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    LittleWalter Top 25 Rezensent

    Aktiv seit: 03. September 2010
    "Hilfreich"-Bewertungen: 1129
    480 Rezensionen
    Vorwärts Rückwärts Vorwärts Rückwärts (CD)
    31.08.2022
    Klang:
    4 von 5
    Musik:
    4 von 5

    "Vorwärts Rückwärts" verarbeitet Retro- und individuelle Sounds zu einem anschaulichen und experimentellen Musik-Erlebnis.

    Die Entwicklung der Pop-Musik vollzieht sich in Wellenbewegungen. Neue Trends tauchen auf, ebben ab, vermengen sich mit Retro-Stilen oder Retro-Stile werden wieder modern.

    Der programmatische Titel "Vorwärts Rückwärts" spiegelt genau eine solche Situation in der Musik von den Blackberries wider: Fragmenten aus Progressive-, Kraut- und Psychedelic-Rock wird jegliche Muffigkeit entzogen, sie werden aufpoliert und erscheinen nun im renovierten Gewand, eigene Ideen und überraschende Wendungen inklusive. Dabei kommt es überhaupt nicht darauf an, welche Künstler als Inspiration herangezogen werden können, sondern nur auf das originelle Ergebnis. Aber wer dennoch gegenwärtige Verweise benötigt: Fans von Porcupine Tree, Elbow, The War On Drugs oder Motorpsycho könnten auch an den Blackberries ihre Freude haben. Die Band selber nennt die üblichen Verdächtigen als Einfluss, wie die Beatles, Kinks, Hollies und die frühen Pink Floyd. Ergänzend können noch Jefferson Starship ("Blows Against The Empire"), The Zombies, Neu! und Can genannt werden.

    Die Blackberries sind ein Quartett aus Solingen, das 2009 gegründet wurde und aktuell aus Julian Müller (Gesang, Gitarre), Janis Rosanka (Bass, Gesang), Joscha Justinski (Keyboards) und Thomas Haumann (Schlagzeug) besteht.

    An den Musikern sind die psychischen Belastungen, die sich aus der kriselnden Weltlage der letzten Jahre ergeben haben, auch nicht spurlos vorbei gegangen. Auf "Vorwärts Rückwärts" beschäftigen sie sich unter anderem mit Krieg, Klimawandel, Egoismus und Gier, wobei sie musikalisch zwar nicht mit Moll-Tönen sparen, aber den hoffnungsvollen Klängen dennoch stets eine Chance geben. Obwohl der Albumtitel etwas anderes erwarten lässt, singt die Band übrigens englisch, mit gelegentlichen deutschsprachigen Einschüben.

    "Vorwärts Rückwärts" ist das vierte Album der Psychedelic-Popper und beginnt mit dem schleppenden "Modern Musketeer", das sich mittig zwischen dem episch-rauschhaften "Requiem" von Bevis Frond und den lyrischen Momenten von "Riders On The Storm" der Doors einnistet.

    "After The War" flirtet mit der Eleganz und Leichtigkeit des Soft-Rock, um den im Groove-Pop angesiedelten Song mit gelassener Geschmeidigkeit und melodischer Raffinesse empathisch fließen zu lassen.

    Die sinfonische Ballade "Time To Move On" begibt sich auf das Terrain solcher Bands, die Melodik und Theatralik zu empfindsamen Mini-Dramen formen konnten, wie z.B. Procol Harum ("A Whiter Shade Of Pale", "A Salty Dog").

    Bei "Rückwärts" drehen sich die Klänge hypnotisch-pulsierend und nehmen den Hörer in einer Spiralbewegung mit in eine seltsame, auf morbide Art betörende musikalische Welt, die es auf die Verwirrung der Sinne abgesehen hat. "Rückwärts" ist das einzige Lied mit durchgängig deutschen Texten. Eine interessante Variante, die ausgebaut werden sollte.

    Der Blues-Rock "Double Walker" tarnt sich als Smooth-Soul und vereint so auf charmante Weise stilistische Gegensätze, die sich hier jedoch lüstern anziehen.

    Wenn New Wave-Zickigkeit auf Soft-Art-Pop trifft, dann entsteht daraus "The Moor", das durch den flotten Rhythmus einen frechen Anschub bekommt.

    Die Kriegs-Maschinerie folgt perfiden Gesetzmäßigkeiten. Der Song "War Machine" klingt zunächst monoton, folgt also gleichmäßigen Strukturen, wie sie zum Beispiel beim Ambient- oder Minimal-Art-Sound zu finden sind. Die Stimmung ist hier resignierend-trübe, weist dann aber im weiteren Verlauf auch Aggressionspotential auf. Nach etwa 5 Minuten ist plötzlich Schluss, der zu erwartende Kollaps bleibt allerdings aus.

    "Ich geh vorwärts, immer weiter vorwärts" heißt es gegen Ende des Stücks "Vorwärts". Und genauso unnachgiebig nach vorne strebend und treibend ist auch das Tempo dieses druckvoll rumorenden Space- Rocks. Also würden die Apokalyptischen Reiter über die Erde fegen, kreischt die elektrische Gitarre einen Endzeit-Blues und das Schlagzeug hetzt hastig, manchmal sogar panisch voran.

    Hell leuchtet die E-Gitarre bei "A Life In Colour", das Keyboard bringt weitere Sterne am Firmament zum Leuchten, während das Schlagzeug so tut, als sei es eine Rhythmus-Maschine. Der Bass grummelt und die Stimme von Julian Müller umwirbt betörend-beschwörend. Beschwingt berauschend und romantisch verträumt vernebelt der Song wohlig die Wahrnehmung. Ist das nun Progressive-Pop oder gar Psychedelic-Easy-Listening?

    Da sage noch jemand, Psychedelic-, Progressive- oder Krautrock sei nur etwas für rückwärtsgewandte Musikfreunde. Aber die Blackberries gehen fortschrittliche Wege, tragen die Retro-Stile vorwärts in die Zukunft. Von daher macht der Titel "Vorwärts Rückwärts" auch deshalb Sinn, denn das Quartett kopiert nicht etwa ihre Vorbilder, sondern schraubt eigene Eindrücke zu einer bunten Collage zusammen, die zeitlose Werte und aktuelle Interpretationen nahtlos miteinander verbinden.

    Die Songs scheinen aus endlosen Jams im Studio destilliert worden zu sein, denn die kontrollierte Improvisation bildet oft den Kern der Komposition. Der Melodie wurde dabei jedoch immer eine Hauptrolle eingeräumt. Es ist eben eine Frage der Balance, ob ein Lied eingängig oder kompliziert erscheint. Die Blackberries erweisen sich in diesem Punkt als Meister der Ausgewogenheit.
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    31.08.2022
    Klang:
    5 von 5
    Musik:
    4 von 5

    Ein Mann. Ein Piano. Eine Leidenschaft.

    Solo-Piano. Ein Mann und sein Instrument werden eins. Nicht nur, welche Töne angeschlagen werden spielt eine Rolle, sondern auch in welcher Form sie die Welt bereichern: Mit hartem oder weichem Anschlag, einzeln oder im Verbund. Schnell oder langsam. Das alles sind Variationsmöglichkeiten, die das Stimmungsbild beeinflussen und den Hörer auf den Titel einstimmen können. Die Titel der Stücke sind in der Instrumentalmusik dabei eigentlich nur Markierungen, man kann sich auf sie einlassen oder den eigenen Assoziationen folgen.

    Thilo Seevers wurde 1993 in Bremen geboren und begann mit fünf Jahren Klavier zu spielen. Was liegt da näher, sein erstes Solo-Werk "Auszug" audiophil im ehemaligen Sendesaal von Radio Bremen aufzunehmen. Dieses Gebäude ist bekannt für seinen außergewöhnlich guten Klang, wird aber nicht mehr vom Sender betrieben und sollte sogar abgerissen werden. Es fanden sich zum Glück engagierte Retter, die einen Verein gründeten, um den Saal weiter für Veranstaltungen nutzen zu können.

    Das Zitat von Frédéric Chopin: "Einfachheit ist die höchste Errungenschaft" ist ein Leitmotiv von Thilo Seevers. Das klingt nach Reduktion. Im Beispiel von "Auszug" gibt es zumindest eine Reduzierung auf zwei spielende Hände. Aber was bedeutet "Auszug" in diesem Zusammenhang? Ordnung im Sinne einer Schublade? Der Auszug aus einer bekannten Umgebung im Sinne von Weltoffenheit? Oder, dass hier nur ein kleiner Teil der Möglichkeiten, die die Musik über hunderte von Jahren geboten hat, als Vorlage einfließen konnten. Die Näherungs-Erklärung auf der Homepage des Musikers bevorzugt die beiden letztgenannten Blickwinkel und im Booklet wird noch eine weitere Deutung offenbart: "Auszug" steht auch für den Hang von Thilo Seevers, seine Komfortzonen verlassen zu wollen, um sich bewusst dem Neuen und Unbekannten zu öffnen. Von Bremen aus führte es ihn nämlich schon nach Brasilien, Schweden und nach Berlin, wo er zurzeit lebt.

    Mit diesem theoretischen Rüstzeug geht es in die akustische Wahrnehmung: Töne fallen eisig wie Schneeflocken vom Himmel. Es ist eine klare Nacht. "Wie schön leuchtet der Morgenstern" fängt eine Idylle ein, die Anmut, Demut und Fantasie ausdrückt. Die Originalkomposition stammt von Philipp Nicolai, der von 1556 bis 1608 lebte. Der Neuinterpretation hört man das Alter des Ursprungs allerdings nie an, weil das Lied zeitgenössisch transformiert wurde.

    Das Nachtleben kann glitzernd, pulsierend, laut und hektisch sein. Das sind alles Aspekte, für die "After Dark" eine Deutungshoheit beanspruchen kann. Aber auch Lieblichkeit und Zufriedenheit spielen bei diesem Emotionscocktail eine Rolle.

    Der Kämpfer für die Entrechteten aus dem Sherwood Forest heißt Robin Hood. Hier haben wir es bei dem Stück "Robin Hoode" mit einer altertümlichen Schreibweise zu tun, denn die Originalkomposition datiert aus dem 16. Jahrhundert von einem Mr. Ascue. Trotz Grabesstimmung vermittelt der Track zuweilen Ermunterung und sogar Trotz. Er lässt stilistisch keine Unterschiede zwischen Klassik und Jazz zu. Und plötzlich sind da glockenhelle Töne, die nicht aus dem Steinway Piano stammen können. Es klingt, als ob ein Vibraphon für klare Einsichten sorgen würde, es ist aber eine Celesta, die hier frische Noten bereithält.

    Die "Port Townsend Bay" ist eine Meeresbucht, die im US-Bundesstaat Washington liegt. Die Stadt Port Townsend hinterlässt durch ihren viktorianischen Baustil eine gemütlich-bürgerliche Stimmung. Thilo Seevers vermittelt bei dem Stück Assoziationen, die an solch eine unbekümmerte Lebensart denken lassen.

    Adaptionen romantischer Klassik in Verbindung mit Jazz-Improvisationen prägen "Rainflow". Bei dem Stück lässt Seevers im Hintergrund einen leisen Dauerton mitschwingen, der der Atmosphäre etwas Minimal-Art-Ewigkeit mitgibt. Inspiriert wurde der Track von Györgi Ligetis "Musica Ricercata", einer dynamischen Klavier-Komposition, bei dem sowohl Stille und Ruhe wie auch Dramatik und Wucht eine Rolle spielen.

    Für "Metropole bei Mitternacht" erschafft Thilo Seevers Töne, die tatsächlich Dunkelheit ausdrücken. Für den Musiker gibt es bei dieser Betrachtung keinen Trubel in der Nacht, er fängt eine Stimmung ein, in der sich das Individuum in den anonymisierenden Schoß des ständig pulsierenden Lebens begibt, ohne daran beteiligt zu sein. Erstaunlicherweise fand Seevers den Anstoß zu dieser Idee ausgerechnet in Berlin, wo er Stille genoss. Schön, dass es in dieser lärmenden Metropole auch noch solche Orte des meditativen Rückzugs gibt.

    Sertanejo ist ein brasilianischer Musikstil, der in den 1920er Jahren entstand. Seit den 1990er Jahren wurde dieses Genre kommerzialisiert und ist dadurch wieder sehr beliebt geworden. Die aktuelle Variante wird auch als die Country-Musik Brasiliens bezeichnet. Bei "Lamento Sertanejo" handelt es sich allerdings um die Einverleibung eines gleichzeitig kräftig instrumentierten, aber auch traurigen Bossa Nova von Gilberto Gil und dem Akkordeonspieler Dominguinhos aus dem Jahr 1975. Thilo konserviert die darin vorkommende Wehmut und garniert sie mit wenigen wuchtigen und störrischen Ausbrüchen.

    "Kyiv" ist eine andere Schreibweise für "Kiew", der Hauptstadt der Ukraine, die ein Symbol für Widerstand und Durchhaltewillen geworden ist. Das Stück zeichnet eine kunstvolle, pulsierende, lebensfrohe Sicht auf die Stadt, die hoffentlich bald wieder Einzug in das tägliche Leben nehmen kann. Auch wenn sich etwas Melancholie auf die Noten legt, so überwiegt doch die Hoffnung, denn die stirbt ja bekanntlich zuletzt.

    In diesem Sinne ist der Nachspann "Epilog: Look For The Silver Lining" mehr als nur die Suche nach dem Silberstreif am Horizont. Diese 10 Minuten gehören dem Anstand, der Vernunft und dem Streben nach einem besseren Leben im friedlichen Zusammensein. Entsprechend gibt es bei der Musik nachdenkliche und auch turbulente Momente. Thilo Seevers zündet jedenfalls ein Feuerwerk der Ausdrucksmöglichkeiten auf dem Piano ab. Den Song kannte der Pianist vom ergreifenden Album "Chet Baker Sings" aus 1954 und er steht stellvertretend für die Zuversicht. Die Zeilen "Always look for the silver lining, try to find the sunny side of life" berührten Thilo Seevers sehr, weshalb unbedingt eine Version auf "Auszug" erscheinen musste.

    Auf der Spotify-Playlist des Pianisten, Komponisten und Arrangeurs Thilo Seevers finden sich unter anderem Klassik-Werke von Debussy, Schubert, Grieg, Mendelssohn, Satie und Mozart, Jazz von GoGo Penguin und Brad Mehldau und Alternative-Rock von TV On The Radio oder den Grandbrothers. Das zeigt sein weit angelegtes musikalisches Interesse, das sich natürlich auch in seinen Interpretationen und Kompositionen punktuell niederschlägt. Jazz und Klassik mehr, Alternative-Rock weniger. Durch seine Arbeit im Trio ACTS! (mit Ana Čop (Voice) und Jaka Arh (Sounddesign)), im Duo mit Uli Rennert als HOME sowie mit seinem Thilo Seevers Ensemble baute sich der Musiker eine breite Palette an Ausdrucksformen auf, die er nun reduziert und komprimiert als geistiges Eigentum nutzen kann.

    Piano-Solo-Aufnahmen gibt es wie Sand am Meer. Was "Auszug" heraushebt und auszeichnet, sind eine sprudelnde Leidenschaft, eine Genre-unabhängige Kreativität und die Virtuosität des Interpreten bei seinen interessanten Vorlagen und stimmungsvollen Eigenkompositionen. Instrument und Musiker verschmelzen zu einer Einheit, was jegliche Einteilungen in E(rnste)- und U(nterhaltungs)-Musik ad absurdum führt.
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    Lifetime Achievement Loudon Wainwright III
    Lifetime Achievement (CD)
    22.08.2022
    Klang:
    4 von 5
    Musik:
    4 von 5

    Loudon Wainwright III zieht Bilanz, bevor es andere für ihn tun müssen.

    76 Jahre alt wird der Folk-Musiker und Vater seiner musikalisch talentierten Kinder Rufus, Martha und Lucy am 5. September 2022. 29 Platten hat der Unangepasste bisher in seiner Karriere seit 1970 eingespielt, "Lifetime Achievement" steht also für ein rundes Jubiläum und erscheint am 19. August 2022. Tatsächlich deckt die neue Musik den ganzen Bereich ab, in dem sich der in Chapel Hill, North Carolina, geborene Musiker und Schauspieler bisher getummelt hat. Darunter sind pure Solo-Aufnahmen, aber auch üppig arrangierte Songs. Wainwright ist ein brillanter Geschichtenerzähler, der zynisch, lyrisch oder sozialkritisch daherkommt und eine unverwechselbare Vortragsweise pflegt.

    "Wenn ich keinen guten Song schreiben kann, dann schreib ich eben einen schlechten – einfach um dranzubleiben. Ich kann ja über alles einen Song machen, auch über diese Flasche hier – obwohl ich wohl doch lieber was über mich schreiben würde, wenn ich so drüber nachdenke", gestand er lachend im Jahr 2003 dem deutschen "Rolling Stone". Ganz der selbstverliebte Schelm, der er schon immer war. Humor, Aufrichtigkeit und romantische Dramatik sind Eckpfeiler seiner Texte, die manchmal wichtiger zu sein scheinen, als die Musik, die er Solo schon mal mit aufdringlich-peinlichen Grimassen vorträgt. Seine Berufung als singender Poet fand er, als er mit 17 nach San Francisco trampte, dort zunächst Yoga lernte, danach zu seiner Großmutter nach Rhode Island zog und im Yachthafen arbeitete, wo ihm ein alter Hummerfischer das Lieder schreiben beibrachte. Ihm widmete er auch seinen ersten eigenen Song "Edgar". Daraufhin zog es ihn in den New Yorker Greenwich Village-Stadtteil, ein Künstlerviertel, das als Brutstätte vieler einflussreicher Folk- und Bluesmusiker (unter anderem von Bob Dylan, Fred Neil oder The Blues Project) in den 1960er Jahren bekannt wurde. Heute ist Loudon Wainwright III eine Institution, die niemandem mehr etwas beweisen muss und deshalb darf er durchaus Bilanz ziehen und sich dabei musikalisch wiederholen. Seine Hardcore-Fans wird es nicht stören.

    "I Been" erscheint mit Akustik-Gitarren- und Mundharmonika-Begleitung wie eine Bob Dylan-Parodie, "One Wish" kommt sogar ganz ohne instrumentelle Verstärkung aus und hört sich wie ein uraltes irisches Volkslied an. Knorrig-trockener, zuweilen bissiger oder mild gestimmter Gesang gibt den Songs trotz der sparsamen bis nicht vorhandenen Untermalung einen rebellisch-starrsinnigen oder verständnisvollen Anstrich. Da hat sich seit 1970 nichts dran geändert.

    "It Takes 2" nimmt Bezug auf den Song "One Man Guy" aus 1985 und kommt zu dem Schluss, dass es zumindest auf Dauer doch nicht so toll ist, ein eigenbrötlerischer Egoist zu sein, sondern dass das Glück auch in einer respektvollen Partnerschaft gefunden werden kann. Will Holshouser begleitet den sentimental gestimmten Troubadour einfühlsam bei seiner geläuterten Liebeserklärung am Akkordeon.

    Bei "Fam Vac" schlägt das Pendel dagegen wieder in Zynismus um: "Ich brauche einen Familienurlaub. Ich meine einen Familienurlaub allein. Ich packe das Auto, lade das Fahrrad und das Kajak ein. Und lasse die verdammte Familie zu Hause", heißt es da in diesem ironisch vorgetragenen Campfire-Song. "Jean Paul Sartre sagte, dass die Hölle die anderen Leute sind", singt Loudon zum Schluss. Bei ihm ist es anscheinend auch die Verwandtschaft und er zitiert als Beleg Leo Tolstoi: "Jede unglückliche Familie ist auf ihre besondere Weise unglücklich."

    Apropos Hölle: Für "Hell" findet der launige Musikant noch eine weitere Definition, die das Fegefeuer beschreibt. Die Hölle sei kein ferner Ort, meint er, eigentlich haben wir sie alltäglich auf Erden. Bei dieser filigranen Bluegrass-Ballade bringen die bewährten, virtuosen Musiker Chaim Tannenbaum (Background-Gesang und Banjo) sowie David Mansfield (das musikalische Wunderkind der legendären Alpha Band, Mandoline) feingesponnene, wohlüberlegt gesetzte Töne ein.

    Für "Little Piece Of Me" wird die Besetzung noch weiter ausgedehnt: LW3 (Gesang, Banjo, Percussion, Handclaps), Chaim Tannenbaum (Banjo), David Mansfield (Geige), Tony Scherr (Bass), Rich Pagano (Schlagzeug, Handclaps) und Dick Connette (Handclaps) verwandeln die Komposition in einen gut gelaunten Country-Folk-Song, bei dem Wainwright auf seine besondere sarkastisch-überzogene Art in die Rolle eines Obdachlosen schlüpft, der jeden Tag, den er überlebt, feiert: "Viele, die ich geliebt habe, sind aufgestanden und gestorben. Aber ich bin ewig, könnte man sagen. Ich bin unsterblich, vielleicht für heute", singt er vergnügt.

    Der traditionelle, ruhige Folk-Blues "No Man`s Land" ist eine Bühne, die sich Loudon gerne aussucht, um seine Geschichten zu erzählen, weil ihm hier auch die Möglichkeit geboten wird, mit seinem Gesang zu improvisieren. Deshalb könnte das Lied zu einem Live-Favoriten werden.

    Was ist das für ein Gefühl, wenn du in deinen Heimatort zurückkehrst, wo du jemanden zurückgelassen hast, der dir immer noch nicht gleichgültig ist? Sorgst du dich, hast du Gewissensbisse, bist du froh, die Chance zu bekommen, um alte Wunden schließen zu können? Diese Gedanken verarbeitet die schöne, sanfte, mit Bass, Schlagzeug und zwölfsaitiger Gitarre delikat ausgestattete Ballade "Back In Your Town".

    Wo lebt man besser: In der Stadt oder auf dem Land? Darüber gibt es je nach Standpunkt kontroverse Ansichten. Wainwright berichtet in "Town & Country", dass seine Mutter Angst vor der Stadt hatte. Sie war auf dem Land aufgewachsen und die Stadt hielt sie für zwielichtig und beschissen. Sein Vater arbeitete in der Stadt und er mochte es, dort Ärger herauszufordern. Gefahr war wohl sein zweiter Vorname. Loudon selber genießt in diesem Stück auch zunächst den städtischen Trubel und die Vielfalt, aber es fallen ihm auch unangenehme Seiten auf. So sieht er in einem Restaurant eine Ratte, die so groß wie eine Katze ist und er muss letztendlich feststellen: "Bringt mich raus aus der Stadt, sie ist zu verrückt für mich. Ich brauche Bäume, etwas sauberes Wasser. Ich möchte einen Kamin in einen Schaukelstuhl einbauen. Was ich jetzt weiß ist, die Stadt ist zu beschissen für mich." Aber kaum ist er wieder auf dem Lande, kommt die Sehnsucht nach den Versuchungen der Großstadt wieder durch. Häufig möchte man eben genau das haben, was man grade versäumt. Die Band begleitet diese Szenerie mit einem ausschweifenden, jazzigen Rhythm & Blues, bei dem die Bläser, die Orgel und die E-Gitarre für instrumentelle Glanzlichter sorgen.

    "Island" ist eine wunderschöne, sehr langsame und sehr innige Angelegenheit, die in ihrer Intimität und Verletzlichkeit an den herrlich bittersüßen Song "You Can`t Fail Me Now" erinnert, den Wainwright zusammen mit Joe Henry für den Film "Knocked Up" (2007) geschrieben hat. Das wortreiche "It" wird a cappella von Loudon und Chaim Tannenbaum vorgetragen. Der Text ist eine Aufzählung von Sachen, die "Es" mit dir machen wird. Und was ist dieses "Es" nun? Das pure Leben wahrscheinlich.

    "Hat" ist eines der Lieder, die Loudon Wainwright für und über seine Kinder geschrieben hat. So wie "Rufus Is A Tit Man" und "A Father And A Son", die Rufus Wainwright gewidmet sind oder "Pretty Little Martha", "Five Years Old" und "Hitting You" für Martha Wainwright. "Hat" wurde von seiner Tochter Lucy Wainwright-Roche inspiriert, denn das erste Wort, das sie sagen konnte war "Hat". Das brachte Loudon zum Nachdenken und ihm fiel ein, dass ein Hut so viel mehr ist als nur eine Kopfbedeckung. Er spendet Schatten und schützt vor Niederschlag. "Bewahre dein großes Geheimnis darunter - ich meine dein Gehirn", gibt er seiner Tochter noch mit diesem ausladenden Pop-Folk als Hinweis mit auf den Weg.

    Loudon Wainwright III blickt auf sein Lebenswerk zurück und fragt sich: Habe ich meine Zeit verschwendet? Hätte ich noch mehr Songs schreiben sollen? Meine Zeit läuft ab, aber was erwarte ich noch vom Leben? Und die Antwort ist: Liebe! Der Song "Lifetime Achievement" und eigentlich das ganze Album ist durchzogen von der Erkenntnis, dass die Liebe der Klebstoff ist, der unsere Zivilisation zusammen hält. Das kann man drehen wie man will. Und der Song dreht sich als Country-Walzer im dreiviertel Takt und verströmt ein Maximum an Altersweisheit und Milde.

    "How Old Is 75?" fragt sich Wainwright und sinniert darüber, dass sein Vater viel zu jung mit 62 Jahren abtreten musste. Aber wer kennt schon die Abmachung zwischen uns und Gott und lassen sich eventuell bei guter Führung neue Bedingungen aushandeln? Zunächst bestimmt hier ein Banjo das Tempo und sorgt für die nachdenkliche Stimmung. Dann schleichen sich allmählich melancholische Streichinstrumente ein und ein weicher Flaum legt sich über das Geschehen, der alle Befürchtungen einhüllt und eine von Dankbarkeit erfüllte Ruhe tritt ein. Das zur Ukulele vorgetragene, simple, lustige "Fun & Free" ist an Rufus gerichtet und mündet in der Empfehlung: "Verbringe das Leben, als wäre es ein Einkaufsbummel." Und so tritt neben die Besinnlichkeit auch die Heiterkeit und macht den musikalischen Kosmos von Loudon Wainwright III komplett.

    Wer den Mann sowieso schon schätzt, der wird auch "Lifetime Achievement" mögen und hoffen, dass danach noch viele weitere Ideen abgesondert werden. Wer ihn noch nicht kennt, der hat nun Gelegenheit, in seine von Klamauk, Sozialkritik und Schwermut geprägte Welt einzutauchen. Wainwright lässt uns noch wissen: "Sobald das Album gemastert und veröffentlicht ist, höre ich es mir nie wieder an, wenn das überhaupt möglich ist. Ich habe das "Lebenswerk" mittlerweile ziemlich satt. Trotzdem hoffe ich, dass es euch gefällt!" Ja, es hat gefallen! Schön, dass Loudon Wainwright III seinen speziellen Humor und sein Talent immer noch aus vollem Herzen großzügig verteilen kann.
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    My Life And I Kaz Hawkins
    My Life And I (CD)
    17.08.2022
    Klang:
    4 von 5
    Musik:
    4 von 5

    Ein Leben, das heftige schmerzliche Phasen verkraften musste, erfuhr die heilende Kraft der Musik.

    Der Name Kaz Hawkins ist bisher leider nur Insidern vorbehalten gewesen. Das ist sehr schade, denn das, was bei der Zusammenstellung "My Life And I" als Querschnitt einer 30 Jahre währenden Karriere an Musik zu hören ist, sollte einem großen Publikum bekannt gemacht werden. Kaz Hawkins wurde 1973 in Nordirland geboren und kam über eine Kassette von Etta James, die sie bei ihrer Großmutter hörte, zur Musik. Daraufhin legte sie sich für die eigene Karriere - die in den Bars von Belfast begann - ihren Künstlernamen zu, weil der Geburtsname von Etta James Jamesetta Hawkins lautet.

    Ihrem Idol zollt Kaz mit den Songs "At Last" und "Something's Got A Hold On Me" Tribut. "Ich konnte die Traurigkeit hören und identifizierte mich mit ihr. Ich wollte singen wie sie, aber ohne sie zu imitieren", erklärt Hawkins ihre Herangehensweise an die Transformation der mächtigen Vorlagen. Beide Cover-Versionen sind von gehörigem Respekt geprägt, so dass die Erhaltung der Würde der Originale wohl wichtiger war, als gänzlich neue Interpretationsmöglichkeiten zu erfinden.

    "Pray" entführt zu Beginn von "My Life And I" förmlich in die von glühender Gottesfürchtigkeit erfüllte Atmosphäre einer Kirche im Süden der USA. Die hingebungsvoll flehende oder inbrünstig röhrende oder kraftvoll donnernde Stimme von Kaz Hawkins erfüllt die Luft und versetzt die Gläubigen in Verzückung.

    Die Cover-Version von "Feelin' Good", im Original von Nina Simone, geht andere Wege als die Urfassung und führt deshalb zu einer kreativen Auseinandersetzung mit dem Ursprung. Setzt Nina Simone auf eine offensive optimistische Ausstrahlung des Songs, so gibt sich Kaz Hawkins zunächst verhalten, lässt die E-Gitarre den Blues verkünden und singt dazu besonnen und mit Selbstvertrauen, aber nicht wirklich vom Glück umflutet. Sie wird von einer rauschenden Orgel begleitet und die E-Gitarre weint dazu bittere Tränen, die allmählich zu Freudentränen werden. Dann reißt die sich gegen alle Widerstände wehrende Stimme den Himmel auf und die Sonne kommt durch. Die Gitarre übernimmt daraufhin das Zepter und lässt sich auf ein progressives Blues-Rock-Experiment ein.

    Vielleicht ist es zufällig passiert oder es wurde absichtlich so vorgesehen: Der Refrain von "Hallelujah Happy People" erinnert stellenweise an "Hallelujah" von Leonard Cohen. Ansonsten tummelt sich der Piano-begleitete Song im Umfeld von handfesten, leicht provokatorischen Chanson-, Cabaret- und Kurt Weill-Darbietungen.

    Die Ballade "One More Fight (Lipstick & Cocaine)" könnte aus dem Country-Folk-Repertoire von Carole King stammen, hätte sich also durchaus auch auf "Tapestry" gut angehört. Kaz benutzt das Piano quasi als zweite Stimme und erlangt so eine berührende Zweisamkeit. Erst zum Schluss wird deutlich, dass es sich um eine Live-Aufnahme handelt, die aus dem Park Avenue Hotel in Belfast (Nordirland) stammt. Offenbar war das Publikum so in die Vorstellung vertieft, dass zwischendurch keinerlei Geräuschkulisse abgesondert wurde.

    Für "Believe With Me" wird Marshall Tucker Band-Southern-Rock mit Doobie Brothers-Westcoast-Rock-Groove vermählt und auf diese Weise entsteht ein schwungvolles Stück, das sowohl als Classic-Rock-Radio-Futter taugt, wie auch bei eintönigen Autofahrten wach hält und gut unterhält.

    Als groovender Boogie wurde "Drink With The Devil" konzipiert. Der Gesang klingt hier oft so, als solle er absichtlich wie eine historische Aufnahme wirken. Der Track orientiert sich ansonsten - absichtlich oder nicht - am "Resurrection Shuffle" von Ashton, Gardner & Dyke aus 1971.

    Den Song "Full Force Gale" hat Van Morrison geschrieben und 1979 auf "Into The Music" als flotten Irish-Folk-Rock mit Gospel-Einschlag rausgebracht. Kaz Hawkins macht daraus eine charmante Blues-betonte Jazz-Ballade, die unter anderem durch ein kurzes, prickelndes Gitarren-Solo und den beherzt-vehementen Gesang ihre Spannung und Energie erhält.

    Der Jazz-Einfluss von "Don't Make Mama Cry" ist verhalten, ebenso dezent wird das Eröffnungs-Riff von Iggy Pops "The Passenger" eingebaut. Im Kern ist das Lied jedoch ein dynamischer Rhythm & Blues, der auch Janis Joplin gut zu Gesichte gestanden hätte. Natürlich macht Kaz Hawkins gesanglich wieder eine gute Figur, hält alle Fäden zusammen, dirigiert das Tempo und umgarnt die Musiker sinnlich und aufbrausend.

    Den Löwen-Anteil dieser Zusammenstellung bilden Piano-Balladen wie "Because You Love Me", "The River That Sings", "Surviving", "Don't You Know", "Don't Slip Away" und "Better Days". Sie setzen sich sowohl verträumt-romantisch wie auch lebendig-energisch in Szene und stellen die ausdrucksstarke Stimme von Kaz Hawkins - die ab und zu an Inga Rumpf (Frumpy, Atlantis) denken lässt - in den Mittelpunkt. Ganz bescheiden, klar und andächtig zeigen die Lieder auf, dass die Musikerin durch intime Intensität überzeugen kann. Zum Abschluss wird mit "Shake" nochmal leidenschaftlich dem Gospel-Soul gehuldigt, was zu einem schwindelerregend schnellen Mittelteil führt.

    Kaz Hawkins weiß, was Schmerz bedeutet, hat also den Blues gelebt. Als Kind bekam sie den brutalen Nordirlandkonflikt hautnah mit und ihr späteres Leben war von psychischen und physischen Qualen begleitet: „Ich war drogenabhängig, ich wollte sterben, ich war depressiv, ich wurde von meinem Ex-Partner fast zu Tode geprügelt. Ein Polizist rettete mich. Ein Arzt half mir bei der Heilung. Als ich sterbend auf dem Boden lag, kam das Gesicht meiner Mutter aus dem Grab zu mir und sagte: „Du schaffst das, es ist nur ein weiterer Kampf“. Dann kämpfte ich härter als je zuvor, um zu LEBEN, denn Musik war meine Bestimmung.“

    Die Musik von Kaz Hawkins ist von Glaubwürdigkeit und Aufrichtigkeit gekennzeichnet. Gleichzeitig besitzt sie ein untrügliches Gespür für den passenden instrumentellen Rahmen für die sorgsam ausgewählten Song-Ideen. Ihre stimmliche Gewalt wirkt nie aufgesetzt oder übertrieben eingesetzt. Nicht nur der Interpret, sondern auch der Song löst schließlich einen Reiz bei den Zuhörern aus. Es ist noch nicht zu spät, Kaz Hawkins für sich zu entdecken. Es lohnt sich!
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    29.07.2022
    Klang:
    4 von 5
    Musik:
    4 von 5
    Pressqualität:
    4 von 5

    Sorry Gilberto verabreichen akustische psychoaktive Substanzen mit gewünschten, positiven Nebenwirkungen.

    14 Jahre gibt es jetzt schon das Duo Sorry Gilberto aus Berlin, das aus der Sängerin, Multiinstrumentalistin und Schauspielerin Anne von Keller und dem Sänger und Gitarristen Jakob Dobers besteht. Mit "Psychoactive Ghosts" bringen sie am 29. Juli 2022 ihr fünftes Album auf den Markt, das erste seit sechs Jahren nach "Twisted Animals" aus 2016. Das ist eine lange Unterbrechung für ein Musikprojekt. In solch einer Spanne haben sich andere Gruppierungen längst aufgelöst, umformiert oder die Richtung gewechselt. Sorry Gilberto ist hingegen in der Veröffentlichungs-Schaffenspause gereift, hat an stilistischem Umfang gewonnen und agiert jetzt noch raffinierter, seriöser und geschmackssicherer als schon zuvor. Woran auch der agile Gast-Schlagzeuger Robert Kretschmar einen nicht zu unterschätzenden Anteil hat.

    "Hey Gilberto, I´m Not Sorry" lautet der Refrain zum Eröffnungs-Track "I`m Not Sorry". Eine Erkenntnis, die neue Sichtweisen und das Überwinden eines schlechten Gewissens offenlegt. Überaus galant und cremig wird der Song von einem swingenden, mild-psychedelischen Country-Folk-Thema eingeleitet und bekommt durch den ineinandergreifenden, fein aufeinander abgestimmten Duett-Gesang des Pärchens zügig eine seriös-gefasste Wendung verpasst. Entspannt-verlockende Musik, die zum vergnüglich-reizvollen Zuhören einlädt. Für "These Walls" übernimmt Anne von Keller den Lead-Gesang, den sie auf lieblich-kühle Weise über die sich teils stoisch wiederholenden, teils anziehend funkelnden Noten verteilt. Das konsequent peitschende Schlagzeug bildet dabei einen munteren Kontrast zu den verspielt-bunten Background-Tönen.

    Anne und Jakob führen bei "Bird (On My Shoulder)" ein poetisch-dadaistisches Zwiegespräch, wobei das Lied seine Brecht/Weill-Wurzeln kaum verleugnen kann, diese aber durch einen frechen Pop-Anstrich effektvoll zu kaschieren versucht. Rhythmisch, melodisch und gesanglich könnte "Neighbours" auch ein Titel der australischen Alternative-Pop-Combo Go-Betweens sein. Sie präsentierten aparte Songs, welche eingängig genug waren, um im Radio zu laufen, aber dennoch über eine gewisse Widerborstigkeit verfügten, um nicht glatt zu wirken. So wie eben auch "Neighbours".

    Ein langsam trottender, kräftig-gleichbleibender New-Wave-Rhythmus und eine silbrig klirrende Gitarre tragen den melodisch-ruhigen Solo- und Duett-Gesang von "Animals In The Night". Die E-Gitarre spielt zur Auflockerung sowohl Art-Rock-, Funk- wie auch Jazz-Akkorde und wird so zum Mittelpunkt des Geschehens.

    Ein Tag am Strand. Da kommen bei "The Beach" zunächst positive Erwartungen auf, die allerdings ohne Vorfreude, sondern sachlich vorgetragen werden. Die Aufzählung beinhaltet allerdings auch Gedanken, die einer bedrückenden Endzeitstimmung nahekommen. Zackige E-Gitarren-Klänge, eine rauschende Orgel und ein stramm marschierendes Schlagzeug verbreiten eine ausgelassene Stimmung, die durch eine stellenweise Verringerung des Tempos etwas eingetrübt wird.

    Die "Easy Street" ist eigentlich überall dort, wo Menschen für andere Menschen da sind, sie unterhalten oder sich um sie kümmern. Auf diese "Kümmerer" kann oder möchte niemand verzichten. Sie erhalten allerdings nicht den Lohn, den sie verdienen. Von Applaus oder Anerkennung alleine können sie aber nicht leben. Ein Dilemma, welches die Diskussion um leistungsgerechte Bezahlung immer wieder aufwirft. Sorry Gilberto gehen das Thema ohne Vorwürfe oder Bitterkeit an, sie sind zwar traurig über die ungerechte Wirklichkeit, wollen aber trotzdem nicht verzagen. Entsprechend melancholisch-zuversichtlich ist die Musik. Verträumte, verwehte Klänge werden von einer nachdenklich flirrenden E-Gitarre und einem unnachgiebige, aber nicht aggressiven Schlagzeug am Leben gehalten. Manchmal kann solch ein Beinahe-Klagelied sehr tröstlich sein.

    Psychoaktive Substanzen verändern das Denken, Fühlen und Handeln. Die Wahrnehmung wird durch sie eine andere und das kann sich richtungsweisend auf das weitere Leben auswirken. Jene Erfahrung kann ein Schritt in Richtung Erleuchtung sein, sie kann aber auch zur Sackgasse werden. Im Stück "Psychoactive Ghosts" wird der Wunsch nach Bewusstseinserweiterung als sehnsüchtige Hinwendung zu "Ideen, die wir am meisten lieben und Orte, die eine Verbindung mit Gedanken, die wir gerne denken", beschrieben. Also als ein individueller Wohlfühl- und Erkenntnis-Kosmos. Musikalisch werden diese Überlegungen jedoch nicht esoterisch verklärt, sondern mit tatkräftigem Folk-Jazz untermalt.

    Eine schwarze Lederjacke ist spätestens seit dem Film "Der Wilde" mit Marlon Brando von 1952 zum Symbol für Rebellion geworden. "Black Leather Jacket" verbreitet zwar keinen Aufruhr, nimmt aber textlich auch kurz Bezug auf die Kraft, die durch den Marlon-Brando-Auftritt geweckt wurde. Der Song setzt auf abgeklärte, dunkel-harsche Töne und ein langsames Tempo. Undurchsichtig, gleichmütig, klar strukturiert und mit freundlich-distanziertem Gesang von Anne von Keller wird über 6 Minuten Moll-lastiger Kunst-Pop zwischen Joy Divisions "Atmosphere" und David Bowies "Ashes To Ashes" erzeugt.

    Beim zunächst nur von der akustischen Gitarre begleiteten Lagerfeuer-Folk "Monologues" kommt erst einmal Jakob Dobers zu Wort. Er bekommt durch den einsetzenden Harmonie-Gesang seiner Partnerin eine stützende Begleitung, so dass der Track auch wegen der noch zugesteuerten sphärischen Synthesizer-Töne seine trockene Erscheinung verliert und tiefgründig erscheint.

    Sorry Gilberto haben sich mit "Psychoactive Ghosts" eindrucksvoll zurückgemeldet. Ihre Songs haben Charakter, zapfen unaufdringlich Referenzen an (z.B. João Gilberto (!!), Everything But The Girl, Rue Royale, Velvet Underground, Young Marble Giants, Joy Division, David Bowie, Belle & Sebastian) und zeichnen ein leicht halluzinogenes Bild, das zwischen Lust und Frust angesiedelt ist. Daneben hält der Spaß an Kontrasten die Songs lebendig: So erscheinen filigrane Töne neben provozierenden Rhythmen oder Schwebeklänge neben aufmunternden Takten. Die Lieder wurden so unterschiedlich ausgestaltet, dass sie mühelos über die gesamte Laufzeit von 45 Minuten für kurzweilige Unterhaltung sorgen.
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    The Beginning Tony Joe White
    The Beginning (CD)
    22.07.2022
    Klang:
    4 von 5
    Musik:
    4 von 5

    Baumwolle und Sümpfe haben das Leben von Tony Joe White beeinflusst. Lightnin` Hopkins und "Ode To Billie Joe" inspirierten seinen Sound.

    Er war ein Innovator, ein begnadeter Song-Schmied und ein cooler Typ, der am 25. Oktober 2018 mit seinem Tod eine nicht zu füllende Lücke hinterlassen hat. Und nun wird sein Werk "The Beginning", was nicht aus frühen Jahren, sondern aus 2001 stammt, neu veröffentlicht. Die Rede ist von Tony Joe White, dem 1943 in Louisiana geborenen Musiker, der den Stil "Swamp Music" definierte und perfektionierte.

    Aber der Reihe nach: Tony Joes Vater war ein armer Baumwollfarmer. Der Junge wuchs mit sechs Geschwistern in Goodwill, einem Kaff in Louisiana auf, das nur fünf Meilen von den Sümpfen entfernt lag. Die Arbeit auf den Baumwollfeldern, die Schwüle der Sümpfe und die Erzählungen der Einheimischen prägten sein Handeln und Denken. Im Elternhaus lief hauptsächlich Gospel-Musik und Hillbilly-Country im Radio. Ein älterer Bruder brachte eines Tages eine Lightnin` Hopkins-Platte mit nach Hause, da war es um Tony Joe geschehen. Der Blues hatte Besitz von ihm ergriffen. Daraufhin lernte er Gitarre und Mundharmonika, spielte zunächst bei Schulbällen, später in Nachtclubs und gründete eigene Bands. Als er 1967 "Ode To Billie Joe" von Bobbie Gentry hörte, gab ihm das den Impuls, auch Songs über Geschichten zu schreiben, die er erlebt oder gehört hatte und so entstanden kurz darauf seine Evergreens "Polk Salad Annie" und "Rainy Night In Georgia".

    1967 unterschrieb er dann auch seinen ersten Plattenvertrag und brachte bis 1973 sechs wegweisende Alben raus. Seine Songs wurden unter anderem von Elvis Presley, Ray Charles, Dusty Springfield oder Waylon Jennings übernommen. Einen späteren Karriereschub erfuhr er, als vier seiner Kompositionen auf Tina Turners "Foreign Affair" von 1989 landeten. Trotz aller hochkarätigen Referenzen blieb ihm der ganz große Erfolg jedoch versagt. Aber das ist wahrscheinlich gut so, denn deshalb brauchte er keine Erwartungen erfüllen oder brechen und konnte die Musik machen, die aus ihm raus wollte.

    Auf diese Weise entstand auch 2001 "The Beginning". Auf dem Werk hört man nur Tony Joe an der akustischen Gitarre und Mundharmonika. Als individuelles Element stampft er den Rhythmus mit dem Fuß und lässt dazu seine unverwechselbare, rauchig-erotische, knorrige Stimme ertönen. Musikalisch kehrt er hier oft zu seinen Anfängen zurück, als er den Blues für sich entdeckte und nach und nach seinen spezifischen, schwül erscheinenden Sound entwickelte. Das verspricht pure Intensität von einem Mann, der seine Emotionen ungefiltert übermittelt, wobei dann die Luft vibriert und die Sinne geschärft werden.

    "Who You Gonna Hoo-Doo Now" hört sich an, als wäre der Geist des verstorbenen Blues-Altmeisters Lightnin` Hopkins in Tony Joe White gefahren. Mit Hilfe einer trocken-gelassenen Boogie-Basis wird der wortreiche, 5minütige Folk-Blues zum Laufen gebracht Und das nicht, ohne dass White seine typischen Breaks und Schlenker sowie seine gesanglichen Verführungs-Nuancen wie ein sinnliches Knurren einbringt. 2013 erschien noch eine elektrische und elektrisierende Band-Version des Songs auf dem Album "Hoodoo".

    Für "Ice Cream Man" nutzt der "Swamp Fox" genannte Musiker das Multitracking-Verfahren und ist mit zwei Gitarren - in jedem Kanal eine - zu hören, die sich lustvoll umgarnen, ein anregendes Zwiegespräch führen und den Groove hochhalten. Der Track wurde 2004 für "The Heroines" in einer kräftig rockenden Variante mit Dire Straits-Einschlag produziert.

    Der bewegliche, lebendige und nachdenkliche Abstufungen nutzende Blues "Wonder Why I Feel So Bad" beginnt mit der klassischen Textzeile "Woke Up This Morning", was immer darauf hindeutet, dass Probleme zu bewältigen sind. Hier geht es um jemanden, der nicht weiß, wie sein Leben weitergehen soll, den die Vergangenheit plagt und der einen Weg sucht, um "dem Morgen ins Auge zu sehen".

    Bei "Going Back To Bed" wird ein Wochenende geschildert, dass durch eine lange Party und eine sich anschließende Depression gekennzeichnet ist. Daraufhin wird am Montag blau gemacht. Diese Schilderung geht eine stimmige Verbindung mit der lässigen Trägheit der Noten ein. Der milde, psychedelische Folk-Rock lässt sich treiben, liegt dabei jedoch an lockeren Ketten, so dass White jederzeit für Bindung sorgen kann. Das geschieht durch den durchdringend schmachtenden Gesang, der das Konstrukt auf charmant hypnotische Weise zusammenhält.

    Die Liebesgeschichte von "Down By The Border" ist dagegen romantisch geprägt, ohne dass der Ausgang bekannt gegeben wird. Auch die Musik dazu ist ungewöhnlich leichtgängig und transportiert dezent einen lebensfrohen Hauch mexikanischer Volks-Musik.

    Rhythmisch verdreht beschreibt "More To This Than That" die ironische Geschichte um einen Mann, der sich in der derzeitigen Welt veraltet vorkommt und Gegenmaßnahmen ergreifen will. Beschwörend, mit erotischer Komponente lässt Tony Joe den schwülen Swamp-Folk-Blues ablaufen, der neben Gitarre und Mundharmonika keine zusätzlichen Instrumente benötigt, um den Raum zu füllen.

    Der bedrückende Dark-Folk "Drifter" wurde so eingespielt, dass der Aufnahmeraum akustisch wahrnehmbar ist und deshalb keine sterile Tonstudio-Atmosphäre entsteht. Der "Drifter" verspielt alles und weiß zum Schluss nicht, wo er den Winter überstehen kann. An den Rand der Gesellschaft zu geraten, das ist derzeit der traurige Alltag für viele Menschen in den USA.

    "Rebellion" richtet sich an jene Leute aus dem Musikbusiness, die versucht haben, Tony Joe White zu einem Format-Radio-Künstler zu formen. Diesen Ignoranten ruft er zu: "Ich will nicht, dass mir jemand sagt, was ich zu tun habe. Ich bewege mich in meiner eigenen Zeit. Ich spiele diese Musik so, wie ich es will. Ich muss sie am Leben erhalten." Dafür, dass er wütende Ansagen macht, hält sich die Aggressivität des Songs doch sehr in Grenzen. Tony Joe bleibt auch gelassen, wenn ihm etwas auf die Nerven geht und begegnet seinen Kritikern mit einem selbstbewussten Folk-Rock, der sich zwar ziemlich entkrampft anhört, aber dennoch deutlich erzürnte Untertöne aufweist. Von "Rebellion" gibt es noch eine kernige Variante mit kreischend-rauen Gitarren im Neil Young & Crazy Horse-Gewand, die auf "Uncovered" von 2006 zu finden ist.

    Der klassische "Rich Woman Blues" erzählt von einer vermögenden Frau, die aufgrund vom Besitz von Ölquellen zu Geld gekommen ist. Ob sie ihren Partner, einen Bluesmusiker, wirklich liebt oder nur mit ihm spielt, bleibt offen. Manchmal verdirbt Geld ja den Charakter. Die Neuaufnahme auf "The Heroines" (2004) beschert dem Zwölftakter eine Bläser-Beteiligung, der ihn in Richtung New-Orleans-Jazz befördert. Für "Raining On My Life" singt Tony Joe anfangs mit sich selbst im Duett, gibt diese Möglichkeit aber schnell wieder auf. Durch die eingängige Melodie und den zündenden Refrain erhält der Blues eine liebliche Pop-Färbung, ohne dass er dadurch an Dringlichkeit verliert.

    Der Einfluss von Tony Joe White ist bis heute ungebrochen. Selbst aktuelle Künstler wie JJ Grey & Mofro, G. Love & Special Sauce, Robert Cray, Dharmasoul oder die North Mississippi All Stars haben ihm viel zu verdanken und lassen seinen Sound ehrwürdig weiterleben.

    "The Beginning" bietet tolle Musik und wird nun klanglich überarbeitet neu aufgelegt, wobei der Sound nur manchmal (z.B. bei "Ice Cream Man") erfrischt erscheint. Völlig unverständlich ist jedoch, dass gegenüber dem Original von 2001 die Reihenfolge der Lieder geändert und mit "Clovis Green" ein Album-Highlight weggelassen wurde.

    Eigentlich erwartet man von gehobenen historischen Schätzen, dass das Umfeld in Form von Bonus-Tracks wie Demo-Aufnahmen oder alternative Mixe erhellt wird und nicht, dass der Ursprung noch beschnitten wird. Das ist ganz klar eine verfehlte Veröffentlichungspolitik. Wer also das Original sein Eigen nennen darf, sollte es wegen der Neuveröffentlichung nicht verkaufen, sondern hegen und pflegen.

    Die Liner-Notes der Originalveröffentlichung aus 2001 verkündeten die nachfolgenden Fakten und Empfindungen im Zusammenhang mit der Entstehung des Werks: "Dieses Album begleitet mich schon fast mein ganzes Leben. Über die Jahre hinweg haben mich die Leute immer wieder gefragt, ob ich es jemals machen würde. Jetzt ist es fertig. Ich habe drei Mikrofone im Studio angeschlossen, dem alten Haus mit den hohen Decken und Holzböden. Die Gitarre und die Mundharmonika waren immer in greifbarer Nähe. Vorher verbrachte ich eine lange Zeit damit, beides nicht anzurühren. An manchen Tagen hatte ich ein gutes Gefühl und habe mich hingesetzt und die Musik rausgelassen. In diesen Momenten erlebte ich eine vollkommene Freiheit."

    Dem ist nichts hinzuzufügen, denn genau das zeichnet „The Beginning“ aus. Wie argumentierte der Musikjournalist und Buchautor Günter Ramsauer neulich so treffend: „Solo aufzutreten unterstreicht ja immer die Güte der Songs und das Können des Künstlers.“ Beide Qualitätskriterien werden von Tony Joe White voll erfüllt. Kunststück, er gehört ja auch zu den ganz großen Könnern seiner Zunft.
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    Lady For Sale Lola Kirke
    Lady For Sale (CD)
    22.07.2022
    Klang:
    4 von 5
    Musik:
    3 von 5

    Lola Kirke probiert den Spagat zwischen kommerziellem Erfolg und hintergründig-ironischem Protest.

    Sex Sales! Ganz schön aufreizend, wie sich Lola Kirke in Zeiten von "MeToo" auf ihrem Cover von "Lady For Sale" und bei den PR-Fotos zeigt.

    Genau genommen ist dieses zur Schau stellen von Körperlichkeit aber sarkastisch gemeint, denn Lola möchte darauf hinweisen, dass Frauen ab einem bestimmten Alter keine Chance mehr haben, sich ihren Job aussuchen zu können und generell oft nur auf Äußerlichkeiten reduziert werden. Und Lola Kirke weiß, wovon sie spricht, denn sie stand bereits in der Hauptrolle der Serie "Mozart In The Jungle" vor der Kamera, hatte aber immer wieder Probleme, aufgrund nicht konformer Körpermaße eine gewünschte Rolle zu bekommen. Deshalb führt sie ihre Musik-Karriere jetzt selbstbewusst und herausfordernd mit ihrem zweiten Album und der ironischen Aussage "Lady For Sale" auf dem Third Man Records-Label von Jack White (ex-White Stripes) fort.

    Die Welt des Ruhmes mit allen ihren Annehmlichkeiten und Schattenseiten dürfte Lola Kirke schon lange ein Begriff sein, denn sie ist die Tochter von Simon Kirke, dem Schlagzeuger von Free und Bad Company, der großen Erfolg verbuchen konnte, aber auch den Niedergang und Drogentod vom Free-Gitarristen Paul Kossoff miterleben musste. Deshalb sollte man davon ausgehen können, dass Lola Kirke weiß, was sie tut. Einmal im Hinblick auf ihre persönliche Darstellung und auch, was die musikalische Erscheinung angeht. Im Mainstream oder gegen den Strom schwimmen, das ist hier die Frage.

    Als Marketing-Kampagne gibt es ein Gymnastik-Video in Album-Länge, dass von Jane Fonda, die Aerobic in den 1980ern bekannt machte, angeregt wurde. Hiermit verknüpft Lola Kirke den Fitness-Trend mit ihrer Musik. Ist das nun eine clevere Strategie oder ein inneres Anliegen der Künstlerin? Lola Kirke sagt dazu: "Jane Fonda kämpfte ihr ganzes Leben lang mit einer Essstörung und fand, dass Sport eine gesunde Art sei, sich mit dem Körper auseinanderzusetzen. Ich kann Diäten nicht ausstehen und empfinde so viel Rebellion gegen die gesellschaftlichen Normen für den weiblichen Körper. Die Verbindung von Kunst und Kommerz und die Auswirkungen, die der Kommerz auf die Kunst hat, ist etwas, das mich wirklich interessiert und das ich auf dem Album erforsche: Wie hoch ist der Preis, wenn man versucht, seine Arbeit zu verkaufen? Das kann sehr teuer sein, sowohl im wörtlichen als auch im übertragenen Sinne. Ist es das wert? Diese Fragen stelle ich mir die ganze Zeit."

    Die Eröffnungsnummer "Broken Families" lehnt sich an traditionelle Country-Balladen an und benutzt moderat eingesetzte moderne Sound-Effekte. Das Stück betört melodisch und dürfte Menschen, die bittersüße Country-Pop-Schnulzen mögen, ansprechen. Das Tempo von "If I Win" ist flott und das Lied ist Pop-verliebt, aber dadurch auch austauschbar, weil an billigen Synthesizer-Effekten und abgegriffenen E-Gitarren-Akkorden nicht gespart wird.

    "Better Than Any Drug" hört sich an, als würde Madonna jetzt Country machen, wobei der Mainstream-Pop-Anteil den elektronischen Country-Twang fast vollständig überflüssig macht. Das Titelstück "Lady For Sale" wurde auch mit einem Workout-Video bedacht, bei dem die Gymnastik-Kommandos das Lauschen der schwungvollen Schlager-Musik empfindlich stören. Der Track ist vordringlich als Animations-Grundlage für den Sport gedacht, da er rhythmisch aktiv daherkommt und dadurch anspornend wirkt. Eine musikalisch anspruchsvolle Grundhaltung ist nicht zu spüren.

    Bei "Pink Sky" steht wieder die Musik und nicht die sportliche Betätigung im Vordergrund. Und siehe da, schon ist das Ergebnis interessant. Nicht nur die prächtige, flirrend-weinende Pedal-Steel-Gitarre schürt Erinnerungen an den Beginn des Country-Rock mit Musikern wie Linda Ronstadt ("Will You Still Love Me Tomorrow", 1970) oder Rick Nelson & The Stone Canyon Band ("Garden Party", 1972). "Stay Drunk" bekommt einen frischen Rockabilly-Punch verordnet, der aber vom Pop-Faktor in den Hintergrund gedrängt wird. Es herrscht also eher Hochglanz als Rock`n`Roll-Rebellion.

    "The Crime" muss wieder für ein Fitness-Video mit störenden Anweisungen herhalten und ist dem belanglosen Gute-Laune-Festzelt-Schlager näher als dem authentisch-lebensnahen Traditional-Country. Das gleiche gilt auch für den dünnblütigen, faden, von Country infizierten Electro-Pop "Fall In Love Again", der auch für eine Gymnastik-Einheit eingesetzt wird.

    Das romantisch schmachtende "No Secrets", bei dem Pop- und Country-Anteile in etwa gleich verteilt sind, hebt die Welt nicht aus den Angeln, ist aber netter Radio-Stoff, der bei langen Autofahrten für unaufdringliche Unterhaltung sorgen kann - wenn man das mag. Zwischen Stevie Nicks und Kelly Clarkson pendelt sich die süßliche Ballade "By Your Side" abschließend ein, ohne bleibenden Eindruck zu hinterlassen.

    Die Verbindung von Sport-Animationen mit Country-Pop halte ich für keine gute Idee, um Lola Kirke eine ausbaufähige Karriere-Basis zu verschaffen, da die Originalität der Musik einem anderen Zweck geopfert und somit zu einem Begleitprodukt herabgestuft wird. Die Sport-Aktionen vermitteln den Eindruck einer oberflächlichen Selbstdarstellung, weil sie wie Werbevideos von einem Shopping-Kanal aussehen. Musik und Bewegung passen auf diese Weise nicht zusammen, scheinen sich sogar gegenseitig zu behindern und die Musik wird durch die eingeblendeten Übungs-Kommentare zur Nebensache. Außerdem scheint die anfänglich beschriebene politisch-soziale Botschaft zur Festigung einer gleichberechtigten Rolle der Frau in der Gesellschaft durch die anbiedernde Marketing-Strategie auf der Strecke zu bleiben.

    Aber weit gefehlt: "Lady For Sale' ist mein süffisanter und ironischer Kommentar zu einer Kultur, die Selbstvermarktung bzw. die eigene Kommerzialisierung und das eigene Zur-Ware-Werden nicht nur akzeptiert, sondern belohnt. Ich mache mich über die Gegebenheiten, das Wertesystem lustig. In den Songs geht es darum, wie ermächtigend es sein kann, die eigene Objektivierung zu steuern. Obwohl es ein System des Dich-klein-Haltens ist, profitierst du", erklärt Lola Kirke ihre Vorgehensweise.

    Da ist es schon bitter, dass die wirklich vielversprechenden musikalischen Ansätze, die zum Beispiel bei "Broken Families", "Pink Sky" oder "No Secrets" aufhorchen lassen, nicht weiter verfolgt wurden. Das Gesamtkonstrukt wirkt ziemlich unausgegoren, schwammig und berechnend, weil Charts-orientiert. Oder ist die Musik etwa als leichter Köder gedacht, um die Klientel zu erreichen, für die der Einsatz für Frauenrechte formuliert wurde? Wenn ja, ist das zumindest nicht offensichtlich.

    Jedenfalls hat Lola Kirke offen über ihre Absichten gesprochen, die sie mit den Kompositionen verband: "Als Courtney Marie Andrews und ich uns zum Schreiben hinsetzten, wollten wir einen Song hinbekommen, den wir im Country-Radio hören können", berichtet sie zur Motivation, "Broken Families" zu verfassen. Das ist im Prinzip nicht verwerflich, passt nur nicht zur geäußerten Kommerz-Ablehnung. Das musikalische Ergebnis sollte aber unabhängig von der gedanklichen Ausrichtung qualitativ hochklassig sein, was auf "Lady For Sale" leider nicht konstant der Fall ist.
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    Aerial Objects Simon Goff & Katie Melua
    Aerial Objects (CD)
    22.07.2022
    Klang:
    4 von 5
    Musik:
    4 von 5

    Aus der Vogelperspektive betrachtet ergibt sich häufig ein erhellender Blick auf die Welt.

    Große Künstler und Künstlerinnen erkennt man unter anderem daran, dass sie an sich arbeiten und ein Erfolgskonzept nicht ausschlachten. Diese Kriterien können durchaus an Katie Melua angelegt werden, die 2003 ihre Veröffentlichungs-Karriere als 19jährige, unschuldig-zugängliche Pop-Fee begann und sich nach und nach zu einer ernstzunehmenden Singer-Songwriterin zwischen Pop, Folk und Jazz entwickelte.

    Im Jahr 2010 übernahm der Electronic-Produzent William Orbit einen Teil der Arbeit von Mike Batt, der früher für die gefälligen Arrangements der 1984 in Georgien geborenen Musikerin sorgte. Für "In Winter" ließ sich Melua dann vom 25köpfigen Gori Women`s Choir und dem Arrangeur Bob Chilcott unterstützen. Auf "Album No. 8" aus 2020 zeigt sich die feinsinnige Sängerin mit der betörenden Stimme dann als vielseitige, bedächtige Komponistin und Interpretin von mild gestimmtem Art-Pop. Das Album wurde von einer privaten Trennung begleitet und erschien 2021 noch einmal als abgespeckte, nicht minder lieblich-hübsche Akustik-Version, auf der der Musiker, Komponist, Toningenieur und Produzent Simon Goff als Gast bei zwei Songs zu hören ist.

    Auf "Aerial Objects" tritt Katie Melua nun als Partnerin von Simon Goff auf. Der aktuell in Berlin lebende Künstler ist vorwiegend in der klassischen sowie elektronischen Musik und in der Entwicklung von Soundtracks zu finden. Er "sucht nach einem inneren Raum zwischen den Genres und erforscht, wie die Geige manipuliert und verarbeitet werden kann, um einen einzigartigen Klang zu erzeugen, der sich traditionellen Definitionen widersetzt", wie es auf seiner Homepage heißt.

    Simon erschafft auf "Aerial Objects" mit Geigen und analogen Synthesizern die instrumentelle Basis für verträumte, bedrohliche oder mechanische Klänge, während Katie für unschuldig-sympathische Schwingungen steht. Diese unterschiedlichen musikalischen Erfahrungen werden dazu genutzt, um gemeinsam etwas Neues zu kreieren.

    Die Geistesverwandten waren nach eigenen Aussagen dabei, den Raum zu erkunden, der zwischen ihnen existiert, um darin Gemeinsamkeiten zu entdecken. Sie möchten außerdem abbilden, wie unterschiedliche Umgebungen auf Menschen wirken und so kam es zu diesen sechs kultivierten Klanglandschaften, die von der Kommunikation zwischen den Partnern und deren Fähigkeit, Emotionen in Töne zu übertragen, lebt.

    So vermittelt das Stück "Tbilisi Airport" weitläufig angeordnete Schwebeklänge, bevor Katie die meditative Stimmung gesanglich aufgreift. Ab und zu blinken helle Töne wie Sterne am Himmel auf und der Bass rumpelt, als würde ein Gewitter aufziehen. Tbilisi ist übrigens der georgische Name für Tiflis, der Landeshauptstadt von Georgien, dem Geburtsland von Katie Melua.

    Die Geige summt zunächst wie ein nervöses Insekt, dann übernimmt ein schmatzender Synthesizer-Laut bei "It Happened" die Vorherrschaft. Gleichzeitig legt sich Meluas beschwichtigend-sanfte Stimme um die Noten. Kurz darauf wird es stürmisch. Geige und Synthesizer scheinen ein Unheil heraufzubeschwören und Katie begleitet diesen Tonstrudel zunächst mit wortlosen, sich dem unabwendbaren Schicksal fügenden Schwingungen. Als sich die Gefahr langsam verzieht, stellt der Gesang einen stabilisierenden Faktor dar, der sich auch beim weiterhin auf- und abschwellenden Sound nicht mehr erschüttern lässt.

    "Hotel Stamba" ist eine Hommage an ein Hotel in Tiflis, in dem Katie ihre ersten acht Jahre verbrachte. Der Song soll die Gefühle transportieren, die sie für diesen Lebens-Raum empfand. Im Text ist sowohl Respekt gegenüber dem Gebäude wie auch Überdruss gegenüber dem lebhaften Hotelalltag untergebracht worden. Entsprechend werden musikalisch permanent wiederkehrende, überreizte Minimal-Art-Motive wie auch ausgeglichen-behagliche Momente abgebildet.

    Poetisch verklausuliert spiegeln sich Enttäuschung und Bedauern in "Textures Of Memories" wider. Zwei Gemütslagen, die bei einer Trennung ein starkes Gewicht haben. Es liegt eine bleierne Schwere auf der sachte dahinfließenden Melodie, die von Katie Melua mit so viel Haltung wie möglich gesungen wird. Aber die Tristesse greift gierig nach der Seele, denn ein Kampf um die Liebe hinterlässt oft schwer heilende Wunden.

    Das titelgebende Stück "Aerial Objects" arbeitet sich fleißig vom schemenhaften Traumgebilde zum polternden, bombastisch aufgeladenen Barock-Progressive-Rock hoch. Melua bleibt bei dieser stetigen Achterbahnfahrt der Emotionen der besonnen-abgeklärte Ruhe-Pol der Komposition. Space-Sounds, verwehte E-Gitarren-Klänge, weiche Streicher-Schwaden, rhythmische Geigen-Töne, kräftige Bässe und ein becircender Gesang begleiten dann das abschließende, fast 7minütige "Millions Of Things" und verhelfen dem Lied zu einem rauschhaft-flimmernden Klima.

    Ambient, Krautrock, Psychedelic-Rock, Minimal-Art - jede Form bewusstseinserweiternder Klänge fließen in den Sound von Simon Goff & Katie Melua ein und bereiten den Nährboden dafür, dass sich die Sängerin mit der warmen, einfühlsamen Stimme in die atmosphärisch dichten Sounds fallen lassen kann. Sie ist Gegengewicht oder Vermittlerin im Hinblick auf die provozierenden instrumentalen Tonspuren und füllt ihre steuernde Rolle souverän aus. Melua verleiht den künstlerisch wertvollen Kompositionen Stabilität und Empathie, während sich Goff hingegen für die Erzeugung von Spannung und die Vermittlung von rätselhaften Klang-Erfahrungen einsetzt.

    Durch die Verschmelzung ihrer Talente und dem Gedankenspiel, Räume zu erkunden - was einem Blick aus der Vogelperspektive gleicht - ermöglichen sich Goff & Melua einen Perspektivwechsel gegenüber ihrem bisherigen Schaffen und bilden dadurch gleichzeitig ein Sub-Genre zwischen sogenannter ernster- und Unterhaltungs-Musik. Nach einer halben Stunde ist der Zauber dann allerdings schon vorbei - man soll ja aufhören, wenn es am schönsten ist.
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    Medication Time Todd Sharpville
    Medication Time (CD)
    08.07.2022
    Klang:
    4 von 5
    Musik:
    4 von 5

    Der Blues kann sehr unterschiedlich interpretiert, aber dennoch glaubwürdig vermittelt werden, wie Todd Sharpville beweist.

    Immer wieder taucht die Frage auf, ob ein weißer Musiker wirklich authentisch den Blues spüren und singen kann oder ob das der afro-amerikanischen Bevölkerung vorbehalten sein sollte, weil es Teil ihrer (Leidens)-Kultur ist. Rein aus künstlerischen Gesichtspunkten kann eindeutig festgestellt werden, dass es etliche "Weißbrote" gibt, bei denen aus jeder Pore und jeder Schwingung der pure Blues glaubwürdig und mitreißend strömt.

    Wie zum Beispiel bei den Urgesteinen Long John Baldry, Eric Burdon oder Mitch Ryder, in deren Schatten auch Todd Sharpville als eigenständiger, flexibler Musiker agiert. Sharpville verfügt über eine raspelnd-röhrende Stimme, die auch verführen, umgarnen oder einfach nur für gesteigerte Aufmerksamkeit sorgen kann. Interessant ist seine Musik auch deshalb, weil er nicht einfach den originalen 12-Takt-Sound nachspielt, sondern diesen erheblich moduliert und transformiert. Sein Blues ist selten pur, aber dennoch respektvoll und leidenschaftlich, manchmal leidend, stets empathisch und immer kreativ und unterhaltsam.

    Kein Wunder, denn Todd hatte sich schon als Kind zunächst für Buddy Holly, Jerry Lee Lewis sowie Elvis und wenig später für Freddie King begeistert. Seitdem ließ ihn der Blues nicht mehr los. Sein Gitarrenspiel ist entsprechend von vielen seiner Helden beeinflusst, die T Bone Walker, BB King, Buddy Guy, Hubert Sumlin, Eric Clapton, Lightnin` Hopkins, Albert King, Otis Rush, Peter Green oder Magic Sam heißen. In seiner inzwischen 30jährigen Karriere hat der britische Musiker bereits mit Größen wie Gary Brooker (Procol Harum), Bill Wyman (The Rolling Stones), Ian Hunter (Mott The Hoople), Roger Daltrey (The Who), Taj Mahal, Derek Trucks & Susan Tedeschi, Branford Marsalis, Mick Taylor (The Rolling Stones), Joe Cocker und Pink zusammengearbeitet und ist dabei zu einer herausragenden Musikerpersönlichkeit gereift. Sein Erstlingswerk "Touch Of Your Love" erschien bereits 1992 und wurde zum besten Album bei den British Blues Connection Awards ausgezeichnet, als Todd parallel den Preis als bester Gitarrist erhielt.

    Sein neuestes Werk "Medication Time", das am 8. Juli 2022 erscheint, taucht in die Vergangenheit des beliebten und vielseitigen Musikers ein. Es rollt eine Phase auf, die mit Schmerzen und Angst verbunden ist, denn vor 16 Jahren gab es nach der Trennung von seiner Frau einen hässlichen Streit um das Sorgerecht für seine Kinder, die bei ihm zu einem Kollaps führte und als Folge daraus einen 2-monatigen Aufenthalt in einer psychiatrischen Klinik nötig machte. "Bis dahin war ich eher ein Kontrollfreak, und die Erkenntnis, dass Kontrolle nur eine Illusion ist, dämmerte mir erst, als ich mich mit einer reaktiven Depression und selbstmordgefährdet in einer staatlichen Einrichtung untergebracht wiederfand.", erzählt Sharpville über diese Zeit. Mit "Medication Time" wird dieser Tiefpunkt aufgearbeitet und der Weg hinaus in die sogenannte Normalität anhand von neun Eigen- und drei Fremdkompositionen begleitet.

    "Walk Out In The Rain" wurde von Bob Dylan (mit)geschrieben, aber nie von ihm veröffentlicht. Es gibt von dem Stück eine schön entspannte Version von Eric Clapton auf "Backless" von 1978, die durch eine gewisse J.J. Cale-Lässigkeit gefallen kann. Todd Sharpville hat diese Haltung schon nach einer Minute abgestreift und gurgelt sich gesanglich in eine streitsuchende Position hinein, lässt zwischendurch wieder locker, wandelt aber insgesamt energisch-zornig durch den von einem kraftvollen Rhythm & Blues-Drang geprägten Song. Das Lied wurde wahrscheinlich stellvertretend für die gescheiterte Beziehung ausgewählt. "Get Outta My Way" wirkt auf spannungsgeladene Weise unruhig. Der Track baut ordentlich Druck auf und fühlt sich dem R&B und Rock & Roll verbunden. Die hungrig aufspielenden Bläser und die ungeduldige E-Gitarre sorgen dabei für instrumentelle Glanzlichter.

    Die Ballade "Tangled Up In Thought" bringt zunächst wieder Ruhe ins Klangbild, das von einer leise rauschenden Hammond-B-3 Orgel geprägt wird. Das obligatorische, resolut-entschlossene Gitarren-Solo sorgt dann für etwas Aufregung und Sharpville legt sich gesanglich mächtig ins Zeug. Aber die leidenschaftlichen Gefühle gewinnen letztlich doch nicht die Oberhand. Leider wird das Stück nach fünfeinhalb Minuten immer noch zu früh ausgeblendet, die erwartete absolute Zuspitzung bleibt auch deshalb aus. Der Track beschreibt eine Situation, die durch festgefahrene Gedanken gekennzeichnet ist, welche ein ausgeglichenes Leben verhindern. "Denn der Geist, der wirklich beunruhigt ist, ist der Geist, der nachts zum Leben erwacht", berichtet Sharpville und nennt auch den Grund für die Krise: "Nicht alle Antworten zu kennen füttert nur einen ruhelosen Kopf."

    "House Rules" beschreibt anschaulich, wie der Alltag mit seinen ausgesprochenen oder angenommenen Regeln, bei denen sich eventuell die Partner nicht einig sind, eine Beziehung schwer belasten kann. Bei diesem Song schielt manchmal stimmlich kurz der knurrige Don van Vliet (Captain Beefheart) um die Ecke. Er bleibt aber ein Phantom bei dem cool swingenden Boogie-Blues, der die Slow-Dancer auf den Tanzboden lockt. Die Blasinstrumente bilden für den melodischen, elegant-eingängig agierenden Funk-Blues "Brothers From Another Mother" eine kompakte Einheit, deren knackige Fanfaren den Weg für die Sänger und Gitarristen Todd Sharpville und Larry McCrae frei machen, die sich gegenseitig befeuern und gemeinsam den Mond anheulen. Das Lied berichtet über schlechte Zeiten und die Kraft der Freundschaft, die alle Hindernisse überwinden kann.

    Amy Winehouse wollte keine Therapie machen ("Rehab") und verlor das Leben. Todd Sharpville hat sich in seiner Not auf fremde Hilfe eingelassen und ein neues Leben gewonnen. Das Titelstück "Medication Time" schildert das Leiden sowie die Hoffnung auf Besserung und ist so ruhig und langsam, dass es in Trauer zu versinken droht. Der Gesang baut über die über acht Minuten Laufzeit hinweg eine gequält-leidende Atmosphäre auf, wobei die E-Gitarre nach etwas über sieben Minuten die Luft mit einem befreiend-schreienden Solo zerreißt. Der attraktiv groovende Blues-Rock "God Loves A Loser" zieht seine Schärfe wiederum aus der treibenden Rhythmus-Arbeit, den drängelnden Gitarren-Spuren und der eruptiv fauchenden Orgel. Zynisch und desillusioniert wird der Zustand eines Menschen geschildert, dem das Schicksal übel mitgespielt hat: "Weißt du, wenn Gott einen Verlierer liebt, bin ich mir verdammt sicher, dass er mich mögen wird", heißt es da. Und: "Hoffnung ist ein Fremder und Angst ist mein bester Freund."

    Die originelle Cover-Version von "Money For Nothing" der Dire Straits hat alles, was dem glattpolierten, hochgezüchteten Original fehlt: Biss, Schärfe, Ecken und Kanten sowie Sex-Appeal. Das Original spielte ein Typ in der Psychiatrie rauf und runter, so dass Todd eine Hass-Liebe zu dem Song entwickelte. Nun hat er ihn so verändert, dass er in seine Welt passt und sich wie ein vollständig anderes Lied anhört. Das langsame, psychedelische "Silhouettes" hätte auch hervorragend auf das 1971 erschienene, bizarr-rauschhafte Album "Just For Love" von Quicksilver Messenger Service gepasst. Mit einer ausdrucksstarken Poesie werden zu den grau schimmernden Tönen noch schwermütige Bilder einer gequälten Seele gemalt.

    "Stand Your Ground" taucht in eine bedächtig-stimmungsvolle Oldtime-Jazz-Landschaft ein und bewegt sich mild swingend und gefällig vorwärts. Sich nicht von anderen Menschen klein machen zu lassen, ist besonders im Umfeld der sogenannten sozialen Medien schwierig, da dort jeder, der sich äußert, den Nutzern schutzlos ausgeliefert ist. Anstand bleibt häufig auf der Strecke. Sharpville ruft mit "Stand Your Ground" dazu auf, sich im Leben gegen unqualifizierte Anfeindungen zu stemmen. Der von der MTV Unplugged-Serie bekannte Bruce Springsteen-Country & Western "Red Headed Woman" klingt hier, als hätten sich der junge Elvis, Ray Charles und Willie Nelson sinnbildlich zu einem rhythmisch aufgestachelten Rockabilly zusammengetan. Das Liebeslied "I Don't Need To Know Your Name" lässt das Album dann versöhnlich im lieblich-rührenden Southern Soul-Stil ausklingen und gibt textlich einen Ausblick auf eine neue Liebe, die die Wunden der Vergangenheit lindern kann.

    Todd Sharpville ist mit "Medication Time" ein sehr abwechslungsreiches und lebendiges Album mit aussagefähigen und richtungsweisenden Texten gelungen. Der Brite beherrscht sämtliche Stil-Abstecher in Richtung Soul, Pop, Jazz und Southern-Rock meisterhaft, so dass er sich mühelos zwischen sanften und heißen Tönen bewegen kann und trotzdem immer überzeugend-seriös rüberkommt. Der Musiker kann nicht nur stimmlich für erregend-gefühlvolle Momente sorgen, sondern lässt auch seine Gitarre singen und in diesem Zuge ergreifende, wild-romantische Geschichten erzählen. Es ist schön für Todd, dass er seine belastende Vergangenheit bewältigen konnte und wir profitieren dadurch, weil wir nun in den Genuss dieser reifen, vortrefflichen Musik kommen. Die "Medication Time" ist glücklicherweise für Todd Sharpville vorbei, es lebe die geistige Freiheit!
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    Gefühlte Wahrheiten Gefühlte Wahrheiten (CD)
    02.07.2022
    Klang:
    5 von 5
    Musik:
    5 von 5

    "Gefühlte Wahrheiten" sind sympathischer als dogmatisch verkündete Weltanschauungen: Jochen Distelmeyer gibt der Liebe eine Chance.

    Es war der 31. Mai 2018, ein warmer Frühlingstag, da traten Blumfeld im Bremer TOWER-Club auf. Es sollte ein denkwürdiger Konzert-Abend werden. Ich erwartete eine eher akustisch geprägte Singer-Songwriter-Show, bekam aber ein saftig fetzendes, mega-intensives, von wilden elektrischen Gitarren getriebenes Rock-Konzert vom Feinsten geboten. Blumfeld spielten 12 Stücke und kamen danach noch vier Mal für Zugaben zurück, so dass insgesamt 19 Tracks mit einem enormen Spannungsbogen geboten wurden. Bis heute hoffe ich auf einen Tonträger von diesem Ereignis oder zumindest von dieser Tournee.

    "Gefühlte Wahrheiten" ist da aus ganz anderem Holz geschnitzt. Das dritte Solo-Album vom Blumfeld-Chef Jochen Distelmeyer setzt da an, wo die Gruppe 2006 mit "Verbotene Früchte" aufgehört hatte und Distelmeyer mit "Heavy" im Jahr 2009 sowie mit dem auf Englisch gesungenen Cover-Versionen-Album "Songs From The Bottom Vol. 1" aus 2016 ansetzte. Das bedeutet, es ist gefühlsbetonter Singer-Songwriter-Stoff, verschachtelter Folk-Jazz, elegant-geschmeidiger Soft-Rock und dynamischer Pop im akustischen und elektronischen Gewand zu erwarten. Jochen Distelmeyer ist ein aufmerksamer, kluger Geschichtenerzähler, der seine Aussagen in Gesprächs-Monologe kleidet, die er um Selbsterkenntnisse ("Gefühlte Wahrheiten") erweitert.

    Der Auftakt "Komm (So nah wie du kannst)" verbreitet einen cremigen, kultivierten Easy-Listening-Sound mit einer hypnotischen und einer schwärmerischen Komponente, die den Eindruck der verzehrenden Liebe, die textlich geschildert wird, noch akustisch verstärkt. Bei "Zurück zu mir" ist der Liebes-Zauber verflogen und der Protagonist wird so hart von der Realität getroffen, dass er sich jetzt nur noch auf sich selbst besinnen will, weil ihm zu allem Überfluss der katastrophale Zustand der Welt den Rest gibt. Der geschmeidige Pop-Klang täuscht darüber hinweg, welch bedrohliche Lage hinter den Beschreibungen steckt. Aber da die Hoffnung zuletzt stirbt, schwelgt der Titel trotzdem in versöhnlich-salbungsvollen Noten.

    Der sanft-melancholische Soft-Rock von "Hey Dear" lebt von seinem hintergründigen hypnotischen Groove, der sich still und heimlich einschleicht und dann das Wohlfühlzentrum des Gehirns ausfüllt. Die geschilderte Beziehung taumelt zwischen aufkommenden Zweifeln und heftigem Begehren - mit ungewissem Ausgang. Diese Gefühlsregungen stehen auch im Mittelpunkt von "Im Fieber". Das ist ein leichtfüßiger Song, der zielstrebig Melodie und Refrain miteinander vereint, wobei der unangestrengte Rhythmus dafür als Bindemittel dient.

    "Tanz mit mir" erinnert an den perfekt produzierten, eleganten Synthie-Pop von Scritti Politti aus den 1980er Jahren. Anmut und elektronische Instrumente stellten damals keine Gegensätze dar und tun es auch nicht bei diesem ausgeklügelten Smooth-Soul. Die langsame, sehnsüchtig schmachtende Westcoast-Folk-Ballade "Nur der Mond" geht danach tüchtig zu Herzen, klingt schön altmodisch und beinhaltet sogar ein völlig aus der Mode gekommenes, ausschweifendes E-Gitarren-Solo.

    Es folgen drei Lieder in englischer Sprache, bei denen es sich im Gegensatz zu "Songs From The Bottom Vol. 1" nicht um Fremd-, sondern um Eigenkompositionen handelt. Sie stammen von einem Country-Mixtape mit dem Namen "Songs From The Dark Age". Klassischer Country ist die Heimat von Schuld und Sühne, von zerbrochener und unerfüllter Liebe. Genau davon erzählen die Songs "Gone Girl", "The Reason" und "Roads Of Regret". Ich hätte mir statt dieser Auswahl eine Bonus-CD mit dem gesamten Country-Opus gewünscht. Außerdem wäre eine Ausgliederung der englischen Titel wahrscheinlich angenehmer im Hinblick eines stimmigen Ablaufs gewesen. So wirkt es, als hätte man aus Versehen den Sender gewechselt. Was nicht die Qualität der authentisch vorgetragenen Tracks schmälert, deren bittere Süße ihre betörend-innige Wirkung nicht verfehlt.

    Der Begriff Liedermacher wird heutzutage nur noch mit Sängern aus den 1960er und 1970er Jahren in Verbindung gebracht. "Manchmal" lässt dieses poetisch-nachdenkliche, teils politisch motivierte, teils den Alltag reflektierende Genre wieder aufleben und ist irgendwo zwischen Reinhard Mey und Hans-Dieter Hüsch einzuordnen.

    Mit dem elfeinhalb minütigen Slow-Blues "Nicht einsam genug" greift Distelmeyer den epischen Talking-Folk-Stil vom Stück "Jenseits von Jedem" (2003) auf, der wiederum von Bob Dylan`s "Desolation Row" (von "Highway 61 Revisited" aus 1965) inspiriert war. Der Song ist ein Musterbeispiel an Coolness, Wortwitz und hypnotischer Melodieführung. Er fasziniert vom Anfang bis zum Ende und zeigt die kompositorische Brillanz des Hamburger Musikers. Großartig!

    "Ich sing für dich" ist ein Mut machender Track, der durch seine aufrichtige Anteilnahme zu Tränen rührt, weil es auf Menschen aufmerksam macht, die nicht unbedingt vom Glück gesegnet wurden. Der bedächtige Country-Folk transportiert die konstruktive Melancholie fabelhaft, so dass der Spannungsbogen über die ganzen fünfeinhalb Minuten erhalten und die Aufmerksamkeit ungebrochen bleibt.

    "Gefühlte Wahrheiten" ist nicht das berüchtigte schwierige dritte Album geworden, dazu verfügt der 54jährige Musiker und Romanautor ("Otis") über zu viel Erfahrung, um in solch eine Identitätsfalle zu stolpern. Das neue Werk führt vielmehr bewährte Ausdrucksformen fort und profitiert vom Gespür für attraktive Text- und Melodie-Ideen seines Schöpfers und seinem geschmeidigen Umgang mit der deutschen Sprache. Also alles wie erwartet und erhofft?

    Jetzt mag kritisiert werden, dass sich die Themen hauptsächlich um Liebesbeziehungen in der glühenden, romantischen, zweifelnden oder verglühenden Phase drehen und weniger ums Zeitgeschehen. Aber vielleicht ist es in dieser unruhigen Zeit sinnvoller, Lieder mit wichtigen zwischenmenschlichen Aspekten zu füllen, als mit irgendwelchen halbgaren politischen Aussagen. "Gefühlte Wahrheiten" ist aber alles andere als unkritisch, denn das Anprangern von Missständen wird konkret ("Nicht einsam genug", "Ich sing für dich") oder mitunter versteckt in die analytisch-kritischen Beziehungsgeschichten eingeflochten ("Zurück zu mir").

    Dann könnte vielleicht kritisiert werden, dass Distelmeyer zu sehr nach Distelmeyer klingt und es kaum musikalische Entwicklungen zu verzeichnen gibt. Aber genau das macht das Besondere der Platte aus, ihre beständige Zuverlässigkeit. Schließlich nimmt ja auch niemand Anstoß daran, wenn Bruce Springsteen einen hohen Wiedererkennungswert beweist oder Neil Young seine bewährten akustischen oder elektrischen Stücke nur wenig variiert.

    Distelmeyer hat einen unverwechselbaren Stil entwickelt, der sich durch glaubwürdige, intelligente Texte und geschmackvolle Exkursionen durch Pop, Soul, Rock, Blues oder Folk auszeichnet. Er ist ein sensibler Poet und ein wacher Beobachter. Hohle Phrasen dreschen ist nicht sein Ding. Der charmant-flüssige Gesang destilliert den lyrischen Aspekt aus der manchmal sperrig wirkenden deutschen Sprache und veredelt ihn hymnisch.

    Der verlässliche, traumwandlerisch sichere Sound von Jochen Distelmeyer schafft Vertrauen und beglückt. Genau wie die Texte, die Halt und Kraft geben sowie Verständnis und Erkenntnisse vermitteln. "Gefühlte Wahrheiten" enthält zwar in erster Linie Beziehungs-Lieder, die sich romantisch oder realistisch mit vielen Facetten von Partnerschafts-Angelegenheiten beschäftigen. Das geschieht aber so unverstellt wie möglich, so nahe am wirklichen Leben, wie es auszuhalten ist und so mitfühlend, dass der Liebe auch nach einer großen Enttäuschung noch (mindestens) eine zweite Chance eingeräumt wird. Und was ist in Krisenzeiten wichtiger als den Geist der Liebe zu beschwören? "All You Need Is Love".
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    Reggae Film Star Reggae Film Star (CD)
    25.06.2022
    Klang:
    4 von 5
    Musik:
    4 von 5

    Damien Jurado praktiziert mit "Reggae Film Star" die Kunst der vorgetäuschten Untertreibung.

    Der am 12. November 1972 in Seattle geborene Damien Jurado ist in den 25 Jahren seiner Veröffentlichungs-Karriere schon längst vom Insider-Geheimtipp zum anerkannten Singer-Songwriter herangewachsen. Seine erste offizielle Platte "Waters Avenue S." brachte er 1997 beim Sub Pop-Label heraus, das durch Grunge-Bands wie Mudhoney, Screaming Trees, Soundgarden oder Nirvana bekannt wurde. Die Plattenfirma setzte später auf Diversifikation und nahm unter anderem Dark-Folk-Acts wie Scud Mountain Boys, The Pernice Brothers und Mark Lanegan unter Vertrag. In diesem Umfeld konnte sich die Jurado-Musik schnell vom rumpelnden Folk-Rock zu einem Sound mit immer mehr sensibel-intimen Anteilen entwickeln. Wobei er für "I Break Chairs" (2002) nochmal zu einem aggressiveren Klang zurückkehrte.

    Auch wenn der Vergleich mit Nick Drake bei introvertierten Musikern inflationär benutzt wird, so ist er bei Damien Jurado tatsächlich angebracht. Die traurige Stimme, die geschmackvollen Streicher-Arrangements, die an die Robert Kirby-Entwürfe für Nick Drake erinnern und die überwiegend entspannten Klang-Darbietungen sprechen da eine deutliche Sprache. Gibt es etwa eine spirituelle Verbindung zwischen den beiden Musikern? Der kurze Appetitanreger "Lois Lambert" zeigt zumindest eine schon gespenstische Nähe zu dem 1974 mit nur 26 Jahren gestorbenen Nick Drake.

    "Reggae Film Star" ist bereits Jurados achtzehntes Album, wobei der fleißige Autor seit 2018 in schöner Regelmäßigkeit jedes Jahr eine Platte fertigstellte, bei denen er seit "In The Shape Of A Storm" aus 2019 ausschließlich vom Multiinstrumentalisten Josh Gordon begleitet wird, da sein bisheriger künstlerischer Zwilling Richard Swift 2018 den Folgen seiner Alkoholsucht erlag. 12 Songs sind es dieses Mal geworden, die in der klassischen LP-Länge von 35 Minuten Platz fanden, womit das Werk noch die längste Laufzeit der letzten fünf Platten aufweist. Aber Qualität geht natürlich vor Quantität, wenn auch der Konsument einen gewissen Anspruch auf einen zeitlichen Gegenwert für sein Geld erwarten darf.

    Beim Opener "Roger" tauchen sie dann auch das erste Mal auf, diese wohlig-weichen synthetischen Streichertöne, die bei aller Lieblichkeit nicht süßlich-klebrig klingen. Dieser kleine, aber feine Unterschied bei der Bildung einer Klangfarbe ist entscheidend dafür, ob der Sound authentisch-natürlich oder aufgesetzt-schmierig empfunden wird. "Roger" wartet durch die passenden Schwingungen allerdings mit einer Melancholie auf, die Schmerz spürbar macht, ohne dabei weinerlich zu wirken.

    Diese Stimmung ist auch zunächst bei "Meeting Eddie Smith" vorherrschend. Nach etwas über einer Minute gibt es einen Bruch und der Song wird durch leicht swingende brasilianische Rhythmen und hymnische Background-Gesänge in ein leichteres Fahrwasser befördert. Aber nach einer weiteren Minute ist die Schwermütigkeit zurück und hält sich bis zum Ende des Stücks.

    Beim gemütlichen "Roger’s Audition" und der Ballade "What Happened To The Class Of ’65?" setzt sich allmählich ein Sound-bestimmender, tapsender Rhythmus durch, wie er auch bei den groovenden Folk-Boogie-Nummern von J.J. Cale zum Einsatz kommt. Der intime Jazz-Folk "Location, Undisclosed (1980)" hält mehrere Ausprägungen bereit. Zunächst startet das Lied langsam und scheu, erhält dann eine elegante Pop-Legierung und anschließend klingt es romantisch aus.

    "Day Of The Robot" balanciert charmant das Verhältnis zwischen intimer Atmosphäre und strammem Beat aus, wobei der Gummiband-Bass für Beweglichkeit und die Streicher-Wolken für Nachdenklichkeit stehen. Mit einem ausgeglichenen einminütigen Folk-Jazz-Intro beginnt "Ready For My Close Up", das danach etwas strenger und wortreich fortgeführt wird.

    Das dringliche "Taped In Front Of A Live Studio Audience" wird durch einen monoton-hypnotischen Takt und eine im Hintergrund quengelnde E-Gitarre nach vorne getrieben, während der Gesang versucht, in dieser nervösen Atmosphäre Haltung zu bewahren. "Whatever Happened To Paul Sand?" besteht größtenteils aus einer Unterhaltung, wobei alle Gespräche und Gedanken nur von Damien Jurado gesungen werden. Der zur Untermalung verwendete Folk-Rock bildet eine Grundlage, die weder leidenschaftlich noch gelangweilt daherkommt. Eher routiniert-unaufgeregt, aber dennoch interessiert-aufmerksam.

    Kaum ist der Spannungsbogen von "The Pain Of No Return" aufgebaut, ist das Lied auch schon wieder zu Ende, so dass der Dream-Pop sein süßes Gift gar nicht richtig versprühen kann. Mit über fünf Minuten Laufzeit ist "Gork Meets The Desert Monster" das längste Stück des Albums und drückt zuvor geäußerte essentielle Gefühlslagen erneut aus. So taucht intim-zerbrechlicher Country-Folk auf, psychedelisch-mystische Schwingungen werden eingeblendet und der Gesang lotet die Spannweite zwischen Zerbrechlichkeit und Empörung aus.

    Damien Jurado ist nicht nur ein einfühlsamer Song-Gestalter, sondern auch ein Poet, der seine Texte assoziativ und hintergründig verfasst, wobei einige Bedeutungen kryptisch bleiben. Genau wie der rätselhafte Album-Titel, zu dem es offenbar keinen Bezug zu geben scheint. Die überwiegende Gefühlslage auf "Reggae Film Star" ist bittersüß, das heißt, Emotionen wie Ernsthaftigkeit und Empathie ohne krankhafte Schwermut spielen eine große Rolle.

    Gesanglich bewegt sich Jurado oft im sympathischen Mittelton-Bereich. Intensivere Stimmungslagen werden von ihm nicht durch eine Erhöhung der Lautstärke, sondern durch den Wechsel in höhere Stimmlagen ausgedrückt, was für Geduld und Liebenswürdigkeit bei der Behandlung von Problembereichen spricht. Die Songs hinterlassen auch dadurch meistens ein bescheidenes oder demütiges Bild. Sie sind nicht überladen und beinhalten fein gesponnene Arrangements, die ihre suggestiven Eigenschaften erst nach und nach preisgeben.

    Neben Nick Drake sei noch Neil Young als Bezugspunkt erwähnt. Besonders die milden Soundtrack-Folk-Songs von "Comes A Time" (1978) und die mystisch-verhangene Undurchsichtigkeit von "On The Beach" (1974) haben Eindrücke hinterlassen, denn die dort eingesetzte Kunst der vorgetäuschten Untertreibung wird auch von Damien Jurado praktiziert. Das führt dazu, dass sich seine Lieder manchmal wie spontane Demo-Versionen anhören, in Wirklichkeit aber präzise ausgeklügelte, nebulös gestaltete, delikate Kompositionen sind. "Reggae Film Star" ist wie eine sinnliche Innenansicht der menschlichen Psyche und möchte fachkundig erobert werden. Entspannen. Zuhören. Genießen.
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    Zenzile: The Reimagination Of Miriam Makeba Zenzile: The Reimagination Of Miriam Makeba (CD)
    20.06.2022
    Klang:
    5 von 5
    Musik:
    4 von 5

    Im Andenken an „Mama Africa“ erschafft Somi ein ganz besonderes Cover-Versionen-Album.

    Manche Künstlerinnen und Künstler sind größer als ihr kreatives Werk, weil sie daneben auch gesellschaftlich Außerordentliches geleistet haben. So wie Harry Belafonte, der sich schon immer für benachteiligte Menschen einsetzte oder wie Miriam Makeba, die 1959 aufgrund ihrer Kritik gegen das Apartheid-Regimes nach einem USA-Aufenthalt nicht mehr in ihr Heimatland Südafrika einreisen durfte und 1963 ausgebürgert wurde. Erst 1990, als Nelson Mandela Staatschef war, durfte sie zurückkehren.

    Am 4. März 2022 wäre Miriam Makeba, deren amtlicher Vorname Zenzile ist, 90 Jahre alt geworden, sie starb aber leider am 9. November 2008 bei einem Konzert in Italien an einem Herzinfarkt, den sie unmittelbar nachdem sie ihren bekanntesten Titel "Pata Pata" gesungen hatte, erlitt. Es war Somi Kakoma, die damals zum Andenken in New York ein Konzert mit Wegbegleitern und Bewunderern wie Harry Belafonte, Paul Simon oder Randy Weston organisierte.

    Die Musikerin Somi wurde als Laura Kabasomi Kakoma am 6. Juni 1981 in Chicago, Illinois, USA, geboren. Ihre Eltern stammen ursprünglich aus Ruanda und Uganda, so dass die Suche nach ihren Wurzeln ein Teil ihrer musikalischen Identität geworden ist. Deshalb fühlt sie sich auch kulturell und menschlich sehr verbunden mit der Aktivistin und Künstlerin Miriam Makeba und widmete ihr fünftes Album ganz und gar dem Vorbild. Im Frühjahr 2020 inszenierte Somi zunächst ein Musical mit dem Titel "Dreaming Zenzile", das dann durch Corona ausgebremst wurde. Aber zumindest kam jetzt mit "Zenzile: The Reimagination Of Miriam Makeba" die Audio-Ausgabe der Wertschätzung zum runden Geburtstag rechtzeitig auf den Markt und erweist sich als künstlerisch herausragende Hommage.

    Somi entfacht einen stimmlichen Klang-Bogen, der vom hauchzarten Flüstern bis zum Donnerwetter reicht. Sie handelt dabei aufmerksam-konzentriert sowie einfühlsam-bewegt und agiert stets songdienlich. Das heißt, sie singt nicht alles in Grund und Boden - obwohl sie es könnte - sondern findet je nach Ausrichtung des Liedes die dafür passende Stimmlage und das nötige Volumen. Für jede Fremdkomposition erfindet sie eine maßgeschneiderte Darstellung, welche das Original ehrt, aber konsequent eigene Wege geht.

    Für "Umhome" werden bunte Afro-Jazz-Ton-Bilder voller Licht, Lust und Laune gemalt, wobei sich Somi als umsichtige, fantasievolle Malerin erweist, deren lebendiger und trotzdem empathischer Gesang keine Grenzen kennt. Das sie begleitende Ensemble agiert rhythmisch flexibel und solistisch virtuos, so dass der Sound vor Spannung und Erregung knistert.

    Selbst ein total abgenudeltes Traditional wie "House Of The Rising Sun" bekommt unter der Regie der afro-amerikanischen Musikerin wieder neuen Glanz verliehen. Die Moritat vom Freudenhaus in New Orleans trägt Züge eines klar strukturierten französischen Chansons, ist Blues-geerdet, vom Jazz verwöhnt und transportiert den Frohsinn des bunten Mardi Gras-Karnevals. So entstand ein kultureller Schmelztiegel, der alle Sinne stimuliert.

    Der Afro-Pop "Milele" zeichnet sich durch eine melodische Geschmeidigkeit und rhythmische Beweglichkeit aus, wie sie hauptsächlich in Ländern, die rund um den Äquator liegen, praktiziert wird. Das 18köpfige "Zenzile"-Team wird hier von Seun Kuti, dem Sohn von Fela Kuti (dem Erfinder des Afrobeat) am Saxophon und durch Thandiswa Mazwai, einer südafrikanischen Sängerin, deren Eltern Anti-Apartheit-Aktivisten waren, verstärkt.

    Gelassene und freche traditionelle afrikanische Folklore trifft bei "Hapo Zamani" auf elegante Jazz-Grooves. Im Laufe des Stücks, das geregelt und kontrolliert beginnt, schäumt die Lebensfreude schließlich über und alle Beteiligten singen und spielen sich in einen Rausch. Da kann niemand mehr stillsitzen.

    Es ist immer ein Gewinn, wenn Gregory Porter als Gesangspartner zur Verfügung steht. Der Mann besitzt einfach eine überragende individuelle Klasse und weiß deshalb genau, wie man sich optimal bei einem Song einbringt. Für den Slow-Jazz-Track "Love Tastes Like Strawberries" umgarnt er sich stimmlich mit Somi auf einer Ebene, die an die ganz großen Soul-Duette von Donnie Hathaway & Roberta Flack oder Marvin Gaye & Tammi Terrell erinnern.

    Die Ballade "Khuluma" trägt ziemlich dick auf. Der Gesang ist von Zucker überzogen, wirkt dadurch gekünstelt und wird von der Gast-Vokalistin Msaki noch in seiner Schwülstigkeit verstärkt.

    Den Welthit "Pata Pata" von 1967 wollte Somi eigentlich gar nicht aufnehmen, weil Miriam ihn im Nachhinein nicht mehr mochte, da er ihr in der Rückblende zu unpolitisch erschien und deshalb nicht ihrem eigentlichen Anliegen, dem sozialen Engagement entsprach. Indem Somi den Song umkrempelte und Original-Aussagen von Miriam zur Apartheid und zu ihrer persönlichen Situation einblendete, konnte sie sich mit dem Ergebnis anfreunden. Auf diese Weise trägt die Variante zu einer vollständigen Sicht über die Absichten von Miriam Makeba bei, denn politische Aufklärung und eine optimistische Weltsicht finden so zueinander. Somi nimmt das Tempo gegenüber der Urfassung total zurück, manipuliert ihren Gesang durch Vocoder-Sequenzen und definiert den Song als eine heilige, introvertierte Messe.

    Bei "A Piece Of Ground" trifft die emotional überzogene Darstellungsform des Broadway Musicals auf die Improvisationskunst und die rhythmische Vielfalt des Jazz. Dadurch werden massenkompatible und schwieriger zu hörende Elemente gleichberechtigt in einem Track untergebracht. Ein Experiment, das Aufmerksamkeit und Toleranz erfordert.

    Der gemächliche, mal transparent, mal üppig arrangierte Voodoo-Jazz-Pop von "Kwedini" wird von Somis Stimme gekrönt, die sich genüsslich räkelt und ausgelassen jubiliert.

    "Lakutshon’ilanga" ist im Original eine langsame, leidvoll gesungene Folk-Jazz-Ballade, die als Cover-Version nun eine schwungvolle Bass-Untermalung und ein flankierendes, punktuell spritziges Piano verordnet bekommt. Auch der Gesang unterscheidet sich von der Vorlage, da er hier Lebensfreude ausdrückt.

    "Olili" verbindet Dramatik in Gestalt von traurigen Streichern mit lieblich-freundlichem, getragenem Gesang zu einer weichgezeichneten Ballade, die durch ein Bass-Solo einen kunstvoll-intellektuellen Anstrich bekommt.

    Der Rhythmus von "Mbombela" verläuft zunächst zurückhaltend, aber dennoch eindringlich. Im Gegenzug haben die herausfordernd stimulierende Stimme und eine quengelnd improvisierende Solo-E-Gitarre Vorrang bei diesem karibisch anmutenden, jazzigen Rhythm & Blues.

    Mit Angelique Kidjo taucht auf "Jike’lemaweni" eine weitere Ikone der afrikanischen Pop-Musik auf und gibt gesanglichen Beistand, obwohl Somi dies gar nicht nötig hätte. Aber die beiden Stimmen ergänzen sich erquicklich und verleihen dieser spritzigen Folklore einen zusätzlichen Reiz.

    Der südafrikanische Männerchor Ladysmith Black Mambazo, der schon 1986 auf Paul Simons "Graceland" glänzte und dort für Gänsehautmomente sorgte, färbt auch "Nonqonqo" mit seinem erdigen Gesang feierlich, wobei gleichzeitig eine gelassene Schwere vermittelt wird.

    Das melancholische Jazz-Chanson "Malaika" strahlt Ruhe und Leidenschaft aus, was sich emotional in dem nur vom Piano begleiteten "Ring Bell, Ring Bell" fortsetzt.

    Die Neuinterpretationen werden mit "Mabhongo" - im Original ein eineinhalb minütiger traditioneller Chorgesang - abgeschlossen. Somi greift dieses Mantra auf, lässt es vom Pianisten Nduduzo Makhathini verzieren und singt dazu mit ergreifender, sanftmütiger Stimme.


    "Zenzile: The Reimagination Of Miriam Makeba" ist ein ambitioniertes Projekt und erweist sich als würdige und einfallsreiche Verbeugung vor Miriam Makeba. Die Songs werden von Somi mit Respekt behandelt und trotzdem kreativ umgedeutet, so dass sich die Welt von "Mama Africa" neu erschließen und entdecken lässt. Diese Vorgehensweise enthüllt auch, worauf der Idealismus und die Motivation von Miriam Makeba beruhte: Vielen Afrikanern ist aufgrund ihrer Lebensumstände zum Weinen zumute. Sie tanzen und singen dann aber lieber, um sich zu trösten, wobei sie durch mitfühlend-kraftspendende Musik Unterstützung erhalten sollen.

    Somi ist eine brillante Sängerin, Komponistin, Schauspielerin und Dramaturgin, die enorm viel Herzblut und Verstand in die respektvoll behandelten und kreativ interpretierten Cover-Versionen legt, so dass die Stücke ein prickelndes Hörvergnügen bereiten. Die Songs bringen traditionelle afrikanische Folklore, Jazz, Pop, Soul und Chanson so zusammen, dass sich die unterschiedlichen Musikstile gegenseitig befruchten. Wem "Graceland" von Paul Simon viel bedeutet, der wird auch an "Zenzile: The Reimagination Of Miriam Makeba" seine Freude haben. Eine besondere Erwähnung verdient noch der plastische, glasklare, volle und dabei transparente Sound, der das Album zum rundum gelungenen Ereignis werden lässt.
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    New Mythology Nick Mulvey
    New Mythology (CD)
    20.06.2022
    Klang:
    4 von 5
    Musik:
    4 von 5

    Auf der Sinnsuche: Nick Mulvey definiert aus seiner persönlichen, geläuterten Sicht für "New Mythology" den Umgang der Menschen untereinander und mit der Natur.

    Der Londoner Singer-Songwriter Nick Mulvey ist von der Ausbildung her ein studierter Klangkonstrukteur, der erste Erfolge beim von ihm mitgegründeten Portico Quartett erzielte. Das ist ein Avantgarde-Ensemble, dem Mulvey von 2005 bis 2011 angehörte, wo er eine Art Steeldrum, das sogenannte Hang, spielte. Durch seine musikalischen Erfahrungen in Havana (Kuba) und sein Musik-Studium in Großbritannien bekam er Zugang zu unterschiedlichen ethnologischen Klängen, die er gerne in seinen Kompositionen unterbringt und so Rhythmus und Melodie in einen verwirbelten, eingängig-anspruchsvollen Einklang bringt.

    "New Mythology" erscheint nach fünf Jahren Veröffentlichungspause und man spürt, dass sich Vieles im Leben von Nick Mulvey ereignet und aufgestaut hat, das jetzt raus muss: "A Prayer Of My Own" zeigt den Kampf gegen die eigenen Unzulänglichkeiten und stellt die ultimative Frage: "Wie kann man das Unerträgliche ertragen?", also wie kommt man zum Beispiel mit sich selbst ins Reine und wächst an seinen Fehlern? Die Motivation an sich zu arbeiten, zieht Nick Mulvey unter anderem daraus, dass er Kinder hat, denen er ein guter Vater sein will.

    Mulvey ist ein Geschichtenerzähler, der sich bei seiner Arbeit nicht sklavisch am klassischen Folk-Genre festhält, sondern er sorgt bei seinen Kompositionen für Luft und Licht und gibt ihnen die Möglichkeit, sich in alle Richtungen ausdehnen zu dürfen.

    Das an die eigene Person gerichtete Gebet "A Prayer Of My Own" bekommt seine Dringlichkeit nicht nur durch die schonungslos offenen, anklagenden Bekenntnisse, sondern auch über die suggestive Musik verliehen: Die akustische Gitarre erzeugt ein hypnotisches Mantra, Stimmen verbreiten eine spirituell gefärbte Stimmung und ein zurückhaltend gespieltes Piano lässt zärtliche Momente entstehen, die von übersinnlichen Schwebetönen durchzogen werden. Zusammen mit dem aufgeräumt-geläuterten Lead-Gesang des Lied-Schöpfers und dem luftig-beschwingten Schlagzeug ergibt sich eine ergreifende Hymne, die sich stetig dynamisch steigert.

    "Star Nation" hinterlässt einen verträumt-halluzinogenen Eindruck, steht aber gesanglich fest mit beiden Beinen auf dem Boden. Textlich bleiben einige Bedeutungen im Dunklen, daneben gibt es allerdings noch einen eindeutigen Aufruf, endlich zu leben, zu heilen und zu dienen, der in dieser Form missionarisch rüberkommt. Musikalisch handelt es sich bei dem ausgeruhten Track um einen Hippie-Folk mit Pop-Melodik und Sinn für metaphysische Gedankenspiele.

    Der Song "Mecca" steht als Sinnbild für einen Sehnsuchtsort, der die Beziehung zwischen Pilger und Schrein definiert. Der Schrein scheint dabei auch ein Symbol für die Konzentration auf das Wesentliche und für die Befreiung von Angst und Begierde zu sein. Das Streben nach einem Zustand totaler Kontrolle über Körper und Geist ist die Erfüllung dieser Weltanschauung, um frei denken und fühlen zu können. Das Lied hat somit zunächst nichts mit einer bestimmten Religion zu tun, sondern lebt von seiner übergeordneten Symbolik. Die Musik bewegt sich als adäquater Begleiter auf verschlungenen mystischen Pfaden, bedient aber auch den Wunsch nach eingängigen Motiven.

    Karibisch anmutende Rhythmen machen aus "Brother To You", das ein kompliziertes Verhältnis zum Thema hat, eine diffizil swingende Weltmusik mit unaufdringlichen Ohrwurm-Qualitäten. Stimulierende Polyrhythmik, lebensbejahender Gesang und ein eingängiger Refrain bauen selbstbewusst ein schlüssiges Konzept auf, so dass der entspannte Song nicht so schnell vergessen werden kann.

    Die Noten von "Shores Of Mona" sind von Zärtlichkeit durchzogen. Nick Mulvey erweist sich als hyper-sensibler Troubadour, der eine Ruhe ausstrahlt, die wie eine Anti-Stress-Therapie wirkt. Der akustische Dream-Folk, der einen barocken Anstrich erhalten hat, wird in der zweiten Hälfte noch wirkungsvoll durch wolkige Synthesizer-Schwaden samtig aufgefüllt, was ihm zusätzliche Tiefe verleiht.

    "The Gift" entführt rhythmisch auf den afrikanischen Kontinent. Die Takte verströmen sowohl Schwüle wie auch Coolness, wobei sich die Stimmung als verhalten positiv charakterisieren lässt. Akustische und elektronische Töne geben sich die Klinke in die Hand, Tradition und Moderne begegnen sich dabei auf Augenhöhe.

    Die Exotik von "Sea Inside (Third Way)" ist geographisch nicht eindeutig zuordenbar, zeigt sich sowohl beschwörend wie auch lebhaft und zeugt davon, wie international verständlich die Sprache der Musik ist.

    Der Groove-betonte Country-Folk von "Causes" transportiert Sehnsüchte und Hoffnungen, die sich in das lässige Sound-Bild unkompliziert einfügen. Americana trifft parallel auf Soul, so dass sich weltliche und religiös motivierte Schwingungen begegnen.

    Das hypnotisch-monotone "Another Way To Be" tritt melodisch auf der Stelle, punktet dafür beim Thema Minimal-Art-Folk. Gleichförmigkeit ist hier das Mittel der Wahl, um eine suggestive Wirkung zu erzielen.

    "Mona" entpuppt sich als ein optimistisches Gegenstück des Liedes "Shores Of Mona" und setzt dabei auf die belebende Wirkung von sich wiederholenden Abzählreim-Refrains und auf ein straffes Takt-Gefühl.

    "Interbeing Part 1" ist ein kurzes Intermezzo, das mit Grillenzirpen unterlegt ist. Da kommt Lagerfeuerromantik auf. Das Wort "Interbeing", also das Zwischenmenschliche, fasst zusammen, um was es bei "New Mythology" geht, sagt Mulvey. Deshalb sind diese improvisiert wirkende Tonfolgen wohl der innere Ausdruck dessen, was der Musiker unter Verbundenheit versteht.

    Die Großmutter von Nick Mulvey hieß Mary, so wie auch seine Schwester. "Begin Again (Love You Just The Same)" berichtet unter anderem von der unsichtbaren Verbindung zwischen Nick und seiner Oma. Er hat sie nie kennen gelernt, fühlt sich ihr aber verbunden, weil sie in Erzählungen warmherzig, bescheiden und gütig beschrieben wurde. Und dann steht da noch der Wunsch nach einer zweiten Chance bei einer Beziehung im Raum. Bei aller Unterschiedlichkeit zwischen den Individuen ist es die nicht erloschene Liebe, die die Fackel der Hoffnung am Glimmen hält.

    Die Liebe ist der Zündstoff, aus dem die hier versammelten "neuen Mythologien" entstanden sind. Es sind existentielle, brennende Fragen, die Nick Mulvey antreiben. Bei diesen Betrachtungen fließen reale Probleme und spirituelle Beziehungen zusammen. Die zu diesen aufwühlenden Gedanken einfühlsam entworfene Musik trägt melancholische Züge. Sie wird einfallsreich, transparent oder auch atmosphärisch dicht interpretiert.

    Die Songs entstanden in den letzten fünf Jahren aus vielerlei Erfahrungen heraus. Da sind zum Beispiel der Umzug von Großbritannien nach Ibiza und die Rückkehr auf die Mittelmeer-Insel, die Rolle als Vater, die Zukunftsängste hinsichtlich des Klimawandels und die einschränkenden Umstände durch die Pandemie zu nennen. Das alles hat deutliche Spuren im Denken und Fühlen hinterlassen, so dass das erste Werk nach "Wake Up Now" aus 2017 einen Künstler präsentiert, der seinen Status in der Welt neu definiert und diese Herausforderung mit der Hingabe eines sensiblen und aufgeschlossenen Musikers angeht. Er lässt uns mit seinem dritten Album "New Mythology" an diesem Findungs-Prozess teilhaben, der ihn in ständiger Bewegung zeigt. So sind für das aktuelle Werk die Songs "Begin Again" und "Third Way" von der "Begin Again EP" aus 2020 nochmal einer kompletten Überarbeitung unterzogen worden. Die Ergebnisse des Forschungsdrangs sind spannend, berührend, lehrreich und manchmal auch aus der Sicht des unbeteiligten Dritten etwas verworren.

    "Das Album handelt von Erdung, von diesem Planeten, meinem Leben. Es geht um spirituelle Ideen und darum, sie zu nutzen", erklärt Nick Mulvey seine Gedankengänge und seine textlichen Inspirationen. Die erzeugten Klänge sind stets reiz- und sinnvoll, voller Empathie und bemerkenswerter Ideen. Danke für die Einladung zu diesen persönlichen Einblicken, Nick Mulvey. Es war mir ein erbaulich-sinnliches Vergnügen.
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    Big Time Angel Olsen
    Big Time (CD)
    19.06.2022
    Klang:
    4 von 5
    Musik:
    4 von 5

    "Big Time" sorgt für große Gefühle, wie sie bei hingebungsvoller Liebe oder schmerzhafter Trennung entstehen.

    Angel Olsen, die als Angelina Maria Carroll 1987 in St. Louis geboren wurde, hat sich mit ihren fünf Alben "Half Way Home" (2012), "Burn Your Fire For No Witness" (2014), "My Woman" (2016), "All Mirrors" (2019) und "Whole New Mess" (2020) als sensibel-eindringliche Musikerin etabliert. Das am 3. Juni 2022 erscheinende Werk "Big Time" ist mit einer besonderen emotionalen Ausnahmesituation verbunden: Innerhalb kurzer Zeit verstarben die Eltern von Angel Olsen und in die gleiche Zeit fiel der Beginn einer neuen Liebe, in dessen Zusammenhang sie sich als queere Person outete.

    Entsprechend eindringlich und intensiv sind die zehn neuen Songs ausgefallen: "All The Good Times" beschreibt das Ende einer Liebe, wobei rückblickend einschneidende Erkenntnisse und Gedanken aufgeworfen werden. Aber letztlich schließt die Abrechnung mit einem versöhnlichen "Danke für die guten Zeiten" ab. Angel Olsen sinkt dazu betroffen-sensibel wie Emmylou Harris und der traurig-trotzige und luftige Country-Noir-Hintergrund lässt die seelischen Verletzungen spürbar werden.

    Der Song "Big Time" fängt den überschwänglichen emotionalen Rausch ein, den eine große Liebe auslösen kann. Absolute Glückseligkeit umgibt alle gesungenen Worte, die in einen schunkelnden Country-Walzertakt gepackt werden. Wolke 7 ist nicht fern.

    "Dream Thing" legt völlig absichtlich und treffend ein schläfriges Tempo an den Tag. Schwebeklänge, aufblitzende Tontupfer, ein langsamer Schlagzeug-Takt und eine beruhigende Stimme zeichnen die Traumerlebnisse von einer Neubegegnung nach 25jährigem Streit nach. Das ist Dream-Pop in seiner ursprünglichen Bedeutung.

    "Ghost On" geht noch einen Schritt weiter, was einen introvertierten Ausdruck angeht. Sensible Zerbrechlichkeit, verzehrende Sehnsucht und romantische Schmeichelei bestimmen dieses zarte, zeitlupenhaft ablaufende, grüblerische Ton-Geschöpf.

    "All The Flowers" greift die Dankbarkeit darüber auf, jemanden gefunden zu haben, der bedingungslos liebt. Der betroffen wirkende, weinerliche Gesang und die in gedeckten Ton-Farben schwelgenden Streicher-Klänge tragen dick auf, so dass der Song nah am Kitsch angesiedelt ist.

    Eben noch die unverzichtbare Liebe, dann die Trennung: "Right Now" kehrt die Scherben auf, macht die Gegensätze klar und beschreibt die Zustände, die zum Bruch geführt haben. Entsprechend dynamisch unterschiedlich ist die Musik aufgebaut. Von leise bedauernd bis leidenschaftlich aufbrausend reicht hier die Stimmungs-Kurve.

    Total in sich ruhend verbreitet die Country-Ballade "This Is How It Works" Gelassenheit in trauriger Umgebung. Die elegischen Töne werden von einer weinenden Pedal-Steel-Gitarre, einem versöhnlichen Akkordeon, einem gemütlichen Schlagzeug und einer wehmütigen Stimme getragen.

    Die Empfindungen von "Streets Of Philadelphia" (Bruce Springsteen) und "Nothing Compares 2U" (Sinéad O`Connor) wurden gemixt und in "Go Home" implantiert. Empathie und Verzweiflung halten sich die Waage und sorgen für besinnliche und aufwühlende Momente. Textlich beschäftigt sich der Song auch mit Vergangenheitsbewältigung: "Wie kann ich weitermachen mit all den alten Träumen", heißt es da unter anderem.

    "Through The Fires" ist eine schwermütige Piano-Ballade, die die Einsamkeit und Sehnsucht nach Nähe verinnerlicht und diese Empfindungen zu Seelenbalsam umgewandelt hat. "Chasing The Sun" treibt die grade eben erlebte inbrünstig flehentliche Melancholie auf die Spitze: Ein Streicher-Arrangement lässt den Himmel weinen, das Piano scheint nur Moll-Tasten zu besitzen und die Stimme ringt um Fassung. Da erstarrt man förmlich in Ehrfurcht!

    "Big Time" ist ein gefühlsbeladenes, wenn nicht überladenes Werk geworden. Der in Töne gegossene Liebesschmerz geht psychisch an die Substanz und das beschriebene Liebesglück kann euphorische Gefühle auslösen. Das sind beides Zustände, die in der Realität die Zurechnungsfähigkeit trüben können und als musikalische Form dazu geeignet sind, die Normen zu sprengen. Deshalb ist die hemmungslose Hingabe, die für "Big Time" gewählt wurde, absolut glaubhaft und angebracht.

    Die Klänge werden im tränenreichen Country-, süffigen Folk- und opulenten Pop-Gewand dargeboten. Das ist Musik für Menschen, die gerne in großen Emotionen baden. Sie können Kraft aus dieser konstruktiven Melancholie schöpfen, in den Klängen versinken und sich wohl und verstanden fühlen.
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    Mellow Moon Alfie Templeman
    Mellow Moon (CD)
    19.06.2022
    Klang:
    4 von 5
    Musik:
    4 von 5

    "Mellow Moon" führte Alfie Templeman aus der Krise hinaus und ins freudvolle Leben hinein.

    Die Jahre 2020 und 2021 waren für viele Menschen einfach nur schrecklich. So auch für Alfie Templeman, der Anfang 2020 mit der Arbeit zu seinem ersten Album begann, aber wegen einer seit seiner Kindheit bestehenden Atemerkrankung, aufgrund der er als Covid19-Risikopatient galt, in relativer Isolation lebte. Das führte zu Depressionen und Ängsten, die er mit Antidepressiva zu bekämpfen versuchte.

    Keine guten Voraussetzungen für einen geplanten kreativen Prozess. Aber es kam anders: "Das Schreiben von Songs wie "Take Some Time Away" und "Mellow Moon" war wie eine Therapie. Ich habe mich gefragt: "Was stimmt nicht mit mir?" und "Wie kann ich mich bessern?". Ich habe die Dinge einfach in Echtzeit herausgefunden. Ich hatte eine Therapie, aber es gab immer noch Dinge, die in meinem Kopf ungelöst waren. Also wandte ich mich der Musik zu, um Antworten zu finden", erklärt Alfie Templeman das Resultat aus dieser offensiven Vorgehensweise, das als "Mellow Moon" mit 14 Songs am 27. Mai 2022 das Licht der Welt erblickt.

    Es zeigt den Frühreifen - der schon im Alter von 15 Jahren mit der Veröffentlichung von EPs und Mini-Alben seine musikalische Laufbahn begann - in einer Form, die sich für ihn anfühlt, als sei er auf einem anderen Planeten und entdecke das Feuer das erste Mal. Die ausgelöste Zuversicht und die daraus resultierende neu gewonnene Lebensfreude spiegeln sich dann auch in einigen Songs konzentriert wider.

    Und los geht es mit "A Western". Der Song macht sofort klar, wo die Schwerpunkte des Alfie Templeman-Sounds liegen: Unbeschwerte Pop-Grooves, Ohrwurm-Refrains und locker-süffige Melodien. Damit steht Alfie in direkter Konkurrenz zu solchen Künstlern wie Mayer Hawthorne, Benny Sings, Joel Sarakula oder Young Gun Silver Fox. Auch der überschwängliche New Wave-Pop von ABC ("The Look Of Love", 1982) kann als Referenz ausgemacht werden. Ein straffer, federnder Smooth-Funk-Rhythmus ist bei "A Western" der Türöffner zu einer sorglosen, entspannten Welt mit gutgelaunten Menschen und jeder Menge Spaß. Die elektronischen Gimmicks bringen Future- und Club-Sounds zusammen und der Harmonie- und Lead-Gesang wirkt beschwichtigend und ausgleichend. Ein lässiger Opener, der sofort Lust auf mehr macht.

    Das mit Minimal-Art-Loops ausgestattete "You're A Liar" versteht es, durch geschickte Hook-Lines und Tempi-Wechsel eine farbig-entschlossene Dynamik zu erzeugen, während der elegante, flirrende, romantisch eingefärbte Adult-Pop "Broken" schwärmerisch und schnörkellos daherkommt. Er taugt sowohl zur Ablenkung bei der Hausarbeit wie auch in Situationen, wo grade an die nicht verfügbare Liebe gedacht wird.

    "Folding Mountains" hat den hakelig-intelligenten New Wave-Rhythmus solcher Bands wie Talking Heads oder der späten, Gothik-freien The Cure gepachtet, der als Verpackung für diesen im Grunde schlichten Pop-Song dient. Die Mischung zwischen einfachen und sperrigen Strukturen macht hier den Reiz aus.

    Durch den von einer elektrischen Gitarre angetriebene Disco-Sound und die Effekte, die dem modernen Dance-Pop entliehen sind, können sich wahrscheinlich Fans der 1970er Jahre Combo Chic um Nile Rodgers genauso wie Verehrer von populären DJs wie David Guetta auf den Track "3D Feelings" einigen. Allerdings wirkt die üppig verbreitete gute Laune und die arglose Unbekümmertheit etwas übertrieben und aufgesetzt. Wer mit Krampf für Fröhlichkeit sorgen möchte, scheitert meistens an den eigenen Erwartungen.

    Spielte leichtgewichtiger Dance-Pop bei "3D Feelings" nur eine Nebenrolle, so ist er bei "Candyfloss" die Haupteinflussgröße, was den Song fade und austauschbar erscheinen lässt. Es fehlen belebende Ecken und Kanten sowie clevere Schachzüge hinsichtlich der Arrangements. Die Berücksichtigung solcher Reibe- und Aufmerksamkeitspunkte klappte bisher oft besser und sorgte für ein hohes Niveau. Warum wird denn überhaupt eine Verwässerung zugelassen, wenn kompositorisch schon vielversprechendere Wege eingeschlagen wurden?

    Mit "Best Feeling" ist Templeman wieder in der Spur, die ihn als wirkungsvollen Smooth-Soul-Crooner mit Hang zum Power-Pop zeigt. Ganz im Zeichen seines Vorbildes Todd Rundgren. Beim flotten "Do It" schlägt das Pendel noch weiter in Richtung Power-Pop aus, was zu einer unbekümmerten, glückseligen Teenager-Hymne geführt hat.

    "Colour Me Blue" klingt knackig und jugendlich ungestüm, wie frisch verliebt. Bei soviel Hochgefühl kann schon mal die Komplexität und der Tiefgang auf der Strecke bleiben, ohne dass dabei jedoch der Spaß leiden muss. Ein strammer, verschleppter Beat und eine psychedelische Gitarre bestimmen und kennzeichnen den Ablauf von "Galaxy". Das Stück ist eigentlich auf dem Tanzboden zuhause, greift aber auch nach den Sternen.

    Die Gitarrenarbeit bei "Leaving Today" lässt an den Soft-Rock-Schwung der Doobie Brothers ("Listen To The Music") denken. Die darunter liegende Melancholie schluckt einiges von der optimistischen Zuversicht, so dass von der ehrlich empfundenen Hoffnung letztlich doch nur Zweckoptimismus bleibt.

    Für "Take Some Time Away" präsentiert Templeman seine Stimme weiblich-lieblich und erotisch durchflutet. Das dazu angelegte musikalische Umfeld bietet Thriller-Jazz-, Cabaret- und Morricone-Western-Soundtrack-Atmosphäre. Das ist sehr gediegen und geschmackvoll.

    Im Kern bleibt der Song "Mellow Moon" entspannt und verträumt, lässt die Lebensfreude aber auch eine gewichtige Rolle bei der Rhythmik spielen. Sensibel, fragil, dunkel, sanftmütig und beinahe bewusstseinserweiternd perlen die Töne bei "Just Below The Above" aus den Lautsprechern. Sie bezaubern unter anderem alle diejenigen, die sich auch an den Beatles der "Magical Mystery Tour"-Phase berauschen können.

    14 Tracks, jeder in der klassischen Pop-Song-Länge von bis zu drei 3 Minuten und 45 Minuten und es folgt beinahe Hit auf Hit. Das sind die Fakten, die "Mellow Moon" innerhalb des Musik-Spektrums einordnen. Darunter ist schon sehr vieles, das richtungsweisend, frisch und ansprechend ist. "All meine Gefühle sind Explosionen in Stereo, ich fühle sie nicht nur, ich wandle sie in Audio um", singt Templeman in "3D Feelings" und drückt damit nicht nur seine Liebe zur Musik aus, sondern gibt auch ein Versprechen auf absolute Glaubwürdigkeit ab.

    Der 19jährige Musiker hat sich auf "Mellow Moon" sowohl der anspruchsvollen, wie auch der eingängigen Seite der Pop-Musik verschrieben. Bei einem Fokus auf komplex-geschmeidige Reibepunkte, die sich zwischen diesen Polen befinden, ist das nächste Werk vielleicht schon ein Anwärter auf einen herausragenden, kultiviert-beglückenden Adult-Pop-Geheimtipp.
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    Nothing But The Truth Nothing But The Truth (CD)
    24.05.2022
    Klang:
    4 von 5
    Musik:
    4 von 5

    "Nothing But The Truth" oder der unstillbare Drang nach Wahrhaftigkeit.

    Manchmal braucht man Glück, um seine Talente optimal einbringen zu können. Dieses Glück hatte im Jahr 1999 die norwegische Musikerin Beate S. Lech, als ihr Bugge Wesseltoft vorschlug, für sein neues Label "Jazzland" ein Album aufzunehmen. Der norwegische Produzent ließ seiner Künstlerin totalen Freiraum, der zu weiteren Arbeiten führte und mit "Nothing But The Truth" kommt jetzt schon das neunte Album in gemeinsamer Regie auf den Markt.

    Die erste Platte als Beady Belle brachte Beate im Jahr 2001 unter dem Namen "Home" heraus. Sie steuerte hierzu nicht nur den Gesang, sondern auch die Kompositionen bei, verfasste die Arrangements, schrieb die Texte und bediente die elektronischen Instrumente. Unterstützt wurde sie dabei von ihrem Ehemann Marius Julian Reksjø am Bass.

    Bei der Tournee zum dritten Album "Closer" nahm 2005 bei einem Konzert in London Jamie Cullum Kontakt auf, um die Gruppe als Support-Act für seine Konzertreise durch Großbritannien, Deutschland, Frankreich, Norwegen, Schweden und Dänemark zu engagieren.

    In den Folgejahren wurde der Beady-Belle-Sound mal durch Country-Folk-Elemente angereichert, mal in Richtung Soul und dann wieder in jazzige Gefilde geführt. Im Kern sorgte das Duo daneben immer für einen gefühlvollen und hochwertigen Klang, der Beate S. Lechs rauchzarter, betörender, stabiler Stimme den geeigneten Rahmen für ihr samtig-sinnliches Timbre bot.

    Für "Nothing But The Truth" bevorzugt Beady Belle modernen Rhythm & Blues mit Soul als Basis der Tonkunst-Erkundungen. Ergänzt wird dieses grundsätzlich melodisch aufgebaute Fundament manchmal durch Break-Beats, was dann naturgemäß eine gewisse Sperrigkeit verursacht. Wer also seidige, durchgängig flüssig ins Ohr gehende Songs erwartet hat, der kommt vereinzelt nicht voll auf seine Kosten.

    Wer dem Werk aber mehrere Durchläufe gönnt, der wird merken, wie die Kanten allmählich zu prickelnd-prägnanten Stolpersteinen werden und die Harmonie über das Stockende siegt. Ja, man muss sich die Platte schön hören, zumindest wenn eine andere Erwartungshaltung an die stilistisch Unberechenbare bestand. Und das ist gut so, das macht die klangliche Entdeckungsreise interessant. Bei dieser unterschwelligen Provokation und Reizauslösung stellt sich grundsätzlich die Frage, ob der HipHop der neue Jazz ist.

    "Nichts als die Wahrheit" steht als erwartungsvolle Ankündigung über der aktuellen Song-Auswahl: Die Wahrheit ist sauber und rein, aber es besteht die Gefahr des Missbrauchs, weil wir keinen Schutz mehr haben, wenn wir uns offen präsentieren, behauptet Beate S. Lech in "Truth Wide Open". Und sie fragt ihren Partner: "Kannst du es ertragen? Oder willst du weggehen?" Blubbernd-zirpende Space-Sounds und undeutliche Gesprächsfetzen leiten das Stück ein, bevor sich der ernste, auch schmerzlich-flehentliche Gesang zwischen das Zirpen und dem sich vorsichtig orientierenden, langsamen Groove einordnet. Der gemächliche, holpernde Takt wird vom leidenschaftlichen Gesang geadelt, denn die hinreißend emotionale Stimme dominiert das Geschehen, so wie es generell auf "Nothing But The Truth" der Fall ist.

    Der Funk von "Lost" ist elegant und zurückhaltend, aber scheint ständig auf dem Sprung zu sein, wie ein auf Beute lauerndes Raubtier. Ein unvermittelt eingebauter Rap wirkt sich bremsend auf den geschmeidigen Ablauf aus, so wie ein Hakenschlag eines Beutetiers. ""Lost" ist ein Lied über das Verlieren und Wiederfinden im Leben, auch in der Liebe kann man sich verlieren. An jemanden, den man so sehr liebt und bewundert, dass man so sein möchte wie er. Und dann verändert man sich immer mehr - unmerklich - bis man fast zu diesem Menschen geworden ist", kommentiert die Formation diesen Song.

    "Morning, Pt. 1 (Interlude)" ist ein kurzes Zwischenspiel, das eine Spoken-Word-Passage in den Mittelpunkt eines HipHop-Jazz-Experiments stellt. Der nächste Einschub "Buoy (Interlude)" bietet eine romantisch-märchenhafte Untermalung einer Erzählung an.

    Die Soul-Ballade "Sinking Ship" leitet den Beginn einer recht ruhigen Sequenz des Albums ein, sie steht sinnbildlich für das Auge des Wirbelsturms. Der Song zeigt sich nämlich durchgehend friedlich und ausgewogen, auch wenn die Dynamik in Form eines Soges allmählich zunimmt.

    "The Animal" baut diese Stimmung weiter aus, ist aber lebhafter im Sinne einer knisternden, heimlichen Erotik, die durch ein federndes Schlagzeug befeuert wird. Das Lied "...handelt von der ungezähmten und wilden Wahrheit - und ihrer Unbequemlichkeit", gibt Beady Belle als Hinweis mit.

    "Quiet Sounds" hat die Schönheit gepachtet und kann mit andächtigen Tönen dienen, die klar, ehrlich und berührend die Seele durchdringen. Das hört sich dann wie eine heilige Messe für die Liebe an. Das Intermezzo "Morning, Pt. 2 (Interlude)" klingt nach vorsichtigem Neubeginn und Aufbruch.

    Der Electro-Pop "Independence" wagt anschließend den Spagat zwischen futuristisch-introvertiert und druckvoll-extrovertiert, beherbergt also sowohl meditativ-zurückhaltende wie auch impulsiv-schäumende Momente. Der experimentelle Rap "Morning Part III (Interlude)" arbeitet mit einem schleppenden Beat und beinhaltet ein Barock-Pop-Flair, das für einen spannenden Kontrast sorgt. Mit "Last Dance" geht es fröhlich-ausgelassen auf den Tanzboden, wobei hier Dynamik- und Tempo-Rücknahmen für gewollte Stil-Brüche sorgen.

    "Cocoon" gehört zu der Sorte von Songs, die einen von der ersten bis zur letzten Sekunde aufgrund ihrer mysteriösen Faszination regelrecht in einen Bann ziehen können. Stimmlich begibt sich die Norwegerin auf ein Abenteuer, das sie von einem leisen Hauchen über sinnliches Seufzen bis hin zu schwindelerregenden, jubilierenden Höhen führt, wobei sich ein Ende des Stimmumfangs noch lange nicht abzeichnet. Betörend, beachtlich und besonders!

    Die vorletzte kurze Einlage mit Namen "Morning Part IV (Interlude)" könnte durchaus aus dem Fundus von Prince stammen, so verspielt und überdreht hört sich dieser Funk-Appetithappen an. Schmachtend, mit Gospel-Chor-Inbrunst verziert, sorgt "Happiness" hinsichtlich der gesanglichen Höchstleistung für Erstaunen, bewegt sich aber kompositorisch und gestalterisch im R&B-Mittelfeld.

    "Wir alle kennen das verlockende Gefühl, mit etwas zu spielen, das ein bisschen illegal ist. Die Grenze zu überschreiten - nur ein kleines bisschen... nicht um sich zu verbrennen, sondern um die Hitze zu spüren", kommentiert Beate S. Lech die Inspiration, die zu "Playing With Fire" geführt hat. Der Song verströmt einen rasanten Schwung, der mit einem knackigen Rhythmus zusammengebracht wird, was den Track für die Charts prädestiniert. Etwas zu aufgesetzt und kalkulierbar ist das schon. Trotzdem oder grade deswegen kann sich dieses schmissig und sauber produzierte Stück als Ohrwurm erweisen.

    "Flyte (Postlude)" beendet das Werk mit einem Spoken-Word-Beitrag in Norwegisch, der sich anhört, als wäre er unter Wasser aufgenommen worden. Ein eventuell metaphorischer Bezug zum Wasser taucht bei den neuen Songs unregelmäßig auf. So wie zum Beispiel bei "Sinking Ship". Der Kreis ist nun geschlossen.

    Beady Belle bewegen sich bei "Nothing But The Truth" sicher und authentisch im R&B- und Soul-Umfeld, so dass sie auf einer Stufe mit India.Arie, Alicia Keys oder Erykah Badu agieren. Dass diese Töne in Norwegen entstanden sind, darauf würde wohl kaum jemand sofort tippen. Die Verschiebungen der Koordinaten im Klang-Kosmos von Beady Belle sind aber gelungen und machen jetzt schon neugierig auf die nächsten Schritte und Wendungen von Beate S. Lech, eine Künstlerin, für die Selbstreflexion keine Bürde, sondern eine gewollte Herausforderung ist und die Wahrhaftigkeit im Zentrum ihres Handelns steht.
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    Ein Kommentar
    Anonym
    28.12.2022

    vielen Dank

    Sehr manieriert geschrieben, aber Intention wird freilich deutlich. Nichtsdestotrotz sehr hilfreich.
    Schön wäre noch ein Hinweis zum Klang, der nämlich durchweg sehr erfreulich ist, fast audiophil. Umso störender fällt "Independence" aus dem Rahmen, das unverständlicherweise fürchterlich komprimiert wurde.
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    07.05.2022
    Klang:
    4 von 5
    Musik:
    4 von 5

    Nur Nostalgie? Graham Nash veröffentlicht einen Konzertmitschnitt, bei dem er seine ersten beiden Solo-Alben komplett aufführt.

    Anfang der 1970er Jahre waren Crosby, Stills, Nash & Young eine der erfolgreichsten Bands auf dem Planeten. Begleitet wurde diese Phase von zwei herausragenden Tonträgern: Dem Studio-Werk "Déjà Vu" aus 1970, einem Westcoast-Rock-Meisterwerk der vier Individualisten, das mehr Wert ist als die Summe seiner Teile und von "4 Way Street", einem eindrucksvollen Dokument ihrer erfolgreichen "Déjà Vu"-Tournee. Was damals kaum jemand ahnte: Schon bei den Aufnahmen zu "Déjà Vu", die im zweiten Halbjahr von 1969 stattfanden, waren die Musiker untereinander zerstritten und standen nur selten gemeinsam im Studio.

    Anfang der 1970er Jahre wurden die Fans des Westcoast-Folk-Rock mit denkwürdigen Aufnahmen verwöhnt, denen der Zahn der Zeit nichts anhaben konnte. So waren auch David Crosby, Stephen Stills, Graham Nash und Neil Young mit der Realisierung von Solo-Projekten beschäftigt, um ihre kreativen Schübe ausleben zu können. David Crosby brachte 1971 mit "If I Could Only Remember My Name" ein Referenzwerk des Psychedelic-Rock heraus, Stephen Stills veröffentlichte von 1970 bis 1973 vier grandiose, abwechslungsreiche Platten, die neben Country- und Westcoast-Rock auch Latin-Rhythmen enthielten ("Stephen Stills" (1970), "Stephen Stills 2" (1971), "Manassas" (1972), "Down The Road" (1973) und Neil Young brillierte mit allen seinen Werken der 1970er Jahre, wie unter anderem mit "After The Goldrush" (1970), "Harvest" (1972), "On The Beach" (1974) oder "Tonight`s The Night" (1975).

    Während Crosby, Stills und Young eine langjährige Erfahrung mit Westcoast-, Folk- und Psychedelic-Rock erworben hatten, traf Graham Nash erstmalig 1966 während einer USA-Tournee auf Crosby & Stills. 1968 sah man sich auf Veranlassung der gemeinsamen Freundin Cass Elliott (The Mamas And The Papas) in der Künstlerkolonie im Laurel Canyon bei Los Angeles wieder. Danach verließ Graham The Hollies und die Formation Crosby, Stills & Nash wurde geboren. Nash etablierte sich schnell in dem neuen Umfeld, hatte eine Liaison mit Joni Mitchell und veröffentlichte 1971 sein Solo-Debüt "Songs For Beginners", das nach der Trennung von Mitchell entstand und textlich natürlich davon beeinflusst war. 2010 wurde das Werk komplett gecovert ("Be Yourself: A Tribute To Graham Nash`s Songs For Beginners"), was den Stellenwert für nachfolgende Musikergenerationen dokumentiert. Mit dabei waren unter anderem Robin Pecknold von den Fleet Foxes ("Be Yourself"), Bonnie "Prince" Billy ("Simple Man (Hombre Sencillo)") und Brendan Benson (The Raconteurs) ("Better Days"). 1972 folgte das Duett "Graham Nash/David Crosby" und 1974 das bedrückend-dunkle zweite Solo-Album "Wild Tales". Nash gab bei einem Interview mit der Irish Times eine Erklärung für die Stimmung: "Die meisten traurigen Songs handeln von meiner Beziehung zu Joni Mitchell“. Bis heute sind die ersten drei Alben die qualitativ besten Platten des Engländers.

    Der 1942 in Blackpool geborene Nash war immer sowas wie der ruhende Pol bei Crosby, Stills, Nash & Young, der zwischen den anderen Hitzköpfen schlichtete. Aber sein Leben verlief auch nicht ohne einschneidende Veränderungen: 1975 wurde seine Freundin Amy Gossage von ihrem Bruder ermordet; zwischen Nash und seinem besten Freund David Crosby herrscht nach einem heftigen Streit auf offener Bühne Funkstille und seine zweite Ehe wurde nach 38 Jahren geschieden.

    Neben der Musik hegt Graham schon seit Kindertagen eine zweite Leidenschaft, die Fotografie. In den 1970er Jahren begann er zusätzlich mit der Sammlung von Fotos. Seine eigenen Schöpfungen wurden als Bücher ("Eye To Eye: Photographs By Graham Nash") (2004) und "A Life In Focus: The Photography Of Graham Nash" (2021) abgedruckt. Außerdem kam 2013 noch die Biografie "Wild Tales: A Rock & Roll Life" heraus.

    Am 15. April 2016 erschien mit "This Path Tonight" das bisher letzte Studioalbum von Graham Nash. Am 2. Februar 2022 wurde er 80 Jahre alt und am 06. Mai 2022 erblickt nun eine Aufführung seiner ersten beiden Solo-Werke, die bei vier verschiedenen Konzerten im Jahr 2019 entstand, das Licht der Welt. Dabei wurde Nash von acht Musikern, wie Shane Fontayne (Gitarre und Gesang) und Todd Caldwell (Keyboards, Tenorsaxophon und Gesang), Thad DeBrock (Pedal Steel Gitarre), Andy Hess (Bass) und Toby Caldwell (Schlagzeug) begleitet.

    Die Antikriegs-Hymne "Military Madness" hat immer noch traurige Aktualität. 1991 spielten Crosby, Stills & Nash sie zu Beginn ihrer Akustik-Tournee, da der Irak-Krieg grade begonnen hatte. Der Song macht darauf aufmerksam, welches Elend der Krieg auch über die Zivil-Bevölkerung bringen kann. Gewinner sind immer nur die Waffenhändler, ansonsten gibt es nur Verlierer. Trotz des ernsten Themas wurde der Song so komponiert, dass er schunkelnd für Wohlgefallen sorgt - ein harmonisches Bollwerk gegen den Wahnsinn.

    "Better Days" betreibt Trauerarbeit nach einer schmerzvollen Trennung: Wenn die Liebe vorbei ist, musst du dich den Gegebenheiten stellen und dich an bessere Zeiten erinnern, lautet der Ratschlag zur Überwindung der seelischen Qual. Der Song beleuchtet die Dreiecksgeschichte zwischen Nash, Stills und Rita Coolidge und ist eine rührende Piano-Ballade mit groovendem Folk-Rock-Mittelteil, der auch in der Live-Fassung seine dringliche Wirkung nicht verfehlt.

    Und gleich danach folgt mit "Wounded Bird" noch eine Beziehungs-Aufarbeitung, nämlich das Verhältnis zwischen Stephen Stills und der Folk-Sängerin Judy Collins. Die Wahl der Untermalung fiel auf einen intimen Folk-Song, bei dem einsame, traurige Gitarren und himmlische Harmoniegesänge eine bedächtig-ausgeglichene Melancholie in die Ohren zaubern.

    Das sehnsuchtsvoll klagende und gleichzeitig optimistisch aufbegehrende "I Used To Be A King" kokettiert mit einem langsamen, unaufdringlich mitlaufenden Boogie-Rhythmus, der dem Song einen frechen Unterton verleiht. "Be Yourself" bleibt im Grunde genommen durch seinen eingängigen Mitsing-Refrain im Gedächtnis, der sich wie ein Durchhalte-Mantra anhört.

    Graham Nash schrieb das zu Herzen gehende, intime "Simple Man" einen Tag nachdem Joni Mitchell mit ihm Schluss gemacht hatte. An diesem 7. Juni 1970 spielte er mit Crosby, Stills & Young ein Konzert in New York, bei dem Joni im Publikum saß und sich Zeilen wie "Ich war noch nie so verliebt und wurde noch nie so verletzt" anhören musste.

    Bei "Man In The Mirror" geht es um Selbst-Reflexion und Neuanfang. Die Melodie wirkt zu Beginn unschuldig-naiv wie ein Kinder- oder Wiegenlied. In Verbindung mit der bittersüßen Überleitung entsteht ein romantischer Country-Folk, dem Nash durch seinen glaubwürdigen, starken Gesang das Image eines geläuterten Abenteurers verpasst.

    Es gibt nur eine Erde, die für uns alle da ist. So in etwa ist die weltverbessernde Botschaft des Liedes "There’s Only One" zu lesen. Das klingt zwar wie Kalenderblattphilosophie, ist aber eine unumstößliche Wahrheit. Durch den Gospel-Chor-Harmonie-Gesang erhält die Ballade quasi spirituelle Weihen und geht als Country-Soul durch.

    Der leise-nachdenkliche Barock-Pop "Sleep Song" bekam mit "Another Sleep Song" auf "Wild Tales" einen Nachhall, wobei dem letztgenannten Track eine unheimlich-mysteriöse Aura umgibt.

    Neben "Military Madness" ist "Chicago" das zweite politische Statement auf "Songs For Beginners". Hintergrund des Liedes ist die gewalttätige Auflösung einer Demonstration beim Parteitag der Demokratischen Partei im Jahr 1968 in Chicago. Der locker swingende Pop-Song "Chicago" erreichte Platz 35 der Single-Charts der USA und hat eine Textzeile, die Graham heute nicht mehr so singt: "Vorschriften - wer braucht sie?" ersetzte er durch "Einige dieser Vorschriften - wer braucht sie?". Der Anhang zu dem Lied heißt "We Can Change The World" und zelebriert als kurzes, swingendes Chor-Outro die Macht der außerpolitischen Veränderungen.

    Die Songs auf "Wild Tales" beschreibt Nash als "düster und launisch". Sein Label "Atlantic" konnte sich nicht für das Werk erwärmen und gab nur wenig Geld für Werbung aus, weshalb es kommerziell weniger erfolgreich als sein Vorgänger war. Dabei ist es wesentlich intensiver und wagemutiger. Aufgrund seiner überwiegenden Dunkel- und Verschrobenheit ist es natürlich nicht so zugänglich wie "Songs For Beginners", dafür aber nachhaltig spannend.

    Der Groove-Rocker "Wild Tales" wird im Original von der schneidenden Slide-Gitarre von David Lindley angetrieben. Shane Fontayne erledigt diese Aufgabe bei der Bühnen-Show nicht ganz so enthusiastisch, sondern ist bemüht, ins ausgeglichene Sound-Bild zu passen.

    Das Country-Folk-Stück "Hey You (Looking At The Moon)" hätte in seiner Entspanntheit auch auf Neil Young`s "Harvest" gepasst. Diese Stimmung wurde auch 2019 zuverlässig auf die Bühne übertragen.

    Der "Prison Song" wurde von einem Ereignis inspiriert, das Grahams Vater passierte: Er hatte von einem Arbeitskollegen eine Kamera gekauft, die gestohlen war. Mr. Nash sr. wollte aber gegenüber der Polizei den Verkäufer nicht verraten und ging deshalb wegen einer nicht begangenen Straftat ein Jahr in den Knast. Graham packt seine Kritik am Justizsystem in einen Blues-getränkten Folk-Song, dessen Harmonika-Spiel Wut und Verzweiflung ausdrückt.

    Der Country-Tränenzieher "You’ll Never Be The Same" hält trotzig an der Meinung fest, dass die Verflossene mit der Auflösung der Partnerschaft einen großen Fehler begangen hat. Und was ist passender für den Transport einer solchen Situation, bei der es um die Verletzung von Stolz geht, als ein klassisches Country-Arrangement?

    "And So It Goes" ist ein ergreifendes Lied, das die Magie der Musik beschwört und befeuert. Ein rollender Rhythmus und eine weinende Steel-Guitar bilden die Basis für ein verführerisches Noten-Gerüst.

    Trotz des Titels versprüht "Grave Concern" Kampfgeist und Optimismus. Der Southern-Rock-Track wird wieder von einer markanten Slide-Gitarre dominiert, kann aber auch wegen seines entschlossenen Gesanges gefallen.

    "Oh! Camil (The Winter Soldier)" erzählt die Geschichte des Vietnam-Kriegs-Veterans Scott Camil, der zum Antikriegsaktivisten und Gründer der Vereinigung "Vietnam Vets Against The War" wurde. Nash gießt seine Worte in einen schwungvollen Protest-Song Folk, wie er von Phil Ochs gerne genutzt wurde. Die Live-Version ist etwas langsamer und bedächtiger als das Studio-Original ausgefallen.

    "I Miss You" steckt voller liebeskranker Schwingungen eines gebrochenen Herzens. Die Piano-Ballade badet nicht in Selbstmitleid, sondern reflektiert auch auf demütige Art gute Zeiten.

    Im Vergleich zum vorherigen Track ist "On The Line" beinahe fröhlich. Der Rhythm & Blues-Rhythmus tänzelt, die Harmonika schäumt und der Boogie-Woogie Rhythmus wird kontrolliert im Zaum gehalten. Da kann auch die schön weinerliche Steel-Gitarre die Stimmung nicht mehr runterziehen.

    "Another Sleep Song" ist das Herzstück des Albums, weil es zurückhaltend, innig und schmerzlich wehmütig ist. Eine Stimmung, die in ähnlicher, aber nicht so ausgeprägt-konsequenter Art und Weise über vielen Songs von "Wild Tales" schwebt. Beim Original singt Joni Mitchell eine verletzliche Kopfstimme und in der Live-Version klingt der Bass wie eine dunkle Glocke, die das Unbewusste ins Bewusstsein holt. "Another Sleep Song" ist wie ein Monument, dass aus dünnem, zerbrechlichen Stahl gefertigt wurde.

    Handelt es sich bei "Live (Songs For Beginners / Wild Tales)" etwa "nur" um ein Nostalgieprojekt? Das kann man so sehen, wenn man will. Nash bildet gemäß dem Konzept seine Klassiker so authentisch wie möglich ab, so wie es Konzertbedingungen eben zulassen. Er gibt fast keine Kommentare ab, will sich auch gar nicht neu erfinden oder neue Erkenntnisse und Trends einfließen lassen oder seine Lieder in einem anderen Licht darstellen. Er beweist damit, dass die Songs immer noch einwandfrei funktionieren. Und weil er weder körperlich noch stimmlich zum alten Eisen gehört, kann er eine sehr ordentliche Vorstellung abliefern.

    Die frühen 1970er Jahre waren hinsichtlich der Entwicklung der Pop- und Rock-Musik eine Offenbarung und an der amerikanischen Westküste fanden ehrliche, intelligente, empathische und kreative Musikern zusammen, die sich zunächst gegenseitig befruchteten und im freundschaftlich-originellen Wettstreit miteinander standen. Nach und nach wurde dieser Zustand allerdings durch zu viele Drogen, Arroganz und kommerzielle Ausbeutung zerstört.

    Ich denke, es ist gestattet, angesichts der Erinnerung an die großartige Musik, die im Umfeld von Crosby, Stills, Nash & Young entstand und den Zahn der Zeit schadlos überstanden hat, nostalgisch zu werden. Grade in stürmischen Zeiten tut es gut, sich an bleibenden Werten zu orientieren.
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    You Belong There Daniel Rossen
    You Belong There (CD)
    04.05.2022
    Klang:
    5 von 5
    Musik:
    5 von 5

    Vielschichtig, fantasievoll und melodisch verzwickt: Daniel Rossen nutzt die Veröffentlichungs-Pause von Grizzly Bear für einen originellen Solo-Ausflug.

    Es ist eine Bürde, wenn man als Frontmann einer angesehenen Band auf Solo-Pfaden wandelt, denn die Fans erwarten dann eine besonders außergewöhnliche Tat oder etwas nicht ins bisherige Gruppengefüge Passendes. Ansonsten hätten die gesonderten Aktivitäten schließlich auch im bisherigen Verbund erscheinen können. Und wenn es sich dann noch um solch eine exquisite Formation wie Grizzly Bear handelt, dessen Daniel Rossen nun eigenverantwortlich tätig ist, dann hängt die Messlatte besonders hoch. Qualität verpflichtet eben.

    "You Belong There" fällt dadurch auf, dass das Werk in seiner verschnörkelten Pop-Art eher den Grizzly Bear-Schöpfungen ähnelt, als den skurrilen Pop-Experimenten, die Rossen zusammen mit Fred Nicolaus als Department Of Eagles entwarf. Vergleicht man wiederum "Painted Ruins", die letzte Grizzly Bear-Platte aus 2017 mit "You Belong There", so weisen beide Werke einen ähnlichen Komplexitätsgrad auf. Bei "Painted Ruins" waren es die weichen Melodien, die die ausladend-verschlungenen Instrumentalpassagen leicht verdaulich machten. Beim ersten Solo-Album von Daniel Rossen stechen dagegen interessant verflochtene Sound-Ideen prominent hervor, um die Gehörgänge, die erwartungsfroh auf Anregung hoffen, zu erfreuen. Das gelingt, ohne sich dabei als Hörer mit schwierig nachvollziehbaren Klängen einlassen zu müssen. Man sollte dieser Musik auch kein Etikett wie Progressive- oder Art-Rock aufkleben, sondern die Töne einfach als intelligente Unterhaltungsmusik genießen.

    Wabernde Schwingungen verleiten bei "It’s A Passage" dazu, die Gedanken in Träumereien abschweifen zu lassen. Unterstützende, gezielt gesetzte, herausfordernde Noten lösen die Gefühlsduselei verlässlich auf und sorgen dann für eine beständige Wachsamkeit. Die lebhafte akustische Gitarre lässt an spanische Flamenco-Musik denken, der Synthesizer verbreitet mahnende, drohende Akkord-Schübe, Schlagzeug und Bass sind der Fels in der Brandung und Daniel Rossen singt so bewegt und anrührend wie ein gefallener Engel. Das ist eine Stimme, die nicht durch Macht, sondern durch Einfühlungsvermögen überzeugt.

    Bei dem theatralisch ineinander verschachtelten Song "Shadow In The Frame" bildet - wie häufiger auf "You Belong There" - die Interaktion zwischen der akustischen Gitarre, die sowohl klassisch wie auch folkloristisch ausgerichtet sein kann, zusammen mit der elastischen Rhythmus-Abteilung eine treibende Kraft. Für das Stück "You Belong There" werden düstere, aufwühlende Klangkaskaden aufgebaut, die Unheil ankündigen. Die Bedrohung löst sich jedoch zu Gunsten eines friedlichen Endes allmählich auf. Nicht alle Befürchtungen werden also wahr, das Leben hält dann und wann auch ein Happy-End bereit.

    Gegensätze ziehen sich an, wie Gelassenheit und Hektik in "Unpeopled Space". Neben- und übereinander sind sie für die Erschaffung von Bewegungsenergie innerhalb des Tracks zuständig. So wie bei einem Bimetall unterschiedliche Wärmeausdehnungs-Beschaffenheiten für das Verbiegen des Werkstücks verantwortlich sind, so sind an dieser Stelle die unterschiedlichen emotionalen Aggregatzustände der Garant für einen Song mit permanent aktiviertem Erregungspotential. Mit "Celia" wird dann ein kurzer, trauriger Track mit niedergeschlagenem Gesang eingestreut, der sakrale Züge trägt.

    Wasserfallartige Piano-Kaskaden eröffnen "Tangle", das kurz danach wild strudelnd am Rande der Kakophonie taumelt. Das Durcheinander wird daraufhin kurz aufgefangen, verliert im Anschluss aber umso mehr die Fassung und flirtet mit dem Irrsinn. In der zweiten Hälfte gewinnt das Stück an Konturen, sträubt sich aber dennoch gegen einen vorhersehbaren Ablauf. Das ist mutig und eigentümlich. Bertold Brecht, Kurt Weill und Scott Walker hätten ihre Freude daran gehabt.

    Mit "I`ll Wait For Your Visit" ist Daniel Rossen zurück im neoklassischen Pop-Art-Umfeld und unterlegt den pulsierenden Song mit rasanten Jazz-Grooves, perlenden Klavier-Läufen und lyrischen Zwischenstopps. Der atmosphärisch dichte, einfallsreich-verspielte Folk-Jazz von "Keeper And Kin" bedient schließlich sehnsüchtige Aspekte, erfüllt aber auch künstlerisch hochwertige Erwartungen. Als Ergebnis kann von empathischer Avantgarde gesprochen werden.

    Für "The Last One" trifft Country-Folk auf Jazz und geht eine abenteuerliche Affäre ein, bei der beide Stile zu einer zwar offensichtlich gelassenen, aber unterschwellig gereizten Verbindung fusionieren. "Repeat The Pattern" führt zunächst auf eine falsche Fährte, weil sich das Stück anscheinend als harmlos-bedächtiger Barock-Pop zu erkennen gibt. Der Reiz des Songs liegt tatsächlich in seiner Sorglosigkeit, die durch opulente Arrangements so aufgewertet wird, dass sich ein feierlich-anrührender Sound ergibt.

    Daniel Rossen, der sein Solo-Werk im Heimstudio in Santa Fe aufnahm und dafür Kontrabass, Gitarre, Cello und die Holzblasinstrumente selber einspielte, zeigt Geschmackssicherheit. So kommt es, dass trotz der gebotenen anspruchsvollen, dramatischen Gestaltung die Leichtigkeit des Seins zumindest im Hintergrund stets mitschwingt und den Kompositionen einen gelassenen Unterton mitgibt. Schönheit und Einfallsreichtum kennzeichnen die verwunschenen und verschrobenen Klanglandschaften, die auch nach etlichen Hördurchgängen nicht alle Perspektiven gänzlich preisgeben möchten.

    Daniel Rossen wurde am 5. August 1982 in Los Angeles geboren und fing im Jahr 2000 an, Musik zu machen. Im Jahr 2004 stieg er bei Grizzly Bear mit dem Album "Horn Of Plenty" ein. Rossen nennt Van Dyke Parks und Paul McCartney als Einflüsse und diese Kombination veranschaulicht auch seinen Ansatz der luxuriös-eigentümlichen Inszenierung in Verbindung mit einer melodisch-eingängigen Extravaganz der Lieder. In diesem Spannungsfeld zwischen Fantasie und solidem Handwerk kann sich Daniel Rossen jedenfalls optimal entfalten. Wer neben Grizzly Bear auch Steven Wilson, Efterklang, David Sylvian, Tim Bowness oder Elbow schätzt, der wird auch an "You Belong There" große Freude haben.
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    Home Cooking Home Cooking (CD)
    04.05.2022
    Klang:
    4 von 5
    Musik:
    3 von 5

    Ein Beispiel für Toleranz: "Home Cooking" demonstriert eine musikalische Annäherung der Kulturen des traditionellen Afrikas mit westlichen Musikströmungen.

    "Home Cooking" hilft dabei, auf akustischem Weg ein Stück der Seele Afrikas zu erkunden. Dabei ist es beim Hören von Vorteil, aber nicht zwingend notwendig, wenn die Folklore Afrikas nicht gänzlich fremd ist oder zumindest "Graceland" von Paul Simon zu den Lieblingsplatten zählt.

    Ntjam Rosie wurde 1983 als Rosie Boei in Kamerun geboren und mit "Home Cooking" wendet sich die seit ihrem neunten Lebensjahr in den Niederlanden lebende Musikerin intensiver als sonst ihrem Ursprung zu. War "Breaking Cycles" aus 2018 noch ein suchendes Experiment zwischen Jazz, Soul und Afro-Beat und der Nachfolger "Family & Friends", der 2020 erschien, mit einem erhöhten Pop-Anteil ausgestattet, so reflektiert das fast nur von Ntjam Rosie im Alleingang zuhause eingespielte "Home Cooking" vermehrt den Sound ihres Geburtslandes.

    Für "What Is Love?" werden sowohl karibische wie auch brasilianische Sounds verarbeitet. Daneben ist noch ein Soft-Disco-Klima vorhanden, das in den warm und sanft gleitenden Afro-Pop unauffällig integriert wurde. Rosies hohe, klare Stimme strahlt herzliche Freundlichkeit aus und jede Note wurde in ein entspannt-sonniges Lebensgefühl eingebettet.

    "Nomad" ist ein Stück, dass sich stark an Trance-artiger afrikanischer Folklore orientiert. Die eingeflossenen melodischen Pop-Zutaten wurden so aufbereitet, dass sie sich nahtlos wie selbstverständlich in den fremdartigen Klangkosmos einfügen. Der Fehlstart ist bei "A nye’e fo’o ma (Home Cooking Version)" (ursprünglich vom Album "The One" aus 2015) dringeblieben. Das intime Stück, dass von einer perkussiv gespielten E-Gitarre, rhythmischem Händeklatschen und sehnsuchtsvollem Gesang geprägt ist, wagt den Spagat zwischen kühlem Jazz-Chanson und lebensfrohem Afro-Folk.

    Unterlegt mit der Sprech- und Sing-Stimme der Großmutter gerät das knappe, gitarrenbegleitete "Cantique 154. A ne w’anye’e" zu einem Einblick in das Familienleben, zu dem auch gemeinsame Hausmusik gehört. So zart, so liebevoll, so schön: Das innig-warme "Bia Yon (Home Cooking Version)" (ursprünglich aus dem Album "Atouba" aus 2008) hat seine Wurzeln im Folk-Jazz. Das Herz schlägt jedoch für Afrika.

    Der im Multi-Track-Verfahren aufgenommene Gesang von "Efas me nga só" verströmt ein trotziges Selbstbewusstsein. Das Stück entwickelt sich vom seltsam gestimmten Chanson zu einem störrischen Funk-Track, der sich ein eigenständiges Pop-Bewusstsein bewahrt hat. Danach folgt ein jazzig-verspielter Einschub mit dem Namen "Interlude: Eyolé Ntjam". Er wird von einem Monolog der Großmutter begleitet.

    Die einsame elektrische Gitarre lässt bei "At The Back Of Beyond (Home Cooking Version)" (ursprünglich vom Album "At The Back Of Beyond" aus 2013) viel Raum für Träumereien. Tempo und Stimmung ändern sich im Verlauf nur unwesentlich. Kurze, moderate Dynamikanpassungen bringen den Track weder aus der Ruhe, noch zum Stillstand. Er bleibt intim, persönlich und achtsam. Das Zwischenspiel "Interlude: Chant de la forêt #2" wird von Flötentönen, indigenen Chor-Gesängen sowie selbst entworfenen Dschungel-Geräuschen gespeist und wirkt in seiner Ausgelassenheit kindlich-albern.

    Glocken- oder Xylophon-artige Töne verleihen "Nsissim Zambe (Home Cooking Version)" (ursprünglich aus dem Album "At The Back Of Beyond" aus 2013) eine zerbrechliche Färbung, während die stoisch monotone akustische Gitarre Gleichmut, Geduld und Einfachheit ausdrückt. Die Stimme zeigt hier unterschiedliche Facetten menschlicher Regung auf, nämlich lieblich-ausgeglichen und engagiert-fordernd.

    Mit einem Monolog in familiärer Umgebung, der in den Ambient-Folk "Akiba Outro" eingebaut wurde, schließt das Werk seinen Einblick in die persönlichen Eindrücke, Erlebnisse, Erinnerungen und Erfahrungen hinsichtlich der Rückbesinnung der Musikerin ab.

    Auch wenn Ntjam Rosie seit ihrer Kindheit in den Niederlanden lebt, so beeinflussen die Schwingungen ihres Geburtslandes mehr oder weniger intensiv schon immer ihre Kunst. Der Titel des achten Albums "Home Cooking" hat dabei eine Doppelbedeutung, weil die Musikerin die Lieder zuhause "zusammengekocht" hat und das hausgemachte Essen in ihrer Familie für eine besondere Bindung steht. Die Platte hat also einen sehr persönlichen Charakter bekommen, der nach Herzensangelegenheit, Wurzelsuche und Lebensbilanz klingt.

    Für die Zuhörerinnen und Zuhörer kann die Musik zu einem (mit 28 Minuten Laufzeit leider viel zu kurzer) Urlaub in bisher unbekannte Gefilde werden: Die Exotik der Musikformen Afrikas finden Zugang zu Pop, Soul und Jazz, so dass eine die Kontinente umspannende Weltmusik entsteht. Musikalisch hat sich der Fokus zwar etwas auf die spirituelle afrikanische Folklore als Schwerpunkt verlagert, Ntjam Rosie sucht aber trotzdem die Verbindung und Nähe zu ihrer aktuellen Lebensweise in den Niederlanden, so dass das Werk vielleicht auch als der Versuch einer Versöhnung der Kulturen wegen der kolonialistischen Vergangenheit Europas angesehen werden kann.

    Auf jeden Fall ist es aber eine spezielle Angelegenheit in Sachen Identitätssuche geworden, bei der auch ältere Kompositionen von Ntjam Rosie einen neuen Anstrich bekommen haben.
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    Pretty But It Has No Use Baby Of The Bunch
    Pretty But It Has No Use (CD)
    27.04.2022
    Klang:
    4 von 5
    Musik:
    4 von 5

    Authentizität, Aufblühen und Aufruhr: Das alles steckt in "Pretty But It Has No Use" drin.

    Baby Of The Bunch wird von Bronte Klippell (Gitarre, Gesang), Valentina Dornblut (Schlagzeug), Finja Sander (Bass) und Luca Kaduk (Keyboards) aus Leipzig, Dresden und Berlin seit 6 Jahren betrieben. Sie nennen ihre Musik "Riot Wave" und geben unter anderem Prince, Iggy Pop, Patti Smith, David Bowie, Kate Bush, Babes in Toyland und Big Star als Inspiration an. Mit "Pretty But It Has No Use" legt die Gruppe nun nach den EPs „The Garden Of Eden“ (2018) und „I’m Not The Type Of Girl Your Mom Would Like“ (2019) ihr erstes Volle-Länge-Werk vor.

    Schönheit liegt im Auge des Betrachters. Deshalb ist die Beurteilung, was als schön empfunden wird, auch subjektiv unterschiedlich. Ganz anders sieht es aus, wenn Menschen oder Klänge auf ihren äußeren oder spontanen Eindruck reduziert werden. Das ist in jedem Fall zu kurz gedacht oder argumentiert. Kommen wir in diesem Zusammenhang zur Musik von "Pretty But It Has No Use": Die von Baby Of The Bunch demonstrierte Schönheit schließt neben eingängigen Melodien auch Gefühlsregungen wie dankbare Freude, alberne Ausgelassenheit, befreiende Aggression und Spaß an Abwechslung und musikalischer Weiterentwicklung mit ein.

    Der Einstieg "Happy Here" erscheint vielschichtig wie eine Zwiebel: Jahrmarktstrubel, konstruktive Melancholie, Perspektivenwechsel im Takt, unverfängliche Leichtigkeit und aufgesetzte Opulenz spielen nach- und miteinander eine tragende Rolle bei diesem raffiniert arrangiertem Adult-Pop, wo es darum geht, wie es ist, wenn man sich in einer Gruppe von Menschen plötzlich isoliert und fehl am Platze vorkommt.

    "One In A Million" lässt moderten Funk, sperrige New Wave und harmonischen Pop miteinander konkurrieren, was zu einer belebenden Reibung führt. "Make Out" macht es kurz und knapp. Ein ungestümes Iggy & The Stooges-Punk-Tempo und ein freches Selbstbewusstsein prägen den Song. Das erinnert an eine der ersten weiblichen Rock-Bands, nämlich The Runaways um Joan Jett. Baby Of The Bunch sorgen hier für wütenden Sturm & Drang, ohne dass das Hitpotential darunter leidet.

    "After All" verleugnet nicht seinen unschuldigen Teenage-Pop-Charme, der den Track naiv-sorglos erscheinen lässt. "70s" hat sowohl leichtfüßigen Synthie-Pop-Sound wie auch zornigen Punk im Auge, um die Realisierung von zeitlosem Power-Pop anzustreben. Die kraftvolle Ballade "Don't" vereint danach Empathie und Leidenschaft zu einer verwirbelten Emo-Core-Nummer.

    "I'm In A Band" verbrüdert sich sowohl mit dem Früh-1960er-Jahre-Mersey-Beat der Beatles wie auch mit der ruppig-primitiven, feministischen Riot-Grrrl-Underground-Punk-Bewegung der 1990er Jahre. "I`ve Always Liked Simple Rock" behauptete John Lennon und drückte damit aus, dass er Spontanität für wichtiger als Perfektion hielt. "I'm In A Band" hätte ihm also gefallen können.

    Für "Mean" verbreitet das Synthesizer-Xylophon Eleganz, der Rhythmus ist straff und unerbittlich, die dominanten, zackigen E-Gitarren legen unmissverständlich fest, wer die Richtung vorgibt und die Gesänge zeigen zweifelsfreie Entschlossenheit. Schmierige Synthesizer-Wände veranschaulichen dann noch, dass gewisse Classic-Rock-Elemente sogar cool sein können, wenn sie dosiert eingesetzt werden. Der Track wurde mit Liebe zum Detail arrangiert sowie kenntnisreich und clever durchkomponiert. Er Song macht auf den Umstand aufmerksam, dass Frauen, die sich durchsetzen, oft als zickig angesehen werden, während dieses Verhalten bei Männern als Führungsqualität angesehen wird. Falsch, aber gesellschaftlich akzeptiert.

    "Stay" wirkt grundsätzlich lieblich wie die Balladen von Nanci Griffith. Wo bei ihr beruhigendes Country- und Folk-Instrumentarium zum Einsatz kam, läuten hier E-Gitarre, Bass und Schlagzeug härtere Zeiten ein. Das griffige Piano versucht, zwischen Ausgeglichenheit und Rebellion zu vermitteln, aber die lauteren Instrumente setzen sich in der Wahrnehmung durch. Im wirklichen Leben bekommen auch oft die Großschnauzen und Angeber Gehör, weil die bescheidenen, abwägenden Personen bei deren Geplärre schlicht überhört werden. Falsch, aber gesellschaftlich akzeptiert.

    "The Piss" klingt nicht so dreckig, wie der Titel vermuten lässt. Ganz im Gegenteil. Der Song verbindet die zielstrebige Souveränität einer Suzanne Vega mit der inneren Unruhe von New Order und dem in Ansätzen vorhandenen, zupackend-raubeinigen Rock von Eleventh Dream Day. Mit seinen Brüchen und Sprüngen ist "Watching Paint Dry" quasi das Kunstprojekt des Albums. Das Lied ist ein Art-Rock, der zwar komplexe Strukturen aufweist, minimalistische Textzeilen benutzt, abrupt aufhört, aber trotzdem gut durchhörbar ist.

    Die unterschiedlich gestimmten Songs auf "Pretty But It Has No Use" weisen auf eine ausgeprägte Entwicklungsphase des Quartetts hin. Trotz der Stilvielfalt bleibt die Gruppe eindeutig identifizierbar, weil sie musikalisch offensichtlich so breit aufgestellt ist, dass etliche Ausprägungen ansatzlos in ihr Weltbild passen.

    Pure Schönheit scheint nutzlos zu sein. Das ist eine Erkenntnis, die auch Elvis Costello bereits songtechnisch umsetzte ("All This Useless Beauty", 1996). Wenn Wohlklang allerdings in einer Ton-Mixtur nur ein Bestandteil von vielen ist, dann erblüht er zu einem aufwertenden Element. Das wurde erkannt und zu einer zukunftsweisenden Methode verarbeitet, die dazu führt, dass die Band weiterhin ihr unangepasstes Ding machen kann, ohne sich zu verleugnen. Die Wolf-im Schafspelz-Methode ist nützlich und sinnvoll, denn so besteht die Möglichkeit, dass Baby Of The Bunch trotz mutiger und erfolgreicher, vielversprechender Diversifizierung ihre verdiente Popularität erhalten.
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    Musik:
    5 von 5

    Die heilige Macht der Stimme: Michelle Willis singt auf "Just One Voice" außerordentlich bezaubernd und präsentiert ausgereifte, stark beeindruckende Songs.

    Rückblickend kann festgehalten werden, dass selbstbewusst-talentierte Musikerinnen wie Carole King, Bonnie Raitt, Valerie Carter, Karla Bonhoff, Wendy Waldman oder vor allem Joni Mitchell, die ihre Blütezeit in den 1970er Jahren hatten, die Grundlagen für nachfolgende Künstlerinnen wie Mary Chapin Carpenter, Shawn Colvin, Rosanne Cash, Ntjam Rosie, Lizz Wright, Natalie Prass, Laura Marling und sogar Norah Jones gelegt haben, so dass diese Damen heute ihre Musik traditionsbewusst auf die Errungenschaften dieser Folk-, Country-, Soul- und Jazz-Fusions-Pionierinnen aufbauen können.

    Auch die 1986 in Großbritannien geborene, in Kanada aufgewachsene und seit 2016 in New York lebende Sängerin, Komponistin und Keyboarderin Michelle Willis, die einige Zeit in zweiter Reihe unter anderem für David Crosby und in der Becca Stevens Band arbeitete, profitiert von den Großtaten ihrer Idole. Ihre Erkenntnisse und Erfahrungen haben dazu beigetragen, dass es ihr gelingt, auf dem zweiten Werk "Just One Voice" - nach "See Us Through" aus 2016 - musikalisch reif, ideenreich und bedeutend zu klingen. Die am 8. April 2022 erscheinende Platte ist ein ganz starkes, abwechslungsreiches Singer-Songwriter-Album geworden.

    Der Opener "10ths" ist eine meditative Spielerei. Vielleicht hat Michelle Willis die hier vorgestellte Vorgehensweise von ihrem Mentor David Crosby abgeschaut, der solche Traum-Sequenzen schon auf seinem herausragenden ersten Solo-Werk "If I Could Only Remember My Name" aus 1971 unterbrachte ("Tamalpais High (At About 3)", "Song With No Words (Tree With No Leaves)"). Der wortlose Gesang lässt sich treiben, das E-Piano hinterlässt glitzernde Tropfen in der Luft, der Synthesizer zischt leise wie ein undichtes Ventil und die Steel-Guitar verbreitet intensive Spritzer bittersüßer Wehmut. ""10ths" wurde geschrieben, um loszulassen, um zu entspannen", erklärt Willis und meint, dass sich das Stück wie ein Bad in Mitgefühl anhört. Und wie eine akustische Verführung, die sich mutig auf unbekanntes Terrain vorwagt, bleibt zu ergänzen. Wer sich nicht von diesen knapp vier Minuten mit gesegnetem, esoterisch anmutendem Space-Ambient-Jazz abschrecken lässt, den erwartet im Anschluss allerdings ganz andere Musik. Was für ein irritierender Auftakt.

    Federnd, leichtfüßig, elegant und mit unwiderstehlich betörendem Gesang ausgestattet, erobert der Smooth-Funk-Rock "Liberty" Herz und Verstand im Sturm. Dass Michael McDonald und David Crosby als prominente Backgroundsänger beteiligt sind, ist schön zu wissen, aber nicht wichtig dafür, dass das Stück Flügel verliehen bekam. Das geschieht schon alleine durch den samtenen, schwerelos gleitenden Sound, in dem die attraktive Stimme von Michelle Willis eine zentrale, lenkende Position einnimmt. Der Track verdeutlicht, dass ein Soft-Rock nicht unbedingt schnulzig sein muss, sondern auch mit ultra-chic und leidenschaftlich-makellos übersetzt werden kann.

    Die Folk-Jazz-Ballade "Just One Voice" schmiegt sich warm und sanft an die Gehörgänge an. Ein wohltemperierter Bass, etwas markante Percussion, ein gutmütiges Orgel-Hintergrund-Rauschen und ein dezent flankierendes E-Piano sind die Hauptzutaten bei diesem langsamen Sinnes-Schmeichler, der sich punktuell auch energisch zu Wort meldet.

    "Green Grey" verbreitet einen weichen, souligen Südstaaten-Groove, der gewandt und lebhaft, ohne übermütig zu werden, mit unaufdringlicher Konsequenz in die Beine geht. Für Michelle klingt dieser Song wie eine Kombination aus "Something To Talk About" von Bonnie Raitt und "Cecelia" von Simon & Garfunkel.

    Das Gospel-basierte "Trigger" enthält ein ergriffen-temperamentvolles Duett mit Taylor Ashton, dem Frontmann der kanadischen Folk-Formation Fish & Bird. Erstaunlicherweise handelt es sich hier um die Übungs-Version des Songs, die solch eine fesselnde Energie besaß, welche später nicht nochmal reproduziert werden konnte.

    David Crosby wollte das Lied "Janet" unbedingt selbst aufnehmen, nachdem er es 2016 das erste Mal von Michelle bei den Sessions zu seinem "Lighthouse"-Album hörte und so landete eine Version davon schließlich 2018 auf "Here If You Listen". In dem Lied geht es darum, wie Eifersucht den Charakter vergiften kann. Die schwül-gepflegte Atmosphäre und die cleveren Vitalitäts-Veränderungen erinnern an die Songs vom "The Last Record Album" von Little Feat aus 1975.

    "How Come" ist ein Lehrstück darüber, wie wichtig es ist, dass in einer Beziehung die gegenseitigen Erwartungen abgesteckt werden. Es geht darum, dass man sich klar darüber wird, ob man sich in der aktuellen Konstellation wirklich wohl fühlt. Denn im Zweifel siegt der Egoismus über die Duldungsfähigkeit, denn Veränderungen und Anpassungen sind oft schwer auszuhalten. Für diesen ausschweifend-verwinkelten, mit Barock-Flair angereicherten Westcoast-Rock konnte wieder Michael McDonald (Doobie Brothers) für einen Hochglanz-Gesangsbeitrag gewonnen werden.

    Es gibt diesen Moment, wo klar wird, dass eine Partnerschaft gescheitert ist. Diese Erkenntnis, die von Leid geprägt ist, soll das verträumte, wortlose, mit gläsern klimpernden Synthesizer-Tönen dekorierte "Think Well" einfangen. Begleitet von sorgsam ausgewählten, geschmackvoll verzierenden Tönen des Schweizer Jazz-Mundharmonika-Spielers Grégoire Maret breitet "‘Til The Weight Lifts" ein Gefühl der Geborgenheit, Ruhe und Zufriedenheit aus. Neben einem den Gesang vorsichtig einrahmenden, einfühlsamen Piano gibt es auch richtig stille Momente, die das Lied tiefsinnig erscheinen lassen, so dass der klare, sanft wehende Gesang seine ganze salbungsvolle Wirkung genüsslich ausbreiten kann.

    "On & On" steht für die Empfehlung, unsere sehnlichsten Wünsche rigoros umzusetzen und uns dabei nicht von Zweifeln abbringen zu lassen. Der Lead-Gesang zeigt sich ausgewogen, jubilierend und daneben auch dringlich. Die feingliedrige Instrumentierung passt sich parallel sensibel agierend an die jeweiligen Gefühlsäußerungen an. "Black Night" ist das Ergebnis einer spirituellen Erfahrung. Willis hatte ein kleines Haus im Norden New Yorks gemietet, um den Jahreswechsel von 2018 nach 2019 alleine in der Schönheit der Catskill Mountains zu verbringen. Vorher schrieb sie auf Papierstreifen, was sie in ihrem Leben ändern wollte und als Ballast empfand. Nun verbrannte sie einen Schriftzug nach dem anderen. Das wirkte wie eine Befreiung von Blockaden. Dieses Erlebnis wird hier als psychedelischer Folk verpackt, der durch seine schattenhafte Dynamik in Zusammenhang mit intim-anmutigen Arrangements eine rätselhaft anmutende Stimmung erzeugt.

    Wie man lupenreine Perfektion mit einer feinsinnigen Ausdrucksweise in Einklang bringt, dieses Geheimnis hat Michelle Willis für sich gelöst und kann ihre Hörerschaft deshalb mit delikaten, Seele und Hirn streichelnden Songs beglücken. Als Sängerin ist sie herausragend ausdrucksstark, so dass jede Gefühlsregung mühelos authentisch dargestellt werden kann. "Mühelos" scheint sowieso das Schlüsselwort für das gesamte Geschehen zu sein. Obwohl die Songs komplex und raffiniert aufgebaut sind, wirken sie unangestrengt. Das ist die hohe Kunst der Pop-Ästhetik: Intelligent agieren und dabei unkompliziert klingen. Michelle Willis ist mit "Just One Voice" ein außergewöhnlich interessantes Album gelungen, dass sie als Meisterin ihres Fachs ausweist.
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    Past Life Regression Papercuts
    Past Life Regression (CD)
    12.04.2022
    Klang:
    4 von 5
    Musik:
    4 von 5

    Musik als Hilfe in der Lebens-Krise oder wie zum Donnerwetter funktioniert eine Zweierbeziehung?

    Papercuts ist das Dream- und Soft-Pop-Vehikel von Jason Quever, der sein Leben bisher an der Westküste der USA zwischen San Francisco und Los Angeles verbrachte und 2004 das erste Mal mit seiner Veröffentlichung "Mockingbird" in Erscheinung trat.

    Jason Quever ist ein Träumer, der seine Inspirationen unter anderem aus dem Psychedelic- und Barock-Pop der 1960er Jahre bezieht und somit sind Einflüsse von The Velvet Underground ("Sunday Morning"), The Zombies ("She`s Not There") und den "Magical Mystery Tour"-Beatles unverzichtbar. Durch sehnsüchtige Melodien, gepaart mit beständigen Takten und einer rauschhaften Atmosphäre lässt der Musiker seine Hörer und Hörerinnen in wohlig-verlockenden Schwingungen baden. In den dazu gehörenden Texten werden allerdings oft schmerzvolle Geschehnisse verarbeitet.

    "Meine Liebe liegt neben mir, Meilen entfernt", ist eine Kernaussage von "Lodger" und beschreibt bildhaft eine Entfremdungssituation, in die sich viele Menschen hineinfühlen können, denen schon eine Beziehung in ähnlicher Form entglitten ist, aus welchem Grund auch immer. Unerfüllte Träume, ein Zorn-Trauer-Mix und die Hoffnung, dass die eigenen Wünsche doch noch in Erfüllung gehen mögen, schwirren in dieser Phase als Gedanken-Fetzen durchs Hirn. Das Synthesizer-Flirren übernimmt stellvertretend die Darstellung von Traum-Sequenzen, das Rhythmus-Geflecht steht für Ermunterung und der Gesang schwelgt in Wehmut: So entsteht ein Song, der einen Verlust ausdrückt, aber auch die Kraft symbolisiert, die aus der Misere führt. Die Mehrdimensionalität der Emotionen verhilft dem Lied dazu, ein nachhaltig wirkungsvoller Leitfaden für belastende Lebenslagen zu sein.

    Auch "Sinister Smile" beschreibt eine gescheiterte Liebe: Hier trägt der Protagonist allerdings immer noch den Ring der Verflossenen. Selbst eine neue Liebelei konnte die ursprünglichen Gefühle nicht auslöschen. Häufig weiß man eben erst im Nachhinein zu schätzen, was man gehabt hat. Mit den Mitteln einer sehnsüchtigen Ballade, die nicht jammervoll berichtet, sondern nüchtern analysiert, wird der sensible Musikfreund in diese schwierige Lage mithilfe einer seriösen Adult-Pop-Konstruktion, die sich anhand von straffen Takten über Wasser hält, hineingezogen.

    Wer schon mal ohnmächtig war, weiß, wie erschreckend sich dieser Kontroll-Verlust anfühlt. "Fade Out" berichtet, dass es wie ein paranoider Zustand sei, so als wäre man in einer Wolke gefangen. Sehr unangenehm, solch ein Erlebnis. Musikalisch nutzt Jason Quever den trockenen, coolen, stumpfen Velvet Underground-Folk-Rock, um das Gefühl der Ohnmacht darzustellen. Seine Stimme wirkt dabei gedrückt, als würde sie sich von einer Betäubung erholen. Wäre da nicht die liebliche Melodie, könnte das Stück in Tristesse versinken.

    Da ist jemand ziemlich abgestumpft, die Panikattacke der Partnerin interessiert ihn nicht, also interessiert ihn die Partnerin nicht mehr. Er möchte nur seine Lederjacke zurück, die ist ihm wichtiger als das Leid der Person, mit der er eben noch zusammen war. Für "I Want My Jacket Back" wird dieses Ereignis in einen unschuldigen Folk-Pop gegossen, deshalb wirkt es nicht mehr so anmaßend und gemein. So funktioniert Verdrängung.

    Ist der Erzähler bei "My Sympathies" bei einem Autounfall gestorben oder ist nur ein Treffen nicht zustande gekommen? Etwas zweideutig ist die Beschreibung schon, Randy Newman lässt grüßen, wobei musikalisch hier auf einen nüchternen Barock-Pop gesetzt wird. Eine für die Gegebenheit angemessene Auswahl, wobei ein Augenzwinkern dem Ganzen die Schärfe nimmt.

    "The Strange Boys" versuchen mit Ferngläsern pikante Momente aufzuschnappen und streifen nachts erwartungsvoll durch den Hafenbereich. Das halbseidene Verhalten versinnbildlichen die unrunden, leiernden Synthesizer-Töne am Anfang und drücken aus: "Hier stimmt was nicht". Die Klänge stehen für Fehlverhalten, aber sie werden von einem Sound verdrängt, der durch seinen Glanz und seine Harmonie-Sucht versucht, jegliche Zweifel zu zerstreuen.

    Bei "Palm Sunday" geht es offensichtlich um eine Beziehung, die am Status der Beteiligten litt. Sie ist adlig, er nicht. Aufgrund des hochnäsigen Benehmens von ihr schwingt bei ihm Verbitterung mit. Wenn die Herkunft über die Gefühle siegt, dann ist was faul. Deshalb wurde dieses Stück auch mit einem anklagenden Refrain ausgestattet, der sich aufgrund der Tragik auch mal in einem hilflosen "Lalala" erschöpft. Pop als Erwachsenenbildung, denn nur erlebte Tragödien stählen den Charakter, nicht die erzählten Erlebnisse von Anderen.

    "Hypnotist" dreht sich nicht um zwischenmenschliches Leid, sondern um die Vorstellung, was sein würde, wenn wir nach einem Jahrhundert-Schlaf wieder erwachen. Wäre das Leben dann noch lebenswert? Erwartet uns eine rosige Zukunft oder hat sich die Menschheit zugrunde gerichtet? Zuversichtliche Eindrücke treffen entsprechend mit desillusionierenden Tönen zusammen und verwirbeln miteinander. Der Ausgang der Fiktion bleibt offen, schließlich liegt es an der Durchsetzung eines politischen Willens, wie die Zukunft aussehen wird.

    Ist die Aufforderung an die ex-Partnerin, wieder zu heiraten, als Schritt in die psychische Freiheit zu sehen oder schwingt etwa die Hoffnung mit, dass der ex-Partner erkennen möge, dass die vorherige Beziehung die Bessere war? Egal, "Remarry" ist jedenfalls eine ergreifende, unsentimentale Ballade, die atmosphärisch die Erlangung einer ausgeglichenen Gefühlslage in den Mittelpunkt des musikalischen Geschehens stellt. Jason Quever singt so betörend, als hinge sein Leben davon ab, seine Zuhörer und Zuhörerinnen davon zu überzeugen, dass er es aus tiefstem Herzen ehrlich meint. Der Bass ist präsent und bestimmend, wie der von Peter Hook (New Order). Auffallend, aber nicht penetrant übertrieben, dennoch sicher wie ein Fels in der Brandung. In einem sentimentalen Augenblick können schon mal ein paar Tränen fließen.

    "Comb In Your Hair" verarbeitet nochmal die unsicher schwingende Eingangs-Klänge aus "The Strange Boys". Der Song stemmt sich mächtig gegen einen drohenden Ton-Kollaps und kann aufgrund des mutigen Gesanges und der stabilen Melodie und des unnachgiebigen Rhythmus noch die Kurve kriegen und zu einem selbstsicheren Song wachsen. Hartnäckigkeit zahlt sich eben oft aus.

    "Past Life Regression" beherbergt allerlei Liebes-Dramen, ohne dass dabei die Rückführung an vergangene, schmerzliche Erinnerungen besonders depressiv klingt. Das Leben hat bei Jason Quever deutliche Gebrauchs-Spuren hinterlassen, aber er lässt sich nicht unterkriegen. Er sucht und findet Trost bei seinen musikalischen Helden, die Brian Wilson, John Lennon, Todd Rundgren und Badfinger heißen könnten und so entsteht eine Momentaufnahme, die den Wert von gehaltvollen Kompositionen, verbunden mit einem wachen Bewusstsein für attraktiven Art-Pop und einem individuellen Charme zu einem Werk vereinen, das Musik nicht als ein flüchtiges Erlebnis, sondern als Kulturgut definiert. Hier ist die Musik auch Therapie, wobei der Künstler Befreiung erlangen und die Hörerschaft einen anspruchsvollen Genuss erwarten kann.
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    Great American Painting The Districts
    Great American Painting (CD)
    14.03.2022
    Klang:
    4 von 5
    Musik:
    4 von 5

    "Great American Painting" steht für Transparenz und Vielfalt im Rock & Roll.

    Immer wieder zeigen neue Bands auf, dass die Wirkung des Rock & Roll als treibende Kraft in der populären Musik ungebrochen ist. The Districts gibt es zwar schon seit 2009, sie haben sich aber eine Frische bewahrt, die sie wie eine junge, neugierige, von ihrer Musik begeisterte Kapelle klingen lässt.

    "Great American Painting" erscheint am 11. März 2022 und ist das fünfte Album der vom Quartett zum Trio geschrumpften Gruppe aus Lititz in Pennsylvania, die jetzt in Philadelphia lebt. Die Aufnahmen machen deutlich, dass der Rock & Roll nicht tot ist. Er riecht heutzutage nicht immer nach Schweiß, strotzt bei Bedarf jedoch vor Energie, ist aber auch für den einen oder anderen Ohrwurm gut.

    Mal elastisch wie Gummibänder und mal klirrend wie splitterndes Glas klingen die E-Gitarren bei "Revival Psalm". Die Rhythmus-Abteilung verbreitet dazu einen lockeren und dabei stabilen Groove. Leiht etwa Andy Partridge von XTC dem Song seine Stimmbänder? Macht er nicht, denn der Gesang gehört dem Frontmann Rob Grote, der dem Titel einen eigenwilligen New Wave-Schliff verleiht.

    Beim Anti-Waffengewalt-Song "No Blood" vermischt sich die bissige Schärfe von "Killing An Arab" (The Cure) mit dem unwiderstehlichen Charme von "Make Me Smile (Come Up And See Me)" (Steve Harley & Cockney Rebel) zu einem herausfordernden alternativen Rocker. "Ich schrieb diesen Song als Katharsis mit der Idee, dass keine Waffe und keine Gewalt jemals die Wahrheit und ihre zugehörige Kraft beseitigen kann", erklärt Grote seine Beweggründe für dieses Lied.

    "Do It Over" ist die Power-Ballade des Albums. Die vom Gesang eingebrachte Sentimentalität wird vom aktiven Rhythmus aufgerüttelt und über die silbrigen Gitarren miteinander verknüpft, so dass sie nicht zu süßlich erscheint. Rob Grote erklärt den Track so: "Dieser Song hat mehrere Ebenen von Bedeutung für mich. Da wäre die persönliche Seite übers Älterwerden und Rückblicken, wenn man darüber nachdenkt, wie man gewisse Sachen anders hätte handhaben können. Und dann wäre da eine andere Ebene, die sich damit beschäftigt, wie wir unsere Umwelt und den wunderschönen Planeten, auf dem wir leben, zerstören. Der Song fragt: Hätten wir das anders lösen können, ohne die Erde und uns gegenseitig auszunutzen?"

    Rob Grote wandelt die überschwängliche Energie von "White Devil" durch seine souverän ausgleichende Stimme in hemmungslosen Power-Pop-Schwung um, bevor ein weitläufiger Steel-Guitar-Mittelteil einen sphärischen Country-Rock entstehen lässt. Danach nimmt der Song wieder ordentlich Fahrt auf.

    "Long End" lädt dann zum entspannten Fahren durch weite, verlassene Landschaften ein. Sich kreuz und quer gedankenverloren in gemäßigtem Tempo fortzubewegen scheint die perfekte Einsatzmöglichkeit für den entspannt-locker swingenden Song mit dem nach vorn gemischtem, schleifendem Rhythmus zu sein. Der Puls des Tracks ist dabei im unteren Bereich angesiedelt und die Klänge geben einen Herzschlag vor, der sich im Normbereich befindet. Das ist Cruiser-Rock par excellence.

    Der monotone Takt kommt bei "Outlaw Love" von der Bass-Trommel des Schlagzeugs, nicht aus dem Computer. Trotzdem führt das zu einem technisch-mechanischen Reiz, der noch durch andere gleichbleibende Drum-Figuren variiert wird. Der Song bekommt als Gegengewicht dazu einträchtig-wohlige Signale über harmonischen Background-Gesang. Das Konstrukt führt allerdings zu einer undifferenzierten Gemengelage. Gut, dass dann noch ein paar raue Gitarrenakkorde auftauchen, die den zwiespältigen Eindruck dieses Stückes aber nicht gänzlich retten. Interessant ist der gedankliche Aufhänger für das Stück: "Der Song handelt davon, die Vergangenheit neu zu bewerten, um dabei zu realisieren, wie sehr unsere Wahrnehmung von bestimmten Erfahrungen und Überzeugungen geprägt ist. Wer hatte recht und wer lag falsch? War es Liebe oder nur ein Netz aus Lügen?"

    "Hover" macht sich zunächst durch verzerrte, harte, jaulende Gitarren bemerkbar, atmet dann ausgleichende Pop-Harmonie, wobei sich das Wilde nicht verdrängen lässt und ständig präsent bleibt. Eine roboterhafte Erscheinung liegt der Taktgestaltung von "I Want To Feel It All" zu Grunde, die im Hintergrund die Kontrolle übernimmt. Der Gesang hat Schnappatmung und die Elektronik lässt Traumreisen als beruhigende Klangmodelle entstehen. "Ich habe diesen Song inspiriert von LSD in einem dunklen Wald im Staat Washington unter einem Vulkan geschrieben. Es geht darum, alles Mögliche auf einmal zu fühlen, um emotionale Feuerwerke und Explosionen und das Universum und jeden darin zu lieben. Aber es geht auch um den Tod und die Dunkelheit, die Existenz und Vergebung, den Schmerz und die Akzeptanz", erklärt Grote die Hintergründe des Liedes.

    Dumpf-bedrohliche, monotone Trommeln und helle, freundlich klingende Akustik-Gitarren zeigen bei "On Our Parting My Beloved" Gegensätze auf, die auch das wahre Leben prägen: Freude und Leid liegen da oft dicht beieinander.

    Der Rock & Roll ist stetig im Wandel. Rebellion findet heute nicht mehr unbedingt auf der Straße oder im Übungskeller, sondern zwischen den Ohren oder im Heimstudio statt. Intelligente Aufklärung ist jetzt wichtiger als bloße Provokation, stilistische Öffnung und Anpassungen stellen die Fans vor neue Herausforderungen. Das führt dazu, dass sich die Musik nicht in feste Schubladen einordnen lässt. Das ist der Weg, den The Districts gehen. Gut so! Ein "Great American Painting" kann sowohl Polizeigewalt, Drogenproblematik oder Waffenverherrlichung darstellen, aber auch beeindruckende Landschaften und starke Persönlichkeiten zeigen.

    The Districts, bestehend aus Rob Grote (Gesang, Gitarre), Pat Cassidy (Gitarre) und Braden Lawrence (Schlagzeug) sind unwiderstehlich, wenn sie Garagen-Rock, Power-Pop und Punk mit Hingabe zusammenführen. Dann sprudelt das Temperament über und der Rock & Roll zeigt, wie lebendig er ist.

    Das Trio wollte mit "Great American Painting" den Raum innerhalb der Songs ausweiten, um jedes Instrument klar abgegrenzt zu Gehör zu bringen und dabei eine unbeeinflusste Musik-Collage erschaffen. Klangliche Transparenz und musikalische Vielfalt sind also die ausgeprägten Tugenden von "Great American Painting", die dem Album einen jugendlich-lebendigen Ausdruck verleihen.
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    In The Sun In The Rain Fieh
    In The Sun In The Rain (CD)
    14.03.2022
    Klang:
    4 von 5
    Musik:
    4 von 5

    Ob Sonne oder Regen: Beides gehört zum Leben und findet eine Entsprechung in den vollmundigen, intelligenten Songs von Fieh.

    Auf der Web-Seite des norwegischen Septetts Fieh (wird Fia ausgesprochen und ist der Spitzname der Sängerin und Komponistin Sofie Tollefsbøl) sind folgende Anmerkungen zu ihrem zweiten Album "In The Sun In The Rain" enthalten: "Die aktuelle Musik konzentriert sich auf den Groove, es gibt aber auch experimentelle und orchestrale Songs. Inspiration dazu gaben The Roots, Joni Mitchell, Erykah Badu, die Beatles und Solange. Die Texte kreisen um Themen des Alltags und um die Liebe, es sind echte Geschichten aus dem wahren Leben."

    Die ersten fünf Songs sind dem Bereich "In The Sun" zugordnet worden. Ab "Allthetimeevenwhen" beginnt der "In The Rain"-Abschnitt: Die Orchester-Schöpfungen von George Gershwin ("Rhapsody In Blue"), Jazz-Rock-Fusionen der 1970er Jahre, experimenteller Art-Pop, all dies findet sich im aufregend sprudelnden Track "In The Sun In The Rain (Move On Up)" wieder. Unkonventionell werden hier bewährte Ausdrucksformen zu einem Mix zusammengefügt, der als Fusion über die gängigen Höreindrücke hinausgeht. Der Groove hält dann diese sehr unterschiedlichen Einflüsse zusammen.

    Das gilt auch für "Fast Food", einem Stück, das nicht eindeutig dem Jazz, Soul oder Funk zugerechnet werden kann, aber deren Feuer und körperliche Impulsgebung überträgt. Im Kern handelt es sich um einen aufreizenden Jazz-Pop mit versöhnlicher Singer-Songwriter-Seele. Ein verschlungener Kompositions-Ansatz trifft mit Wucht auf traditionelle Country-Folk-Strukturen, was ein Gerangel um die Vorherrschaft der verwendeten Bestandteile auslöst. Dadurch entsteht eine nützlich-fruchtbare Auseinandersetzung.

    Bei "Telephone Girl" schwingt ein angedeuteter Dub-Reggae-Rhythmus mit, was lässige Vibrationen hervorbringt. Das klappt zuverlässig und führt wegen überwiegender Pop-Tendenzen in letzter Konsequenz zu einem kultivierten Easy Listening-Sound.

    Für "Rosalie" wird in erster Linie eine rhythmische Energie angezapft und belebend wiedergegeben. Das heißt, der Song erzeugt eine milde Euphorie, wobei die Verwirbelung diverser Pop-Erfahrungen sich auch noch aufmunternd auswirkt. Ohne diese belebenden Wirkungen wäre der Song eher von zurückhaltender Natur.

    Fieh erweisen sich nicht als Bilderstürmer, sondern als Verwalter des Bewährten. Deshalb adaptiert "Grendehus Funkedelic" auch nicht ungeniert den Sound von George Clintons Funkedelic, sondern spielt ausgelassen mit stärkenden Punk-Funk-Komponenten, die dem Art-Pop eine rebellische Färbung verleihen. Inspiration muss eben nicht zwangsläufig zu einem Plagiat führen.

    Pur, rein und klar ertönt nicht nur das Xylophon zu Beginn von "Allthetimeevenwhen", sondern auch der helle, freundliche Gesang ist von ungetrübter Unschuld und strahlender Sorglosigkeit geprägt. Die vielschichtig und beweglich gestalteten Arrangements stehen der sonnigen Leichtigkeit dabei in keiner Weise im Wege. Das Stück ist ein Musterbeispiel an anspruchsvoller und dabei unbekümmerter Unterhaltung.

    Zwei Merkmale prägen "Englishman": Ein Rhythmus-Geflecht, welches sich anhört, als wäre es von Bill Withers ("Ain`t No Sunshine") ausgeliehen worden und eine melodische Ausgelassenheit, die dem kalifornischen Sunshine-Pop der 1960er Jahre von Association oder Harpers Bizarre nahekommt.

    "Rooftop" bedient Fragmente, die aus den goldenen Zeiten des Psychedelic-Pop der 1960er und 1970er Jahre in die Jetztzeit gerettet wurden: Opulente Instrumentierungen, rauschhaft umnebelte Phantasien und ausdrucksstarke Gesänge lassen den Song abgeklärt und erhaben erscheinen.

    Dunkle, langsam gesungene und gespielte Töne verbreiten bei "Anger Management (Jesus)" eine bedächtige Stimmung, die durch ihre hypnotische Wirkung zur Entschleunigung beitragen und zum Innehalten animieren kann.

    Break-Beats und Space-Pop-Elemente konkurrieren bei "Howcome" um Anerkennung. Die beiden konträren Ausprägungen harmonieren, weil sie sich zum Wohle eines anziehenden Kontrastes respektvoll umgarnen. Dadurch werden die gegenseitigen toxischen Effekte neutralisiert.

    Schutzlos ausgeliefert erforschen Bass und Stimme den Klangraum von "Hero". Dabei treffen sie auf suchende Keyboard-Ton-Splitter, die diese Expedition geistreich unterstützen. Es bleibt viel Platz für zusätzliche Noten in diesem Gefüge, bis das Schlagzeug taktvoll regulierende Akzente setzt und flirrend-sirrende Streicher-Arrangements die Lücken genießerisch-sanft füllen.

    Sofie Tollefsbøls klare Stimme bleibt dabei Anziehungspunkt und Leitlinie, ohne die Lieder ungebührlich zu dominieren. Der flexible Gesang passt sich jeder emotionalen Situation an. Ob hohe, optimistische Töne verlangt werden oder die Unterstützung einer bedrückenden Situation ansteht, Sofie Tollefsbøl schmiegt sich jeder Herausforderung nahtlos an. Sie setzt sich souverän gegen den üppigen Instrumenten-Cocktail ab, agiert dabei aber stets songdienlich.

    Fieh sind ein Phänomen. Mit ihrem zweiten Werk nach "Cold Water Burning Sky" aus 2019 legen sie ein äußerst inspirierendes, vor Attraktivität aus allen Nähten platzendes Album vor, das reif, entschlossen, abwechslungsreich und rundum edel-gepflegt klingt. Pop-kulturelle Erfahrungen und kreative Eigen-Entwicklungen lassen Kompositionen erstrahlen, die sowohl wohlige Klang-Erinnerungen erzeugen, wie auch für bemerkenswerte neue Ansichten sorgen.

    Fieh erschaffen eine Atmosphäre, die verträumte und lebensnahe Klänge zu einem Bündel stimulierender Schwingungen zusammenfasst. Aufgrund der breiten stilistischen Abdeckung könnten die Norweger und Norwegerinnen jede Menge Hörer und Hörerinnen betören. Bei "In The Sun In The Rain" zählt die musikalische Qualität genauso viel wie die glanzvolle, ausdrucksvolle Ausgestaltung. So kommt es, dass selbst so gegensätzliche Zutaten wie Groove, Experiment und Orchestrierung bestens mit- und nebeneinander funktionieren. Mehr noch, sie ergänzen sich bei Fieh prächtig!
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    Artifacts: The Collected EPs, Early Works & B-Sides Beirut
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    14.03.2022
    Klang:
    5 von 5
    Musik:
    5 von 5

    "Artifacts" zeigt die Anfänge der wundersamen und wunderbaren Klangwelt des Zach Condon im Rückspiegel.

    "Artifacts" enthält den Untertitel "Collected EPs, Early Works & B-Sides". Es gibt also dieses Mal keine wirklich neuen Sachen von Zach Condon, dem Vordenker von Beirut zu hören, sondern einen Über- und Rückblick, der sich abseits der bisherigen fünf tollen Alben abspielt. Die Raritätensammlung enthält 26 Stücke und ist in vier Bereiche unterteilt: "Lon Gisland, Transatlantique, O Leãozinho", "The Misfits", "New Directions And Early Works" und "The B-Sides".

    Zach Condon, Jahrgang 1986, ist ein Sound-Besessener, der schon im Alter von 11 Jahren im Verlauf einer hartnäckigen Schlaflosigkeit begann, eigene Musik auf einem analogen 4-Spur-Kassettenrekorder aufzunehmen. Er wuchs in Newport News, Virginia und Santa Fe, New Mexico auf, brach die High School mit 17 ab und reiste mit seinen Brüdern durch Europa, wo er den Balkan-Folk lieben lernte. Nach seiner Rückkehr studierte er Portugiesisch sowie Fotografie und veröffentlichte 2007 die hier enthaltene 5-Track-EP "Lon Gisland", nachdem bereits 2006 das erste Album "Gulag Orkestar" unter dem Namen Beirut erschienen war.

    Schon mit dem "Lon Gisland"-Opener "Elephant Gun" ist man voll drin in dem auf exotische Weise bewusstseinserweiternden Kosmos von Beirut, der den Eindruck vermittelt, als würden Sounds aus aller Welt konzentriert aufgesaugt und als prächtiges, bunt schillerndes Kaleidoskop wieder abgegeben werden. Mit allerlei Blech-Bläsern, Percussion-Instrumenten, Ukulele und Euphonium wird die vollmundige Ballade mit schmachtendem Gesang so aufbereitet, dass sie trotz sentimentaler Neigung herzhaft und tröstend klingt.

    Feuriger Balkan-Pop lässt "My Family's Role In The World Revolution" beben und sorgt für ein schwungvolles Tempo. Durch ein schwirrend-singendes Akkordeon und ein freundlich brummendes Euphonium in Verbindung mit fremdländischen Trommel- und majestätischen Trompeten-Tönen verschmilzt "Scenic World" zu einer feinen East-Meets-West-Mischung.

    Das kurze Intermezzo "The Long Island Sound" hört sich dann wie ein nostalgischer Nachhall von "Scenic World" an. Wie sehr Jazz und osteuropäische Folklore rhythmisch miteinander verzahnt sind, zeigt "Carousels" turbulent schäumend auf.

    Mariachi-Trompeten und die dazugehörigen schnell angeschlagenen akustischen Gitarren entführen die ehemalige Single-B-Seite "Transatlantique" an die Grenze zwischen den USA und Mexiko. Das ist der Border-Sound, auf den auch Calexico einige ihrer Kompositionen aufbauen.

    Die geruhsame, mild gestimmte, im Original nur zur akustischen Gitarre von Caetano Veloso vorgetragene Bossa Nova "O Leãozinho" wird von Beirut durch allerhand Instrumente wie Basstrommeln, klingelnde Gitarren und jubilierende Flöten hinsichtlich des Klangvolumens aufgewertet.

    Der Bereich "The Misfits" umfasst Songs, die Condon schon mit 14 Jahren verfasste sowie Arbeiten, die zwischen 2001 und 2005 entstanden. Dazu gehört "Autumn Tall Tales": Der Eintönigkeit eines Drum-Computers wird eine bedächtig-herbstbunte Lautmalerei entgegengesetzt. Leichter Cocktail-Jazz, ein stoisch marschierender Rhythmus, eine nachtblaue Trompete und selbstvergessener Singsang lassen das Stück zu einem angenehmen Tagtraum-Begleiter erblühen.

    Bei "Fyodor Dormant" hat der Gesang starke Ähnlichkeit mit dem schwelgend-leidenden Ausdruck von Rufus Wainwright. Eine einsame Solo-Trompete sorgt für sehnsüchtiges Fernweh, noch angestachelt von künstlichen, aber dennoch leichtfüßig-karibisch anmutenden Beats. "Ich weiß nicht, ob die Leute, die den Großteil meiner Musik hören, sofort wissen, wie sehr ich als Teenager Synthesizer geliebt habe. Für mich waren sie eine willkommene Flucht aus der damals von E-Gitarren dominierten Musik aus den USA und von Großbritannien, bevor ich das breitere Spektrum der Musik außerhalb dieser engen Mauern kennenlernte", erklärt Zach Condon diesen Abschnitt seiner musikalischen Sozialisation.

    "Poisoning Claude" war eines der ersten Stücke, die Zach Condon entworfen hat. Der Synthesizer sondert Töne ab, die sich ständig spiralartig zu drehen scheinen. Auf diese Weise entsteht so etwas wie Kirmesstimmung. Das Konstrukt klingt aber auch nach 1980er Jahre Electro-Pop. Human League kommen in den Sinn. Dieser Track lässt sich voll und ganz darauf ein, ohne Weltmusik-Ambitionen auszukommen.

    "Bercy" gehört auch zu den Frühwerken und vermittelt bei gleicher Ausgangslage wie "Poisoning Claude" neben pulsierenden Hintergrund-Tönen zusätzlich eine sakrale Atmosphäre. Das Bohrgeräusch am Ende des Tracks stammt von Zachs Vater, der zur Zeit der Einspielung die Farbe von der Schlafzimmertür schliff, ohne zu wissen, dass da grade ein Meister seines Fachs in den Startlöchern steckte.

    Das Akkordeon auf "Your Sails" stammt noch von Zachs Großeltern. Es lässt eine wehmütige maritime Atmosphäre aufkommen und wird erneut von dem traurigen Rufus-Wainwright-Gedächtnis-Gesang getragen. "Irrlichter" ist ein Synthesizer-dominiertes, instrumentales Stück, bei dem funkensprühende Elemente neben andächtigen Tönen (be)stehen.

    Das "New Directions And Early Works" genannte Kapitel beginnt mit Retro-Klängen: Primitive Drum-Sounds und an frühe Computer-Spiel-Untermalungen angelehnte Farfisa-Orgel-Schleifen verleihen "Sicily" einen sympathischen Do-It-Yourself-Charme. Dem gegenüber stehen schunkelnde Sounds und ein sehnsuchtsvoller, betörend anschmeichelnder Gesang. Gegensätze ziehen sich auch hier behutsam an.

    "Now I'm Gone" brachte den Beirut-Chef an seine Grenzen. Monatelang hatte er versucht, einen Sound, den er im Kopf hatte, in die Wirklichkeit zu überführen. Ausschweifend und impulsiv sollte er klingen, als würde er bluten. Die auf Tape gebannten Schwingungen lassen an die Bergung von Rhythmen indigener Völker denken, über die spirituell-ehrfürchtige Noten gelegt werden.

    Eine erbauliche Farfisa-Orgel entführt "Napoleon On The Bellerophon" in andachtsvolle Klang-Räume, die von einem würdevoll-selbstbewussten Piano gefüllt werden, bevor eine Hoffnungs-Offensive die bedrückende Tristesse wegspült. Eine gewisse Melancholie bleibt erhalten, aber sie wirkt nun konstruktiv und beherrschbar.

    Der Folk von "Interior Of A Dutch House" ertönt ebenso universell wie leichtfüßig. "Im Nachhinein klingt es wie eine ziemlich optimistische Melodie von jemandem, der gerade die Schule aus Erschöpfung und Frustration abgebrochen und Angst vor der Zukunft hatte". So ordnet Condon den Track in seine Biografie ein. Dagegen hört sich "Fountains And Tramways" wie eine Persiflage eines Frank Sinatra-Songs an. Tatsächlich hatte Zach Condon in dieser Zeit wirklich seine Frank Sinatra-, Dean Martin- und Burt Bacharach-Phase.

    Der ausgereifte, dunkelgraue Folk-Jazz "Hot Air Balloon" entstand, als der Künstler grade mal 16 Jahre alt war! Das Lied bewegt sich nur langsam vorwärts, ist durch Schwermut belastet und vermag dennoch die volle Konzentration der Hörerschaft auf sich zu ziehen.

    "The B-Sides" beinhaltet 7 Stücke. "Fisher Island Sound" wird von einer eiligen Ukulele und trampelnden Trommeln vorangetrieben. Ein fideles Euphonium imitiert irischen Folklore-Schwung und stachelt den Optimismus zusammen mit Blechbläser-Fanfaren noch mehr an. Der Gesang lässt sich davon nicht aus der Ruhe bringen und gibt sich souverän und ausgleichend. Dieser attraktive Weltmusik-Art-Pop ist ein Musterbeispiel dafür, wie Töne Zuversicht und Energie vermitteln können.

    So langsam ist "So Slowly" gar nicht. Coolness und Eleganz, gepaart mit ausdrucksstarken, stumpfen Takten lassen auffällige Kollisionen entstehen, die massiv vom lieblichen Gesang abgefedert werden. "Die Treue zum Ursprung" könnte die Titelmelodie einer komödiantischen Krimi-Serie sein, weil hier Ernsthaftigkeit und Heiterkeit gleichzeitig mitschwingen. Durch die Wiederholung der Motive blickt sogar noch ein meditativer Charakter durch.

    "The Crossing" wurde als Auftragskomposition für die Regisseurin Alma Ha`rel geschrieben. Man kann sich das atmosphärisch dichte, gesanglose Stück gut als Untermalung für Dokumentationen aller Art vorstellen oder für den Abspann eines Filmes, so wie vorgesehen.

    Das beschwichtigende, verträumte, mit etlichen Klangfarben vollgepackte "Zagora" stammt aus der Zeit, als die Tourneen zum Album "The Rip Tide", das 2011 erschien, anstanden. Das Lied verbreitet eine helle, neugierige und freundliche Stimmung. "Dieser Song erschien mir immer als Soundtrack für die dunkleren Orte in meinem Kopf und die kleinen Momente der Inspiration, die mich durchhalten lassen", kommentiert der Verfasser seine Sichtweise.

    Spärliche Dub-Effekte versetzen "Le Phare Du Cap Bon" ein wenig in Wallung. Der Track setzt im Verlauf auf einen gleichförmigen Groove, der durch ein swingendes Jazz-Schlagzeug und elastisch-hallende E-Piano-Akkorde angereichert wird. Das der japanischen Folklore und dem Rhythm & Blues nahestehende "Babylon" vermittelt einen weiteren Eindruck davon, welch unerschrockener Sound-Mixer Zach Condon ist.

    Obwohl es sich bei "Artifacts" teilweise um frühe Einspielungen handelt, gibt es erstaunlicherweise keinen größeren Stilbruch und keine außerordentlichen Qualitätsschwankungen zwischen den Frühwerken und den späteren Einfällen. Condons Handschrift ist stets deutlich erkennbar, er war sich seiner Sache also immer sicher, er wusste genau, wohin er wollte und befand sich außerdem in der Lage, seine Ziele auch passend umsetzen zu können.

    Zach Condon ist ein kreativer Tüftler und ein Ausbund an originellen Ideen, die er völlig unabhängig von Moden und Trends selbstbewusst in Szene setzt. Er ist ein Mann mit einer Vision, er steckt den Kopf mal in die Wolken, ist aber auch bereit, auf seine innere Stimme zu hören und dunklere Ecken seiner Seele akustisch zu Wort kommen zu lassen. Seine gedankliche Vorstellungskraft im Hinblick auf die Erschaffung von originellen Sounds muss ähnlich ausgeprägt sein, wie die von Brian Wilson (The Beach Boys) oder Will Holland (Quantic). Ein positiv Verrückter also, der seine Vorstellungen bündeln und zu Songs verarbeiten kann, die überraschen und verzaubern können!
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