam)" eines der angesprochenen Demo-Tape-ähnlichen, intimen Alternative-Folk-Stücken ist.

    Mit der Ballade "Follow The Sound Of My Voice" zeigen die X Ambassadors, dass sie durchaus glaubhaft anrühren können, ohne in schwülstige Übertreibungen verfallen zu müssen.

    Mit "Townie" tauchen die X Ambassadors in ihre Vergangenheit ein und berichten über Ereignisse, die sie in ihrer Heimatstadt Ithaca im Bundesstaat New York mit Freunden und innerhalb der Familie erlebt haben. Sie haben seit ihrem Debütalbum aus 2015 viel erlebt, sind aber bodenständig geblieben und haben nicht vergessen, wo sie herkommen. Das ist sehr sympathisch.

    Mit dem Erfolg hat sich aufgrund von Stress wahrscheinlich eine gewisse Routine eingeschlichen, um die Anforderungen an den Musikbetrieb hinsichtlich Tour- und Marketingverpflichtungen erfüllen zu können. Jedenfalls künden ein paar Songs auf "Townie" aufgrund ihrer beinahe hilflos wirkenden Anbiederung an eine kommerzielle Erwartung davon. Es gibt aber auch - wie eben aufgeführt - einige starke Stücke, die das Potenzial der Band aufleuchten lassen. Bitte das nächste Mal mehr davon!

    Die Gruppe sollte sich gegebenenfalls neu (er)finden und einen unbeugsamen, schweren Kompositions-Weg gehen, der ihnen qualitative Verlässlichkeit verschafft. Dann kann es auch eine Zukunft für den rockigen Pop oder poppigen Rock mit den X Ambassadors geben.
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    May 30, 2024
    Sound:
    5 of 5
    Music:
    5 of 5
    Press quality:
    5 of 5

    Zwei Brüder im Geiste erforschen die ungezwungene Gelassenheit inmitten von süßer Traurigkeit.

    "Brother" ist das vierte Album des Stuttgarter Projektes BRTHR um Joscha Brettschneider (Gitarre, Gesang) und Philipp Eissler (Gesang, Gitarre) nach "Strange Nights" (2017), "A Different Kind Of Light" (2018) und "High Times For Loners" (2020). Die letzte Veröffentlichung des Duos und ihrer Freunde war die EP "Be Alright" aus 2022, bei der ihr spezieller Americana-Mix eine deutliche Dosis der samtigen Variante des US-Südstaaten-Sounds und ein paar spritzig-spielerische Lounge-Jazz-Tupfer injiziert bekam. Das Beste aus diesen Welten führte durch die Fusion zeitweise sogar zu magischen Momenten.

    BRTHR formen ihre Ideen generell aus persönlichen Vorlieben und individuellen Vorstellungen. Die Klänge spiegeln dabei auch die Wellenbewegungen in der Pop-Musik wider, die sich aus Einflüssen, Referenzen und Retrospektiven ergeben. Das ergibt eine erfinderische Herangehensweise, die im Buch "Pop steht Kopf" in einem Artikel anhand von Beispielen beschrieben wird.

    Mit einem leisen, kaum wahrnehmbaren Rauschen, Tropfen und Plätschern werden wir nun in das neue, raffiniert ausgeklügelte Studio-Werk eingeführt. Ein entspannt fließender Jazz-Groove, der Thriller-Jazz-Spannung und Latin-Sound-Coolness zusammenbringt, tastet sich anschließend vorsichtig, bedächtig und abgeklärt voran. Der Song "Heartache Street" findet sich fortan inmitten einer eleganten "süßen Traurigkeit" (wie es lyrisch im Liedtext heißt) wieder. Der Gesang lässt keine ablenkende Hektik aufkommen, sondern wirkt ausgleichend und verbindend. Space-Age-Klang-Effekte lassen Streiflichter entstehen, die eine längst vergangene Epoche heraufbeschwören. Das gute alte, kurze Gitarren-Solo, welches den verborgenen psychedelischen Geist aus der Flasche lockt und in eine wache, aufnahmefähige Richtung führt, feiert eine abenteuerlich erscheinende, erfrischende Wiedergeburt und leitet das Stück aufmerksam und selbstbewusst auf die Zielgrade zu, die einen Neuanfang andeutet: "Ich fange an, mich lebendig zu fühlen. Ich fahre die Heartache Street hinunter. Ich gewinne an Geschwindigkeit, aber wohin ich gehe, ist nicht ganz klar."

    "Holding On So Tight" und "Bridges" zapfen die milde Entschlossenheit des Westcoast-Folk-Rocks an und entführen akustisch in das freigeistige Laurel Canyon-Künstler-Gefilde der 1970er-Jahre, bei dem sich die rauschhaften Songelemente allmählich zurückzogen und Soft-Rock-Einflüsse verstärkt zum Tragen kamen. Das Gewicht liegt hier also mehr auf wohligen Harmonien als auf einer intellektuell verschachtelten Vortragsweise. Beide Songs geben inhaltlich einen Blick auf den desolaten Zustand der Gesellschaft frei: "Die Welt ist in Eile und wir wissen nicht, warum. Es wird alles irgendwann enden, also warum hältst du dich so fest?" ("Holding On So Tight") oder "Warum fällt alles auseinander. Wie soll man den Kindern sagen, dass die Welt zusammenbricht? Lasst uns anfangen, Brücken zu bauen." ("Bridges").

    Zackig-lockere Gitarren-Akkorde, die an frühe Dire Straits-Songs erinnern und prägnante Funk- und Soul-Vibrationen sowie eine attraktive Lässigkeit lassen "Cool Water" angenehm und unwiderstehlich swingen. Der Song packt einen bei jeder Gelegenheit und das Zuhören ist in diesem Moment die wichtigste Angelegenheit, die es gibt. Mit "Cool Water" wird an den Wahnsinn des Krieges erinnert und die Kraft der Natur heraufbeschworen, wenn es um die Heilung einer lädierten Seele geht: Das Rauschen eines Flusses und das kühle Wasser, welches den Körper umspült, können bei sorgenvollen Gedanken psychische Linderung bringen.

    Der mystischen Kraft des weisen alten Flusses wird darauf hin noch ein ganzes Lied gewidmet. Bei "Wise Old River" heißt es unter anderem: "Weiser alter Fluss, wasche meine Sorgen weg, nimm diese Last weit von meinem Herzen". Der Folk-Einschlag des Tracks klingt zwar geschichtsträchtig, wirkt jedoch auf keinen Fall dröge oder veraltet. Vielmehr füllen sanfte Southern-Soul-Aromen die sich beständig und gleichmäßig wiegenden Noten mit einem lieblich-zutraulichen Charme, der von Güte, Geduld und Freundlichkeit geprägt ist.

    Eine schmerzhafte Trennungs-Szene und die Hoffnung auf baldige Überwindung der Liebesqualen begleiten "When The Morning Comes". Diese gemischten Gefühle bekommen durch einen langsamen Funk-Reggae-Rhythmus eine sonnige Färbung, was dem Stück einen behutsamen Rahmen verpasst. Es entsteht eine verschwommene Wahrnehmung, so wie sie kurz nach dem Erwachen entstehen kann. Die musikalische Konstellation vermittelt parallel regulierend zwischen Traum und Wirklichkeit.

    Die Balladen "Haven't You Heard" und "Spread The Good Word" nisten sich genau in die eben beschriebene, von einer unschuldigen Arglosigkeit beherrschten Stimmung ein und versuchen erst gar nicht - auf Teufel komm raus - intellektuell herausragend zu klingen, sondern pflegen ihre betörenden, das Gemüt streichelnde Erscheinungen auf seriöse, souveräne und liebevolle Weise. Sanft-hypnotischer Folk-Tronic-Gleichmut und geduldiger Country-Folk-Gospel stehen als Ausdrucksmittel zur Verfügung. Die Themen Midlife-Crisis mit 33 und Überforderung im Job hat "Haven`t You Heard" im Angebot ("Dieses Leben ist nichts für mich. Dieses Mal mache ich es richtig. Ich zähle die Stunden. Ich vergeude meine Zeit. Ich vergeude mein Leben.").

    Anerkennung der eigenen Stärke ("Er lässt seine Liebe nie in die Irre gehen...wenn du mich jetzt fragst, wo man diesen Mann findet...wirf einen Blick in den Spiegel und sieh, ob er da ist.") bildet bei "Spread The Good Word" den thematischen Rahmen.

    Gerne bedienen sich BRTHR beim J.J. Cale-Vermächtnis und so zaubern sie mit "Why Do You Work So Hard" einen beachtlichen, unwiderstehlich smarten, radiotauglichen Hit aus dem Ärmel, zu dem der viel zu früh verstorbene Meister des Laid-Back-Sounds wahrscheinlich von Wolke 7 aus zustimmend nickt. Übermäßige Arbeit als Verdrängungstaktik von Sorgen und Problemen? Das wird wohl häufiger praktiziert als vermutet. BRTHR versuchen sich dieser Verhaltensweise mit "Why Do You Work So Hard" zu nähern ("Warum arbeitest du so hart? Ist es wegen der Frau, die dein Herz gebrochen hat?").

    Philipp Eissler und Joscha Brettschneider bilden eine verschworene, um nicht zu sagen verschmolzene harmonisch-kreative Einheit, die Musik entstehen lässt, welche auf wunderbare und kluge Weise streckenweise zeitgleich sowohl nachdenklich als auch beschwingt sein kann. Und dieses Kunststück gelingt ihnen auch mit ihrer fünften BRTHR-Veröffentlichung nahezu perfekt. "Brother" ist wieder eine großartige Platte eines großartigen Projektes geworden!
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    Sound:
    5 of 5
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    5 of 5

    "Ruhe zieht das Leben an, Unruhe verscheucht es" (Gottfried Keller, Schweizer Dichter, 1819 bis 1890).

    Wenn man nachts in den sternenklaren Himmel schaut, dann überträgt sich die Unfassbarkeit des Universums zwangsläufig als Ehrfurcht vor der Unendlichkeit und das Mysterium des Daseins macht demütig. Es tritt ein Moment des Besinnens auf die eigene Rolle im Weltgefüge ein, der zur gedankenversunkenen Ruhe führen kann. Aus der Stille des Weltraums tritt das Wunder des Lebens hervor, das sich unter schwierigen Bedingungen gegen viele Bedrohungen durchsetzen kann. Der Mensch erlangt durch innere Ausgeglichenheit geistige Klarheit und bekommt dadurch die Möglichkeit, die Auswahl seiner Handlungsalternativen zu optimieren.

    Die Beschäftigung mit der eigenen Psyche sowie mit der Verbindung zur Natur und dem Weltall prägt das eindringliche Werk "Teenage Astronauts". Es vermittelt eine meditative Stimmung, die den Weltraum als Wiege des Lebens musikalisch reflektiert und nach Eintracht mit dem persönlichen Handeln und dem Lauf der Gestirne sucht. Die Aussage der Poesie beruht jedoch nicht unbedingt auf Science-Fiction-Themen, sondern behandelt im engeren Sinne ganz irdisch die relative Sorglosigkeit, die der Jugendzeit ihre spezielle Kraft verleiht. "Als junger Mensch fühlt man sich unsterblich, als wäre alles möglich. Deshalb wollte ich dieses Mal ein großes Streichorchester einbeziehen, dieses Gefühl einfangen und uns ins All schicken". So erklärt der norwegische Multiinstrumentalist, Sänger und Komponist Thomas Dybdahl die Hintergründe seiner Sound-Kreationen. Außerdem geht es in den Texten noch um den unersetzlichen Wert und die etwaige Vergänglichkeit von Freundschaften.

    Die Platte bekommt durch den einfühlsamen Gesang von Thomas Dybdahl, der auch Gitarren, Keyboards und Percussion bedient, seine ruhevolle Form verliehen. Der Produzent Larry Klein (Joni Mitchell, Madeleine Peyroux, Melody Gardot) ergänzt die instrumentelle Basis und das Stavanger Symphony Orchestra füllt den Raum mit ausschweifenden und behaglichen Tönen.

    Die Musiker lassen für den Song "Teenage Astronauts" die Himmelskörper akustisch glitzern und blinken. Zerbrechlichkeit, Intimität und pure Schönheit füllen die Noten. Das fühlt sich manchmal leicht verwaschen an. So wie der Blick auf die Spiegelung eines blauen Sommerhimmels in klarem Wasser, was einer hypnotischen Wirkung entspricht. Chorstimmen ahmen einen dynamischen Wellengang nach und fangen die sich kräuselnden Wogen liebevoll auf. Streichinstrumentenklänge glätten danach sanft die verwirbelte Wasseroberfläche. Die organisch-natürliche, kosmische Strahlkraft der Komposition wirkt sowohl beruhigend als auch belebend, sodass eine mehrdimensionale Projektionsfläche erschaffen wird.

    "Graffiti Boy" baut seine Ausdrucksstärke auf Folk-Wurzeln auf, die als exotische Triebe in den Himmel wachsen und berauschend prächtige Blüten austreiben. Eine nachempfundene barocke Romantik kommt dabei auch nicht zu kurz. Selbst künstlich erzeugte Naturschauspiele, wie plätschernd-gurgelnde Gebirgsbäche, werden Sound-malerisch nachempfunden.

    Schmachtend-sehnsuchtsvoll bekennt sich "All For A Girl" zu überwältigendem, kunstvollem Kitsch, woraus ein zum Dahinschmelzen ergreifendes Epos entsteht.

    Und es bleibt schillernd: Mit sphärischem Ambient-Americana-Sound bewegt sich "Beautiful Boy" oszillierend im Spannungsfeld zwischen emotionalen Tiefen und interstellaren Unendlichkeits-Fantasien.

    Beim Zwischenspiel "All For A Girl (String Reprise)" flackern kurz - von knisternden Sendersuchlauf-Tönen oder atmosphärischen Störungen begleitet - sentimentale Gefühle auf.

    Die Songs "There's No One Else On Earth" und "Sea Turtles" können für sich in Anspruch nehmen, eine Form von rauschhafter, globaler Weltmusik zu präsentieren, die von akustischen und elektronischen Tönen gespeist wird, welche sich gegenseitig zur Erreichung eines harmonisch-anregenden Ergebnisses herausfordern und ergänzen.

    "Rocket Ship" ist eine von moderner Klassik durchzogene Ballade, die sich bei der schwärmerischen Wirkungsweise dramatischer Hollywood-Produktionen bedient und vor intimer Sensibilität überläuft.

    Der Kreis schließt sich mit dem instrumentalen "Teenage Astronauts (String Reprise)", das sich nebst galaktischen Hintergrundgeräuschen auf den Eröffnungstrack bezieht und das Konzept aus Art-Folk- und Space-Sounds komplettiert.

    Diese Musik, die zur Orientierung als Ambient-Art-Folk bezeichnet werden soll, eignet sich wegen ihrer unaufdringlichen Nahbarkeit als Begleiter in vielen Lebenslagen. Sogar als Beschallung beim Outdoor-Sport oder eventuell als stimmungsvolle Begleitung von feierlichen Trauerfeiern kann sie eingesetzt werden, da sie trotz ihrer melancholischen Ausrichtung einen tröstenden, mitfühlenden Charakter aufweist.

    Das Stavanger Symphony Orchestra, welches vom Komponisten Vince Mendoza effektvoll und songdienlich arrangiert wurde, trägt Dybdahl auf Wolken oder auf leichten Wellen, die durchaus plötzlich ein wenig höher ausfallen können, als erwartet. Das Ensemble agiert in jeder Lage sehr einfühlsam, nahezu dezent und setzt trotzdem differenzierte und bedeutende Akzente.

    Dybdahl rundet seine sanftmütigen Gesangsdarbietungen über das gesamte Album hinweg stets zartfühlend ab, sodass die Noten durch sein Timbre eine verführerische Süße erhalten. Das erinnert zuweilen an den Art-Pop-Künstler und Tim Bowness, dessen kunstvolle Arbeiten durch seine lieblich-sinnliche Stimme auch eine unterschwellige erotische Ausstrahlung bekommen können.

    Die Platte ist unter anderem eine Empfehlung für Menschen, die sich von David Sylvian mal wieder ein Song-orientiertes Album wünschen. Und das nicht nur wegen der gelegentlichen, asiatisch anmutenden Klang-Einwürfe, sondern auch wegen der intimen, gelassen-souveränen Atmosphäre.

    Mit 32 Minuten Laufzeit ist Dybdahls zehntes Solo-Album viel zu schnell vorbei. Es dürfte gut und gerne bei gleichbleibender Qualität doppelt so lang sein. Aber trotzdem ist das Werk vollständig und vollwertig. Und schließlich gibt es ja eine Repeat-Funktion, sodass die inspirierende, vorzüglich gestaltete Klang-Reise jederzeit neu angestoßen werden kann. Die Ruhe von "Teenage Astronauts" zieht tatsächlich das Leben an, so wie es Gottfried Keller ausgedrückt hat. Deshalb geht von der Musik beinahe eine therapeutische Wirkung für geschundene Seelen aus. Einfach ausprobieren, es lohnt sich!

    Übrigens: Thomas Dybdahl erreicht mit seinen Platten in seinem Heimatland Norwegen hohe Charts-Platzierungen. Er ist dort also mit seiner anspruchsvollen Musik im Mainstream angekommen. Und bei uns? Solch eine Situation scheint in Deutschland undenkbar zu sein.
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    Underdressed At The Symphony Faye Webster
    Underdressed At The Symphony (CD)
    May 29, 2024
    Sound:
    5 of 5
    Music:
    5 of 5

    Sensibilität, Kreativität und Individualität: Faye Webster kann mit "Underdressed At The Symphony" auf der ganzen Linie überzeugen.

    Bei offiziellen Angelegenheiten nicht angemessen gekleidet zu sein, kann peinlich berühren oder sogar ein Gefühl der Ausgrenzung aufkommen lassen. Ein Dress-Code wird nämlich für eine definierte Menge an Menschen das Zusammengehörigkeitsgefühl stärken, für ein Individuum, das sich nicht daran hält, mag es aber Isolation bedeuten.

    Für Faye Webster ist der spontane Besuch des Atlanta Symphony Orchestra eine Herzensangelegenheit, um in Gemeinschaft Kultur genießen zu können. Diese Vorhaben können durchaus mit einer unpassenden Kleidung einhergehen. Die anstehende Dunkelheit beim Konzert erlaubt es dann, in eine Anonymität abzutauchen, in der alle Anwesenden wieder gleich erscheinen. Was bleibt, sind gemischte Gefühle, die sich auch bei "Underdressed At The Symphony" ausbreiten.

    Die 1997 in Atlanta, Georgia, geborene Künstlerin ist dem sehnsüchtigen Klang der Pedal-Steel-Gitarre verfallen, die auch aktuell wieder zum Tragen kommt, wenn auch nicht so exzessiv wie auf den vorhergehenden Alben "Atlanta Millionaires Club" (2019) und "I Know I`m Funny Haha" (2021). Eigentlich wird mit diesem Instrument Country-Musik assoziiert. Bei Faye Webster ergibt sich jedoch eine andere Wahrnehmung, weil sich die Songs aufgrund ihrer speziellen Struktur keinem Genre direkt zuordnen lassen. Und da sind wir auch schon bei der Besonderheit des fünften Albums der reizvollen Singer-Songwriterin. Es ist das bisher betörendste und gleichzeitig wagemutigste in der Karriere der engagierten Musikerin geworden. Jeder Song hat eine spezielle, Stil-sprengende Ausprägung erhalten und grenzt sich auf eigentümliche Weise deutlich von dem vorherigen ab. Dennoch tragen alle Lieder die eindeutige Handschrift von Faye, die längst ihre unverwechselbaren Wiedererkennungsmerkmale gefunden und gefestigt hat.

    Die Songs für "Underdressed At The Symphony" wurden live eingespielt. Was gleich beim Opener "Thinking About You" auffällt, da man in das Lied sanft hineinstolpert wie bei einer lockeren Jam-Session. Bass, E-Gitarren, Piano und Schlagzeug leisten sich einen Wettkampf in der Disziplin um den coolsten und gleichzeitig ausdrucksstärksten Instrumenteneinsatz. Das Ergebnis geht unentschieden aus, denn alle vier Teilnehmer zapfen sowohl organische Jazz-Lässigkeit als auch cremige Soft-Rock-Eleganz zum Wohle der Song-Substanz so raffiniert an, dass das gesamte Klang-Konstrukt mehr ergibt als die Summe seiner Ton-Teile. Webster verbindet die einzelnen Schwingungen dabei mit ihrer melancholisch-verletzlichen Stimme zu einem sinnlich-amourösen Chanson, bei dem Wehmut zu einer hinreißend verführerischen Droge destilliert wird.

    Mit "But Not Kiss" kommen dann unerwartet brüchige Sound-Passagen ins Spiel, deren einzelne akustische Bestandteile mit einem Kontrast aus Harmonie und Zerrissenheit überraschen. Kontroverse Muster, wie Schüchternheit und Übermut stehen sich gleichwertig gegenüber und bremsen oder beschleunigen der Ton-Fluss. Die unterschiedlichen Bestandteile können aber nur gemeinsam bestehen, um dieses spezielle, vor Differenzen bebende Konstrukt entstehen zu lassen. Passend dazu werden inhaltlich gemischte Gefühle, die in einer Beziehung auftreten können, ausgebreitet und beurteilt.

    Für "Lifetime" wird das Tempo tüchtig zurückgefahren, was zu einer bleiernen Schwere führt, die charmant vorgetragen und süffig ausgestaltet wird. Noten tropfen vereinzelnd klirrend zu Boden, Bässe formieren sich am Firmament zur Ankündigung eines Gewitters, Streicher-Töne und Bläser-Fanfaren beschwichtigen sanft und das Schlagzeug erweist sich als präzises Metronom und als Lücken füllendes Kreativ-Element.

    Bei "ebay Purchase History" demonstriert die sensible Vortragsart eine faszinierend eindringliche Stärke, denn es erscheint beinahe unmöglich, sich von der beschwörenden Wirkung der Musik zu lösen. Dabei geht es nie laut zu. Zum auffallenden Instrumentarium der weltmusikalisch inspirierten Untermalung gehört sogar eine Flöte - ein Instrument, das allgemein in der Pop-Musik (eventuell aufgrund der schlechten Erfahrungen im Musikunterricht) eher als langweilig und dröge empfunden wird. Hier steigern die Flötentöne aber sogar die Intensität des Tracks.

    Das Album klingt mit dem versöhnlichen Lied "Tttttime" aus, das sich mit bekannten Zitaten aus Pop und Country auf eine künstlerisch wertvolle Art und Weise schmückt, sodass sich daraus eine alternative Form eines besänftigend-lockenden Easy-Listening-Sounds ergibt.

    Diese sechs über die Platte verteilten Kompositionen verfolgen das Prinzip der kontrollierten Wiederholungen, das zu einer erhöhten Aufmerksamkeit, Einprägung und Intensitätssteigerung führt. Hierbei werden Sequenzen oft, aber nur solange dupliziert, wie sich ihre hypnotische Wirkung steigern lässt, damit der stimulierende Effekt nicht verloren geht.

    "Wanna Quit All The Time" verbreitet die Entspanntheit einer karibisch anmutenden, zarten Lounge-Jazz-Stimmung, welche mit sehnsüchtigen Ambient-Country-Ideen garniert wird. Eine freundliche, sommerlich warme Brise durchzieht die Noten und führt zu einem milden Entspannungseffekt, der die Nerven glatt bügelt und dafür sorgt, dass die Seele sorglos baumeln darf. Nach dreieinviertel Minuten wird das Stück komplett ausgeblendet, bekommt zehn Sekunden Pause und startet dann von Neuem und wird instrumental im alten Gewand noch eine Minute fortgesetzt.

    "Lego Ring" wurde unter Mithilfe des Rappers Lil Yachty, den Faye schon seit ihren High-School-Zeiten kennt, eingespielt und speist sich aus einem brummend-knurrenden Funk-Bass, der ordentlich Druck aufbaut. Dazu werden zwischendurch Exotica- und Space-Sound-Beiträge zusammen mit natürlichen und verfremdeten Gesangseinlagen verabreicht, sodass der Groove manchmal jäh unterbrochen wird. Dem Hörvergnügen schadet das nicht, denn es entsteht dadurch der Reiz der Reibung, der kontrolliert eingesetzt wird und deshalb kribbelnd wie eine ungefährliche sündige Verfehlung wirkt. "... ich muss nicht immer tiefgründig sein. Ich kann mich auch einfach hinsetzen und über diesen Ring aus Kristall-Lego singen, den ich unbedingt haben möchte", berichtet die Komponistin über ihre Gedanken zur Entstehung des Songs.

    "He Loves Me Yeah!" erweist sich als ein verbündeter Track von "Lego Ring": Der agile Bass ist auch hier dominant, die Stimmung bleibt dadurch und durch ein klar sprudelndes Piano und ein agiles Schlagzeug jedoch durchgehend belebend-frisch. Power-Pop mit mächtigem Groove, selten, anregend und zur Nachahmung empfohlen!

    Die künstlich veränderte, von menschlichen Vibrationen abgewandte Stimme zeigt bei der kurzen Ballade "Feeling Good Today" erneut ihre gewöhnungsbedürftige, aber im Endeffekt pikante Seite. Faye wendet bei dem Stück einen Kunstgriff an, um trotz des fremdartigen Gesanges empathisch, aber völlig frei von Sentimentalität über einfache Genüsse berichten zu können. Und wie sich zeigt, kann das auch bedeutend klingen, man denke in diesem Zusammenhang nur an "Perfect Day" von Lou Reed.

    Der Song "Underdressed At The Symphony" wurde mit reichlich melancholischer Patina ausgestattet. Die Pedal-Steel-Gitarre breitet einen sehnsüchtig schmachtenden Klangteppich aus, auf dem Faye Webster traumwandlerisch zartfühlend ihre leidenschaftliche stimmliche Sensibilität ausbreitet. Der Track wird daneben mit ergreifenden, Sternschnuppen-artig auftauchenden, unerwarteten Einblendungen gespickt, sodass das Lied nicht in Sentimentalität erstarren muss. Vielmehr blüht Hoffnung und Freude im Verborgenen. Die Zuversicht bahnt sich jedoch dezent, aber unaufhaltsam ihren Weg zur Oberfläche der Noten. Wäre das Stück noch zwei Minuten länger, würde die Atmosphäre wahrscheinlich in pure Freude umschlagen.

    Faye Webster macht ausgehend von einem hohen Qualitätsstandard noch einen weiteren Schritt nach vorn. Daraus ergibt sich ein ausnehmend interessantes und schönes Album. Stil-Zwänge werden ausgetrickst, kompositionstechnische Herausforderungen gesucht und emotionale Kontraste gerne wahrgenommen. "Underdressed At The Symphony" hält unterschiedlich ausgeprägte Facetten der psychischen Erregtheit bereit. Die Künstlerin erweist sich als souveräne, originelle Gestalterin mit Herz und Hirn. Ihre Beziehungs-Analysen drehen sich nicht nur um die Gestaltung und die Fallstricke in Zweierbeziehungen, sondern sind immer auch Selbstreflexionen, durch die Erkenntnisgewinne erzielt werden sollen.

    Die zehn Lieder von "Underdressed At The Symphony" weisen keinerlei Schwächen auf, wurden geschickt zusammengestellt und inspirieren dazu, sich das Art-Pop-Werk aufgrund seines hohen Suchtfaktors immer wieder in Gänze anzuhören. Faye Webster ist ein ungemein charakterstarkes, scharmantes Werk gelungen, welches lange nachhallt und auch nach etlichen Hördurchgängen immer noch kleine, feine Details freigibt.
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    Beach Day Another Sky
    Beach Day (CD)
    May 29, 2024
    Sound:
    4 of 5
    Music:
    4 of 5

    Die Abhängigkeiten zwischen Text und Musik, welche extreme Emotionen hervorbringen, spielen bei "Beach Day" von Another Sky eine entscheidende Rolle.

    Es gibt endlich Nachschub von Another Sky, dem 2017 in London gegründeten Quartett, das 2020 ihr erstes Album "I Slept On The Floor" veröffentlichte. Das Werk enthielt zum Großteil interessanten Dream- und Art-Pop sowie kratzbürstigen Post-Punk. Im Mittelpunkt dieser spannungsgeladenen Musik befand sich die schneidend intensive, teils verwirrend extravagante Sängerin Catrin Vincent. Sie lässt sich weder stilistisch noch geschlechtlich oder emotional eindeutig zuordnen und das ist gut so. Besonders eindringlich und herausfordernd sind ihre Falsett-Gesangs-Exkursionen, die die Hör-Nerven unter Umständen mächtig anstrengen können.

    Hohe Gesangs-Töne offenbaren eventuell Einblicke in eine mysteriöse Zwischenwelt: Geschlechter-Rollen verschwimmen in einem Bereich, in dem irdische und überirdische Erscheinungen sowie psychische Innen- und Außenansichten auftauchen. Eine Stimme, die Rock-Musik und Kunstlied bedienen kann, nimmt dadurch verschiedene Gestalten an. Wir befinden uns dann in einem Wirbel aus Geräuschen, der aus einer Vielzahl von Gefühlsregungen gespeist wird: Sind das eventuell die Klänge des Leidens oder doch der Lust? Wird etwa tiefes Entsetzen oder vielleicht eher heftiges Erstaunen ausgedrückt? Alles ist möglich, nichts muss so sein, wie es beim ersten Eindruck erscheint. Glaubwürdigkeit bestimmt das Handeln. Die textlichen Aussagen klären in der Regel über Zusammenhänge und Zuordnungen der Wahrnehmungen auf. Verletzlichkeit, Angst, Zorn, Mut und Willensstärke haben die Gedanken von Catrin Vincent beeinflusst und tragen zum kontrastreichen Eindruck von "Beach Day" bei.

    Das flexibelste Instrument, das es gibt, ist die menschliche Stimme. Sie demonstriert hier ihre Wandlungsfähigkeit und Macht. Und im Einklang mit gleich gesinnten, eingestimmten Instrumentalisten kann daraus ein überzeugendes, packendes, gediegen-verzückendes Gesamtpaket entstehen.

    Der Song "Beach Day" schleicht sich vorsichtig aus dem Nebel ins Licht. Er wartet mit absurd übertriebenem, jubilierendem Gesang auf, der sich mehr und mehr als Markenzeichen durchsetzt. Coole E-Gitarren-Akkorde, ein beharrlich-unauffällig klopfendes Schlagzeug, ein stützend-verbindender, sich energisch aufschwingender Bass und glitzernde Keyboard-Verzierungen erzeugen eine erwartungsvolle Stimmung, die sowohl vertraute als auch exotische Akzente bereithält.

    Der Falsett-Gesang begibt sich für "The Pain (Makes Me Feel Like I'm Alive)" in seltsame Höhen, sodass befürchtet werden muss, dass die Stimme plötzlich versagen könnte oder wegen der bizarren Schwingungen Glas zum Bersten gebracht wird. Unterschiedlich stark galoppierende Momente laufen hintereinander ab, was zu beflügelnden Effekten führt. Diese zeigen sich in gitarrenlastigen Passagen mit zerrenden Ausbrüchen, die dem Track eine prickelnde Schärfe verleihen. Es geht inhaltlich darum, mit sich ins Reine zu kommen, also auch darum, mit den Fehlern der Vergangenheit wohlwollend zum eigenen Nutzen abzuschließen.

    Das Prinzip der sich überlagernden Gegensätze - ein Yin & Yang der Gefühle - setzt sich fort und zieht sich wie ein roter Konzept-Faden durch das Album.

    Nach einer ungeduldig wirkenden Einleitung brechen brachiale, vehement zupackende Grunge- und Heavy Rock-Klanggewitter-Schübe über "A Feeling" herein, die von Augenblicken der Einkehr unterbrochen werden. ""A Feeling" entstand nach einem Gespräch mit einem Ultrakapitalisten. Ich habe meinen Job durch den Lockdown verloren und sie sagten, ich solle akzeptieren, dass es meine Strafe dafür sei, "einfach nicht hart genug gearbeitet zu haben"". So kommentiert Catrin Vincent die Motivation zur Entstehung des Songs. Kein Wunder, dass er so viel Wut enthält.

    Der sprudelnd frische Pop-Punk "Uh Oh!" mag es übermütig und spielt flankierend mit futuristischen Effekten. Die Musiker finden sogar vor ungebremstem Tatendrang kein schonendes Gegengewicht zu ihrem wilden Eifer. Allerdings wird auf eine aufreizend hohe Lead-Stimme als Stimulation verzichtet.

    Ausgleichende balladeske Ausdrucksformen tragen für "I Never Had Control" zu einem sich in leidenschaftlicher Hingabe suhlendem Stück bei. Die Essenz des Leidens, der Verzweiflung und des Flehens finden sich in Noten wieder, die vor Inbrunst vibrieren. Gefühlslagen von schmerzlicher Intensität treten hervor und hinterlassen eine fiebrige Erregung inmitten von hinreißend erblühender Schönheit.

    "Death Of The Author" entpuppt sich als Wolf im Schafspelz. Über eine lange Zeitspanne hinweg täuscht der Song so etwas wie eine kontrolliert-seriöse Folk-Rock-Atmosphäre vor. Bis dann plötzlich alle Dämme zu brechen scheinen und mächtige Sound-Wände eine Lärm-Flutwelle erzeugen.

    ""Burn The Way" wurde nach einem Gespräch mit jemandem geschrieben, der den Klimawandel leugnet. Es geht um das Gefühl, machtlos zu sein und vor dem Verhalten einer Person davonlaufen zu müssen, bevor man ihre Realität annimmt", erklärt die Komponistin. Das Lied wirbt für sich mit peitschend-dröhnenden Attacken, die den Weg für hymnische Gesangseinlagen freimachen. Der Track benutzt alarmierende, elektrisch verstärkte New-Wave-Tonfolgen, die Ideen von Killing Joke, Siouxsie & The Banshees und The Comsat Angels einbeziehen und feiern.

    Beim aggressiven "Psychopath" findet man überwiegend breitschultrigen Hardrock im Gepäck, der von einem nach vorn gemischten, grob-massivem E-Bass angetrieben und von giftigen, gehetzten E-Gitarren dominiert wird. Aus der Auseinandersetzung mit den Taten des bekannten Psychopathen quillt Verachtung heraus und gipfelt in der Aussage: "Wie konntest du das all deinen Freunden antun?"

    Minimalistisch-hypnotische Partituren lassen "Playground" vordergründig unnachgiebig erscheinen. Durch den konzentrierten, empathischen Gesang verliert der Song jedoch seine strenge Form und wächst zu einem rührend-erregendem Erlebnis heran.

    Schwungvoll, beinahe tanzbar, geht es bei "City Drones" zu. Der kompakt gestaltete Track baut ordentlich Druck auf und hält diesen bis zum Schluss unbeirrt und konstant aufrecht.

    Der Refrain von "I Caught On Fire" begibt sich auf leisen Sohlen, fast unmerklich, sozusagen hinterlistig, auf den Weg ins Gehirn. Er überlistet dabei die natürlichen Schutzmechanismen, die vor allzu romantischen Schnulzen-Angriffen schützen sollen und nistet sich gefühlvoll-gefällig ein.

    "Star Roaming" kann auf diesem Gebiet nicht überzeugen, sucht melodisch und vom Songaufbau her eine gewisse U2-Nähe und verliert sich dadurch in lauen Allgemeinplätzen.

    "Star Roaming" geht dann nahtlos in das meditativ-sphärische "Swirling Smoke" über, das sich vorsichtig Minimal Art-Rhythmen einverleibt, ohne dabei als typische Electronic-Dance-Music durchzugehen.

    Die Kompositionen auf "Beach Day" verströmen den herben Duft des Aufruhrs und des Zweifels. Deshalb traut man auch den lieblichen Passagen nicht über den Weg, weil meistens eine verunsichernde Bedrohung in der Luft liegt. Jack Gilbert (Gitarre), Naomi Le Dune (Bass), Max Doohan am Schlagzeug und Catrin Vincent als Sängerin, Pianistin und Song-Autorin haben eine ganze Reihe von merkwürdig verschachtelten Psycho-Drama-Kombinationen auf Lager. Das mag man gelungen, oder nicht nachvollziehbar oder zu anstrengend finden, auf jeden Fall ist das Vorgehen der Gruppe im besten Sinne des Wortes als progressiv, also fortschrittlich, zu bezeichnen.

    Nachdem die Band nach einer Überschwemmung ihr Equipment verloren hatte, war die Moral am Boden. Aber man darf ruhig an Wunder glauben, denn ein Pfarrer, der ein begeisterter Musikfan war, stellte die Krypta seiner Kirche als Studio zur Verfügung und trotz aller Einschränkungen, Entbehrungen und Schwierigkeiten durch die Lockdowns ging es dadurch weiter.

    Another Sky haben ihre Ausnahme-Stellung mit "Beach Day" gefestigt. Sie sind eine gute Adresse für Menschen, die glaubwürdige Musik mit Ecken und Kanten suchen, in denen heftige Gefühlsausbrüche, stilistische Verrenkungen und extravagante Schlenker als Sinn bildende Provokationen zu Hause sein dürfen.

    Bei "Beach Day" geht es inhaltlich um die "glühende Wut, die dich nach innen und tiefer in dich selbst führt, sowie um Ängste und all die verborgenen Wahrheiten, die du verzweifelt zu verbergen versuchst, während du dich selbst findest", lautet eine zusammenfassende Erklärung der Gruppe.

    Das Quartett geht dahin, wo es weh tut. Es führt aber auch wohltuenden Balsam mit sich, um die entstandenen Wunden zu versorgen. "Beach Day" plagt sich mit ernsten Problemen. Ein Tag am Strand kann dann dabei helfen, die Welt etwas entspannter zu sehen.
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    Video Days Cape Sleep
    Video Days (CD)
    May 29, 2024
    Sound:
    4 of 5
    Music:
    4 of 5

    Pop-Musik, die leicht und kultiviert erscheint. Ein schwieriges Unterfangen, von Cape Sleep souverän umgesetzt.

    Manche musikalischen Veröffentlichungen sind wie Visitenkarten. Sie sind kompakt, verzichten auf ausschweifende Darstellungen, halten sich an das Wesentliche und machen neugierig darauf, demnächst mehr von den Vortragenden zu erfahren. So verhält es sich auch mit "Video Days" des niederländischen Musikers Kim Janssen, der sich nach drei Platten unter eigenem Namen nun als Cape Sleep vorstellt. Mit neunundzwanzigeinhalb Minuten Laufzeit ist das Werk relativ kurz geraten, hinterlässt aber dennoch einen deutlichen, aussagekräftigen Eindruck der ästhetischen Ideen des Künstlers.

    Janssen erweist sich als umtriebiger, freigeistiger Gestalter und diese Toleranz spiegelt sich auch in den Klängen seiner Pop-Musik wider. Sie schöpft aus mehreren Epochen, hätte also auch so ähnlich in den 60er- oder 70er-Jahren entstanden sein können. Die harmonische Stärke des damaligen Adult-Pop von beispielsweise The Association oder The Young Rascals lebt bei "Video Days" unter Berücksichtigung von impulsiv-kräftigen Rhythmusschüben beschwingt weiter. Was die Lieder aber zeitlos macht, ist ihr Qualitätsanspruch an eine einschmeichelnde, aber dennoch kluge Melodieführung, einen draufgängerischen, einnehmenden Refrain und interessant-volltönende Arrangements. Einfallslose, ausgelutschte Ideen haben da keine Chance, clevere Unterhaltungs-Tricks schon.

    Bei den aktuellen Aufnahmen handelt es sich um wohlklingend-raffinierte Ton-Konstruktionen, wie sie über die Jahrzehnte hinweg in ähnlicher Form und in unterschiedlichen Genres immer wieder gerne aufgegriffen werden. So wie in den 1980er-Jahren durch Stephen Bishop oder in den 1990er-Jahren von Mac McAnally. Die Einflüsse, Referenzen und Retrospektiven in der Pop-Musik bewegen sich eben in Wellenbewegungen, wie es im Buch "Pop steht Kopf" anhand von zehn "Belegen" exemplarisch dargelegt wird.

    Leichtfüßig, nicht leichtgewichtig, unter Hinzunahme eines weichen, runden Gesang-Stils, tänzeln die Songs durch die Jahreszeiten. Sie flirten mit der warmen Witterung, retten ihre milde Ausstrahlung aber bestimmt noch in den Herbst und Winter hinüber. So wie es ähnlich auch Jimmy Buffett vermochte. In dessen Liedern - auch den traurigen - schwingt immer die Sonne Floridas mit und die Tage werden dadurch zu lässigen "Floridays". Textlich vermischen sich erlebte, erträumte und fantasierte Ereignisse und Gedanken, sodass die Analyse der Poesie zur Herausforderung gerät. Ein weiteres Indiz dafür, dass diese Pop-Musik trotz der glatten Oberfläche interessant ist.

    Als verkleideter Marsch-Rhythmus schleicht sich "Telephone" langsam, aber wirkungsvoll in Gefilde vor, die in Harmonie gebadet und einen stillen Optimismus gepachtet haben. Aufeinander geschichtete Takte verwirren rauschhaft die Sinne und der seriös-geschmeidige Gesang bildet die elastische Gleitcreme, auf der der Song in Richtung Glückseligkeit rutscht. Kim Janssen singt nämlich sowohl mit besänftigender, natürlicher als auch mit froh gestimmter, leicht verfremdeter Stimme. Stellenweise ist er sogar mit sich selbst im Duett zu hören. Das verschafft der Komposition einen flockig-aufgelockerten Aspekt, der wie Mousse au Chocolat für die Ohren wirkt. Korrespondierend dazu ertönen Sequenzen aus dem reichhaltigen Keyboard-Arsenal, die wahlweise mystisch-wallend oder übermütig-hüpfend daherkommen. Kein Widerspruch: Schließlich liegen im richtigen Leben Spaß und Ernst ja auch oft eng beieinander.

    Die Dichte der Instrumentierung ist bei den "Video Days"-Tracks oft verblüffend hoch, sie wirkt wegen einiger geschickt gesetzter Tempo- und Dynamik-Abstufungen allerdings nicht übertrieben aufgebläht. Das gilt auch für "Vienna In The Rain", wo die anfänglich markant heraus gespielte Dramatik ausschließlich dazu dient, die Aufmerksamkeit zu schärfen. Eine angespannte Stimmungslage führt oft in dunkle Abgründe, hier trägt sie zum Aufbau eines würdevoll verzierten Gefühlsausbruchs bei.

    Für die Power-Pop-Ballade "Boy Scout" baut das Schlagzeug einen Groove auf, der Break-Beat-Motive andeutet, jedoch hauptsächlich ein stetiger Antreiber, seriöser Unruhestifter und verbindender Partner ist. Dieser psychedelisch schwirrenden Konstruktion werden durch elektronisch erzeugte Töne und durch ein verwehtes Steel-Gitarren-Jauchzen leidenschaftliche Sinneseindrücke eingehaucht. Sie stehen im Kontrast zum abgeklärten, ungekünstelten Gesang, was in Summe zu einem erregt-geheimnisvollen Erlebnis führt.

    Das Zusammenspiel von monotonen Drums und lieblichen Keyboard-Akkorden führt bei "The Movers" zu einem prickelnd-aufreizenden Kontrast. Ähnliches gilt für die Kombination von brummend-grollendem Bass und schmerzhaft-leidendem Falsett-Gesang. Das Stück mag es, wenn es sich romantisch-verklärt anhört und verarbeitet dafür Trompeten-Fanfaren, die an Choräle von Johann Sebastian Bach und an reife Beatles-Arrangements erinnern.

    "I Want To Be Your Friend" erweist sich als ein ideales Transportmittel für Glücksgefühle und ist dem Song-Titel entsprechend hoffnungsvoll gestimmt. Das zuversichtlich gestimmte Lied klingt somit vortrefflich nach einem passenden Soundtrack für einen Frühling im Freien.

    Die Stärke von "Your House" liegt in einem unwiderstehlich attraktiven Refrain, der sich fest im Hirn einnistet und unerwartet ins Bewusstsein gespült wird, auch wenn das Lied schon lange verklungen ist. Der prominent zur Schau gestellte, sommerlich-sonnige und sanft-entspannte Charme zeigt dabei herzerwärmend freundliche Züge.

    "Cape Canaveral" wurde als hymnisch-ausschweifender Track mit hypnotischen Takten, sprudelndem Schlagzeug, drängelnden Synthesizer-Ausdünstungen und mahnendem Gesang konzipiert. Es erfordert wegen der zwischenzeitlich wie Zwiebelschalen aufgeschichteten Soundwände eine hohe Konzentrations-Bereitschaft, um alle verwendeten Zutaten erfassen und separieren zu können.

    Als rauschendes Finale erweist sich das filmreif inszenierte "The Afternoons", das andächtig beginnt, dann aber glitzerndes Klang-Lametta in Form von hochgestimmten Geigen-Tönen und feierlichen Trompeten bereithält.

    Die "Video Days" beziehen sich auf Lebens-Phasen, in denen wir zurückblicken, Erkenntnisse bekommen oder Visionen ablaufen lassen. Kim Janssen zeigt bei seiner akustischen Untermalung Vorlieben für große Gesten, einen Hang zu emotionalen Überschwangs-Handlungen und ein Talent für die Gestaltung von üppigen Arrangements. Diese Zutaten bereitet er zusammen mit einigen Gästen unter Heranziehung von Inspirationen aus dem bunten Pop-Universum akustisch liebevoll-volltönend auf. Das Ensemble taucht dabei in eine Gefühlswelt ein, bei der erfüllte und unerfüllte Erwartungen eine große Rolle spielen. Dadurch entsteht ein schmachtend-ergriffenes Kopf-Kino-Erlebnis. "Video Days" ist ein anschauliches Beispiel dafür, dass Easy-Listening kein Schimpfwort sein muss, sondern für kluge Schönheit stehen kann.
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    Blu Wav Grandaddy
    Blu Wav (CD)
    May 29, 2024
    Sound:
    4 of 5
    Music:
    4 of 5

    Andacht im Rahmen von bittersüßen Country-Folk-Serenaden: Das Projekt Grandaddy streichelt mit "Blu Wav" behutsam die Seele.

    Grandaddy ist im Kern Jason Lytle aus Kalifornien und Jason Lytle ist ein sympathischer Sonderling, ein Heimstudio-Tüftler, ein abenteuerlustiger, neugieriger Komponist, Arrangeur und Musiker. Ein Singer-Songwriter-Grenzgänger und ein Individualist, der unabhängig von Trends und Moden sein Ding durchzieht. Abgesehen von seinem Projekt Grandaddy ist Lytle auch Solo tätig und beteiligt sich an anderen Formationen wie Admiral Radley oder BNQT.

    Grandaddy besteht seit 1992 und nach einigen EPs erschien im Jahr 1997 der erste offizielle Longplayer "Under The Western Freeway". Das allwissende All Music-Portal beschrieb es damals als "ein ziemlich brillantes Album, das ein warmes, ernstes und rustikales Gefühl mit manchmal albernen Experimenten kombiniert". Auf dem neuen Werk, das erste seit "Last Chance" aus 2017, finden sich weder stürmische Rock-Ausbrüche noch anstrengende Experimente. Hektisches Getöse wurde weitestgehend durch friedvolle Intimität abgelöst.

    Jason Lytle lebt auf "Blu Wav" drei Vorlieben genüsslich aus: den Einsatz einer Pedal-Steel-Gitarre zur Steigerung von sehnsüchtig-traurigen Eindrücken, romantisch-tiefgründige Morricone-Western-Bass-Linien, die von weiten, stillen Landschaften künden und einen schunkelnd-wiegenden Rhythmus zur Herstellung von harmonisch-freundschaftlichen Gefühlen. Dazu erschallt die ausgeruht-weise Stimme von Lytle, die den Songs einen lieblich-tröstenden Schmelz verleiht, der unter die Haut geht. Und dann ist da natürlich wieder diese kurios-kreative Titel-Schreibweise, die es auch schon bei "The Sophtware Slump" (2000) und "Sumday" (2003) gab. "Blu Wav" steht als Synonym für eine Verschmelzung von Musikstilen wie Bluegrass mit New Wave, wobei New Wave Bestandteile nur dezent-sparsam zugeführt wurden - schon fast in homöopathischen Dosen.

    Die Ouvertüre "Blu Wav" verfügt über folkloristische Einflüsse, die von Texas bis nach Griechenland reichen und die heilsame Kraft der Gelassenheit als Triebfeder nutzen.

    "Cabin In My Mind" und "You're Going To Be Fine And I'm Going To Hell" sind wesentlich opulenter aufgebaut, wobei synthetische, wattige Hintergrund-Schleier, schmachtende Chorstimmen und eine jauchzende Pedal-Steel-Gitarre aus Tönen bittere Tränen entstehen lassen. Lytle begleitet diese Mini-Dramen gesanglich mit einem konstruktiven Weltschmerz, der sowohl mitfühlend als auch ermutigend ausgedrückt wird.

    Elektronische Spielereien gehören einfach zum Repertoire von Grandaddy dazu. Sie vertragen sich in Form von wenigen Spezial-Effekten und monotonen Drums ohne Berührungsängste mit der Wehmütigkeit des Country-Folk-Stücks "Long As I'm Not The One". Auch ein Großstadt-Cowboy kann schließlich zartbesaitet sein.

    Die Songs sind allesamt als feinsinnig - also empfindsam abgestimmt - zu bezeichnen. So kann es auch gelingen, dass ein sentimentales Lied wie "Watercooler" zu keiner Zeit als belanglos-rührselige Schnulze wahrgenommen wird, sondern seine anteilnehmend-sanfte Wirkung nicht verfehlt.

    Space-Sounds und sphärische Gesänge führen beim kurzen Intermezzo "Let's Put This Pinto On The Moon" die Gedanken dahin, wo es noch viele Rätsel zu lösen gibt, hinauf ins bisher unergründliche Weltall. Und plötzlich werden diese Gedanken als Verpflichtung zurückgespielt, trotz bescheidener Möglichkeiten jedes Einzelnen, erst einmal für eine bessere Welt zu sorgen.

    Beinahe schwerelos geistert "On A Train Or Bus" wie ein Wiegenlied durch den Äther. Zwischendrin kommt es bei dem Gebilde zu einer Reduzierung, wo kurz nur noch der Gesang in die Welt geschickt wird, was zu einem schreckhaft-verlorenen Moment führt, der durch die wieder einsetzenden Instrumente geheilt wird. Das zeigt, dass es im Leben immer gut ist, wenn es Mitstreiter gibt, die einen auffangen, wenn man völlig wehrlos dasteht.

    Mit einem unkontrolliert wilden Ausbruch beginnt "Jukebox App", der Song wird aber kurz darauf in ruhige Fahrwasser geleitet, wo er gemächlich dahingleitet. Dieser Ambient-Country bewegt sich in einer melodisch meditativen Dimension, die passgenau für dieses Trennungs-Szenario hergerichtet wurde.

    Aufnahmen von wilden Kojoten und piependen Satelliten (oder sind es Kontakt suchende Außerirdische?) begleiten das von Piano-Akkorden und rauschenden Synthesizer-Tönen getragene Zwischenspiel "Yeehaw Ai In The Year 2025".

    Bei "Ducky, Boris And Dart" handelt es sich um verstorbene Haustiere von Jason Lytle, denen hier mit einer vollmundig-geschmeidig und wechselweise üppig und schlicht begleiteten Country-Folk-Ballade gedacht wird. Ducky und Boris waren Katzen und bei Dart handelte es sich um einen Vogel, der gegen die Windschutzscheibe seines Autos flog.

    Geradezu feierlich-getragen verhält sich "East Yosemite", denn der weihevolle Gesang hat die suggestive Wirkung einer Predigt und die musikalische Begleitung zeigt sich dazu in weihevoller, förmlicher Ausstrahlung.

    Für "Nothin' To Lose" wird die Stimmung weiter herunter gedimmt und es entsteht eine nachtgraue, intime Schöpfung, die sich an den eigenen Haaren durch einen willensstarken, optimistischen Rhythmus aus der Niedergeschlagenheit befreit.

    Mit "Blu Wav Buh Bye", einer besinnlichen, instrumentalen Solo-Piano-Nummer, endet das Werk, das einen homogenen, altersweisen, ausgewogen-tiefsinnigen Eindruck hinterlässt. Man kann es auch einfach nur als schön bezeichnen.

    Dadurch, dass alleine sieben der 13 Songs und Intermezzi eine Walzer-Injektion erhalten haben, wirkt sich der Einsatz dieses Stilmittels auf das ohnehin schon melancholisch schwelgende Werk beruhigend-gemütlich aus. Es gibt kaum Hektik oder Aggression auf dem Album. Eher ein Bekenntnis zur Beschaulichkeit, Demut und Liebe, bei dem ein sensibel nachempfundenes Americana-Erbe die Gestaltung der Songs prägt. Und das auf eine Art und Weise, die nicht esoterisch einlullt, sondern zu Herzen geht und die Hörerschaft akustisch in den Arm nimmt. "Peaceful Easy Feeling" haben die Eagles mal einen Song genannt. Dieser Ausdruck und dieses Gefühl passt auch für "Blu Wav", einer Oase der Friedfertigkeit - wie gemacht für diese verrückte Zeit!
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    Cristal Medium Blue Lewis OfMan
    Cristal Medium Blue (LP)
    May 29, 2024
    Sound:
    4 of 5
    Music:
    4 of 5
    Press quality:
    4 of 5

    Lewis OfMan serviert mit "Cristal Medium Blue" einen sympathisch verschrobenen Retro-Sound-Cocktail.

    "Cristal Medium Blue" ist Teil einer Easy-Listening-Renaissance, die sich unter anderem auf den Space-Age-Sound der 1950er-, die psychedelischen Reize der 1960er-, den Soft-Rock der 1970er- und den Synthie-Pop der 1980er-Jahre beruft. Daneben finden zum Beispiel auch Karibik- und Disco-Rhythmen sowie Sunshine-Pop-Harmonien ihren Platz auf dem zweiten Album des in Frankreich geborenen Musikers Lewis OfMan.

    Der "Frisco Blues" ist eine Collage aus nachempfundenen Westcoast-Sound-Erinnerungen seiner Teenager-Vorlieben, die Santana und Crosby, Stills, Nash & Young hießen. Und dieses Konstrukt wird mit beiläufigem, belanglosem Kinder-Gesang, nachtgrauen Jazz-Anklängen, formelhaften Spoken-Word-Einwürfen sowie optimistischem, melodischem Lead-Gesang gepaart. Solch eine risikofreudig-wohlklingende Mischung, die sich um einen hohen Unterhaltungswert und gleichzeitig um eine bizarre Pop-Darstellung bemüht, gibt es selten zu hören. Wer sich noch an die Fusion-Band Mark-Almond (Jon Mark & Johnny Almond) erinnert, der hat eine ungefähre Vorstellung davon, was hier passiert. Lewis OfMan gibt quasi eine Visitenkarte von einigen seiner im Erfahrungs-Verbund gewachsenen Klangvorstellungen ab und macht damit neugierig auf das, was noch kommen mag.

    "Flowers In The Car" weckt in seiner stürmisch-freudigen Herangehensweise angenehme Erinnerungen an die feurig-verzerrten und dennoch eleganten E-Gitarren-Soli von Steely Dan ("Reelin` In The Years"), den aufgeweckten, rhythmisch aktiven Pop-Groove der Doobie Brothers ("Listen To The Music") und die hitzige Melodie-Verliebtheit der Posies ("Dream All Day").

    Wie eine manipulative Animation zu einem Jane-Fonda-Aerobic-Video aus den 1980er-Jahren wurde "Get Fly (I Wanna)" als eine von leidenschaftlichen karibischen Rhythmen getragene Salsa-, Disco- und Psychedelic-Pop-Darbietung leicht verdaulich und entschlossen arrangiert. Die Grenze zwischen Ernsthaftigkeit, Kitsch und Satire verschwimmt hier völlig, und das wahrscheinlich absichtlich. Besonders deutlich wird die Doppel- oder Dreifach-Deutigkeit, als zum Schluss bei Gastsängerin Gabriela Richardson aus "I Wanna Get Fly" ein "I Wanna Get High" wird - für das sie sich auch noch reumütig entschuldigt. Das Stück kommt ebenso lustig wie beschwingt rüber, ohne dabei albern zu wirken.

    Für den intim-verführerischen Folk-Soul "Come & Gone" überlässt Lewis OfMan große Teile des Lead-Gesangs Alaska Reid, mit der er sich auch sinnlich im Duett umgarnt. Heraus kommt dabei eine lasziv-dunkle, teils basslastige, teils glockenhelle Stimmung, wie sie zum Beispiel auch bei "Spooky" von Dusty Springfield vorherrscht.

    Auf kratzigem Vinyl wird zunächst die Vision eines uralten Liebesfilm-Soundtracks heraufbeschworen, bevor "El Amor" in ein Hörspiel mit Untermalung durch spanische Folklore abzweigt.

    Dies ist aber nur der Vorspann zu "Caballero", einem weiteren Weltmusik-Track, der effekthaschend aufbereitet wurde und in erster Linie für Spaß und Lebensfreude steht.

    Exotische, flirrende Klänge entführen das Stück "Cristal Medium Blue" dann in eine Welt, in der es sowohl freundlich-ästhetisch als auch märchenhaft-versponnen oder rauschhaft-abgehoben zugeht. Als Vergleich lassen sich die atmosphärisch verträumt aufgestellten Kompositionen der High Llamas und die einfallsreichen Spielereien von Stereolab heranziehen.

    Die multikulturell aufgewachsene Künstlerin Sofie Royer konnte für "Miles Away" als Lead-Sängerin gewonnen werden und sie stattet den lockeren Funk-Rock-Groove mit erotisch aufgeladenen Tönen aus.

    Elektronischer Minimalismus prägt "Hey Lou" und lässt den Track, der die Angst vor dem unaufhaltsamen Zeitverlust thematisiert, maschinell-kühl erscheinen. Gegen diesen Eindruck mag sich der Gesang nicht stemmen, der auch unter Hinzunahme der Stimme des Pariser Models Camille Jansen relativ unbeteiligt-übersättigt-gelangweilt klingt, was wohl den Coolness-Faktor erhöhen soll. Die E-Gitarre bringt dann jedoch Spritzigkeit ein, sodass die Bestandteile zusammen betrachtet für belebenden Kontrast und Attraktivität sorgen, was durch die Andeutung an den stoisch-hypnotischen Velvet-Underground-Sound noch gesteigert wird.

    Der ausladende Instrumental-Titel "Cruisin’" könnte in seiner künstlich durch Solo-Passagen angereicherten, pseudointellektuell dahinplätschernden Unverbindlichkeit als bloße "Fahrstuhl"- oder "Pausenfüller"-Musik abgetan werden und wirkt tatsächlich schon nach wenigen Hördurchgängen relativ sinnleer.

    "Highway" schmückt sich mit dem jugendlich-klaren Gesang von Lorely Rodriguez (alias Empress Of). Der Track versteht es vortrefflich, zwischen strahlendem Space-Rock, eleganter Bossa Nova und antreibenden Folk-Akkorden zu vermitteln. Und so entsteht ein Gebilde, das sowohl energetisch als auch empathisch überzeugt.

    "Eternity" zeigt sich danach unaufgeregt und erneut unbeeindruckt von gängigen Trends. Der Instrumental-Track könnte als Abspannhintergrund für einen Film taugen, denn man sieht vor dem geistigen Auge quasi etliche Namen langsam nacheinander hochrollen. In diesem Augenblick der emotionalen Leere gibt es keine Erwartungen mehr. Die Höhepunkte des Film-Geschehens werden allmählich ins Gedächtnis zurückgerufen und die Gedanken driften zunehmend in Richtung der nächsten Aktivitäten ab. "Eternity" stört diesen Ablauf nicht, setzt sich aber auch nicht im Gedächtnis fest. So ist der Song ganz nett, hinterlässt aber keinen bleibenden Eindruck.

    Gelobt sei, was Spaß macht: So könnte das Motto von "Cristal Medium Blue" lauten, denn Lewis OfMan packt lustvoll alles zusammen, was ihm in den Sinn kommt, völlig unabhängig davon, ob die Ideen offenkundig zueinanderpassen oder nicht. Es befinden sich nur wenige aktuelle Stil-Elemente darunter, das meiste läuft unter der Kategorie "Retro". Darunter sind auch Tonkombinationen, die nicht unbedingt höchsten künstlerischen Anforderungen genügen. Es ist eben nicht "alles Colt, was ballert", wie es schon in der 1970er-Jahre-Sketch-Serie "Klimbim" hieß (um den Retro-Begriff auch anderweitig einzusetzen). Aber die Mischung macht den Reiz aus, der hier in einer unberechenbaren Kombination aus angenehm merkwürdigem, angestaubtem Firlefanz besteht.

    Lewis OfMan beweist Mut, indem er größtenteils unmoderne, unter Umständen sogar als uncool oder seicht empfundene Musik frisch aufpoliert. Er präsentiert die Ausgrabungen charmant-ironisch, mit einem Selbstbewusstsein, als wären sie das nächste große Ding, sodass er durchaus wie ein Pop-Erneuerer erscheinen kann. Ganz nebenbei wird bei dieser Vorgehensweise zusätzlich belegt, dass die Popmusik von Einflüssen, Referenzen und Retrospektiven lebt, die wellenartig auftreten. Genauso, wie es im Buch "Pop steht Kopf" belegt und beschrieben wird.
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    Polaroid Lovers Sarah Jarosz
    Polaroid Lovers (CD)
    May 29, 2024
    Sound:
    5 of 5
    Music:
    3 of 5

    Der aktuelle Karriere-Schnappschuss von Sarah Jarosz dreht sich mit vermehrter Pop-Ausrichtung um die Liebe.

    Es gibt diese Künstler, die mit ihrem Auftreten den Raum für sich einnehmen und mit ihrer Stimme eine ultimative, über alle Maßen weise Darbietung präsentieren. So wie Matt Berninger (The National) oder eben Sarah Jarosz. Die 1991 in Austin geborene und nach New York jetzt in Nashville lebende Musikerin, wurde als musikalisches Wunderkind im Country-Folk- und Bluegrass-Genre gehandelt. Denn schon mit 12 Jahren stand sie als Mandolinen-Virtuosin mit den Szene-Größen Ricky Skaggs und David Grisman auf der Bühne. Als Sechzehnjährige erhielt sie einen Plattenvertrag und brachte zwei Jahre später ihr erstes Album "Song Up In Her Head" heraus. "Polaroid Lovers" ist jetzt ihre achte eigene Platte (neben einem Werk als I`m With Her mit Sara Watkins und Aoife O`Donovan) und beinhaltet einen Kurswechsel.

    Bei der ersten Single "Jealous Moon" handelt es sich im Grunde um einen stramm getakteten Track mit minimalistischen und psychedelischen Einlagen. Die ausgleichende Stimme von Sarah Jarosz schubst die Komposition vom Hard-Rock-Sockel und lässt sie als vollmundig-bittersüßen Country-Pop mit bodenständigen Bluegrass-Mandolinen-Verweisen erstrahlen. Der Track verfügt über einen aufmunternden Rhythmus, beschwichtigenden Gesang, einer lieblichen Melodie, einem süffigen Refrain und inspirierenden Soli. Das Ergebnis hinterlässt eindeutige Ohrwurm-Qualitäten und ist eine attraktive Bewerbung für die Pop-Charts. "Es ist ein Song über die Zeiten, in denen die Teile von uns selbst, die wir zu verbergen versuchen, an die Oberfläche kommen und wir keine andere Wahl haben, als auf dieser Welle zu reiten", verrät die einfühlsame Musikerin.

    "When The Lights Go Out" und "Good At What I Do" lassen die lockere Geschmeidigkeit der Fleetwood Mac-Songs des Gespanns Stevie Nicks und Lindsay Buckingham auferstehen. Die harmonischen Melodien legen behutsam ihre schützenden Arme um die Texte und Sarah fungiert dabei als achtsame Wortführerin. Die Band sorgt unterdessen für eine angemessene, liebenswerte Behaglichkeit. "Wer bist Du, wenn der ganze Glanz und die Aufmerksamkeit nicht mehr auf Dir ruht? Wer bist Du wirklich?", das ist die Fragestellung, die sich hinter den Worten von "When The Lights Go Out" verbirgt. "Good At What I Do" beschäftigt sich hingegen mit dem Thema Selbstzweifel.

    Die optimistisch gestimmte, freundlich-aufgeschlossene Country-Rock-Seligkeit der Desert Rose Band um Chris Hillman und Herb Petersen stand eventuell bei "Runaway Train" als Anregung zur Verfügung. Inhaltlich wird die prickelnde Hochstimmung zu Beginn einer Beziehung heraufbeschworen.

    Die rhythmisch lebhaft auftrumpfende Ballade "The Way It Is Now" schafft es nicht, gesanglich auf kitschige Schwärmerei zu verzichten. Die sauber-gefühlvolle Instrumentierung und die nachhaltigen Gedanken rund um die Würdigung der guten Dinge des Lebens können nicht darüber hinwegtäuschen, dass das Stück trotz aller Bemühungen kompositorisch einen faden Beigeschmack hinterlässt. Das Pendel schlägt leider im Endeffekt zuungunsten von seichter Sentimentalität aus.

    "Dying Ember" zeigt, wie es besser geht. Eine kompakte Schlagzeug-Sequenz hebt den Song aus der Gefahr einer vermeintlichen Klebrigkeit heraus. Die E-Gitarre packt energisch zu und Sarahs Gesang ist auf einem Niveau angesiedelt, das sinnliche Überlegenheit signalisiert. Dem Song liegt die Möglichkeit zugrunde, "Hoffnung in einer Beziehung zu finden, wenn es sich so anfühlt, als würde sie sich dem Ende nähern."

    "Columbus & 89th" ist ein zärtlich-sensibler, feingliedriger Country-Folk, der einer sphärisch-jazzigen Auslegung eines transparenten Roots-Music-Sounds begegnet. "Dieser Song birgt so viel Nostalgie in sich... er trauert gleichzeitig um den Lauf der Zeit (gemeint sind die sieben Jahre in New York) und freut sich darüber, wohin er führen kann (durch die Umsiedlung nach Nashville)."

    Für "Take The High Road" wird eine Stimmung simuliert, die sich im Hintergrund mystisch-verschwommen zeigt, sich aber vordergründig aufgeweckt-vorpreschend präsentiert. "Es geht darum, nicht an sich selbst zu zweifeln und seinen Selbstwert anzuerkennen", lässt Sarah wissen.

    Die bedächtige Seite bleibt, aber das Tempo wird heruntergefahren: "Don’t Break Down On Me" bindet den Eindruck von Verzweiflung und Sehnsucht in Noten, hat das Licht am Ende des Tunnels aber stets im Blick. Die Steel-Gitarre hinterlässt dazu als Orientierung schmückende, schnell verglühende, gleißende Lichter am Firmament. Der Track befürwortet, in einer schwierigen Phase einer ehemals herzlichen Beziehung nicht vorschnell aufzugeben, sondern zunächst für den Erhalt zu kämpfen.

    Der erste Eindruck: "Days Can Turn Around" klingt wie die Fortsetzung von Neil Youngs "Harvest Moon", also wie ein schlurfend-langsamer Pseudo-Country-Walzer, der alle Zeit der Welt für sich gepachtet hat. Das Motto des Stücks lässt sich auf die Binsenweisheit verkürzen, dass auch die belastendsten Zeiten einmal vorbeigehen. Der zweite Eindruck bestätigt den ersten Eindruck.

    Die melancholische Eleganz der Bossa Nova hat Einzug bei "Mezcal And Lime" gehalten. Der Song lässt es sich zwischen sonniger Leichtigkeit und Folk-Jazz-Raffinesse gut gehen und spricht somit sowohl Soft-Rock- als auch Hippie-Folk-Anhänger an. Er soll "das Gefühl eines nie endenden Sonnenuntergangs mit einem Cocktail in der Hand" vermitteln.

    Sarah Jarosz ist wahrlich in der Lage, magische Momente zu erzeugen. Nicht nur auf ihren eigenen Alben, sondern auch als Gast bei anderen Künstlern. So wie bei "You Can Close Your Eyes" auf "Cover To Cover" aus 2022 der Brother Brothers. Ihr Harmonie-Gesang ist dort zwar zurückhaltend, aber voller Empathie und dadurch unglaublich wirkungsvoll. Herrlich!

    Als versierte Singer-Songwriterin nutzt die vierfache Grammy-Gewinnerin für "Polaroid Lovers" die Möglichkeiten des Americana-Sounds als Vehikel, um die Tiefe ihrer Emotionalität in einem Pop-Umfeld adäquat darstellen zu können. Dabei zeigt sie sich in der Vertonung sowohl stilvoll-anspruchsvoll als auch eingängig-unterhaltsam.

    Konzeptionell gibt es eine Klammer, die den Album-Titel erklärt: "Was ich an einem Polaroid-Foto so liebe, ist, dass es etwas Flüchtiges festhält, aber gleichzeitig macht es diesen Moment ewig haltbar. Es machte Sinn als Titel für ein Album, bei dem alle Songs Schnappschüsse von verschiedenen Liebesgeschichten sind und man das Gefühl hat, dass sich die Zeit trotz dieser Vergänglichkeit ausdehnt".

    Der Schwenk in Richtung Mainstream-Pop ist Sarah Jarosz mit "Polaroid Lovers" mit kleinen Einschränkungen gut gelungen. Sie hat sich nicht als trendiges Abziehbild vereinnahmen lassen, bleibt glaubwürdig und verleugnet nicht ihre musikalischen Wurzeln. Was die realisierbare, starke, durchdringende Wirkung ihrer Sensibilität angeht, wäre allerdings an der einen oder anderen Stelle etwas mehr dunkle Patina statt wehleidiger Romantik angebracht gewesen.
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      Polaroid Lovers (LP)
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    One comment
    Anonymous
    Jun 2, 2024

    danke!

    Eine der großartigsten Rezensionen, die ich hier bei jpc gelesen habe!
    Wonder, Won't You? Harrison Storm
    Wonder, Won't You? (LP)
    May 29, 2024
    Sound:
    4 of 5
    Music:
    4 of 5
    Press quality:
    4 of 5

    Harrison Storm beschwört mit schmerzhafter Sensibilität und rhythmisch aufmunternden Lichtblicken die heilenden Kräfte von Klängen.

    Über fünf EPs hinweg, die zwischen 2015 und 2022 veröffentlicht wurden, hat der australische Singer-Songwriter Harrison Storm seine Verletzlichkeit kultiviert, bis er nun am 12. Januar 2024 sein erstes vollständiges Album "Wonder, Won`t You?" herausbringen konnte. In zehn Songs breitet er seine Vorstellungen von der Liebe und seine Innenansichten aus und musiziert dazu gefühl- und geschmackvoll im Sinne eines nachdenklichen Troubadours, der Harmonie und Eigenart zu einer innigen Kompositionsstruktur zusammenschweißt.

    Der Opener "Warm A Cold Heart" gibt die grobe Richtung vor. Der liebliche, melodische Pop-Song bezieht seine Seriosität aus minimalistisch ausgerichteten rhythmischen Strukturen in Verbindung mit einer wirklich herzerwärmenden, sympathischen Stimme. Wie aus dem Song-Titel hervorgeht, führt der akustische Kontrast aus herzlicher Zuneigung und kalter Abneigung zu einer kreativen Reibung, bei der die Empathie als Sieger hervorgeht. Die Kernaussage des Stückes ist: "Alles, was ich von der Liebe wissen will, ist, wie man ein kaltes Herz erwärmt."

    "Stone" setzt dieses Konzept fort, gleitet durch den Falsett-Gesang jedoch ins Kitschige ab, verlässt also die authentische, melancholisch-süße Basis des Vorgängers. Manchmal ist es eben nur ein kleiner Schritt zwischen ehrlicher Ergriffenheit und aufgesetzter Anteilnahme. Inhaltlich geht es währenddessen um Zweifel in einer Beziehung, die zum Bruch führen.

    Genau umgekehrt verhält es sich mit "My Way Home": Die Partnerschaft verleiht in diesem Beispiel Sicherheit. "Wenn ich ehrlich bin, ist diese Liebe der Flug, den ich wollte. Und ich weiß, dass sie uns überall hinbringen könnte, wo wir hinwollen", berichtet der Protagonist voller Überzeugung. Qualitativ hat sich der Künstler wieder gefangen und erfindet ein Tongespinst aus elektronischen und akustischen Tönen, das als filigran und auch als versponnen bezeichnet werden kann.

    Unter den Namen "Daylight Sun", "In Good Time" und "Better With You" gibt Harrison Storm Folk-Songs zum Besten, die sich sowohl an die Intimität von Nick Drake als auch an die Lässigkeit des Soft-Rocks der Pousette-Dart Band und an die Verspieltheit solcher Folktronica-Acts wie Fink anlehnen.

    Bei "This Love" steht eine aktive, schwungvoll swingende rhythmische Komponente im Mittelpunkt, die der Nachdenklichkeit im Gesang entgegenwirkt. Auf diese Weise gerät der Song zu einem griffigen, kultivierten Ohrwurm mit Langzeitwirkung. Das Lied beschreibt "die blinde Anziehungskraft, die eine neue romantische Verbindung auf dich ausüben kann."

    "Life Ain't Ordinary" badet in Selbstmitleid und Tristesse, durchschreitet dabei einige Jammertäler, ohne zu guter Letzt Licht am Ende des Tunnels zu signalisieren. "Versuche, das Licht zu finden. Stolpere vorwärts, wenn die Beine schwer sind", heißt es ermutigend. Und wieder fällt in der poetischen Ausgestaltung der Begriff "Zuhause", der bei Harrison als Synonym für Geborgenheit und Zielerreichung verwendet wird. Harmonie ist ihm also wichtiger als Abenteuerlust.

    Für "The Wind And The Wild" singt Harrison mit sich selbst im Duett: Seine hohe Stimmlage ist dabei prominent im Vordergrund vertreten und ein tiefer Zwillings-Gesang sorgt genauso wie zartes Synthesizer-Schwirren für angenehmes Grummeln im Hintergrund. Der schleppende Takt wird dabei manchmal durch lässige Piano-Akkorde und knurrende Bass-Töne angereichert.

    Überlegene Coolness, spritzige Raffinesse und eine romantisch-sinnliche Melodik machen "Tomorrow" aus. Damit erinnert das Stück an die ebenso gelagerten, eleganten und sinnlichen Glanzstücke von Junip, dem Projekt von José González. Bei dem Track "... geht darum, sich von der Realität nicht unterkriegen zu lassen, sondern sie zu akzeptieren und mit ihr zu leben".

    Harrison Storm mag es lieber leise als laut. Er wirkt introvertiert und legt Wert auf kontrastreiche Instrumentierungen und aussagekräftige Texte. Dass er sich dabei musikalisch in einem relativ engen, festgelegten Rahmen bewegt, stört nicht unbedingt - sofern man keinen stark abweichenden Sound pro Lied erwartet. Homogenität ist hier Trumpf, Vielseitigkeit würde die intime Stimmung wahrscheinlich ohnehin nur unnötig stören oder aushebeln.

    Der Musiker erklärt seine Kunst so: "Für mich hat Musik viel mit Selbsterkenntnis und Ehrlichkeit zu tun. Meine Geschichten beschäftigen sich viel mit mir, aber auch mit dem Versuch, eine Verbindung zur Welt herzustellen. Als ich aufwuchs, konnte ich nie wirklich meinen Platz finden oder mich einfügen - und das liegt daran, dass ich übermäßig sensibel bin, was meiner Meinung nach eine gute Sache ist. Wenn ich einen Song schreibe, hilft es mir zu erkennen, dass all diese Emotionen und Erkenntnisse einfach Teil der menschlichen Erfahrung sind, und dass es okay ist, diese schweren und introspektiven Gedanken zu haben".

    Deshalb sollte man den Titel "Wonder, Won`t You?" hinsichtlich seiner eigensinnig-introvertierten Bedeutung ernst nehmen: Bitte nicht wundern, wenn hier jemand unbeeindruckt von marketingtechnischen Kalkülen seinen individuellen, kompakten Weg geht. Zum perfekten Entertainment fehlt nur noch etwas Feinschliff im Hinblick auf einen insgesamt ungekünstelten Ausdruck. Dann kann vielleicht schon das nächste Werk vollständig überzeugen und zum introvertierten Singer-Songwriter-Klassiker werden!
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    • Wonder, Won't You? Harrison Storm
      Wonder, Won't You? (LP)
    The Bath Forum Concert Van Der Graaf Generator
    The Bath Forum Concert (CD)
    May 26, 2024
    Sound:
    5 of 5
    Music:
    5 of 5

    Van Der Graaf Generator ist immer noch die intelligenteste, spannendste und energiereichste Art-Rock-Band der Welt. Ende der Durchsage.

    Heimspiel für die englischen Art-Rock-Helden, die leider vom Quartett zum Trio geschrumpft sind, da der grandiose, stilprägende Saxofonist/Flötist David Jackson das Ensemble 2006 verlassen hat. Am 1. März 2022 feierte die Formation das Ende ihrer Europa-Tournee in Bath (Südengland), wo ihr Chefdenker Peter Hammill zu Hause ist. Hammill ist jetzt 76 Jahre alt, schon seit fast 60 Jahren öffentlich musikalisch aktiv und hat nichts von seiner Kreativität eingebüßt. Klar ist seine Stimme nicht mehr so dynamisch wie mit 20, aber er gibt sich keine Blöße und setzt seinen Gesang so ein, dass er die Töne sicher modulieren kann. Und das hört sich immer noch außergewöhnlich und elektrisierend an.

    Obwohl der Meister schon so lange im Geschäft ist, gibt es nicht viele Van Der Graaf Generator-Konzerte in guter Tonqualität. Was bei einigen Wiederveröffentlichungen der klassischen Alben als Bonus-Live-Aufnahmen präsentiert wurde, war klanglich eine Frechheit. Aber "The Bath Forum Concert" klingt transparent, klar und volltönend.

    Hammill & Band hatten ihre besten Jahre in den 1970ern, aber dieser Mitschnitt kann sich auch hören lassen. Weil die aktuellen Versionen von den Studio-Aufnahmen abweichen, weil die Band perfekt interagiert und weil es die Musiker handwerklich immer noch drauf haben. Das ist erstaunlich, denn schließlich handelt es sich um komplexe Musik, die schwer zu spielen ist.

    Der Auftritt beinhaltet einen Mix aus Band-Standards und Liedern, die nach der Reunion im Jahr 2005 entstanden sind. Spätestens, wenn Hammills quengelnde, energische Punk-Gitarre mit den schäumenden Orgeltönen von Hugh Banton und den kreativen Schlagzeug-Sounds von Guy Evans zu einer Tour de Force ansetzt, ist es wieder da, das Kribbeln, was jedem Fan Gänsehaut beschert. So zum Beispiel geschehen beim energisch pulsierenden "La Rossa", dem ersten Track auf der zweiten CD. In diesem Fall vermisst man nicht einmal den Ur-Van Der Graafen David Jackson am Saxofon (ansonsten schon eher), für den dieser Titel eine Paradenummer war.

    Aber los geht das Konzert mit "Interference Patterns" vom 2008er-Album "Trisector". Die Band versucht, den nervösen Minimal-Art-Rock Nerven anspannend auf die Spitze zu treiben. Das Instrumental-Gefüge läuft aber noch nicht vollkommen homogen und rund ab. Ein etwas wackliger Beginn, der zur Findung genutzt wird. Dennoch: Ein Titel zum Luft anhalten und mitfiebern.

    "Every Bloody Emperor" musste unbedingt gespielt werden, da ging laut Hammill kein Weg vorbei. Denn am 24. Februar 2022 hatte Russland die Ukraine überfallen. Und Hammill trifft mit seinem allgemeingültigen, psychologisch präzise analysierenden und politisch anklagenden Text den Nagel auf den Kopf: "Das ist es, was uns alle trägt: der Glaube an die menschliche Natur, an Gerechtigkeit und Gleichheit ... alles, was wir haben, ist der Glaube, weiterzumachen... Ja, und jeder blutige Herrscher behauptet, dass Freiheit seine Sache sei". Der Song steigert sich langsam von einer betroffen wirkenden zu einer wütenden Stimmung, wobei sich Hammills Stimme erregt in das Thema der menschenverachtenden "Volksvertreter" hineingräbt und Bantons Orgel-Arsenal sowie Evans Percussion-Tumult für Aufruhr sorgen. Aber es gibt auch Augenblicke der Einkehr, des sich Zurücknehmens und der Besinnung. Die Musiker loten die passende Situation aus, reagieren mit Eifer und mit Trauer und lassen die Zuhörer mit einem offenen Ausgang auf schwierigen Fragen des Lebenszurück.

    "A Louse Is Not A Home" ist ein Stück, das Hammill ursprünglich für Van Der Graaf Generator geschrieben hatte, aber während einer Band-Pause mit seinen Kollegen dann für sein drittes Solo-Album "The Silent Corner And The Empty Stage" (1974) aufgenommen hat. Das dramatische, sich wellenartig aufbäumende und zusammenfallende Stück zieht seine Faszination aus ungewöhnlichen Dynamiksprüngen, einem engagierten Gesang und einer sich langsam aber sicher mächtig auftürmenden, bis ins Mark gehende, leidenschaftlich ausgedrückten Empathie.

    "Masks" ist im Original auf dem von Reggae-durchtränkten, oft unterbewertetem Album "World Record" aus 1976 und erweist sich zuweilen als groovend-kratzbürstige oder stellenweise lyrische Art-Punk-Nummer.

    Seit Jahren ist "Childlike Faith In Childhoods End" eine Konzert-Paradenummer, was besonders an dem ausladenden Spannungsbogen des Stücks liegt. Peters pathetisch aufgeladener Gesang wird von Bantons donnernden Orgel und Evans swingendem Schlagzeug eingefangen und dynamisch verschlungen begleitet. Als Kontrast dazu setzt der VDGG-Chef seine eckig-zickig-giftige Gitarre ein, die er nebenbei lyrisch singen lässt.

    "Go" setzt - relativ untypisch - durchgängig ätherisch-meditative Klangwellen frei und bietet deshalb eine Ablenkung vom ansonsten überwiegend Multi-emotionalen Sound, der die Sinne heftig herausfordert.

    Durch das Zuspielen von Umweltgeräuschen, wie unterschiedliche Sirenen, fahrende Autos und aufgeregte Stimmen, vermittelt "Alfa Berlina" zunächst den Eindruck eines Hörspiels. Dann setzt eine sakral-bedrohliche Stimmung ein, die kurz darauf durch einen raumfüllend-federnden Art-Rock-Sound ab- und aufgelöst wird. Die gefahrvoll anmutende Stimmung kehrt später noch einmal zurück, kann sich aber nicht langfristig durchsetzen und verliert erneut zugunsten einer mächtig zuversichtlich auftrumpfenden Klanglandschaft.

    "Over The Hill" vom Album "Trisector" aus 2008 ist eine epische, verschachtelte Nummer, die das Zeug hat, ein Klassiker im Repertoire von VDDG zu werden. So wie ""Childlike Faith In Childhoods End". Es liegt eine ähnliche Dramatik, Verschrobenheit und mystisch-hymnische Kraft in der Luft, die das Stück ehrfürchtig und mächtig zugleich erscheinen lässt.

    Peter Hammill empfindet die Umgebung eines Hotelzimmers während einer Tournee als Ort der Geborgenheit. Um diese Wahrnehmung geht es im Wesentlichen bei "Room 1210" (im Original von "Do Not Disturb" aus 2016). Das Trio fühlt sich hörbar wohl dabei, den Track langsam aufzubauen, mit Ecken und Kanten zu versehen und in einen minimalistisch aufgebauten, zentralen Mittelteil zu überführen. Die hohe Kunst der beunruhigenden Stimulation und zugeneigten Harmonisierung wird hier vorbildlich umgesetzt!

    Und noch ein unverwüstlicher Klassiker: "Man Erg" von "Pawn Hearts" aus 1971 gilt vielen Fans als Musterbeispiel und Markenzeichen für den originell-abwechslungsreichen Sound von Van Der Graaf Generator. Die Gruppe hat wieder einmal die Aufgabe, das berauschende Saxofon-Getöse von David Jackson adäquat zu ersetzen. Diese Aufgabe übernimmt Hugh Banton mit seinem Keyboard-Arsenal und er hat sich eine ähnlich wild-chaotische Instrumentierung wie auf dem Studioalbum ausgedacht, die den gewollt kakofonischen Ausbrüchen der Vorlage sehr nahekommt. So macht man aus der Not eine Tugend!

    Der Abschlusstrack "House With No Door" ist ein ganz besonderer Song: im Kern ist das nämlich eine Pop-Ballade, die auch gerne mal von den Musikern zur pompös-aufbrausenden Nummer aufgepustet wird. Das hält sich hier in Grenzen, sodass der Song seine melodische und dynamische Stärke voll ausspielen kann. Herrlich!

    "The Bath Forum Concert" ist ein gutes Live-Album geworden. In Anbetracht des Alters der drei Akteure sogar ein Ausgezeichnetes. Klar gibt es ein paar Spielfehler und Hammill hat nicht mehr den Stimmumfang eines Zwanzigjährigen, aber zu keinem Zeitpunkt wirken die Musiker überfordert oder altersmild. "The Bath Forum Concert" ist zwar nicht so brachial wie "Vital" (von 1978) und nicht so ausgefeilt wie "Live At Rockpalast Leverkusen 2005", wurde aber trotzdem beherzt, engagiert und temperamentvoll umgesetzt. Das aktuelle Werk offenbart allerdings auch, dass David Jackson schmerzlich vermisst wird.

    Das Trio zeichnet aus, dass es die Verbindungslinien zwischen den bewährten Songs der Siebzigerjahre und den Liedern nach der Reunion aus 2005 perfekt miteinander verbindet, sodass das Programm wie aus einem Guss klingt - alte und (relativ) neue Kompositionen sind quasi hinsichtlich ihrer Qualität und Intensität nicht voneinander zu unterscheiden. Schließlich ist die Kreativität und Leidenschaft der Musiker ja auch ungebrochen, was dieses Konzert bedeutend werden lässt. Es zeigt nämlich, dass Künstler in Würde altern können, ohne nur vom Geist der Vergangenheit leben zu müssen - ein Ansatz, den nicht viele Musiker erfüllen können. Es mag der Impuls vorliegen, die Gruppe nach dem Ausstieg von David Jackson als weniger interessant anzusehen - "The Bath Forum Concert" ist in diesem Punkt jedoch ein versöhnliches Beispiel für die ungebrochene Begeisterungsfähigkeit von Hammill, Banton und Evans.

    Am 11. Mai 2022 gaben Van Der Graaf Generator ihr vorerst letztes Konzert in Reutlingen. Die Tournee musste aufgrund einer Erkrankung von Peter Hammill danach abgebrochen werden. Man kann nur hoffen, dass die musikalische Reise weitergeht, denn die Geschichte von Van Der Graaf Generator ist noch lange nicht zu Ende erzählt...
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    Donlands Jerry Leger
    Donlands (CD)
    May 26, 2024
    Sound:
    4 of 5
    Music:
    4 of 5

    Americana und darüber hinaus: Jerry Leger erweitert die Grenzen des melancholisch angehauchten Roots-Pop auf zarte Weise.

    Manchmal sind die Namen von Musik-Produktionen reine Fantasie-Gebilde oder das Ergebnis von Assoziations-Ketten, aber gelegentlich haben sie einen konkreten Bezug. So wie es bei "Donlands" ist, dem aktuellen Werk des mit bisher 16 Alben ausgestatteten kanadischen Singer-Songwriters Jerry Leger. "Donlands" ist nämlich der Name der Straße in Toronto, wo die neue Platte im ehemaligen Donlands Theatre aufgenommen wurde.

    Betreut wurde der Entstehungsprozess vom Produzenten Mark Howard, der unter anderem als Toningenieur für "Time Out Of Mind" von Bob Dylan oder für "Real Gone" von Tom Waits arbeitete. Ein Werk, welches mächtigen Eindruck bei Jerry Leger hinterlassen hat.

    "Donlands" wurde unter Live-Bedingungen mit Dan Mock (Bass, Synthesizer, Gitarre, Gesang), Kyle Sullivan (Schlagzeug), Alan Zemaitis (Keyboards, Gitarre, Gesang) und Aaron Goldstein (Gitarre, Pedal Steel, Gesang) eingespielt, die aktuell als The Situation Jerrys Begleitband sind.

    Eine akustische Gitarre erzeugt für "Sort Me Out" zu Beginn lässig angeschlagene Akkorde, zu denen das E-Piano unterstützend perlend glitzernde Töne beisteuert. Das Tempo ist schleppend und deutet emotional auf Einsamkeit und Trauer hin. Diese Gefühle werden auch vom einsetzenden Gesang vermittelt, der einfühlsam-betrübt, aber nicht verzweifelt klingt. Die Stimmung ist ruhig und bedächtig, da ändert auch das gemütliche, ins Zentrum des Klangbilds gesetzte Schlagzeug nichts dran. "Du kannst nicht gewinnen, wenn du nicht weißt, wofür du kämpfst" steht als Motto im Mittelpunkt der Lyrik und vermittelt trotz des nachdenklichen Hintergrunds einen entschlossenen Durchhaltewillen.

    Der wird auch für "I Was Right To Doubt Her" benötigt, denn es geht um ein Trennungs-Szenario: "Ich war gefangen in dem, was ich wollte. Und was sie wollte, lag in der Vergangenheit: Zurück in seine Arme". Aber aufgeben gilt nicht, das Befinden ist vorsichtig optimistisch und die Klang-Ebene verspricht Besserung, wobei Country auf Soul trifft. Ein harmonisch swingender Southern-Soul-Rhythmus mit warmen Hammond-Orgel-Schüben und elegant groovendem Takt bestimmt den zwanglos dahinfließenden Sound.

    "I’ll Stay" führt diesen attraktiven Stil-Mix fort, schaltet aber mindestens einen Gang zurück. Die Instrumentierung beinhaltet merkwürdige Percussion-Geräusche und vollführt eine Hinwendung zur seidig-geschmeidigen Klangwelt von Gram Parsons, bei der sich lieblicher Country und spirituell geprägter Soul hingebungsvoll vereinigten. Im Grunde ist der Track eine Liebeserklärung, die die Hoffnung auf ein gegenseitiges Bekenntnis zur Zweisamkeit in sich trägt. Das ist klassischer Lovestory-Stoff mit romantisch-melodischer Ausprägung. Leider wird der Song mitten in einem schunkelnd-sehnsuchtsvollen Orgel-Solo ausgeblendet, sodass ein eventuell leidenschaftlich aufflammender Verlauf verborgen bleibt.

    "Three Hours Ahead Of Midnight" ist der dritte Teil der innigen, vor Inbrunst glühenden "Country Got Soul"-Show, die allerdings kein Happy End bereithält: "Breche nicht zusammen mit mir. Solange wir noch Freude haben. Bevor sie mich aus deiner Reichweite nehmen".

    Über "The Flower And The Dirt" liegt akustisch und textlich der Schmerz einer Trennung, wobei wahrscheinlich mindestens ein dunkles Geheimnis unausgesprochen bleibt und bei der Analyse trotzdem offenkundige, Erkenntnisse zugänglich gemacht werden: "Es ist ein Krieg der Meinungen. Bis wir es schließlich aufgeben". Die Dramatik bewegt sich wellenartig und dynamisch auf und ab. Sie reicht empfindsam von sanft bis erhaben.

    Mit einer gehörigen Portion sentimentaler Ergriffenheit wurde "Wounded Wing" ausgestattet. Dadurch wirkt der Track würdevoll und betroffen. Das Piano lässt John Lennons "Imagine" am Horizont erscheinen, die Steel-Gitarre schreit leidend auf und der Bass pumpt manchmal so stark wie ein Herz bei Höchstleistung.

    Kratzig-raue, von sattem Funk durchdrungene Orgel- und E-Gitarren-Akkorde leiten "You Carry Me" ein. Das Stück bekommt durch seine trocken-stumpfe Schlagzeug-Begleitung und die groben Gesangseinlagen die Grund-Elemente des aufrührerischen Rock & Roll-Erbes eingeimpft. Der Zweifel brennt sich in die Noten ein und nagt an der Seele: "Ich will nicht, dass du auf mich wartest. Aber ich will auch nicht, dass du gehst". Leider führt auch hier ein zu frühes Ausblenden zu einer gewissen Unzufriedenheit, da noch eine orgiastische Steigerung drin gewesen wäre.

    "I Need Love" ist ein herzzerreißend intimes Lied, bei dem die Steel-Gitarre für bittere Süße sorgt und Jerry seine verführerischen Country-Crooner-Qualitäten auslebt.

    "Out There Like The Rain" imitiert Synthesizer-Pop und garniert diese Fantasie mit wehmütigen Country-Rock-Splittern, sodass eine surreale Atmosphäre entsteht, die weder die Vergangenheit noch die Gegenwart oder die Zukunft realistisch einbezieht und abbildet, sondern zwischen den Zeiten vermittelt und dort hängenbleibt. Auch erwähnenswert: Jerrys Gesang stemmt sich großartig und vehement gegen eine Einordnung zu maskulin oder feminin. Eine schöne, eigenartige Gemüts-Fusion!

    Klassischen, sensiblen Country-Folk mit Weite im Erscheinungsbild und Sehnsucht im Gesang bietet "Slow Night In Nowhere Town" und kann aufgrund seiner feinsinnigen Ernsthaftigkeit voll überzeugen.

    "Donlands" ist mit wenigen Ausnahmen ein reines Balladen-Album geworden. Das birgt hinsichtlich der Aufrechterhaltung der Aufmerksamkeit ein gewisses Risiko. Nicht aber für Jerry Leger, der durch seine melodische Vielfalt und kompositorische Raffinesse den Spannungsbogen hochhält. Das Engagement von Mark Howard hat sich auch gelohnt: Der Sound ist transparent, klar und wohltuend ästhetisch. Die Instrumente hat er überdies filigran aufeinander und mit dem Gesang abgestimmt. Eine Wonne!

    Emotionen, die mit Liebesglück und Liebesleid verbunden sind, prägen die Poesie. Das ist nicht unbedingt originell, aber zeitlos wichtig. "Donlands" verstärkt durch die Beschränkung auf diese Themen den Eindruck eines stimmigen Konzeptalbums und so ist die Platte musikalisch und inhaltlich eine runde Sache geworden!
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    Der Lärm der Welt Neuschnee
    Der Lärm der Welt (CD)
    May 26, 2024
    Sound:
    4 of 5
    Music:
    4 of 5

    Nie war "Der Lärm der Welt" angenehmer und kultivierter als bei Neuschnee.

    Hans Wagner stammt aus Berlin und ist Chef, Sänger, Musiker und Komponist der Wiener Band Neuschnee, die mit "Der Lärm der Welt" ihr fünftes Album vorlegt. Ein Markenzeichen des Sounds des Septetts ist das flexibel agierende Streichquartett, bestehend aus zwei Violinen, einer Viola und einem Cello. Komplettiert wird die Instrumentierung noch durch Gitarre, Bass, Klavier, Schlagzeug und Live-Tontechnik.

    Was die Musiker in dieser Besetzung zu Gehör bringen, spielt sich jenseits gängiger Pop-Musik-Muster ab, hat aber trotzdem einen enorm attraktiven Unterhaltungswert.

    Gläsern-metallische Töne, die sich nach splitternden Materialien anhören und ein erzählerischer, leicht betrübter Gesang leiten das Album und dadurch den Track "Ganz leise" ein. Rauschend auf- und abschwellende Klänge packen dann diese Stimmung in Watte, bevor gezupfte Streichinstrumente, eine unbeeindruckt stumpf auftrumpfende Basstrommel und monoton tickende Percussion eine kühle Realität einblenden. Nach einem weiteren nachdenklichen Abschnitt künden unheilvolle Geigen einen aufkommenden Klangsturm an. Und dieser erscheint dann in Form eines Schlagzeug-Donnerwetters, verzerrt-wilden E-Gitarrentönen, einer verfremdeten Stimme und dramatisch brodelnder Kammermusik. Wenn sich diese aufmüpfige Ton-Breitseite verzogen hat, übernimmt der traurige, lautmalerische Gesang die Führung bis zum Schluss. Das Stück beschäftigt sich poetisch und subtil mit den Situationen, die sich beinahe unmerklich - also ganz leise - als Energie-Räuber erweisen. Ohne diese alle konkret aufzuzählen, gehören wahrscheinlich Selbstzweifel und "diese Tage, bei denen du innerlich weinst und äußerlich lachst" dazu.

    Fiktive künstliche Bläser erzeugen für "Diese Welt ist schöner" ein blumig-fantasievolles Klangbild, welches vom herausfordernd illustrierten Cover-Motiv inspiriert zu sein scheint. Elektronische und akustische Schwingungen gehen eine gemeinsame Verbindung ein, bei der es hinsichtlich der überraschenden, ästhetisch anregenden Gestaltung nur Gewinner gibt.

    Der barocke Dream-Pop von "Feuer in mir" bekommt mittendrin unverhofft Druck und Tempo auf den Kessel, was den grundsätzlich harmonisch linear ablaufenden Track zwischendrin unberechenbar und positiv willkürlich erscheinen lässt. Die Texte "Und wieder prügel ich mich mit dem Bodyguard meiner Seele. Wird es nicht langsam mal Zeit, dass wir mal Frieden schließen" und "Irgendwo, irgendwo brennt ein Feuer in mir" zeigen eine innere Zerrissenheit, die sich musikalisch widerspiegelt.

    Klassik, Pop, Funk und Jazz gehen bei "Was noch möglich ist" eine begeisternde Allianz ein, die Genre-Grenzen durch eine gehörige Portion Leichtigkeit und Überschwang aufheben.

    Die ausladende, raue, nach Verständnis suchende Sperrigkeit der orgiastischen Prince-Hymne "Purple Rain" scheint bei der Komposition von "Metronom" mindestens im Unterbewusstsein Pate gestanden zu haben. Die aufmerksame, stellenweise sogar dominante, krachend-knurrige, aggressiv oder melodisch rockende E-Gitarre begleitet das Stück durch sein sechseinhalb minütiges, wechselhaftes Dasein.

    "Schattenkind" entführt in eine märchenhaft verwunschene, idyllische und auch lebhafte Soundlandschaft. Die Sätze "Manchmal bin ich wie ein Schiff ohne Kompass, dann wieder ein leuchtender Stern" oder "Du mein Schattenkind sag mir, was brauchst du denn um glücklich zu sein" symbolisieren eine innere Zerrissenheit, die viele Menschen umtreibt.

    Das betrübliche Kammermusik-Intro im Nick-Drake-Modus bei "Auf hoher See" verwandelt sich schnell in einen wogenden, abenteuerlich vorpreschenden Barock-Rock im euphorischen Power-Pop-Dunst. Lieblingszitat: "Das Leben ist ein langer Kuss, der sich wehrt mit langen Zähnen".

    Vor Schwermut triefende Melancholie trifft bei "U-Boot" auf Hip-Hop-Break-Beats sowie fiepende, klatschende, wummernde und pumpende Effekte. Die elektronischen Spielereien fügen sich dabei experimentell, aber dennoch relativ organisch ins Klangbild ein und sprengen den elitären Rahmen, den die klassische Musik traditionell vorgibt. Der Zusammenhang zum Titel "U-Boot ergibt sich folgendermaßen: "Und du fragst mich, wie leb ich mein Leben: Na als U-Boot, ja, als U-Boot", nämlich "Mittendrin, doch nicht dabei, doch nicht dabei. Heimatlos, doch dafür frei, doch dafür frei"

    "Alles schwimmt davon" erfüllt viele Kriterien von dem, was guten psychedelischen Folk ausmacht: ein versponnen-verdrehter Melodie-Ansatz, eine mystisch-rauschhafte Stimmung, ein transparenter Klang und seltsam-geheimnisvoller Gesang. Inhaltlich wird unter anderem das Problem der Vermarktung von Teilnehmern bei Casting-Shows angeprangert: "In der Show singt die alleinerziehende Mutter, viele Emotionen, viel Applaus. Die Jury lobt: Musik kennt ja kein Alter. Und dann fliegt sie raus. Ja, es wollen alle hören, die Chancen, die sind gleich. Aber nur was sich verkaufen lässt, macht dich und andre reich."

    Der Barock-Pop von "Fliege durch den Tag" hat mehr aufmunternde als bedrückende Anteile, verbreitet aber im Gesamtzusammenhang nicht den Eindruck eines eigenständigen Stückes, sondern wirkt wie die geordnete Einleitung zum über sechzehn Minuten langen, zentralen Titel-Track "Der Lärm der Welt".

    "Lärm der Welt" hört sich erst einmal wie das Einspielen eines Orchesterensembles mit Beimischung von Umweltgeräuschen an. Es wird also eher Chaos statt Disziplin verbreitet. Erst nach über sieben Minuten kommt Song-Struktur in das unübersichtliche Sound-Gebilde, das zu einem theatralischen Klassik-Pop-Rap-Hybriden heranwächst.

    "Der Lärm der Welt" hat eine verheißungsvolle, kontrastreiche Emotions-Kombination auf Lager! Die eingesetzten Instrumente vermitteln einträchtige Traurigkeit und Lebensfreude. Die konkurrierenden Bestandteile tanzen gemeinsam oder getrennt sowohl in den Schatten als auch ins Licht und erschaffen auf diese Weise eine kunstvoll-lebensnahe Atmosphäre mit bewegten und bildhaften Zwischentönen.

    "Die Produktion dieses Albums hat viel Kraft, Zeit und Ressourcen verschlungen. Ich bin an einem Scheideweg und kann nicht versprechen, dass es noch einmal so ein Album geben wird. Neuschnee wird es aber sicher weiterhin in einer anderen Form geben". Soweit Hans Wagner zur Zukunft des Projektes Neuschnee. Dabei sind die kompositorischen und textlichen Möglichkeiten noch gar nicht voll ausgeschöpft worden, sondern stehen entwicklungstechnisch noch ziemlich am Anfang. Diesen Eindruck vermittelt der unverbrauchte, prickelnd-originelle Sound jedenfalls ständig. Bitte mehr davon!
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    I/O Peter Gabriel
    I/O (CD)
    May 26, 2024
    Sound:
    5 of 5
    Music:
    4 of 5

    Neue Songs nach 21 Jahren Pause: Ist Peter Gabriels Musik noch zeitgemäß?

    Gründer und Sänger von Genesis, Solo-Megastar und Erfinder des WOMAD Musik-, Kunst- und Tanz-Festivals: Das sind nur drei Eckpfeiler in der bewegten Karriere von Peter Gabriel, der im Februar 2023 seinen dreiundsiebzigsten Geburtstag feierte. Er blieb seit 1977 über die Jahre durch Tourneen im Gespräch, machte sich aber in der letzten Zeit rar, was neues Songmaterial angeht.

    Deshalb ist die physische Veröffentlichung von "i/o" am 1. Dezember 2023 schon eine kleine Sensation, denn es ist das erste Werk mit frischen Liedern seit "Up" aus 2002. Herausgekommen ist eine umfangreiche Werkschau von 12 Songs in zwei unterschiedlichen Mixen auf CD und Vinyl (Bright-Side- und Dark-Side-Abmischung) nebst einer zusätzlichen, exklusiven Dolby-Atmos-Version auf Blu-ray-Audio. Digital wurde bereits ab Januar 2023 zu jedem Vollmond ein aktueller Titel bereitgestellt, sodass die offizielle Publikation jetzt "nur noch" eine Zusammenfassung und Ergänzung darstellt.

    Das reguläre Werk beginnt mit dem Song "Panopticom". Ein Panoptikum ist sowohl die Bezeichnung für ein Kuriositätenkabinett, als auch ein Konzept zur Überwachung vieler Menschen durch einzelne Personen. Dies wurde vom Philosophen Jeremy Bentham um 1791 herum entwickelt und sollte unter anderem als Vorlage für den Bau von Gefängnissen genutzt werden. Peter Gabriel wandelt nicht nur diesen Begriff in "Panopticom" um, sondern ändert auch die Philosophie. Er meint, dass frei verfügbare Informationen und somit der Zugang zum Wissen der Welt zu mehr Freiheit für das Individuum und damit zu einer effektiveren Demokratie führt. Es wird also die ursprüngliche Definition umgedreht, weil die Macht der Bildung mündige Bürger hervorbringt, die sich nicht mehr kritiklos alles von den Herrschenden gefallen lassen. Musikalisch liegt eine beruhigende Seriosität über dem Song, die oft durch die aktive Rhythmik verschleiert wird. Vermittelnde und antreibende Elemente halten sich die Waage und erzeugen konstruktive Gegensätze, die dem Track einen hinreißenden Ohrwurm-Sog verleihen. Der Dark-Side-Mix unterscheidet sich davon hauptsächlich durch einen härteren Drum-Beat.

    Ein Prinzip von Peters Musik war es stets, akustische und elektronische Töne nebeneinanderzustellen. Außerdem ist er ständig auf der Suche nach interessanten Sounds, die der Umwelt entliehen oder selbst hergestellt sind. Diese Kombination wird auch für "i/o" genutzt. Elektronische Töne klingen dabei warm und akustische Instrumente nicht antiquiert. Diese gegenseitige Annäherung der unterschiedlichen Klangstrukturen macht einen erheblichen Reiz der Tongestaltung aus.

    Das Verfahren der technisch-harmonischen Sound-Kollagen wird bei "The Court" attraktiv demonstriert: Verfremdete Steel-Drums, transparent aufgebaute Polyrhythmen, verschachtelte Melodie-Linien und spontan wirkende Tempo-Wechsel sprechen eine eindeutige Sprache für die Ausgestaltung origineller Song-Abläufe, wobei das Thema Gerechtigkeit inhaltlich der zentrale Bestandteil des Liedes ist. Der Dark-Side-Mix des Stücks grenzt sich unter anderem durch eine hymnische Background-Gesangs-Einlage vom Bright-Side-Mix ab.

    Gabriel kann mit seinem Gesang wehmütige Momente heraufbeschwören, die zu Tränen rühren. So wie bei "Playing For Time", einer Piano-Ballade mit sehnsüchtigen Streichern und erdigen Bass-Tupfern. Das Lied "handelt von Zeit, Sterblichkeit und Erinnerungen – also von der Idee, dass jeder von uns einen ganzen Planeten voller Wahrnehmungen in sich hat", erklärt Gabriel. Er geht auch der Frage nach, "ob wir Gefangene der Zeit sind". Das feierliche Stück besitzt zurückhaltende und sich aufbäumende Momente, die zu einer enormen Dynamikabstufung führen.

    "i/o" bedeutet "Input/Output" oder auch "An/Aus". Peter denkt in diesem Zusammenhang über physische und psychische Transformationen nach und dass alle natürlichen Vorgänge auf der Erde irgendwie miteinander verbunden sind. Diesen metaphysischen Ansatz steckt er in einen Pop-Song, der sich langsam entwickelt, dann aber plötzlich mächtig und ekstatisch in verzückende Höhen abhebt.

    "Four Kinds Of Horses" verbreitet eine düstere Dramatik, die sich durch das gesamte Lied zieht. In der buddhistischen Lehre gibt es ein Gleichnis von vier Pferden, die vier unterschiedliche spirituelle Wege aufzeigen. Der Song bezieht sich indirekt auf diesen Ansatz und weist auf den Konflikt zwischen friedvollen und gewalttätigen Ansätzen in der Auslebung von Religionen hin. Der Track verbreitet instrumentell eine bedrohliche Unruhe, die Peter beschwichtigt. Er sorgt andererseits manchmal gesanglich mit aufgekratzten Schwingungen für eine Verstärkung der gefahrvollen Stimmung. Somit bildet er quasi die Schnittstelle zwischen Vernunft und Fanatismus ab. Diese Spannungen werden im Dark-Side-Mix noch etwas deutlicher herausgearbeitet.

    Das Format von "Road To Joy" spricht sowohl Classic-Rock- als auch Alternative-Disco-Liebhaber an. Es ist eine Rückbesinnung an die Zeit, als Peter Gabriel mit dem deftig auftrumpfenden "Sledgehammer" 1986 die Charts eroberte und wirkt deshalb gleichzeitig zeitlos wie auch altmodisch. In dem Lied geht es um eine Person, die nach längerer Zeit im Koma zurück ins Leben findet. Als Co-Produzent und Begleit-Musiker wirkt Brian Eno mit, der sich nebenbei als verständiger Groove-Initiator betätigt.

    Entspannt und in sich gekehrt läuft "So Much" ab, auch wenn zum Ende hin das Raunen, Schwirren und Pfeifen etwas anschwillt. Der ehrfürchtig klingende Song wurde wohl schon um 2015/2016 herum geschrieben und handelt unter anderem davon, dass die von uns individuell gesteckten Ziele aufgrund von limitierter Zeit gelegentlich nicht zu verwirklichen sind.

    "Olive Tree" möchte gute Laune und Optimismus verbreiten, verzettelt und verheddert sich aber in einem plump animierenden Sound, der im Gegensatz zu fast allen anderen Tracks aufgeblasen und unangebracht aufdringlich daherkommt. Deshalb bleibt in dem sonstigen, kultiviert wirkenden Umfeld ein eigenartiges Störgefühl zurück. Der Eindruck ist eventuell deshalb so hemmungslos lebhaft, weil der überwältigende Wohlfühlfaktor, der sich bei der Verbindung mit der Natur ergibt, akustisch abgebildet werden soll.

    Peter Gabriel gefällt sich häufig in der Rolle des nachdenklich-intellektuellen Beobachters. So auch bei "Love Can Heal", dessen Botschaft sich schon aus dem Namen ergibt. Versponnen, geheimnisvoll und idyllisch umgarnen sanft-verführerische Töne die Sinne und Peter singt dazu betont freundlich und gutmütig.

    Etwas hüftsteif hört sich der zum Tanz animierende Takt von "This Is Home" an. Er kommt hinsichtlich einer eleganten Aufforderung zur Bewegung nicht so richtig aus dem Quark - ist also weder Fisch noch Fleisch, wenn es um die Tanzbodentauglichkeit geht. Es gelingt allerdings trotzdem, eine erwartungsvolle, positiv gestimmte Grundhaltung zu transportieren, weil Peter - wenig überraschend - mit dem Begriff Heimat sowohl Liebe als auch Geborgenheit verbindet.

    Niederschmetternd bedrückend beginnt "And Still", das von Tod und Einsamkeit berichtet. Der satte Beat holt die Nummer bald darauf aus der Trübseligkeit heraus und die Streichinstrumente klingen im weiteren Verlauf trotz ihrer Schwere sogar manchmal nach Sonnenaufgang statt nach Sonnenuntergang. "The Hour Of Not Quite Rain" von Buffalo Springfield scheint auf "To Be By Your Side" von Nick Cave zu treffen. Das süße Aroma der Melancholie lädt zum Grübeln oder Meditieren ein: "Bonjour Tristesse".

    "Frieden entsteht nur, wenn man die Rechte der anderen akzeptiert" ist ein Denkansatz, den Peter Gabriel für sich übernommen hat und der "Live And Let Live" zugrunde liegt. Vorsichtig zuversichtliche Klänge unterstreichen dieses Bekenntnis, wobei die Musik zusätzlich ein erhebendes Gemeinschaftsgefühl und nach und nach sogar Lebensfreude verbreitet. Auf- und abschwellende Keyboard-Schwaden werden in einen straff swingenden Rhythmus überführt, den zackige und weichzeichnende Streicher harmonisch auffüllen.

    Mit dem Album "i/o" bewegt sich Peter Gabriel auf vertrautem Terrain. Die Fans bekommen, was sie erwarten durften: Dunkel dräuende und erhabene Pop-Songs mit hohem Melancholie- sowie Pathos-Faktor und kontrastreichen Arrangements. Böse Zungen werden eine fehlende Weiterentwicklung kritisieren, Verehrer die Kontinuität begrüßen. Gabriels Kompositionen werden oft dicht und üppig, mit etlichen Tonspuren und unterschiedlichen Klangfarben gestaltet. Die Kunst dabei ist, die Lieder trotzdem nicht mit Eindrücken zu überfrachten - was nicht immer, aber meistens gelingt.

    Stramme Rhythmen beherrschen zeitweilig dieses Konstrukt, was je nach Auffassung als unsensibel oder erregend angesehen werden kann. Gabriel hat bisher einige lange nachhallende Songs wie "San Jacinto" oder "The Drop" vollbracht. Aber es sind auch Lieder darunter, die selbst nach längerer Hör-Abstinenz nicht aus der Mittelmäßigkeit herauskommen, wie "DIY" oder "Shock The Monkey".

    Der englische Superstar feilte akribisch an seinen neuen Songs, änderte immer wieder Zusammensetzungen und brachte neue Ideen ein. Solch ein Vorgehen kann leicht zu einer Überproduktion führen - hat es aber nicht, weil der erfahrene Musiker diese Gefahr erkannte und die Endabmischung folgerichtig in versierte Hände legte. Den Bright-Side-Mix besorgte Mark "Spike" Stent, den Dark-Side-Mix vollbrachte Tchad Blake und den Inside-Mix in Dolby-Atmos erdachte Hans-Martin Buff. Die aktuellen Songs sind in der Regel reichhaltig mit Klangfarben ausgestattet worden, behalten aber dennoch eine durchlässige Struktur mit Raum zum Atmen. Thematisch wird gerne ein spiritueller Überbau mit humanistischen Grundgedanken verwendet, das ist zeitlos und zwingt oft dazu, um die Ecke zu denken.

    Fazit: "i/o" ist klanglich ein Vergnügen, sowohl für Audiophile als auch für den verwöhnten Nebenbei-Hörer. Kräftig, klar, vollmundig und gleichzeitig transparent schallen die Töne aus den Lautsprechern. Das ist ein Genuss, genauso wie die Umsetzung der vielfältigen Ideen der meisten Songs. Das Werk zeigt Peter Gabriel in Reinkultur und einwandfreier Form. Es sind jedoch keine bedeutenden Entwicklungsschritte im Vergleich zu seinen bisherigen Solo-Arbeiten wahrzunehmen. Manchmal finden offensichtliche Rückblicke auf das bisherige Schaffen statt, dennoch fällt das Album nicht aus der Zeit und hat auch heute sowohl inhaltlich als auch musikalisch seine Berechtigung. Damit nicht genug: Es handelt sich bei "i/o" eigentlich um ein Gesamtkunstwerk, denn jedem Song wird ein Objekt zugeordnet, das unterschiedliche Künstler beisteuern: So kam als Illustration von "Panopticom" das beleuchtete Gebilde "Red" aus Acryl und Plexiglas von David Spriggs aus dem Jahr 2019 infrage und für "Road To Joy" steuerte Ai Weiwei das Gemälde "Middle Finger In Pink" bei.

    Die Bright- und Dark-Side-Mixe unterscheiden sich nicht wesentlich voneinander und sind vom Klangbild her nicht wörtlich zu nehmen, denn sie wurden atmosphärisch nicht gegeneinander abgegrenzt. Es ist allerdings interessant, die unterschiedlichen Klangauffassungen miteinander zu vergleichen. Das Warten auf "i/o" hat sich gelohnt. Peter Gabriel hat seine Relevanz unter Beweis gestellt. Der angebliche Art-Pop-Dinosaurier ist erwacht und erinnert mit herausragender Qualität an seine Einmaligkeit. Willkommen zurück!
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    2 comments
    Anonymous
    Feb 10, 2025

    Chapeau

    Derart ausführliche Rezensionen, detailliert und kritisch zugleich, sind selten. Es ist ein Genuss, dem Renzensenten zu folgen und gleichzeitig das von ihm gewürdigte Werk zu hören. Die von ihm aufgefächerten Facetten neben den eigenen Höreindruck zu stellen, ist für jeden Audiophilen ein "Muss". Am Ende entsteht der Eindruck: Jede Ergänzung bedeutete, Eulen nach Athen zu tragen.
    The Perfectionist
    Sep 22, 2024

    Olive Tree

    Sehr gute Rezension. Ich muss sagen, dass mir Olive Tree im Dark-Side-Mix deutlich besser gefällt, der Song hat da etwas mehr Fundament, während die Bright-Side-Variante irgendwie klingt, als wäre sie aus den frühen 90ern - dünn.
    Boah! Boah! (CD)
    May 26, 2024
    Sound:
    4 of 5
    Music:
    4 of 5

    Boah: Was für eine herrlich bunte, verrückt-spaßige Zumutung!

    Unberechenbar, ungezügelt, ungekünstelt und unangepasst. So präsentiert sich der Sound des Septetts Botticelli Baby aus Essen seit zehn Jahren. Pünktlich zum Jubiläum brachte das Ensemble nach "SAFT" aus 2021 mit "Boah" am 27. Oktober 2023 ihr viertes Album raus. Für die Beschreibung der Musik haben sich die Band-Mitglieder den Ausdruck "Junk" ausgedacht, der eine Mischung aus Jazz und Punk bedeuten soll. Diese Wortfindung wird dem Stil-Mix aber nicht voll gerecht, denn es stecken noch viel mehr Elemente in den Songs drin. So kann der Titel "Boah", der für einen Laut der Überraschung oder Verblüffung steht, durchaus auch auf die Wirkung der frischen, reiz- und temperamentvollen Klänge der Platte übertragen werden.

    Bloß nicht vom "Intro" täuschen lassen und davon auf den Rest der Stücke schließen! Botticelli Baby haben schon bei "SAFT" mit ihrer launigen, stimmungsvoll eröffnenden Balkan-Zirkus-Nummer "Prelude" die Hörer und Hörerinnen auf die falsche Fährte geführt. Dieses Spielchen wiederholen sie nun wieder: Das Orgel-Solo klingt nach Gottesdienst, die Klänge sind mächtig und es werden schwere, lang gezogene Noten gespielt. Das ist Dramatik pur!

    Der moderat anklagende bis feurig-aggressive Sänger Marlon Bösherz verwandelt beim sich anschließenden "Poems" die vorherige, angespannte Verfassung in humane Betroffenheit, die sich nach und nach bis hin zur ungezügelten Leidenschaft steigert. Das stürmische Schlagzeug von Tom Hellenthal und das wild entschlossene Power-Bläser-Trio um Alexander Niermann (Trompete), Max Wehner (Posaune) und Christian Scheer (Saxofon) folgen ihm dabei aufmerksam sowie gleichzeitig saft- und kraftvoll. Die Tasteninstrumente werden derweil von Lucius Nawothnig abwechslungsreich zur Bildung einer atmosphärisch dichten, brodelnden Zweckgemeinschaft eingesetzt. Die E-Gitarre von Jörg Buttler spielt bei diesem Klang-Zirkus allerdings nur eine untergeordnete Rolle.

    Das sieht bei "Storms On My Skin" ganz anders aus. Die zackige Gitarre bestimmt den treibenden Funk-Rhythmus, sie kann aber auch auf Folk-jazzige Weise sensibel glitzernde Töne hervorbringen. Das druckvolle Bläser-Gespann und der nörgelnd-grummelnde Bass setzen sich allerdings immer wieder dominant durch und dadurch attraktiv in Szene. Psychedelischer Jazz-Rock ist eine Beschreibung, die als Annäherung an diese Klänge Sinn macht. Sie beschreibt aber nur die Hauptbestandteile des Songs, die Feinheiten sind jedoch genauso wichtig und schließen unter anderem Kraut-Rock mit ein.

    "We're One" setzt danach auf einen swingenden Jazz-Groove, der sich frech und munter vom traditionellen Alt-Herren-Swing abgrenzt.

    Mit "Blue Dots" geht es auf vergleichbar energischem Niveau weiter. Für die Komposition wurden Dixieland-Spielarten benutzt, die völlig auf den Kopf gestellt sind. Als Ergebnis dieser Transformation entsteht ein Wirbel aus sprudelndem New-Orleans-Jazz und überdrehtem Hippie-Rock. "Mit den 'Blue Dots' ist der blaue Himmel hinter den weißen Wolken gemeint. Man schaut in den Himmel und denkt fast automatisch über etwas Vergangenes nach. In diesem Fall über den Suizid einer geliebten Person und darüber, ob man vielleicht eine Mitschuld an der Entscheidung trägt, das eigene Leben zu beenden", erklärt Marlon Bösherz den Beweggrund des Liedes.

    Eine flirrende Resonator-Gitarre und locker-flockiges Drum-Klickern lauten zusammen mit einem freundlich gestimmten Gesang den entspannten Song "Lips" ein. Danach übernehmen Blasinstrumente, die darauf aus sind, dass weiterhin Harmonie die Vorherrschaft behält. Dieser Reigen wiederholt sich anschließend in leicht abgewandelter Form, wobei sich besonders alles, was mit dem Mund gespielt wird, durch Fantasie und Einfühlungsvermögen stark auszeichnet.

    Aufsässig, laut und monoton macht sich "Digge Digge Dig" Luft und kommt damit dem provozierend-primitiven Punk-Gedanken, der im Bekenntnis "Junk" verankert ist, sehr nahe.

    Hitzig und nervös geht es bei "Bloody Orgasm" zu. Plötzliche Dynamik- und Tempo-Wechsel lassen den Track noch aufgewühlter, streitbarer und angriffslustiger erscheinen, als er ohnehin schon ist, "Dieter Grey" gibt auf Deutsch Erläuterungen dazu ab, wie der Name Song-Kollektion ausgesprochen und verinnerlicht werden kann: "Gehen Sie in den Schneidersitz, recken Sie die Arme nach oben, soweit es geht. Am besten zur Glühbirne über Ihnen und sagen Sie in aller Deutlichkeit und aus tiefstem Herzen 'Boah'". Fortgesetzt wird diese Anleitung mit einer schwülen Nachtclub-Jazz-Nummer, die man sich gut in einer verräucherten Bar zur Blauen Stunde kurz vor Sonnenaufgang vorstellen kann. Dann, wenn fast alle Gäste das Etablissement verlassen haben und die Band ihre letzten Reserven mobilisiert. So euphorisch wie hier hat wohl noch niemand das Thema Depressionen vertont.

    Die Aufnahmen von "SAFT" beschrieben Botticelli Baby als vielschichtig und facettenreich. Selbiges gilt auch für "Boah". Das häufige Auftreten vor Publikum hat die Musiker handwerklich reifer und dadurch noch sicherer und einfallsreicher werden lassen. Sie trauen sich nun sogar, ihre Instrumente noch ausführlicher und kunstsinniger Geschichten erzählen zu lassen, wobei die Soli nie selbstverliebt, sondern immer vollmundig-köstlich und im Verhältnis zu konventionellen Jazz-Combos doch relativ knapp sind. "Boah" macht Spaß, ist pfiffig, gehaltvoll und ideenreich. Aber mit knapp 27 Minuten Laufzeit ist das kurzweilige Werk definitiv viel zu kurz!
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    Water Made Us Jamila Woods
    Water Made Us (CD)
    May 26, 2024
    Sound:
    4 of 5
    Music:
    4 of 5

    Die Eigenschaften des Wassers inspirierten Jamila Woods zu "Water Made Us".

    Das Leben auf der Erde entstand im Wasser. Wir bestehen ungefähr aus 80 % Wasser. Ohne Nahrung kann der Mensch etwa 30 bis 50 Tage überleben, ohne Wasser nur maximal 4 Tage. Unter diesen Umständen trifft Jamila Woods, die Musikerin und Poetin aus Chicago, mit "Water Made Us", dem Titel ihres dritten Albums, voll ins Schwarze. Er deutet die komplexen Zusammenhänge an, die dazu geführt haben, dass sich die Menschheit entwickeln konnte. Es wird aber auch deutlich, wie angreifbar und empfindlich unsere Existenz ist.

    Der Titel beruht aber letztlich auf einem Ausspruch der Literatur-Nobelpreisträgerin Toni Morrison: "Jedes Wasser hat ein perfektes Gedächtnis und versucht immer, dorthin zurückzukehren, wo es war". Im Wasser sollen universelle Informationen auf molekularer Ebene gespeichert sein, was die Mystik um dieses Lebenselixier so besonders macht. Geleitet von diesen spirituellen Gedanken hat Jamila Woods ein Werk erschaffen, das sie emotional tief mit dem Verlauf ihres Lebens, ihrem Lieben und ihrem Leiden verbunden hat. Der Kreislauf des Wassers hat Jamila inspiriert und taucht als Metapher immer wieder in den Liedern auf.

    Musikalisch fühlt sie sich keinem Genre verpflichtet, sie schöpft aus Traditionen, nutzt aber auch die aktuellen Strömungen in der schwarzen Musik, um ihren Gedanken den gewünschten Ausdruck zu verleihen.

    Mit einem transparenten und räumlich wirkenden Klang stellt sich Jamila Woods zunächst mit "Bugs" vor. Durch seinen sinfonisch-sphärischen Unterbau erlangt der Track eine fast körperlose Leichtigkeit, die durch erdige Bass-Töne auf dem Boden der Tatsachen gehalten wird. Und so streift der Song sowohl wohliges Soul-Terrain als auch verschachtelte Art-Pop-Gefilde. Im Text stellt sich die Frage: Wie weit bin ich bereit, mein Leben einer Beziehung anzupassen? ("Werde ich mein Leben verändern?
    Es nervt mich, aber ich tue es für dich.)"

    Bei "Tiny Garden" wird Jamila von der Band duendita aus dem New Yorker Stadtteil Queens unterstützt. Gemeinsam gelingt ihnen die Realisierung eines federnden Pop-Sounds, der aus dem Song einen unwiderstehlichen Ohrwurm entstehen lässt. ""Tiny Garden" ist ein Lied über die Art und Weise, wie mein Herz schlägt, die langsame und stetige Art, wie ich liebe", lässt Jamila wissen. Sie beschreibt somit das gegenseitige Abtasten, die Ängste und Erwartungen in der Sturm- und Drang-Phase einer Beziehung.

    "Practice" verbreitet einen ansteckenden Optimismus. Der frisch-belebende Flow wird allerdings von unorganisch wirkenden Rap-Einlagen empfindlich gestört. Sie sind im Gegensatz zu den weiteren gesprochenen Zitaten ein Zugeständnis an gängige Trends, werten die jeweiligen Stücke aber nicht musikalisch auf. Die eingeimpfte Fröhlichkeit hat ihre Wurzeln in dieser Aussage: ""Practice" ist ein Song, in dem es darum geht, den Druck abzubauen, den wir uns in Beziehungen selbst auferlegen. Ich habe versucht, die Art und Weise zu ändern, in der ich Beziehungen oft auf der Grundlage ihres Potenzials für Langlebigkeit bewerte und nicht danach, wie ich mich im Moment fühle".

    In dem Spoken-Word-Beitrag "let the cards fall" sinniert Jamila: "Ich möchte wissen, wie ich mir selbst vertrauen kann, um zu wissen, wann ich in einer Beziehung bleiben muss, um weiter daran zu arbeiten oder sie loszulassen, wenn sie nicht sicher ist oder nicht funktioniert".

    Bei "Send A Dove" dominieren elektronische Instrumente und Effekte. Dennoch bewegt sich der Song in einer warmen Strömung innerhalb eines mild-andächtigen Gospel-Feelings. Jamila beschreibt, wie eine Beziehung im Alltag Risse bekommt: hin- und hergerissen zwischen Verlangen, Hingabe und Zweifel steht die Taube im Titel für ein Friedensangebot, es weiter miteinander zu versuchen.

    Für "Wreckage Room" wird der Gesang, der die spärliche Avantgarde-Jazz-Begleitung unterstützt, anfangs so verfremdet, dass er den eigenartigen Stimmbandübungen von James Blake ähnelt. Nach einer Minute wandelt sich der Song komplett zu einer fantasievoll arrangierten Ballade. Inhaltlich kommt es zum Bruch: "Ich konnte nicht mehr frei sein. Ich habe versucht, deinen Hunger zu stillen, bis er mich verschluckte".

    "Thermostat" wurde vom Musiker und Produzenten Peter CottonTale geprägt, mit dessen Hilfe das Stück reizvoll zwischen klassischem Pop, Jazz und Hip-Hop eingependelt wird. Jamila formuliert einen Grundsatz, der für sie in einer Partnerschaft unverzichtbar ist: "Und ich denke, ein Teil einer guten Beziehung ist so etwas wie … den gestrigen Tag zu vergessen, und das geht nur mit jemandem, dem man wirklich vertraut".

    Es folgt der Monolog "out of the doldrums", der das zynische Zitat enthält: "Ich war ein Schurke. Und ich habe meiner Frau seit fünfzig Jahren geraten, mich nicht zu heiraten."
    Eingebettet in ein sensibles Country-Folk-Gerüst, bekommt der Neo-Soul-Titel "Wolfsheep" ein liebevolles wie auch lebhaftes Antlitz. Auf Deutsch würden wir wohl "Wolf im Schafspelz" über eine Person sagen, die vorgibt, es gut mit uns zu meinen, aber eigentlich nur den eigenen Vorteil im Sinn hat. Diese Erfahrung musste auch Jamila machen: "Ich fürchte, du bist kein guter Mensch. Aber ich habe dich trotzdem geliebt. Ich frage mich, ob ich ein guter Mensch bin. Da ich dich immer noch bleiben lasse".

    In der von psychedelischem Jazz untermalten Erzählung "I Miss All My Exes" stellt die Musik-Dichterin Situationen mit ihren Ex-Freunden heraus, an die sie sich gerne erinnert. Und es ist nicht eine einzige negative Erinnerung dabei!

    Lustvoll betreibt Jamila auch bei "Backburner" das Spiel mit der Zusammenführung von eigentlich kaum zusammenpassenden Genres. Intimer Folk-Rock, elektronische Space-Sounds und fette Hip-Hop-Beats bilden ein Konstrukt, welches vor Leidenschaft knistert - es kann aber auch die Eifersucht sein, die das Kribbeln verursacht.

    Der Satz "Frag mich nicht, weil ich nicht weiß, welchen Weg ich gehen soll", wird bei "libra intuition" zitiert. "Boomerang" lässt ganz ohne Tiefgang eine positive Haltung entstehen. Hier steht eindeutig der Wunsch nach Unbeschwertheit im Vordergrund. Der Takt ist schnell, aufrüttelnd und erquicklich - so funktioniert die akustische Umsetzung von Frohsinn. Die Freude an den Beziehungen, die im Laufe des Lebens nicht zerbrechen, sondern immer wieder aufleben, gibt dem Lied seine positive Ausstrahlung.

    Die alte Liebe ist Vergangenheit, kann aber nicht vergessen werden, deshalb kann sich keine neue Partnerschaft entfalten. Davon berichtet der rockende Soul von "Still" mit einem schnell klopfenden Herzschlag-Takt und abgeklärtem Gesang.

    "the best thing" ist der kurze Dialog zwischen Bischof Derrick Fitzpatrick und Fatimah Asghar, in dem es darum geht, dass es sinnvoll ist, sich an den guten Dingen des Lebens zu orientieren.

    Als moderner Rhythm 'n' Blues lebt "Good News" von klatschenden Rhythmen, über die romantisch wehende Töne gelegt werden, die von der einfühlsamen Stimme von Jamila Woods getragen werden. Lebhaftigkeit und Romantik in einem Stück? "Good News" macht es möglich. Die gute Nachricht ist, dass die Kraft des Wassers erhalten bleibt, aber ihre Unentschlossenheit macht Jamila weiter zu schaffen.

    "Water Made Us" entlässt uns mit dem entspannt fließenden "Headfirst", einem Song, der trotz seiner Lässigkeit einen straff organisierten Eindruck hinterlässt. Jamila beginnt das Lied mit dem Resümee: "Ich kann nicht für das, was ich fühle. Ich kann nicht für das, was ich nicht fühle". Sie scheint doch noch ihre Mitte gefunden zu haben...

    Das Album handelt genau genommen davon, welche Spuren Beziehungen bei uns in ihren unterschiedlichen Phasen, vom Kennenlernen bis zur Trennung, hinterlassen können. Jamila Woods hat für sich einen Weg gefunden, allen menschlichen Begegnungen, ob sie nun erfreulich oder belastend waren, ihren festen Platz in der Erinnerung zuzuweisen. Dabei schließt sie Frieden mit schlechten Erfahrungen und versucht mehr über ihre Empfindungen zu ergründen, um sich selber besser verstehen zu lernen. "Ich war in der Lage, diese kleinen Dinge über mich selbst zu verstehen und zu sagen: "Okay, ich möchte über jedes dieser Gefühle, zu denen ich immer wieder zurückkehre, oder über Muster, die ich bemerke, schreiben und ihnen eine Sprache geben", verrät die Künstlerin ihre Motivation und Gefühlslage bei der Konzeption der Songs. Durch die eingestreuten gesprochenen Texte vermittelt das Werk den Eindruck einer psychologischen Dokumentation, die aus der Erfahrung empirisch gespeist und mit akustischen Schwingungen zum Leben erweckt wird.

    Das Erstaunliche an "Water Made Us" ist, dass das Werk sowohl Soul-Traditionalisten als auch Hip-Hop- und Neo-Soul-Fans zufriedenstellen kann. Was zum großen Teil an der sorglosen Unbekümmertheit von Jamila Woods liegt, mit der sie sich ohne Scheuklappen in der Pop-Kultur bedient. Diese Platte ist ein intelligenter Weckruf an alle Schubladendenker, die glauben, Musik müsse sich strikt an Genre-Grenzen halten!
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    Hadsel Beirut
    Hadsel (CD)
    May 26, 2024
    Sound:
    5 of 5
    Music:
    4 of 5

    Durch die Aufnahmen für "Hadsel" wurde Zach Condon der Blick auf das Wesentliche ermöglicht.

    Zach Condon kann nicht nur als Musiker, sondern auch als Klangforscher bezeichnet werden. Unter dem Pseudonym Beirut, welches er schon mit 14 Jahren ins Leben rief, bereist er neugierig die musikalische Welt, um sich bei interessanten Ton-Mustern aus unterschiedlichen Kulturen zu bedienen.

    Das achte Beirut-Werk "Hadsel" entstand allerdings unter einschneidenden Bedingungen. Vorausgegangen waren schwerwiegende Probleme mit dem Hals, die Condon 2019 dazu zwangen, seine Tournee abzusagen, was den Fortbestand seiner Karriere infrage stellte. Diese Sinnkrise münzte der sensible Künstler in einen Schritt der radikalen Abnabelung von seinem bisherigen Leben um: Er verschanzte sich Anfang des Jahres 2020 in einer Hütte auf der Insel Hadseløya im Norden von Norwegen. In dieser herausfordernden Umgebung musste sich Zach "mit vielen Dingen aus der Vergangenheit und Gegenwart herumquälen, während die Schönheit der Natur, die Nordlichter und die furchterregenden Stürme" die Sinne anregten.

    In der Hütte befand sich ein Harmonium, das den Tatendrang des Tüftlers anstachelte und so richtete er ein kleines Aufnahmestudio mit zusätzlichem Equipment in seiner Bleibe am Rande des Polarkreises ein. Durch eine glückliche Fügung kam es zum Kontakt mit dem örtlichen Ersatzorganisten, der einen Zugang zur Kirchenorgel verschaffte, was den Aussiedler zu weiteren sinnlichen Sound-Schöpfungen inspirierte. Was als Erholung mit Fluchtpotential begann, führte letztlich zu einem unverhofften Klangabenteuer. Der Mann aus Santa Fe arbeitete wie in Trance, spielte alle Instrumente und Gesangsspuren selber ein und überwand durch die kreative Beflügelung auch seine mentalen Probleme. Heraus kamen dann Kompositionen mit einer spirituellen Ausstrahlung voller Güte und Dankbarkeit.

    Für das Stück "Hadsel" wird eine feierliche Stimmung erzeugt. Dafür sorgen die zackig gespielte Kirchenorgel, hymnische Blechbläser und ein sphärischer Background-Chor. Zach Condon begleitet diese herzerweichende Situation mit sakralem Gesang. Ein ergreifender Auftakt.

    Mindestens genauso erhaben geht es mit "Arctic Forest" weiter. Das Lied erinnert in seiner würdevollen Ausführung an die großen Songs von "Pet Sounds" der The Beach Boys, wie "Let`s Go Away For Awhile".

    Dieser Eindruck wird mit dem sowohl melancholischen als auch beschwingten "Baion" fortgeführt, das rhythmisch an den brasilianischen Bossa Nova angelehnt ist.

    Überhaupt verbreitet das Album ständig eine Atmosphäre, die Leichtigkeit und Besinnlichkeit zusammenbringt, was auch bei "So Many Plans" zu hören ist.

    Melbu liegt auf der Südseite von Hadseløya und ist durch seine Hafenanlagen für Sportboote ein beliebtes Ziel von Freizeitkapitänen. Der Track "Melbu" besteht aus einem Pump-Orgel-Solo, das die Gedanken in eine Dimension fernab der Realität fortschweben lässt.

    Künstliche Bläser prägen das Eingangsbild zu "Stokmarknes" und lassen den melodisch ausgefeilten Track wie ein Zerrbild eines Synthie-Pop-Hits erscheinen. Aber kurz darauf wandelt sich der Eindruck zugunsten eines feinsinnigen Art-Pops mit ausgefeilten, abwechslungsreichen und detailverliebten Arrangements. Stokmarknes ist übrigens der Hauptort der Kommune Hadsel.

    "Island Life" entpuppt sich durchaus als waschechte Ballade, die allerdings von einem luftig-leichten Karibik-Flair umhüllt wird. Dieses Konstrukt verbreitet wiederum eine andächtig-pastorale Aura.

    Und obwohl das anschließende "Spillhaugen" (Berg in Norwegen) über einen aufmunternden Rhythmus verfügt, verfügt das Lied dennoch über ein sakrales Klima.

    Synthetische Keyboards verpassen "January 18th" danach ein schmieriges Antlitz, bevor Zach Condon mit seiner ehrfürchtigen Stimme für eine andachtsvoll-besinnliche Vorstellung sorgt.

    Die geografische Zuordnung der Musik von "Süddeutsches Ton-Bild-Studio" ist im Kern nicht Deutschland, sondern als Weltmusik ohne feste Zuordnung anzusehen. Sphärisch klingende Keyboards mit kristallinem Schneeflocken-Effekt und dezent eingeblendetem Regen bilden dabei einen zusätzlichen, von allem irdischen Überfluss befreiten Reiz.

    Ein schneller Metronom-Takt löst bei "The Tern" zunächst eine aus dem Hintergrund aufsteigende Hektik aus. Obwohl Orgel und Gesang gelassen dagegenhalten, entwickeln sich die Rhythmen durch zusätzlich eingebrachte exotische Trommeln zu drängenden Elementen, die sich bis zum plötzlichen Ende des Songs prägend behaupten.

    Das hymnische "Regulatory" legt sich zum Abschluss wohltuend sanft auf die Seele, wird aber durch einen lateinamerikanischen Takt lebhaft im Fluss gehalten.

    Internationale Folklore-Einflüsse, wie vehemente Balkan-Grooves, sind bei "Hadsel" weniger offensichtlich ausgeprägt als bei früheren Aufnahmen. Zach erzeugt ein Paket voller weihevoller Lieder, die er allerdings nicht in eine Ansammlung schwermütiger Noten packt. Er bestäubt die Stücke mit einem meditativen Flair und lässt sie nach einem erfüllten Leben streben, wobei sie befreiend durchatmen können. Die mild-freundliche Stimme erzeugt eine positive suggestive Wirkung, die durch die wiegenden, warmen Orgeltöne gutmütig gestützt wird. Die beeindruckende Landschaft Norwegens und die Reinigung der Seele haben Spuren bei der Wahl der Klänge hinterlassen. Der Rückzug nach Hadsel schärfte Condons Blick für das Wesentliche und ließ Musik entstehen, die von zeitloser Schönheit durchdrungen ist.
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    Ozarker Israel Nash
    Ozarker (CD)
    May 26, 2024
    Sound:
    4 of 5
    Music:
    3 of 5

    Israel Nash umgibt sich auf "Ozarker" streckenweise mit süßem Pop und bleibt manchmal daran kleben.

    Der Alternative-Rock- und Americana-Musiker Israel Nash (seit 2013 verzichtet er auf den Namenszusatz Gripka) rückt mit seinem achten Album "Ozarker" ein Stück näher an den Mainstream-Pop heran, ohne allerdings seinen angestammten Rock- und Americana-Sound vollends aufzugeben.

    Es gibt auf "Ozarker" zehn neue Songs zu hören, die die Familie als Keimzelle für die Weitergabe von Erfahrungsberichten nutzt. Auf diese Weise gelangen Geschichten in die Öffentlichkeit, die Israel Nash von seinen Vorfahren über die Freuden und das Leid der Menschen im ländlichen Amerika erzählt wurden.

    Die Eröffnungsnummer "Can't Stop" ist extrem Radio-tauglich, besitzt einen teilweise nach Drum-Machine, teilweise nach lebendigem Trommler klingenden Rhythmus und ist so aufstachelnd-euphorisch, dass ein Stillsitzen beim Hören kaum möglich ist. Bei allem Pop-Schwung verzichtet Israel Nash nicht auf zündend-feurige Gitarren-Soli, was ihn trotz Kurskorrektur auch mit den alten Fans versöhnen wird. In einer besseren Welt wäre dieser Track jedenfalls stark Hit-verdächtig. Der Song will dafür werben, dass man sich auch in schwierigen Zeiten den Widerständen stellen und nicht aufgeben soll. Hier passen Botschaft und Song-Dynamik perfekt zusammen.

    Das gilt im Grunde nach auch für "Roman Candle", das nicht ganz so stürmisch, dafür aber gefühlvoll-packend daherkommt. Spätestens beim engagiert gesungenen Refrain erzwingt das Stück eine ungeteilte Aufmerksamkeit. Die markante E-Gitarre und der unnachgiebige Stampf-Rhythmus halten die geneigten Hörerinnen und Hörer bei Laune, zumindest wenn diese Ausprägungen auf fruchtbaren Boden fallen, also für attraktiv gehalten werden. In dieser Konstellation werden die Roots-Rock-Jahre von Nash in New York wieder wachgeküsst, wo er von 2006 bis 2010 lebte.

    Israel Nashs Familie stammt aus dem Ozark-Hochlandplateau in Missouri. Deshalb der Heimat-verbundene Titel des Albums. Der Track "Ozarker" handelt von der Liebes- und Lebensgeschichte seiner Urgroßeltern, die gegen alle Standes-Widerstände geheiratet haben: Er, Thomas Forster, war ein Saisonarbeiter, der sich in Susan Plowman - die Tochter eines Obstplantagenbesitzers - verliebte und ihr versprach, sie ein Jahr nach seinem Erntejob zu heiraten. Susans Eltern wollten eigentlich, dass sie den jungen Arzt James Christoffer ehelichen sollte, doch Susan wartete sehnsüchtig das Jahr ab. Und am Tag des Erntedankfestes, wo Thomas ein Jahr zuvor sein Versprechen abgab, kehrte er tatsächlich zurück. Das Paar war daraufhin 57 Jahre glücklich verheiratet. Das Lied ist genau genommen eine wehmütige Ballade, die leider kurz in einen Schmalztopf gefallen ist: Die schmachtenden "Schallala"-Gesangs-Einlagen verderben den prinzipiell interessanten Ton-Brei und führen dazu, dass die Musik trotz gesanglicher Hingabe weder Fisch noch Fleisch geworden ist.

    "Pieces" und "Firedance" schlagen grundsätzlich in die gleiche emotional übersteuerte Kerbe, sind relativ langsam, lassen aber die extremen Schnulzen-Klischees weg. Sie atmen dafür mehr hintergründiges, gelassenes Country-Rock-Feeling, gewinnen dadurch an Format und bekommen deshalb noch die Kurve, bevor es in den Kitsch-Abgrund gegangen wäre. "Pieces" erzählt davon, wie sehr eine gescheiterte Liebe zum Trauma werden kann und dass es eine enorme innere Stärke braucht, um aus diesem Jammertal herauszukommen.

    Bei "Firedance" beschwört Israel Nash nachdrücklich seine Liebe und versinkt dabei knietief in einen flehenden, sehnsuchtsvollen Ton, der manchmal von straffen Gitarrenakkorden begleitet wird.

    "Going Back" offenbart einmal mehr Melodie-Stärke und Enthusiasmus beim Gesang, zeigt aber auch eine Schwäche im Rhythmusgeflecht auf: Die monotonen Takt-Anteile nutzen sich nach und nach stark ab, weil sie auf Dauer zu gleichartig-uninteressant klingen. Die scharfen Gitarren-Soli, die aufmunternden Piano-Einlagen und die Tempo- und Dynamik-Wechsel retten das Stück jedoch eindeutig vor dem Mittelmaß. "Going Back" ist ein geschichtsträchtiger Song über die Newton Gang, die von 1919 bis 1924 etwa 87 Bankraube in texanischen Kleinstädten begingen und sechs Zugüberfälle verübten.

    "Lost In America" ist das introvertierteste Stück des Albums und verzichtet auf einen schnellen Herzschlag-Drum-Puls. Nash setzt hier auf Gefühlsduselei und bleibt dabei beinahe in diesem schwülstigen Sumpf hängen. Vielleicht agiert er deshalb so übertrieben, weil ihm das Thema der posttraumatischen Belastungsstörung eines Vietnam-Kriegs-Veteranen sehr nahe geht.

    "Midnight Hour" ist danach schon interessanter aufgestellt. Trotz langsam nervendem, stupidem 80er-Jahre-Billig-Rhythmus schafft es die Ballade, Sympathie und einen kraftvollen Klang zu erzeugen.

    "Travel On" setzt das Leben mit einer Reise gleich. Der Track knüpft musikalisch an den Opener "Can`t Stop" an, verbreitet also ausgelassenes, gut gelauntes Radio-Futter, das selbst langweilige Arbeiten zum Vergnügen werden lassen kann.

    Zum Abschluss gibt es mit "Shadowland" noch eine Rock-Pop-Nummer, die alle vorhergehenden Song-Bestandteile, wie eingängige Melodien, Ohrwurmrefrains, aber auch den stupiden Rhythmus und die abgenudelten Hintergrundgesänge zu einem angenehmen Mainstream-Pop werden lassen. Das Lied beschreibt die wirtschaftlich schwierige Lage vieler Menschen im ländlichen Missouri, die an der Armutsgrenze leben müssen. Die USA sind eben für Viele nicht das gelobte Land. Die Wirklichkeit sieht häufig anders aus, als man es uns manchmal suggeriert: Es gibt in der Regel keine soziale Absicherung, keine bezahlbare Krankenkasse und keine lukrativen Jobs. Da kann der Verlust der Arbeitsstelle oder eine teure Krankheit leicht zur Obdachlosigkeit führen. Ein heikles Thema mit gesellschaftlichem Zündstoff.

    "Ozarker" ist ein durchwachsenes Werk geworden. Mit Stärken in der Melodiebildung, einem engagierten, die Gehörgänge ausfüllenden, voluminösen Gesang sowie einer prägnanten, knackigen Gitarrenarbeit. Schwächen bestehen in der rhythmischen Ausgestaltung und der altbackenen Produktion, die an verunglückte Singer-Songwriter-Alben der 1980-er Jahre erinnert, welche sich abhängig von einer damals angesagten monoton-aufdringlichen Taktstruktur machten. Einerseits muss die positive Motivation zur Weiterentwicklung gelobt werden, andererseits ist eine teilweise halbgar ausgeführte Pop-Schiene mit Hang zur Schnulze wahrzunehmen. Dennoch: Die positiven Aspekte überwiegen bei "Ozarker" bei Weitem.

    Israel Nash ist ein Guter, der allerdings schon großartigere Alben aufgenommen hat, unter anderem gehören "Israel Nash`s Rain Plans" von 2013 und "Israel Nash`s Silver Season" aus 2015 dazu. "Ozarker" ist im Gegensatz dazu nicht unbedingt innovativ, dafür aber bodenständig-solide und markiert eventuell den Aufbruch zu einer weiteren Entwicklungsstufe. Warten wir es einfach mal gespannt ab, was der Mann noch an Ideen im Köcher hat.

    Wer sowohl Tom Petty mit seinem "Full Moon Fever" oder den späten Bob Seger ("Against The Wind") oder Bruce Hornsby ("The Way It Is") schätzt, sollte sich "Ozarker" unbedingt anhören, denn eine gewisse Geistesverwandtschaft ist zwischen den eben genannten Künstlern vorhanden. Auch unter Musikern gibt es ja schließlich so etwas wie familiäre Verknüpfungen - auch beim Sound.
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    Give It To The Sky: Arthur Russell's Tower Of Mean Peter Broderick & Ensemble 0
    Give It To The Sky: Arthur Russell's Tower Of Mean (CD)
    May 26, 2024
    Sound:
    5 of 5
    Music:
    5 of 5

    Achtung! Kunst! Peter Broderick interpretiert "Tower Of Meaning" von Arthur Russell in einer angepassten Fassung.

    Der 1987 in Carlton, Oregon geborene Multiinstrumentalist, Komponist, Produzent und Tontechniker Peter Broderick ist ein unkonventioneller, abenteuerlicher, Genre-Grenzen sprengender Artgenosse. Genauso wie der von ihm mit "Give It To The Sky" gewürdigte, 1952 geborene und leider schon 1982 verstorbene, wagemutige Querkopf, Komponist und Multiinstrumentalist Arthur Russell. Beide Künstler lieben es zu experimentieren und sich jenseits vom Massengeschmack auszudrücken. Deshalb ist die Zuneigung von Broderick zu Russell nicht ungewöhnlich, sondern logisch. Ebenso passend ist die Einbeziehung des 12-köpfigen französischen Ensemble 0 zur Realisierung der Neuauflage von "Tower Of Meaning", einem Orchester-Werk von Russell aus 1983. Die Begleit-Musiker um Stéphane Garin und Sylvain Chauveau bringen die entsprechende Vorbildung mit, um beurteilen zu können, welche Klangfarben zielführend dafür sind, um das ehemals für eine Theateraufführung konzipierte Werk einfühlsam zu restaurieren.

    "Give It To The Sky" ist Herbstmusik, Kammermusik, traurige Musik, herausfordernde Musik, besinnliche Musik, meditative Musik. Es gibt keine schrillen, sondern nur warm-weiche Töne auf dem Album. Peter Broderick singt mit einer wenig modulierten und variierten Stimme, die dennoch in der Lage ist, einen hypnotischen Reiz mit innigen Gefühlsregungen zu erzeugen.

    Das Piano sucht für "Tower Of Meaning I" nach Identität, wirkt einsam und verloren. Ihm schließen sich dann nacheinander Streicher, Vibraphon und Bläser im Gleichklang an. Das gemeinschaftliche Anstimmen der Klänge sorgt für Halt und Harmonie in dunklen Zeiten. Pastoral-feierlich wirken die Blas- und Saiteninstrumente bei "Tower Of Meaning II", die zusammen Töne erzeugen, die einer wohltemperierten Kirchenorgel gleichen.

    "Tower Of Meaning III" unterbricht dann abrupt die andächtige Stimmung, um das Umfeld drohend-belastend einzufärben. Die Noten werden länger ausgespielt, was für ein weiteres Plus an Bedächtigkeit sorgt.

    Trommeln, die klingen, als würden schwere Wassertropfen auf den Deckel einer leeren Regentonne fallen und Streicher, die einen verirrten Eindruck hinterlassen, prägen das instabile "Tower Of Meaning IV", das auch aus dem Schulwerk von Carl Orff stammen könnte.

    Der Gesang zum Lagerfeuer-Folk von "Corky I" scheint von weit herzukommen oder aus dem Telefon zu schallen. Das sich im selben Stück anschließende "White Jet Smoke Trail I" lässt die Töne fliegen. Sie schweben friedvoll-sanft und drücken somit Demut vor dem Dasein aus.

    "Consideration" und das später auftauchende Lied "Give It To The Sky" sind heftig zu Herzen gehende Pop-Balladen mit sensibel-verwundetem Gesang, wunderschönen, unaufgeregten Melodien und zarter, kammermusikalischer Begleitung. Zum Dahinschmelzen!

    Und weil es so schön ist, hier noch einmal "Give It To Sky" als Live-im-Studio-Aufnahme (nicht auf dem Album vorhanden):

    Manche Blasinstrumente geben für "Tower Of Meaning V" nur ein Rauschen von sich, so vorsichtig werden sie angeblasen. Man traut sich kaum zu atmen, um die intime Atmosphäre nicht zu stören. Hier herrscht die Kunst der Langsamkeit und Ruhe, die zu innerer Einkehr führen kann.

    Eine kratzige Geige, ein flirrend-schwirrender, außerirdisch erscheinender, aus der Konzentration herausführender Ton und dezent gezupfte Saiten bilden für "Tower Of Meaning VI" ein Muster, welches viel Spielraum zur Interpretation bietet: Traumgebilde, die akustische Abbildung der Aura eines Hochsensiblen oder Science-Fiction-Stimmungen könnten hier die Grundlage für die Entstehung der Komposition gewesen sein.

    Bei "Tower Of Meaning VII" stimmen die Bläser zurückhaltende, hymnische Schwingungen an, die das Stück in einem Dämmer-Zustand zwischen Schlaf- und Wach-Zustand halten. Bei "Tower Of Meaning VIII" tauchen sie wieder auf, die fast tonlos klingenden, mageren Bläser. Sie werden von anderen, sphärisch-weitläufig schwelgenden Fanfaren und dezenten Streichern liebevoll in den Arm genommen.

    "Tower Of Meaning IX" ist klanglich die Fortsetzung von "Tower Of Meaning VIII", nur noch weltabgewandter, meditativer und versunkener inszeniert. Das ist quasi ein Abbild des spirituellen Jazz von Alice Coltrane mit anderen Mitteln. Das angegliederte "Corky II" wird als Abwandlung von "Corky I" als geisterhafte Song-Erscheinung ausgeprägt. Bei "Tower Of Meaning X" sind dann Bläser und Streicher im Einklang vereint, wie bei einem Choral ohne Stimmen. Die dazu eingestreuten Bässe wirken massiv-erhaben wie eine Kirchenorgel.

    Dunkel drohende Töne lassen kein Sonnenlicht durch, sie benutzen für "Tower Of Meaning XI" die Dehnung der Zeit zur Erhöhung der Intensität und kennen keine Gnade, wenn es um die Darstellung von Schwermut geht. Das geht im Prinzip bei "Tower Of Meaning XII" so ähnlich weiter. Statt tiefschwarz herrscht nun aber dunkelgrau, denn es erklingen schüchterne, helle, glockenartige Töne, die an einen Wind, der durch einen Kristallpalast streift, denken lassen. Ein Ende der Tristesse kündigt sich an.

    Der Weg zum Licht wird mit "Corky III" fortgesetzt. Der Song ist zwar auch kein Ausbund an Fröhlichkeit, erblüht aber allmählich von melancholisch-gediegen zu hoffnungsvoll-harmonisch. Wie ein sich öffnendes Bewusstsein erlangt das Stück eine Präsenz, die allumfassend, selbsttragend und süffig ist. Die Seele wurde vertrauensvoll ans Universum übergeben. Der Kreis ist geschlossen.

    Jetzt kann gefeiert werden und "White Jet Smoke Trail II" liefert als unbekümmerter, tapsig klingender, Jazz-Pop-Instrumental-Track den Soundtrack dazu.

    Die beteiligten Musiker haben sehr viel Zeit, Leidenschaft und Kreativität in die Verwirklichung von "Give It To The Sky" gesteckt. Peter Broderick hatte Zugriff auf den Nachlass von Arthur Russell, der sich auf über 1.000 Stunden auf Tonband aufgenommenes Material erstreckt. Aus diesem Fundus hat er noch vier nicht fertiggestellte Stücke ausgewählt, die die Würdigung ergänzen. Dabei handelt es sich um den Song "Give It To The Sky" und "Corky I bis III". Julian Pontvianne, der Saxofonist vom Ensemble 0, beschäftigte sich in aufwendiger Kleinarbeit damit, den Ursprüngen veränderte Arrangements anzupassen, weil sich die Vorlagen unfertig anhörten. Das sollte aber ganz in Gedanken daran ablaufen, wie sie wohl Russell vervollständigt hätte. Um Spontanität walten zu lassen, wurde das Album dann fast ohne Nachbearbeitung in einem kleinen Theater im Südwesten von Frankreich eingespielt.

    "Tower Of Meaning" lag bei Peter Broderick und dem Ensemble 0 in guten Händen. Das Ursprungs-Album und die neuen Stücke sind unter der Wandlung zu einer stabilen, sich gegenseitig stützenden Einheit zusammengewachsen. Die bedächtig-betrübte Stimmung der Tracks vermag es, einen tröstenden Charakter heraufzubeschwören, weil die Schwingungen trotz aller Dunkelheit von Wärme durchflutet sind. Deshalb legen sie sich wie eine anschmiegsam-weiche Decke um die Sinne und lassen aus Melancholie Mitgefühl auferstehen. Das ist große Kunst, denn es sind wertige Klänge von originell-konstruktiver Qualität geschaffen worden. So wurde aus dem Avantgarde-Ansatz eine anspruchsvolle Unterhaltungsmusik erzeugt.
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    May 26, 2024
    Sound:
    5 of 5
    Music:
    4 of 5

    Der Name ist Programm: "The Iridescent Spree" beinhaltet einen schillernden Reigen von transformiertem Jazz ohne Genre-Scheuklappen.

    SuperBlue ist eine Allstar-Formation. Ähnlich wie bei den Jazz-Projekten Weather Report oder The Mahavishnu Orchestra besteht die Besetzung nur aus bewährten, hochgradig begabten Musikern: Kurt Elling, Jahrgang 1967, verfügt über eine vier Oktaven überspannende, flexible Bariton-Stimme, die ihm in den letzten 25 Jahren seines Schaffens etliche Auszeichnungen eingebracht hat (unter anderem wurde er 17-fach zwischen 2000 und 2021 vom renommierten „Downbeat“-Magazine zum besten Sänger des Jahres gekürt). Der umtriebige Fusion-Gitarrist und Produzent Charlie Hunter, der auf seiner achtsaitigen Hybrid-Gitarre gleichzeitig Lead-Gitarre und Bass spielt, ist ein gern gesehener Gast bei Kolleginnen und Kollegen, hat aber auch schon einige Alben unter eigenem Namen aufgenommen. Der Schlagzeuger Corey Fonville und der Multiinstrumentalist DJ Harrison kommen von der aus Virginia stammenden Band Butcher Brown und stellen dort das unbändig temperamentvolle Rhythmusgeflecht dar. Butcher Brown sind vom 1970er Jahre Jazz und Funk beeinflusst und bezeichnen ihre Musik als "Hip-Hop-Mahavishnu". Manche Aufnahmen auf "The Iridescent Spree" werden durch die saftigen, kraftvollen Huntertones Horns aus Brooklyn (Jon Lampley: Trompete; Dan White: Saxophon; Chris Ott: Posaune) veredelt, die für eine besondere, feurig-volltönende Würze verantwortlich sind.

    Von einer unbekannten Inspirationswelle wurde Joni Mitchells „Black Crow“ auf „The Iridescent Spree", dem zweiten Studio-Album nach "SuperBlue" aus 2021, gespült. Dadurch, dass die Gruppe den Noten einen flotten, eleganten Funk-Jazz-Groove beibringen, verleihen sie „Black Crow“ eine lebensfrohe Erscheinung. Diese wird durch einen strammen Rhythmus, dem variabel-süffigen Gesang und der exakten, markigen Saitenarbeit modelliert. Die endgültige Ausgestaltung geschieht unter Einbeziehung einer schäumenden Scat-Gesangs-Einlage in Al Jarreau-Manier und einer swingenden, im Gedächtnis an Herbie Mann geblasenen Querflöte. Bei dieser Gelegenheit begegnen sich also einmal mehr Vergangenheit und Gegenwart, um gemeinsam eine gute Zeit zu verbringen.

    Der Groove bleibt, der Gesang ändert sich für "Freeman Square": Kurt Elling dehnt die letzten Worte eines Satzes und erzeugt auf diese Weise mit seiner Stimme eine bizarre, unnatürlich wirkende, schwerfällige Stimmung. Als würde der Moment nachempfunden, der den Übergang von der Wachphase zu einer Sedierung ausmacht. Alsbald passt Kurt dann seine Stimme dem hektisch pulsierenden Rhythmus an und lässt die Dehnung weitestgehend weg. Der Track wandelt sich durch diese Wendung zu einem Hip-Hop-Jazz-Song mit Tendenz zum großspurigen Broadway-Entertainment. Zwischendurch ertönt ein Harmonie-Gesang, der so rein, weich und unschuldig ist, wie die Stimmen der Singers Unlimited. Am Ende des Stückes werden dann die Anfangs-Sequenzen wieder aufgegriffen. Der Kreis ist geschlossen. Vielseitigkeit charakterisiert diesen Track, der sich quer legt, was einen durchgängigen Flow angeht, sanft gegen den Strich gebürstet ist und dabei die Harmonie aber nicht ganz vergisst.

    "Naughty Number Nine", das durch den Jazzsänger Grady Tate 1973 bekannt gemacht wurde, schaltet mehrere Gänge zurück und atmet rauchige Kellerbar-Jazz- oder coole Nachtclub-Atmosphäre ein. Elling präsentiert sich dabei als gewandter, swingender Balladensänger, der es bei aller Empathie vermeidet, rührselig zu sein. Seine Mitstreiter klingen galant, transparent und aufgeweckt, sind ständig mit Elling auf Ballhöhe, sodass sie sich wie eine eingeschworene Einheit anhören, die jede musikalische Hürde gemeinsam souverän nimmt.

    Ein schläfriger Gesang lässt bei "Little Fairy Carpenter" sofort Entspannung aufkommen. Der schleppende, elektrisch aufgeladene Country-Twang, den Charlie Hunter beiträgt, erzeugt flirrende Schwüle und das Rhythmus-Gespann hält dieses fiebrige Gebilde an langer Leine locker zusammen.

    Der Funk von "Bounce It" ist trocken und wirkt zunächst etwas steif. Ellings High-Speed-Gesang und die fetten Bläser der Huntertones Horns lösen die Sterilität der Produktion schließlich jedoch tatkräftig und originell auf.

    Für "Lonely Woman", das der Saxophonist Ornette Coleman 1959 herausgebracht hat, verfasste Kurt Elling einen Text und hat das Stück nun "Only The Lonely Woman" genannt. Er beschwört darin stimmlich den Geist des Crooners Frank Sinatra, lässt sich aber nicht gänzlich von ihm vereinnahmen. Empathie dringt ein, Sentimentalität bleibt draußen. Im Kontrast dazu trägt Corey Fonville am Schlagzeug nervöse, schnelle Takte bei. Der Bass von DJ Harrison pumpt stoische Donnerschläge in den Raum. Das Keyboard und die Gitarre spielen die Space-Sound-Karte aus und verschaffen dem Song somit einen ätherisch-mystischen Hintergrund. Atmosphärisch bewegt sich das Stück auf der Ebene der drogenschwangeren Tim Buckley-Aufnahmen von "Lorca" - abgesehen von dem hibbeligen Rhythmus.

    Der empfindsame Pop-Song "Right About Now" von Ron Sexsmith wird als langsame, jazzige Smooth-Soul-Ballade interpretiert, bei der sich Kurt Elling ausgiebig in Herz-Schmerz suhlen darf.

    Zurück zum druckvollen Groove: "Not Here / Not Now" kombiniert Funk mit Jazz, was nicht neu und nicht unbedingt aufregend ist, aber durch die Brillanz der Akteure in diesem Fall durchaus stimulierend wirkt.

    Der Spoken-Word-Beitrag für "The Afterlife" steht für eine Vergeudung von Talent. Statt zu singen, zitiert Kurt Elling die Poesie, dieses Unterfangen unterfordert ihn eindeutig. Es ist immer eine Freude, Kurt singen zu hören, da er zu den ausdrucksstärksten lebenden Sängern gehört und im Nullkommanix eine entgegenkommend-verbindliche Beziehung zwischen ihm und seinen Zuhörern herstellen kann. Aber hier ist die Nummer nicht vor der musikalischen Belanglosigkeit zu retten.

    Im Allgemeinen fehlt dem Fusion-Sound oft eine erdige, emotionale Durchsetzungsfähigkeit und Verbundenheit, weil es in dem Genre meistens auf technische Brillanz ankommt. Das SuperBlue-Ensemble hat auch manchmal einen Hang zur Perfektion: Es gehört schließlich instrumental zur Spitzenklasse und die beteiligten Instrumentalisten spielen exakt wie ein Uhrwerk. Einige Jazz-Nerds und Liebhaber von elektronischer Musik genießen diese Präzision der Instrumentenbeherrschung, während andere diese Tugend als zu kühl wahrnehmen.

    Bei SuperBlue ist aber entscheidend, dass der Faktor "menschliche Wärme" in Form des leidenschaftlich agierenden Sängers Kurt Elling dazukommt, welcher einen Großteil der Aufmerksamkeit auf sich zieht. Elling beherrscht alle Klang-Schattierungen - vom Great American Songbook bis zur Avantgarde - in Vollendung und durchdringt die Noten mit seiner emotional gesättigten Stimme. Deshalb ist dieses Ensemble so bemerkenswert, weil es versteht, wie man Zuverlässigkeit und Feingefühl lückenlos miteinander verbindet. Und auf diese Weise entziehen sich die Musiker einer sterilen Darstellung und können ihre Fingerfertigkeit in den Dienst von lebendigen Songs stellen, über deren gehaltvolle Präsentation man nur staunen kann.
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