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    LittleWalter Top 25 Rezensent

    Aktiv seit: 03. September 2010
    "Hilfreich"-Bewertungen: 1112
    472 Rezensionen
    Gefühlte Wahrheiten Gefühlte Wahrheiten (CD)
    02.07.2022
    Klang:
    5 von 5
    Musik:
    5 von 5

    "Gefühlte Wahrheiten" sind sympathischer als dogmatisch verkündete Weltanschauungen: Jochen Distelmeyer gibt der Liebe eine Chance.

    Es war der 31. Mai 2018, ein warmer Frühlingstag, da traten Blumfeld im Bremer TOWER-Club auf. Es sollte ein denkwürdiger Konzert-Abend werden. Ich erwartete eine eher akustisch geprägte Singer-Songwriter-Show, bekam aber ein saftig fetzendes, mega-intensives, von wilden elektrischen Gitarren getriebenes Rock-Konzert vom Feinsten geboten. Blumfeld spielten 12 Stücke und kamen danach noch vier Mal für Zugaben zurück, so dass insgesamt 19 Tracks mit einem enormen Spannungsbogen geboten wurden. Bis heute hoffe ich auf einen Tonträger von diesem Ereignis oder zumindest von dieser Tournee.

    "Gefühlte Wahrheiten" ist da aus ganz anderem Holz geschnitzt. Das dritte Solo-Album vom Blumfeld-Chef Jochen Distelmeyer setzt da an, wo die Gruppe 2006 mit "Verbotene Früchte" aufgehört hatte und Distelmeyer mit "Heavy" im Jahr 2009 sowie mit dem auf Englisch gesungenen Cover-Versionen-Album "Songs From The Bottom Vol. 1" aus 2016 ansetzte. Das bedeutet, es ist gefühlsbetonter Singer-Songwriter-Stoff, verschachtelter Folk-Jazz, elegant-geschmeidiger Soft-Rock und dynamischer Pop im akustischen und elektronischen Gewand zu erwarten. Jochen Distelmeyer ist ein aufmerksamer, kluger Geschichtenerzähler, der seine Aussagen in Gesprächs-Monologe kleidet, die er um Selbsterkenntnisse ("Gefühlte Wahrheiten") erweitert.

    Der Auftakt "Komm (So nah wie du kannst)" verbreitet einen cremigen, kultivierten Easy-Listening-Sound mit einer hypnotischen und einer schwärmerischen Komponente, die den Eindruck der verzehrenden Liebe, die textlich geschildert wird, noch akustisch verstärkt. Bei "Zurück zu mir" ist der Liebes-Zauber verflogen und der Protagonist wird so hart von der Realität getroffen, dass er sich jetzt nur noch auf sich selbst besinnen will, weil ihm zu allem Überfluss der katastrophale Zustand der Welt den Rest gibt. Der geschmeidige Pop-Klang täuscht darüber hinweg, welch bedrohliche Lage hinter den Beschreibungen steckt. Aber da die Hoffnung zuletzt stirbt, schwelgt der Titel trotzdem in versöhnlich-salbungsvollen Noten.

    Der sanft-melancholische Soft-Rock von "Hey Dear" lebt von seinem hintergründigen hypnotischen Groove, der sich still und heimlich einschleicht und dann das Wohlfühlzentrum des Gehirns ausfüllt. Die geschilderte Beziehung taumelt zwischen aufkommenden Zweifeln und heftigem Begehren - mit ungewissem Ausgang. Diese Gefühlsregungen stehen auch im Mittelpunkt von "Im Fieber". Das ist ein leichtfüßiger Song, der zielstrebig Melodie und Refrain miteinander vereint, wobei der unangestrengte Rhythmus dafür als Bindemittel dient.

    "Tanz mit mir" erinnert an den perfekt produzierten, eleganten Synthie-Pop von Scritti Politti aus den 1980er Jahren. Anmut und elektronische Instrumente stellten damals keine Gegensätze dar und tun es auch nicht bei diesem ausgeklügelten Smooth-Soul. Die langsame, sehnsüchtig schmachtende Westcoast-Folk-Ballade "Nur der Mond" geht danach tüchtig zu Herzen, klingt schön altmodisch und beinhaltet sogar ein völlig aus der Mode gekommenes, ausschweifendes E-Gitarren-Solo.

    Es folgen drei Lieder in englischer Sprache, bei denen es sich im Gegensatz zu "Songs From The Bottom Vol. 1" nicht um Fremd-, sondern um Eigenkompositionen handelt. Sie stammen von einem Country-Mixtape mit dem Namen "Songs From The Dark Age". Klassischer Country ist die Heimat von Schuld und Sühne, von zerbrochener und unerfüllter Liebe. Genau davon erzählen die Songs "Gone Girl", "The Reason" und "Roads Of Regret". Ich hätte mir statt dieser Auswahl eine Bonus-CD mit dem gesamten Country-Opus gewünscht. Außerdem wäre eine Ausgliederung der englischen Titel wahrscheinlich angenehmer im Hinblick eines stimmigen Ablaufs gewesen. So wirkt es, als hätte man aus Versehen den Sender gewechselt. Was nicht die Qualität der authentisch vorgetragenen Tracks schmälert, deren bittere Süße ihre betörend-innige Wirkung nicht verfehlt.

    Der Begriff Liedermacher wird heutzutage nur noch mit Sängern aus den 1960er und 1970er Jahren in Verbindung gebracht. "Manchmal" lässt dieses poetisch-nachdenkliche, teils politisch motivierte, teils den Alltag reflektierende Genre wieder aufleben und ist irgendwo zwischen Reinhard Mey und Hans-Dieter Hüsch einzuordnen.

    Mit dem elfeinhalb minütigen Slow-Blues "Nicht einsam genug" greift Distelmeyer den epischen Talking-Folk-Stil vom Stück "Jenseits von Jedem" (2003) auf, der wiederum von Bob Dylan`s "Desolation Row" (von "Highway 61 Revisited" aus 1965) inspiriert war. Der Song ist ein Musterbeispiel an Coolness, Wortwitz und hypnotischer Melodieführung. Er fasziniert vom Anfang bis zum Ende und zeigt die kompositorische Brillanz des Hamburger Musikers. Großartig!

    "Ich sing für dich" ist ein Mut machender Track, der durch seine aufrichtige Anteilnahme zu Tränen rührt, weil es auf Menschen aufmerksam macht, die nicht unbedingt vom Glück gesegnet wurden. Der bedächtige Country-Folk transportiert die konstruktive Melancholie fabelhaft, so dass der Spannungsbogen über die ganzen fünfeinhalb Minuten erhalten und die Aufmerksamkeit ungebrochen bleibt.

    "Gefühlte Wahrheiten" ist nicht das berüchtigte schwierige dritte Album geworden, dazu verfügt der 54jährige Musiker und Romanautor ("Otis") über zu viel Erfahrung, um in solch eine Identitätsfalle zu stolpern. Das neue Werk führt vielmehr bewährte Ausdrucksformen fort und profitiert vom Gespür für attraktive Text- und Melodie-Ideen seines Schöpfers und seinem geschmeidigen Umgang mit der deutschen Sprache. Also alles wie erwartet und erhofft?

    Jetzt mag kritisiert werden, dass sich die Themen hauptsächlich um Liebesbeziehungen in der glühenden, romantischen, zweifelnden oder verglühenden Phase drehen und weniger ums Zeitgeschehen. Aber vielleicht ist es in dieser unruhigen Zeit sinnvoller, Lieder mit wichtigen zwischenmenschlichen Aspekten zu füllen, als mit irgendwelchen halbgaren politischen Aussagen. "Gefühlte Wahrheiten" ist aber alles andere als unkritisch, denn das Anprangern von Missständen wird konkret ("Nicht einsam genug", "Ich sing für dich") oder mitunter versteckt in die analytisch-kritischen Beziehungsgeschichten eingeflochten ("Zurück zu mir").

    Dann könnte vielleicht kritisiert werden, dass Distelmeyer zu sehr nach Distelmeyer klingt und es kaum musikalische Entwicklungen zu verzeichnen gibt. Aber genau das macht das Besondere der Platte aus, ihre beständige Zuverlässigkeit. Schließlich nimmt ja auch niemand Anstoß daran, wenn Bruce Springsteen einen hohen Wiedererkennungswert beweist oder Neil Young seine bewährten akustischen oder elektrischen Stücke nur wenig variiert.

    Distelmeyer hat einen unverwechselbaren Stil entwickelt, der sich durch glaubwürdige, intelligente Texte und geschmackvolle Exkursionen durch Pop, Soul, Rock, Blues oder Folk auszeichnet. Er ist ein sensibler Poet und ein wacher Beobachter. Hohle Phrasen dreschen ist nicht sein Ding. Der charmant-flüssige Gesang destilliert den lyrischen Aspekt aus der manchmal sperrig wirkenden deutschen Sprache und veredelt ihn hymnisch.

    Der verlässliche, traumwandlerisch sichere Sound von Jochen Distelmeyer schafft Vertrauen und beglückt. Genau wie die Texte, die Halt und Kraft geben sowie Verständnis und Erkenntnisse vermitteln. "Gefühlte Wahrheiten" enthält zwar in erster Linie Beziehungs-Lieder, die sich romantisch oder realistisch mit vielen Facetten von Partnerschafts-Angelegenheiten beschäftigen. Das geschieht aber so unverstellt wie möglich, so nahe am wirklichen Leben, wie es auszuhalten ist und so mitfühlend, dass der Liebe auch nach einer großen Enttäuschung noch (mindestens) eine zweite Chance eingeräumt wird. Und was ist in Krisenzeiten wichtiger als den Geist der Liebe zu beschwören? "All You Need Is Love".
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    Reggae Film Star Reggae Film Star (CD)
    25.06.2022
    Klang:
    4 von 5
    Musik:
    4 von 5

    Damien Jurado praktiziert mit "Reggae Film Star" die Kunst der vorgetäuschten Untertreibung.

    Der am 12. November 1972 in Seattle geborene Damien Jurado ist in den 25 Jahren seiner Veröffentlichungs-Karriere schon längst vom Insider-Geheimtipp zum anerkannten Singer-Songwriter herangewachsen. Seine erste offizielle Platte "Waters Avenue S." brachte er 1997 beim Sub Pop-Label heraus, das durch Grunge-Bands wie Mudhoney, Screaming Trees, Soundgarden oder Nirvana bekannt wurde. Die Plattenfirma setzte später auf Diversifikation und nahm unter anderem Dark-Folk-Acts wie Scud Mountain Boys, The Pernice Brothers und Mark Lanegan unter Vertrag. In diesem Umfeld konnte sich die Jurado-Musik schnell vom rumpelnden Folk-Rock zu einem Sound mit immer mehr sensibel-intimen Anteilen entwickeln. Wobei er für "I Break Chairs" (2002) nochmal zu einem aggressiveren Klang zurückkehrte.

    Auch wenn der Vergleich mit Nick Drake bei introvertierten Musikern inflationär benutzt wird, so ist er bei Damien Jurado tatsächlich angebracht. Die traurige Stimme, die geschmackvollen Streicher-Arrangements, die an die Robert Kirby-Entwürfe für Nick Drake erinnern und die überwiegend entspannten Klang-Darbietungen sprechen da eine deutliche Sprache. Gibt es etwa eine spirituelle Verbindung zwischen den beiden Musikern? Der kurze Appetitanreger "Lois Lambert" zeigt zumindest eine schon gespenstische Nähe zu dem 1974 mit nur 26 Jahren gestorbenen Nick Drake.

    "Reggae Film Star" ist bereits Jurados achtzehntes Album, wobei der fleißige Autor seit 2018 in schöner Regelmäßigkeit jedes Jahr eine Platte fertigstellte, bei denen er seit "In The Shape Of A Storm" aus 2019 ausschließlich vom Multiinstrumentalisten Josh Gordon begleitet wird, da sein bisheriger künstlerischer Zwilling Richard Swift 2018 den Folgen seiner Alkoholsucht erlag. 12 Songs sind es dieses Mal geworden, die in der klassischen LP-Länge von 35 Minuten Platz fanden, womit das Werk noch die längste Laufzeit der letzten fünf Platten aufweist. Aber Qualität geht natürlich vor Quantität, wenn auch der Konsument einen gewissen Anspruch auf einen zeitlichen Gegenwert für sein Geld erwarten darf.

    Beim Opener "Roger" tauchen sie dann auch das erste Mal auf, diese wohlig-weichen synthetischen Streichertöne, die bei aller Lieblichkeit nicht süßlich-klebrig klingen. Dieser kleine, aber feine Unterschied bei der Bildung einer Klangfarbe ist entscheidend dafür, ob der Sound authentisch-natürlich oder aufgesetzt-schmierig empfunden wird. "Roger" wartet durch die passenden Schwingungen allerdings mit einer Melancholie auf, die Schmerz spürbar macht, ohne dabei weinerlich zu wirken.

    Diese Stimmung ist auch zunächst bei "Meeting Eddie Smith" vorherrschend. Nach etwas über einer Minute gibt es einen Bruch und der Song wird durch leicht swingende brasilianische Rhythmen und hymnische Background-Gesänge in ein leichteres Fahrwasser befördert. Aber nach einer weiteren Minute ist die Schwermütigkeit zurück und hält sich bis zum Ende des Stücks.

    Beim gemütlichen "Roger’s Audition" und der Ballade "What Happened To The Class Of ’65?" setzt sich allmählich ein Sound-bestimmender, tapsender Rhythmus durch, wie er auch bei den groovenden Folk-Boogie-Nummern von J.J. Cale zum Einsatz kommt. Der intime Jazz-Folk "Location, Undisclosed (1980)" hält mehrere Ausprägungen bereit. Zunächst startet das Lied langsam und scheu, erhält dann eine elegante Pop-Legierung und anschließend klingt es romantisch aus.

    "Day Of The Robot" balanciert charmant das Verhältnis zwischen intimer Atmosphäre und strammem Beat aus, wobei der Gummiband-Bass für Beweglichkeit und die Streicher-Wolken für Nachdenklichkeit stehen. Mit einem ausgeglichenen einminütigen Folk-Jazz-Intro beginnt "Ready For My Close Up", das danach etwas strenger und wortreich fortgeführt wird.

    Das dringliche "Taped In Front Of A Live Studio Audience" wird durch einen monoton-hypnotischen Takt und eine im Hintergrund quengelnde E-Gitarre nach vorne getrieben, während der Gesang versucht, in dieser nervösen Atmosphäre Haltung zu bewahren. "Whatever Happened To Paul Sand?" besteht größtenteils aus einer Unterhaltung, wobei alle Gespräche und Gedanken nur von Damien Jurado gesungen werden. Der zur Untermalung verwendete Folk-Rock bildet eine Grundlage, die weder leidenschaftlich noch gelangweilt daherkommt. Eher routiniert-unaufgeregt, aber dennoch interessiert-aufmerksam.

    Kaum ist der Spannungsbogen von "The Pain Of No Return" aufgebaut, ist das Lied auch schon wieder zu Ende, so dass der Dream-Pop sein süßes Gift gar nicht richtig versprühen kann. Mit über fünf Minuten Laufzeit ist "Gork Meets The Desert Monster" das längste Stück des Albums und drückt zuvor geäußerte essentielle Gefühlslagen erneut aus. So taucht intim-zerbrechlicher Country-Folk auf, psychedelisch-mystische Schwingungen werden eingeblendet und der Gesang lotet die Spannweite zwischen Zerbrechlichkeit und Empörung aus.

    Damien Jurado ist nicht nur ein einfühlsamer Song-Gestalter, sondern auch ein Poet, der seine Texte assoziativ und hintergründig verfasst, wobei einige Bedeutungen kryptisch bleiben. Genau wie der rätselhafte Album-Titel, zu dem es offenbar keinen Bezug zu geben scheint. Die überwiegende Gefühlslage auf "Reggae Film Star" ist bittersüß, das heißt, Emotionen wie Ernsthaftigkeit und Empathie ohne krankhafte Schwermut spielen eine große Rolle.

    Gesanglich bewegt sich Jurado oft im sympathischen Mittelton-Bereich. Intensivere Stimmungslagen werden von ihm nicht durch eine Erhöhung der Lautstärke, sondern durch den Wechsel in höhere Stimmlagen ausgedrückt, was für Geduld und Liebenswürdigkeit bei der Behandlung von Problembereichen spricht. Die Songs hinterlassen auch dadurch meistens ein bescheidenes oder demütiges Bild. Sie sind nicht überladen und beinhalten fein gesponnene Arrangements, die ihre suggestiven Eigenschaften erst nach und nach preisgeben.

    Neben Nick Drake sei noch Neil Young als Bezugspunkt erwähnt. Besonders die milden Soundtrack-Folk-Songs von "Comes A Time" (1978) und die mystisch-verhangene Undurchsichtigkeit von "On The Beach" (1974) haben Eindrücke hinterlassen, denn die dort eingesetzte Kunst der vorgetäuschten Untertreibung wird auch von Damien Jurado praktiziert. Das führt dazu, dass sich seine Lieder manchmal wie spontane Demo-Versionen anhören, in Wirklichkeit aber präzise ausgeklügelte, nebulös gestaltete, delikate Kompositionen sind. "Reggae Film Star" ist wie eine sinnliche Innenansicht der menschlichen Psyche und möchte fachkundig erobert werden. Entspannen. Zuhören. Genießen.
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    Zenzile: The Reimagination Of Miriam Makeba Zenzile: The Reimagination Of Miriam Makeba (CD)
    20.06.2022
    Klang:
    5 von 5
    Musik:
    4 von 5

    Im Andenken an „Mama Africa“ erschafft Somi ein ganz besonderes Cover-Versionen-Album.

    Manche Künstlerinnen und Künstler sind größer als ihr kreatives Werk, weil sie daneben auch gesellschaftlich Außerordentliches geleistet haben. So wie Harry Belafonte, der sich schon immer für benachteiligte Menschen einsetzte oder wie Miriam Makeba, die 1959 aufgrund ihrer Kritik gegen das Apartheid-Regimes nach einem USA-Aufenthalt nicht mehr in ihr Heimatland Südafrika einreisen durfte und 1963 ausgebürgert wurde. Erst 1990, als Nelson Mandela Staatschef war, durfte sie zurückkehren.

    Am 4. März 2022 wäre Miriam Makeba, deren amtlicher Vorname Zenzile ist, 90 Jahre alt geworden, sie starb aber leider am 9. November 2008 bei einem Konzert in Italien an einem Herzinfarkt, den sie unmittelbar nachdem sie ihren bekanntesten Titel "Pata Pata" gesungen hatte, erlitt. Es war Somi Kakoma, die damals zum Andenken in New York ein Konzert mit Wegbegleitern und Bewunderern wie Harry Belafonte, Paul Simon oder Randy Weston organisierte.

    Die Musikerin Somi wurde als Laura Kabasomi Kakoma am 6. Juni 1981 in Chicago, Illinois, USA, geboren. Ihre Eltern stammen ursprünglich aus Ruanda und Uganda, so dass die Suche nach ihren Wurzeln ein Teil ihrer musikalischen Identität geworden ist. Deshalb fühlt sie sich auch kulturell und menschlich sehr verbunden mit der Aktivistin und Künstlerin Miriam Makeba und widmete ihr fünftes Album ganz und gar dem Vorbild. Im Frühjahr 2020 inszenierte Somi zunächst ein Musical mit dem Titel "Dreaming Zenzile", das dann durch Corona ausgebremst wurde. Aber zumindest kam jetzt mit "Zenzile: The Reimagination Of Miriam Makeba" die Audio-Ausgabe der Wertschätzung zum runden Geburtstag rechtzeitig auf den Markt und erweist sich als künstlerisch herausragende Hommage.

    Somi entfacht einen stimmlichen Klang-Bogen, der vom hauchzarten Flüstern bis zum Donnerwetter reicht. Sie handelt dabei aufmerksam-konzentriert sowie einfühlsam-bewegt und agiert stets songdienlich. Das heißt, sie singt nicht alles in Grund und Boden - obwohl sie es könnte - sondern findet je nach Ausrichtung des Liedes die dafür passende Stimmlage und das nötige Volumen. Für jede Fremdkomposition erfindet sie eine maßgeschneiderte Darstellung, welche das Original ehrt, aber konsequent eigene Wege geht.

    Für "Umhome" werden bunte Afro-Jazz-Ton-Bilder voller Licht, Lust und Laune gemalt, wobei sich Somi als umsichtige, fantasievolle Malerin erweist, deren lebendiger und trotzdem empathischer Gesang keine Grenzen kennt. Das sie begleitende Ensemble agiert rhythmisch flexibel und solistisch virtuos, so dass der Sound vor Spannung und Erregung knistert.

    Selbst ein total abgenudeltes Traditional wie "House Of The Rising Sun" bekommt unter der Regie der afro-amerikanischen Musikerin wieder neuen Glanz verliehen. Die Moritat vom Freudenhaus in New Orleans trägt Züge eines klar strukturierten französischen Chansons, ist Blues-geerdet, vom Jazz verwöhnt und transportiert den Frohsinn des bunten Mardi Gras-Karnevals. So entstand ein kultureller Schmelztiegel, der alle Sinne stimuliert.

    Der Afro-Pop "Milele" zeichnet sich durch eine melodische Geschmeidigkeit und rhythmische Beweglichkeit aus, wie sie hauptsächlich in Ländern, die rund um den Äquator liegen, praktiziert wird. Das 18köpfige "Zenzile"-Team wird hier von Seun Kuti, dem Sohn von Fela Kuti (dem Erfinder des Afrobeat) am Saxophon und durch Thandiswa Mazwai, einer südafrikanischen Sängerin, deren Eltern Anti-Apartheit-Aktivisten waren, verstärkt.

    Gelassene und freche traditionelle afrikanische Folklore trifft bei "Hapo Zamani" auf elegante Jazz-Grooves. Im Laufe des Stücks, das geregelt und kontrolliert beginnt, schäumt die Lebensfreude schließlich über und alle Beteiligten singen und spielen sich in einen Rausch. Da kann niemand mehr stillsitzen.

    Es ist immer ein Gewinn, wenn Gregory Porter als Gesangspartner zur Verfügung steht. Der Mann besitzt einfach eine überragende individuelle Klasse und weiß deshalb genau, wie man sich optimal bei einem Song einbringt. Für den Slow-Jazz-Track "Love Tastes Like Strawberries" umgarnt er sich stimmlich mit Somi auf einer Ebene, die an die ganz großen Soul-Duette von Donnie Hathaway & Roberta Flack oder Marvin Gaye & Tammi Terrell erinnern.

    Die Ballade "Khuluma" trägt ziemlich dick auf. Der Gesang ist von Zucker überzogen, wirkt dadurch gekünstelt und wird von der Gast-Vokalistin Msaki noch in seiner Schwülstigkeit verstärkt.

    Den Welthit "Pata Pata" von 1967 wollte Somi eigentlich gar nicht aufnehmen, weil Miriam ihn im Nachhinein nicht mehr mochte, da er ihr in der Rückblende zu unpolitisch erschien und deshalb nicht ihrem eigentlichen Anliegen, dem sozialen Engagement entsprach. Indem Somi den Song umkrempelte und Original-Aussagen von Miriam zur Apartheid und zu ihrer persönlichen Situation einblendete, konnte sie sich mit dem Ergebnis anfreunden. Auf diese Weise trägt die Variante zu einer vollständigen Sicht über die Absichten von Miriam Makeba bei, denn politische Aufklärung und eine optimistische Weltsicht finden so zueinander. Somi nimmt das Tempo gegenüber der Urfassung total zurück, manipuliert ihren Gesang durch Vocoder-Sequenzen und definiert den Song als eine heilige, introvertierte Messe.

    Bei "A Piece Of Ground" trifft die emotional überzogene Darstellungsform des Broadway Musicals auf die Improvisationskunst und die rhythmische Vielfalt des Jazz. Dadurch werden massenkompatible und schwieriger zu hörende Elemente gleichberechtigt in einem Track untergebracht. Ein Experiment, das Aufmerksamkeit und Toleranz erfordert.

    Der gemächliche, mal transparent, mal üppig arrangierte Voodoo-Jazz-Pop von "Kwedini" wird von Somis Stimme gekrönt, die sich genüsslich räkelt und ausgelassen jubiliert.

    "Lakutshon’ilanga" ist im Original eine langsame, leidvoll gesungene Folk-Jazz-Ballade, die als Cover-Version nun eine schwungvolle Bass-Untermalung und ein flankierendes, punktuell spritziges Piano verordnet bekommt. Auch der Gesang unterscheidet sich von der Vorlage, da er hier Lebensfreude ausdrückt.

    "Olili" verbindet Dramatik in Gestalt von traurigen Streichern mit lieblich-freundlichem, getragenem Gesang zu einer weichgezeichneten Ballade, die durch ein Bass-Solo einen kunstvoll-intellektuellen Anstrich bekommt.

    Der Rhythmus von "Mbombela" verläuft zunächst zurückhaltend, aber dennoch eindringlich. Im Gegenzug haben die herausfordernd stimulierende Stimme und eine quengelnd improvisierende Solo-E-Gitarre Vorrang bei diesem karibisch anmutenden, jazzigen Rhythm & Blues.

    Mit Angelique Kidjo taucht auf "Jike’lemaweni" eine weitere Ikone der afrikanischen Pop-Musik auf und gibt gesanglichen Beistand, obwohl Somi dies gar nicht nötig hätte. Aber die beiden Stimmen ergänzen sich erquicklich und verleihen dieser spritzigen Folklore einen zusätzlichen Reiz.

    Der südafrikanische Männerchor Ladysmith Black Mambazo, der schon 1986 auf Paul Simons "Graceland" glänzte und dort für Gänsehautmomente sorgte, färbt auch "Nonqonqo" mit seinem erdigen Gesang feierlich, wobei gleichzeitig eine gelassene Schwere vermittelt wird.

    Das melancholische Jazz-Chanson "Malaika" strahlt Ruhe und Leidenschaft aus, was sich emotional in dem nur vom Piano begleiteten "Ring Bell, Ring Bell" fortsetzt.

    Die Neuinterpretationen werden mit "Mabhongo" - im Original ein eineinhalb minütiger traditioneller Chorgesang - abgeschlossen. Somi greift dieses Mantra auf, lässt es vom Pianisten Nduduzo Makhathini verzieren und singt dazu mit ergreifender, sanftmütiger Stimme.


    "Zenzile: The Reimagination Of Miriam Makeba" ist ein ambitioniertes Projekt und erweist sich als würdige und einfallsreiche Verbeugung vor Miriam Makeba. Die Songs werden von Somi mit Respekt behandelt und trotzdem kreativ umgedeutet, so dass sich die Welt von "Mama Africa" neu erschließen und entdecken lässt. Diese Vorgehensweise enthüllt auch, worauf der Idealismus und die Motivation von Miriam Makeba beruhte: Vielen Afrikanern ist aufgrund ihrer Lebensumstände zum Weinen zumute. Sie tanzen und singen dann aber lieber, um sich zu trösten, wobei sie durch mitfühlend-kraftspendende Musik Unterstützung erhalten sollen.

    Somi ist eine brillante Sängerin, Komponistin, Schauspielerin und Dramaturgin, die enorm viel Herzblut und Verstand in die respektvoll behandelten und kreativ interpretierten Cover-Versionen legt, so dass die Stücke ein prickelndes Hörvergnügen bereiten. Die Songs bringen traditionelle afrikanische Folklore, Jazz, Pop, Soul und Chanson so zusammen, dass sich die unterschiedlichen Musikstile gegenseitig befruchten. Wem "Graceland" von Paul Simon viel bedeutet, der wird auch an "Zenzile: The Reimagination Of Miriam Makeba" seine Freude haben. Eine besondere Erwähnung verdient noch der plastische, glasklare, volle und dabei transparente Sound, der das Album zum rundum gelungenen Ereignis werden lässt.
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    New Mythology Nick Mulvey
    New Mythology (CD)
    20.06.2022
    Klang:
    4 von 5
    Musik:
    4 von 5

    Auf der Sinnsuche: Nick Mulvey definiert aus seiner persönlichen, geläuterten Sicht für "New Mythology" den Umgang der Menschen untereinander und mit der Natur.

    Der Londoner Singer-Songwriter Nick Mulvey ist von der Ausbildung her ein studierter Klangkonstrukteur, der erste Erfolge beim von ihm mitgegründeten Portico Quartett erzielte. Das ist ein Avantgarde-Ensemble, dem Mulvey von 2005 bis 2011 angehörte, wo er eine Art Steeldrum, das sogenannte Hang, spielte. Durch seine musikalischen Erfahrungen in Havana (Kuba) und sein Musik-Studium in Großbritannien bekam er Zugang zu unterschiedlichen ethnologischen Klängen, die er gerne in seinen Kompositionen unterbringt und so Rhythmus und Melodie in einen verwirbelten, eingängig-anspruchsvollen Einklang bringt.

    "New Mythology" erscheint nach fünf Jahren Veröffentlichungspause und man spürt, dass sich Vieles im Leben von Nick Mulvey ereignet und aufgestaut hat, das jetzt raus muss: "A Prayer Of My Own" zeigt den Kampf gegen die eigenen Unzulänglichkeiten und stellt die ultimative Frage: "Wie kann man das Unerträgliche ertragen?", also wie kommt man zum Beispiel mit sich selbst ins Reine und wächst an seinen Fehlern? Die Motivation an sich zu arbeiten, zieht Nick Mulvey unter anderem daraus, dass er Kinder hat, denen er ein guter Vater sein will.

    Mulvey ist ein Geschichtenerzähler, der sich bei seiner Arbeit nicht sklavisch am klassischen Folk-Genre festhält, sondern er sorgt bei seinen Kompositionen für Luft und Licht und gibt ihnen die Möglichkeit, sich in alle Richtungen ausdehnen zu dürfen.

    Das an die eigene Person gerichtete Gebet "A Prayer Of My Own" bekommt seine Dringlichkeit nicht nur durch die schonungslos offenen, anklagenden Bekenntnisse, sondern auch über die suggestive Musik verliehen: Die akustische Gitarre erzeugt ein hypnotisches Mantra, Stimmen verbreiten eine spirituell gefärbte Stimmung und ein zurückhaltend gespieltes Piano lässt zärtliche Momente entstehen, die von übersinnlichen Schwebetönen durchzogen werden. Zusammen mit dem aufgeräumt-geläuterten Lead-Gesang des Lied-Schöpfers und dem luftig-beschwingten Schlagzeug ergibt sich eine ergreifende Hymne, die sich stetig dynamisch steigert.

    "Star Nation" hinterlässt einen verträumt-halluzinogenen Eindruck, steht aber gesanglich fest mit beiden Beinen auf dem Boden. Textlich bleiben einige Bedeutungen im Dunklen, daneben gibt es allerdings noch einen eindeutigen Aufruf, endlich zu leben, zu heilen und zu dienen, der in dieser Form missionarisch rüberkommt. Musikalisch handelt es sich bei dem ausgeruhten Track um einen Hippie-Folk mit Pop-Melodik und Sinn für metaphysische Gedankenspiele.

    Der Song "Mecca" steht als Sinnbild für einen Sehnsuchtsort, der die Beziehung zwischen Pilger und Schrein definiert. Der Schrein scheint dabei auch ein Symbol für die Konzentration auf das Wesentliche und für die Befreiung von Angst und Begierde zu sein. Das Streben nach einem Zustand totaler Kontrolle über Körper und Geist ist die Erfüllung dieser Weltanschauung, um frei denken und fühlen zu können. Das Lied hat somit zunächst nichts mit einer bestimmten Religion zu tun, sondern lebt von seiner übergeordneten Symbolik. Die Musik bewegt sich als adäquater Begleiter auf verschlungenen mystischen Pfaden, bedient aber auch den Wunsch nach eingängigen Motiven.

    Karibisch anmutende Rhythmen machen aus "Brother To You", das ein kompliziertes Verhältnis zum Thema hat, eine diffizil swingende Weltmusik mit unaufdringlichen Ohrwurm-Qualitäten. Stimulierende Polyrhythmik, lebensbejahender Gesang und ein eingängiger Refrain bauen selbstbewusst ein schlüssiges Konzept auf, so dass der entspannte Song nicht so schnell vergessen werden kann.

    Die Noten von "Shores Of Mona" sind von Zärtlichkeit durchzogen. Nick Mulvey erweist sich als hyper-sensibler Troubadour, der eine Ruhe ausstrahlt, die wie eine Anti-Stress-Therapie wirkt. Der akustische Dream-Folk, der einen barocken Anstrich erhalten hat, wird in der zweiten Hälfte noch wirkungsvoll durch wolkige Synthesizer-Schwaden samtig aufgefüllt, was ihm zusätzliche Tiefe verleiht.

    "The Gift" entführt rhythmisch auf den afrikanischen Kontinent. Die Takte verströmen sowohl Schwüle wie auch Coolness, wobei sich die Stimmung als verhalten positiv charakterisieren lässt. Akustische und elektronische Töne geben sich die Klinke in die Hand, Tradition und Moderne begegnen sich dabei auf Augenhöhe.

    Die Exotik von "Sea Inside (Third Way)" ist geographisch nicht eindeutig zuordenbar, zeigt sich sowohl beschwörend wie auch lebhaft und zeugt davon, wie international verständlich die Sprache der Musik ist.

    Der Groove-betonte Country-Folk von "Causes" transportiert Sehnsüchte und Hoffnungen, die sich in das lässige Sound-Bild unkompliziert einfügen. Americana trifft parallel auf Soul, so dass sich weltliche und religiös motivierte Schwingungen begegnen.

    Das hypnotisch-monotone "Another Way To Be" tritt melodisch auf der Stelle, punktet dafür beim Thema Minimal-Art-Folk. Gleichförmigkeit ist hier das Mittel der Wahl, um eine suggestive Wirkung zu erzielen.

    "Mona" entpuppt sich als ein optimistisches Gegenstück des Liedes "Shores Of Mona" und setzt dabei auf die belebende Wirkung von sich wiederholenden Abzählreim-Refrains und auf ein straffes Takt-Gefühl.

    "Interbeing Part 1" ist ein kurzes Intermezzo, das mit Grillenzirpen unterlegt ist. Da kommt Lagerfeuerromantik auf. Das Wort "Interbeing", also das Zwischenmenschliche, fasst zusammen, um was es bei "New Mythology" geht, sagt Mulvey. Deshalb sind diese improvisiert wirkende Tonfolgen wohl der innere Ausdruck dessen, was der Musiker unter Verbundenheit versteht.

    Die Großmutter von Nick Mulvey hieß Mary, so wie auch seine Schwester. "Begin Again (Love You Just The Same)" berichtet unter anderem von der unsichtbaren Verbindung zwischen Nick und seiner Oma. Er hat sie nie kennen gelernt, fühlt sich ihr aber verbunden, weil sie in Erzählungen warmherzig, bescheiden und gütig beschrieben wurde. Und dann steht da noch der Wunsch nach einer zweiten Chance bei einer Beziehung im Raum. Bei aller Unterschiedlichkeit zwischen den Individuen ist es die nicht erloschene Liebe, die die Fackel der Hoffnung am Glimmen hält.

    Die Liebe ist der Zündstoff, aus dem die hier versammelten "neuen Mythologien" entstanden sind. Es sind existentielle, brennende Fragen, die Nick Mulvey antreiben. Bei diesen Betrachtungen fließen reale Probleme und spirituelle Beziehungen zusammen. Die zu diesen aufwühlenden Gedanken einfühlsam entworfene Musik trägt melancholische Züge. Sie wird einfallsreich, transparent oder auch atmosphärisch dicht interpretiert.

    Die Songs entstanden in den letzten fünf Jahren aus vielerlei Erfahrungen heraus. Da sind zum Beispiel der Umzug von Großbritannien nach Ibiza und die Rückkehr auf die Mittelmeer-Insel, die Rolle als Vater, die Zukunftsängste hinsichtlich des Klimawandels und die einschränkenden Umstände durch die Pandemie zu nennen. Das alles hat deutliche Spuren im Denken und Fühlen hinterlassen, so dass das erste Werk nach "Wake Up Now" aus 2017 einen Künstler präsentiert, der seinen Status in der Welt neu definiert und diese Herausforderung mit der Hingabe eines sensiblen und aufgeschlossenen Musikers angeht. Er lässt uns mit seinem dritten Album "New Mythology" an diesem Findungs-Prozess teilhaben, der ihn in ständiger Bewegung zeigt. So sind für das aktuelle Werk die Songs "Begin Again" und "Third Way" von der "Begin Again EP" aus 2020 nochmal einer kompletten Überarbeitung unterzogen worden. Die Ergebnisse des Forschungsdrangs sind spannend, berührend, lehrreich und manchmal auch aus der Sicht des unbeteiligten Dritten etwas verworren.

    "Das Album handelt von Erdung, von diesem Planeten, meinem Leben. Es geht um spirituelle Ideen und darum, sie zu nutzen", erklärt Nick Mulvey seine Gedankengänge und seine textlichen Inspirationen. Die erzeugten Klänge sind stets reiz- und sinnvoll, voller Empathie und bemerkenswerter Ideen. Danke für die Einladung zu diesen persönlichen Einblicken, Nick Mulvey. Es war mir ein erbaulich-sinnliches Vergnügen.
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    Big Time Angel Olsen
    Big Time (CD)
    19.06.2022
    Klang:
    4 von 5
    Musik:
    4 von 5

    "Big Time" sorgt für große Gefühle, wie sie bei hingebungsvoller Liebe oder schmerzhafter Trennung entstehen.

    Angel Olsen, die als Angelina Maria Carroll 1987 in St. Louis geboren wurde, hat sich mit ihren fünf Alben "Half Way Home" (2012), "Burn Your Fire For No Witness" (2014), "My Woman" (2016), "All Mirrors" (2019) und "Whole New Mess" (2020) als sensibel-eindringliche Musikerin etabliert. Das am 3. Juni 2022 erscheinende Werk "Big Time" ist mit einer besonderen emotionalen Ausnahmesituation verbunden: Innerhalb kurzer Zeit verstarben die Eltern von Angel Olsen und in die gleiche Zeit fiel der Beginn einer neuen Liebe, in dessen Zusammenhang sie sich als queere Person outete.

    Entsprechend eindringlich und intensiv sind die zehn neuen Songs ausgefallen: "All The Good Times" beschreibt das Ende einer Liebe, wobei rückblickend einschneidende Erkenntnisse und Gedanken aufgeworfen werden. Aber letztlich schließt die Abrechnung mit einem versöhnlichen "Danke für die guten Zeiten" ab. Angel Olsen sinkt dazu betroffen-sensibel wie Emmylou Harris und der traurig-trotzige und luftige Country-Noir-Hintergrund lässt die seelischen Verletzungen spürbar werden.

    Der Song "Big Time" fängt den überschwänglichen emotionalen Rausch ein, den eine große Liebe auslösen kann. Absolute Glückseligkeit umgibt alle gesungenen Worte, die in einen schunkelnden Country-Walzertakt gepackt werden. Wolke 7 ist nicht fern.

    "Dream Thing" legt völlig absichtlich und treffend ein schläfriges Tempo an den Tag. Schwebeklänge, aufblitzende Tontupfer, ein langsamer Schlagzeug-Takt und eine beruhigende Stimme zeichnen die Traumerlebnisse von einer Neubegegnung nach 25jährigem Streit nach. Das ist Dream-Pop in seiner ursprünglichen Bedeutung.

    "Ghost On" geht noch einen Schritt weiter, was einen introvertierten Ausdruck angeht. Sensible Zerbrechlichkeit, verzehrende Sehnsucht und romantische Schmeichelei bestimmen dieses zarte, zeitlupenhaft ablaufende, grüblerische Ton-Geschöpf.

    "All The Flowers" greift die Dankbarkeit darüber auf, jemanden gefunden zu haben, der bedingungslos liebt. Der betroffen wirkende, weinerliche Gesang und die in gedeckten Ton-Farben schwelgenden Streicher-Klänge tragen dick auf, so dass der Song nah am Kitsch angesiedelt ist.

    Eben noch die unverzichtbare Liebe, dann die Trennung: "Right Now" kehrt die Scherben auf, macht die Gegensätze klar und beschreibt die Zustände, die zum Bruch geführt haben. Entsprechend dynamisch unterschiedlich ist die Musik aufgebaut. Von leise bedauernd bis leidenschaftlich aufbrausend reicht hier die Stimmungs-Kurve.

    Total in sich ruhend verbreitet die Country-Ballade "This Is How It Works" Gelassenheit in trauriger Umgebung. Die elegischen Töne werden von einer weinenden Pedal-Steel-Gitarre, einem versöhnlichen Akkordeon, einem gemütlichen Schlagzeug und einer wehmütigen Stimme getragen.

    Die Empfindungen von "Streets Of Philadelphia" (Bruce Springsteen) und "Nothing Compares 2U" (Sinéad O`Connor) wurden gemixt und in "Go Home" implantiert. Empathie und Verzweiflung halten sich die Waage und sorgen für besinnliche und aufwühlende Momente. Textlich beschäftigt sich der Song auch mit Vergangenheitsbewältigung: "Wie kann ich weitermachen mit all den alten Träumen", heißt es da unter anderem.

    "Through The Fires" ist eine schwermütige Piano-Ballade, die die Einsamkeit und Sehnsucht nach Nähe verinnerlicht und diese Empfindungen zu Seelenbalsam umgewandelt hat. "Chasing The Sun" treibt die grade eben erlebte inbrünstig flehentliche Melancholie auf die Spitze: Ein Streicher-Arrangement lässt den Himmel weinen, das Piano scheint nur Moll-Tasten zu besitzen und die Stimme ringt um Fassung. Da erstarrt man förmlich in Ehrfurcht!

    "Big Time" ist ein gefühlsbeladenes, wenn nicht überladenes Werk geworden. Der in Töne gegossene Liebesschmerz geht psychisch an die Substanz und das beschriebene Liebesglück kann euphorische Gefühle auslösen. Das sind beides Zustände, die in der Realität die Zurechnungsfähigkeit trüben können und als musikalische Form dazu geeignet sind, die Normen zu sprengen. Deshalb ist die hemmungslose Hingabe, die für "Big Time" gewählt wurde, absolut glaubhaft und angebracht.

    Die Klänge werden im tränenreichen Country-, süffigen Folk- und opulenten Pop-Gewand dargeboten. Das ist Musik für Menschen, die gerne in großen Emotionen baden. Sie können Kraft aus dieser konstruktiven Melancholie schöpfen, in den Klängen versinken und sich wohl und verstanden fühlen.
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    Mellow Moon Alfie Templeman
    Mellow Moon (CD)
    19.06.2022
    Klang:
    4 von 5
    Musik:
    4 von 5

    "Mellow Moon" führte Alfie Templeman aus der Krise hinaus und ins freudvolle Leben hinein.

    Die Jahre 2020 und 2021 waren für viele Menschen einfach nur schrecklich. So auch für Alfie Templeman, der Anfang 2020 mit der Arbeit zu seinem ersten Album begann, aber wegen einer seit seiner Kindheit bestehenden Atemerkrankung, aufgrund der er als Covid19-Risikopatient galt, in relativer Isolation lebte. Das führte zu Depressionen und Ängsten, die er mit Antidepressiva zu bekämpfen versuchte.

    Keine guten Voraussetzungen für einen geplanten kreativen Prozess. Aber es kam anders: "Das Schreiben von Songs wie "Take Some Time Away" und "Mellow Moon" war wie eine Therapie. Ich habe mich gefragt: "Was stimmt nicht mit mir?" und "Wie kann ich mich bessern?". Ich habe die Dinge einfach in Echtzeit herausgefunden. Ich hatte eine Therapie, aber es gab immer noch Dinge, die in meinem Kopf ungelöst waren. Also wandte ich mich der Musik zu, um Antworten zu finden", erklärt Alfie Templeman das Resultat aus dieser offensiven Vorgehensweise, das als "Mellow Moon" mit 14 Songs am 27. Mai 2022 das Licht der Welt erblickt.

    Es zeigt den Frühreifen - der schon im Alter von 15 Jahren mit der Veröffentlichung von EPs und Mini-Alben seine musikalische Laufbahn begann - in einer Form, die sich für ihn anfühlt, als sei er auf einem anderen Planeten und entdecke das Feuer das erste Mal. Die ausgelöste Zuversicht und die daraus resultierende neu gewonnene Lebensfreude spiegeln sich dann auch in einigen Songs konzentriert wider.

    Und los geht es mit "A Western". Der Song macht sofort klar, wo die Schwerpunkte des Alfie Templeman-Sounds liegen: Unbeschwerte Pop-Grooves, Ohrwurm-Refrains und locker-süffige Melodien. Damit steht Alfie in direkter Konkurrenz zu solchen Künstlern wie Mayer Hawthorne, Benny Sings, Joel Sarakula oder Young Gun Silver Fox. Auch der überschwängliche New Wave-Pop von ABC ("The Look Of Love", 1982) kann als Referenz ausgemacht werden. Ein straffer, federnder Smooth-Funk-Rhythmus ist bei "A Western" der Türöffner zu einer sorglosen, entspannten Welt mit gutgelaunten Menschen und jeder Menge Spaß. Die elektronischen Gimmicks bringen Future- und Club-Sounds zusammen und der Harmonie- und Lead-Gesang wirkt beschwichtigend und ausgleichend. Ein lässiger Opener, der sofort Lust auf mehr macht.

    Das mit Minimal-Art-Loops ausgestattete "You're A Liar" versteht es, durch geschickte Hook-Lines und Tempi-Wechsel eine farbig-entschlossene Dynamik zu erzeugen, während der elegante, flirrende, romantisch eingefärbte Adult-Pop "Broken" schwärmerisch und schnörkellos daherkommt. Er taugt sowohl zur Ablenkung bei der Hausarbeit wie auch in Situationen, wo grade an die nicht verfügbare Liebe gedacht wird.

    "Folding Mountains" hat den hakelig-intelligenten New Wave-Rhythmus solcher Bands wie Talking Heads oder der späten, Gothik-freien The Cure gepachtet, der als Verpackung für diesen im Grunde schlichten Pop-Song dient. Die Mischung zwischen einfachen und sperrigen Strukturen macht hier den Reiz aus.

    Durch den von einer elektrischen Gitarre angetriebene Disco-Sound und die Effekte, die dem modernen Dance-Pop entliehen sind, können sich wahrscheinlich Fans der 1970er Jahre Combo Chic um Nile Rodgers genauso wie Verehrer von populären DJs wie David Guetta auf den Track "3D Feelings" einigen. Allerdings wirkt die üppig verbreitete gute Laune und die arglose Unbekümmertheit etwas übertrieben und aufgesetzt. Wer mit Krampf für Fröhlichkeit sorgen möchte, scheitert meistens an den eigenen Erwartungen.

    Spielte leichtgewichtiger Dance-Pop bei "3D Feelings" nur eine Nebenrolle, so ist er bei "Candyfloss" die Haupteinflussgröße, was den Song fade und austauschbar erscheinen lässt. Es fehlen belebende Ecken und Kanten sowie clevere Schachzüge hinsichtlich der Arrangements. Die Berücksichtigung solcher Reibe- und Aufmerksamkeitspunkte klappte bisher oft besser und sorgte für ein hohes Niveau. Warum wird denn überhaupt eine Verwässerung zugelassen, wenn kompositorisch schon vielversprechendere Wege eingeschlagen wurden?

    Mit "Best Feeling" ist Templeman wieder in der Spur, die ihn als wirkungsvollen Smooth-Soul-Crooner mit Hang zum Power-Pop zeigt. Ganz im Zeichen seines Vorbildes Todd Rundgren. Beim flotten "Do It" schlägt das Pendel noch weiter in Richtung Power-Pop aus, was zu einer unbekümmerten, glückseligen Teenager-Hymne geführt hat.

    "Colour Me Blue" klingt knackig und jugendlich ungestüm, wie frisch verliebt. Bei soviel Hochgefühl kann schon mal die Komplexität und der Tiefgang auf der Strecke bleiben, ohne dass dabei jedoch der Spaß leiden muss. Ein strammer, verschleppter Beat und eine psychedelische Gitarre bestimmen und kennzeichnen den Ablauf von "Galaxy". Das Stück ist eigentlich auf dem Tanzboden zuhause, greift aber auch nach den Sternen.

    Die Gitarrenarbeit bei "Leaving Today" lässt an den Soft-Rock-Schwung der Doobie Brothers ("Listen To The Music") denken. Die darunter liegende Melancholie schluckt einiges von der optimistischen Zuversicht, so dass von der ehrlich empfundenen Hoffnung letztlich doch nur Zweckoptimismus bleibt.

    Für "Take Some Time Away" präsentiert Templeman seine Stimme weiblich-lieblich und erotisch durchflutet. Das dazu angelegte musikalische Umfeld bietet Thriller-Jazz-, Cabaret- und Morricone-Western-Soundtrack-Atmosphäre. Das ist sehr gediegen und geschmackvoll.

    Im Kern bleibt der Song "Mellow Moon" entspannt und verträumt, lässt die Lebensfreude aber auch eine gewichtige Rolle bei der Rhythmik spielen. Sensibel, fragil, dunkel, sanftmütig und beinahe bewusstseinserweiternd perlen die Töne bei "Just Below The Above" aus den Lautsprechern. Sie bezaubern unter anderem alle diejenigen, die sich auch an den Beatles der "Magical Mystery Tour"-Phase berauschen können.

    14 Tracks, jeder in der klassischen Pop-Song-Länge von bis zu drei 3 Minuten und 45 Minuten und es folgt beinahe Hit auf Hit. Das sind die Fakten, die "Mellow Moon" innerhalb des Musik-Spektrums einordnen. Darunter ist schon sehr vieles, das richtungsweisend, frisch und ansprechend ist. "All meine Gefühle sind Explosionen in Stereo, ich fühle sie nicht nur, ich wandle sie in Audio um", singt Templeman in "3D Feelings" und drückt damit nicht nur seine Liebe zur Musik aus, sondern gibt auch ein Versprechen auf absolute Glaubwürdigkeit ab.

    Der 19jährige Musiker hat sich auf "Mellow Moon" sowohl der anspruchsvollen, wie auch der eingängigen Seite der Pop-Musik verschrieben. Bei einem Fokus auf komplex-geschmeidige Reibepunkte, die sich zwischen diesen Polen befinden, ist das nächste Werk vielleicht schon ein Anwärter auf einen herausragenden, kultiviert-beglückenden Adult-Pop-Geheimtipp.
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    Nothing But The Truth Nothing But The Truth (CD)
    24.05.2022
    Klang:
    4 von 5
    Musik:
    4 von 5

    "Nothing But The Truth" oder der unstillbare Drang nach Wahrhaftigkeit.

    Manchmal braucht man Glück, um seine Talente optimal einbringen zu können. Dieses Glück hatte im Jahr 1999 die norwegische Musikerin Beate S. Lech, als ihr Bugge Wesseltoft vorschlug, für sein neues Label "Jazzland" ein Album aufzunehmen. Der norwegische Produzent ließ seiner Künstlerin totalen Freiraum, der zu weiteren Arbeiten führte und mit "Nothing But The Truth" kommt jetzt schon das neunte Album in gemeinsamer Regie auf den Markt.

    Die erste Platte als Beady Belle brachte Beate im Jahr 2001 unter dem Namen "Home" heraus. Sie steuerte hierzu nicht nur den Gesang, sondern auch die Kompositionen bei, verfasste die Arrangements, schrieb die Texte und bediente die elektronischen Instrumente. Unterstützt wurde sie dabei von ihrem Ehemann Marius Julian Reksjø am Bass.

    Bei der Tournee zum dritten Album "Closer" nahm 2005 bei einem Konzert in London Jamie Cullum Kontakt auf, um die Gruppe als Support-Act für seine Konzertreise durch Großbritannien, Deutschland, Frankreich, Norwegen, Schweden und Dänemark zu engagieren.

    In den Folgejahren wurde der Beady-Belle-Sound mal durch Country-Folk-Elemente angereichert, mal in Richtung Soul und dann wieder in jazzige Gefilde geführt. Im Kern sorgte das Duo daneben immer für einen gefühlvollen und hochwertigen Klang, der Beate S. Lechs rauchzarter, betörender, stabiler Stimme den geeigneten Rahmen für ihr samtig-sinnliches Timbre bot.

    Für "Nothing But The Truth" bevorzugt Beady Belle modernen Rhythm & Blues mit Soul als Basis der Tonkunst-Erkundungen. Ergänzt wird dieses grundsätzlich melodisch aufgebaute Fundament manchmal durch Break-Beats, was dann naturgemäß eine gewisse Sperrigkeit verursacht. Wer also seidige, durchgängig flüssig ins Ohr gehende Songs erwartet hat, der kommt vereinzelt nicht voll auf seine Kosten.

    Wer dem Werk aber mehrere Durchläufe gönnt, der wird merken, wie die Kanten allmählich zu prickelnd-prägnanten Stolpersteinen werden und die Harmonie über das Stockende siegt. Ja, man muss sich die Platte schön hören, zumindest wenn eine andere Erwartungshaltung an die stilistisch Unberechenbare bestand. Und das ist gut so, das macht die klangliche Entdeckungsreise interessant. Bei dieser unterschwelligen Provokation und Reizauslösung stellt sich grundsätzlich die Frage, ob der HipHop der neue Jazz ist.

    "Nichts als die Wahrheit" steht als erwartungsvolle Ankündigung über der aktuellen Song-Auswahl: Die Wahrheit ist sauber und rein, aber es besteht die Gefahr des Missbrauchs, weil wir keinen Schutz mehr haben, wenn wir uns offen präsentieren, behauptet Beate S. Lech in "Truth Wide Open". Und sie fragt ihren Partner: "Kannst du es ertragen? Oder willst du weggehen?" Blubbernd-zirpende Space-Sounds und undeutliche Gesprächsfetzen leiten das Stück ein, bevor sich der ernste, auch schmerzlich-flehentliche Gesang zwischen das Zirpen und dem sich vorsichtig orientierenden, langsamen Groove einordnet. Der gemächliche, holpernde Takt wird vom leidenschaftlichen Gesang geadelt, denn die hinreißend emotionale Stimme dominiert das Geschehen, so wie es generell auf "Nothing But The Truth" der Fall ist.

    Der Funk von "Lost" ist elegant und zurückhaltend, aber scheint ständig auf dem Sprung zu sein, wie ein auf Beute lauerndes Raubtier. Ein unvermittelt eingebauter Rap wirkt sich bremsend auf den geschmeidigen Ablauf aus, so wie ein Hakenschlag eines Beutetiers. ""Lost" ist ein Lied über das Verlieren und Wiederfinden im Leben, auch in der Liebe kann man sich verlieren. An jemanden, den man so sehr liebt und bewundert, dass man so sein möchte wie er. Und dann verändert man sich immer mehr - unmerklich - bis man fast zu diesem Menschen geworden ist", kommentiert die Formation diesen Song.

    "Morning, Pt. 1 (Interlude)" ist ein kurzes Zwischenspiel, das eine Spoken-Word-Passage in den Mittelpunkt eines HipHop-Jazz-Experiments stellt. Der nächste Einschub "Buoy (Interlude)" bietet eine romantisch-märchenhafte Untermalung einer Erzählung an.

    Die Soul-Ballade "Sinking Ship" leitet den Beginn einer recht ruhigen Sequenz des Albums ein, sie steht sinnbildlich für das Auge des Wirbelsturms. Der Song zeigt sich nämlich durchgehend friedlich und ausgewogen, auch wenn die Dynamik in Form eines Soges allmählich zunimmt.

    "The Animal" baut diese Stimmung weiter aus, ist aber lebhafter im Sinne einer knisternden, heimlichen Erotik, die durch ein federndes Schlagzeug befeuert wird. Das Lied "...handelt von der ungezähmten und wilden Wahrheit - und ihrer Unbequemlichkeit", gibt Beady Belle als Hinweis mit.

    "Quiet Sounds" hat die Schönheit gepachtet und kann mit andächtigen Tönen dienen, die klar, ehrlich und berührend die Seele durchdringen. Das hört sich dann wie eine heilige Messe für die Liebe an. Das Intermezzo "Morning, Pt. 2 (Interlude)" klingt nach vorsichtigem Neubeginn und Aufbruch.

    Der Electro-Pop "Independence" wagt anschließend den Spagat zwischen futuristisch-introvertiert und druckvoll-extrovertiert, beherbergt also sowohl meditativ-zurückhaltende wie auch impulsiv-schäumende Momente. Der experimentelle Rap "Morning Part III (Interlude)" arbeitet mit einem schleppenden Beat und beinhaltet ein Barock-Pop-Flair, das für einen spannenden Kontrast sorgt. Mit "Last Dance" geht es fröhlich-ausgelassen auf den Tanzboden, wobei hier Dynamik- und Tempo-Rücknahmen für gewollte Stil-Brüche sorgen.

    "Cocoon" gehört zu der Sorte von Songs, die einen von der ersten bis zur letzten Sekunde aufgrund ihrer mysteriösen Faszination regelrecht in einen Bann ziehen können. Stimmlich begibt sich die Norwegerin auf ein Abenteuer, das sie von einem leisen Hauchen über sinnliches Seufzen bis hin zu schwindelerregenden, jubilierenden Höhen führt, wobei sich ein Ende des Stimmumfangs noch lange nicht abzeichnet. Betörend, beachtlich und besonders!

    Die vorletzte kurze Einlage mit Namen "Morning Part IV (Interlude)" könnte durchaus aus dem Fundus von Prince stammen, so verspielt und überdreht hört sich dieser Funk-Appetithappen an. Schmachtend, mit Gospel-Chor-Inbrunst verziert, sorgt "Happiness" hinsichtlich der gesanglichen Höchstleistung für Erstaunen, bewegt sich aber kompositorisch und gestalterisch im R&B-Mittelfeld.

    "Wir alle kennen das verlockende Gefühl, mit etwas zu spielen, das ein bisschen illegal ist. Die Grenze zu überschreiten - nur ein kleines bisschen... nicht um sich zu verbrennen, sondern um die Hitze zu spüren", kommentiert Beate S. Lech die Inspiration, die zu "Playing With Fire" geführt hat. Der Song verströmt einen rasanten Schwung, der mit einem knackigen Rhythmus zusammengebracht wird, was den Track für die Charts prädestiniert. Etwas zu aufgesetzt und kalkulierbar ist das schon. Trotzdem oder grade deswegen kann sich dieses schmissig und sauber produzierte Stück als Ohrwurm erweisen.

    "Flyte (Postlude)" beendet das Werk mit einem Spoken-Word-Beitrag in Norwegisch, der sich anhört, als wäre er unter Wasser aufgenommen worden. Ein eventuell metaphorischer Bezug zum Wasser taucht bei den neuen Songs unregelmäßig auf. So wie zum Beispiel bei "Sinking Ship". Der Kreis ist nun geschlossen.

    Beady Belle bewegen sich bei "Nothing But The Truth" sicher und authentisch im R&B- und Soul-Umfeld, so dass sie auf einer Stufe mit India.Arie, Alicia Keys oder Erykah Badu agieren. Dass diese Töne in Norwegen entstanden sind, darauf würde wohl kaum jemand sofort tippen. Die Verschiebungen der Koordinaten im Klang-Kosmos von Beady Belle sind aber gelungen und machen jetzt schon neugierig auf die nächsten Schritte und Wendungen von Beate S. Lech, eine Künstlerin, für die Selbstreflexion keine Bürde, sondern eine gewollte Herausforderung ist und die Wahrhaftigkeit im Zentrum ihres Handelns steht.
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    Ein Kommentar
    Anonym
    28.12.2022

    vielen Dank

    Sehr manieriert geschrieben, aber Intention wird freilich deutlich. Nichtsdestotrotz sehr hilfreich.
    Schön wäre noch ein Hinweis zum Klang, der nämlich durchweg sehr erfreulich ist, fast audiophil. Umso störender fällt "Independence" aus dem Rahmen, das unverständlicherweise fürchterlich komprimiert wurde.
    Live: Songs For Beginners - Wild Tales Graham Nash
    Live: Songs For Beginners - Wild Tales (CD)
    07.05.2022
    Klang:
    4 von 5
    Musik:
    4 von 5

    Nur Nostalgie? Graham Nash veröffentlicht einen Konzertmitschnitt, bei dem er seine ersten beiden Solo-Alben komplett aufführt.

    Anfang der 1970er Jahre waren Crosby, Stills, Nash & Young eine der erfolgreichsten Bands auf dem Planeten. Begleitet wurde diese Phase von zwei herausragenden Tonträgern: Dem Studio-Werk "Déjà Vu" aus 1970, einem Westcoast-Rock-Meisterwerk der vier Individualisten, das mehr Wert ist als die Summe seiner Teile und von "4 Way Street", einem eindrucksvollen Dokument ihrer erfolgreichen "Déjà Vu"-Tournee. Was damals kaum jemand ahnte: Schon bei den Aufnahmen zu "Déjà Vu", die im zweiten Halbjahr von 1969 stattfanden, waren die Musiker untereinander zerstritten und standen nur selten gemeinsam im Studio.

    Anfang der 1970er Jahre wurden die Fans des Westcoast-Folk-Rock mit denkwürdigen Aufnahmen verwöhnt, denen der Zahn der Zeit nichts anhaben konnte. So waren auch David Crosby, Stephen Stills, Graham Nash und Neil Young mit der Realisierung von Solo-Projekten beschäftigt, um ihre kreativen Schübe ausleben zu können. David Crosby brachte 1971 mit "If I Could Only Remember My Name" ein Referenzwerk des Psychedelic-Rock heraus, Stephen Stills veröffentlichte von 1970 bis 1973 vier grandiose, abwechslungsreiche Platten, die neben Country- und Westcoast-Rock auch Latin-Rhythmen enthielten ("Stephen Stills" (1970), "Stephen Stills 2" (1971), "Manassas" (1972), "Down The Road" (1973) und Neil Young brillierte mit allen seinen Werken der 1970er Jahre, wie unter anderem mit "After The Goldrush" (1970), "Harvest" (1972), "On The Beach" (1974) oder "Tonight`s The Night" (1975).

    Während Crosby, Stills und Young eine langjährige Erfahrung mit Westcoast-, Folk- und Psychedelic-Rock erworben hatten, traf Graham Nash erstmalig 1966 während einer USA-Tournee auf Crosby & Stills. 1968 sah man sich auf Veranlassung der gemeinsamen Freundin Cass Elliott (The Mamas And The Papas) in der Künstlerkolonie im Laurel Canyon bei Los Angeles wieder. Danach verließ Graham The Hollies und die Formation Crosby, Stills & Nash wurde geboren. Nash etablierte sich schnell in dem neuen Umfeld, hatte eine Liaison mit Joni Mitchell und veröffentlichte 1971 sein Solo-Debüt "Songs For Beginners", das nach der Trennung von Mitchell entstand und textlich natürlich davon beeinflusst war. 2010 wurde das Werk komplett gecovert ("Be Yourself: A Tribute To Graham Nash`s Songs For Beginners"), was den Stellenwert für nachfolgende Musikergenerationen dokumentiert. Mit dabei waren unter anderem Robin Pecknold von den Fleet Foxes ("Be Yourself"), Bonnie "Prince" Billy ("Simple Man (Hombre Sencillo)") und Brendan Benson (The Raconteurs) ("Better Days"). 1972 folgte das Duett "Graham Nash/David Crosby" und 1974 das bedrückend-dunkle zweite Solo-Album "Wild Tales". Nash gab bei einem Interview mit der Irish Times eine Erklärung für die Stimmung: "Die meisten traurigen Songs handeln von meiner Beziehung zu Joni Mitchell“. Bis heute sind die ersten drei Alben die qualitativ besten Platten des Engländers.

    Der 1942 in Blackpool geborene Nash war immer sowas wie der ruhende Pol bei Crosby, Stills, Nash & Young, der zwischen den anderen Hitzköpfen schlichtete. Aber sein Leben verlief auch nicht ohne einschneidende Veränderungen: 1975 wurde seine Freundin Amy Gossage von ihrem Bruder ermordet; zwischen Nash und seinem besten Freund David Crosby herrscht nach einem heftigen Streit auf offener Bühne Funkstille und seine zweite Ehe wurde nach 38 Jahren geschieden.

    Neben der Musik hegt Graham schon seit Kindertagen eine zweite Leidenschaft, die Fotografie. In den 1970er Jahren begann er zusätzlich mit der Sammlung von Fotos. Seine eigenen Schöpfungen wurden als Bücher ("Eye To Eye: Photographs By Graham Nash") (2004) und "A Life In Focus: The Photography Of Graham Nash" (2021) abgedruckt. Außerdem kam 2013 noch die Biografie "Wild Tales: A Rock & Roll Life" heraus.

    Am 15. April 2016 erschien mit "This Path Tonight" das bisher letzte Studioalbum von Graham Nash. Am 2. Februar 2022 wurde er 80 Jahre alt und am 06. Mai 2022 erblickt nun eine Aufführung seiner ersten beiden Solo-Werke, die bei vier verschiedenen Konzerten im Jahr 2019 entstand, das Licht der Welt. Dabei wurde Nash von acht Musikern, wie Shane Fontayne (Gitarre und Gesang) und Todd Caldwell (Keyboards, Tenorsaxophon und Gesang), Thad DeBrock (Pedal Steel Gitarre), Andy Hess (Bass) und Toby Caldwell (Schlagzeug) begleitet.

    Die Antikriegs-Hymne "Military Madness" hat immer noch traurige Aktualität. 1991 spielten Crosby, Stills & Nash sie zu Beginn ihrer Akustik-Tournee, da der Irak-Krieg grade begonnen hatte. Der Song macht darauf aufmerksam, welches Elend der Krieg auch über die Zivil-Bevölkerung bringen kann. Gewinner sind immer nur die Waffenhändler, ansonsten gibt es nur Verlierer. Trotz des ernsten Themas wurde der Song so komponiert, dass er schunkelnd für Wohlgefallen sorgt - ein harmonisches Bollwerk gegen den Wahnsinn.

    "Better Days" betreibt Trauerarbeit nach einer schmerzvollen Trennung: Wenn die Liebe vorbei ist, musst du dich den Gegebenheiten stellen und dich an bessere Zeiten erinnern, lautet der Ratschlag zur Überwindung der seelischen Qual. Der Song beleuchtet die Dreiecksgeschichte zwischen Nash, Stills und Rita Coolidge und ist eine rührende Piano-Ballade mit groovendem Folk-Rock-Mittelteil, der auch in der Live-Fassung seine dringliche Wirkung nicht verfehlt.

    Und gleich danach folgt mit "Wounded Bird" noch eine Beziehungs-Aufarbeitung, nämlich das Verhältnis zwischen Stephen Stills und der Folk-Sängerin Judy Collins. Die Wahl der Untermalung fiel auf einen intimen Folk-Song, bei dem einsame, traurige Gitarren und himmlische Harmoniegesänge eine bedächtig-ausgeglichene Melancholie in die Ohren zaubern.

    Das sehnsuchtsvoll klagende und gleichzeitig optimistisch aufbegehrende "I Used To Be A King" kokettiert mit einem langsamen, unaufdringlich mitlaufenden Boogie-Rhythmus, der dem Song einen frechen Unterton verleiht. "Be Yourself" bleibt im Grunde genommen durch seinen eingängigen Mitsing-Refrain im Gedächtnis, der sich wie ein Durchhalte-Mantra anhört.

    Graham Nash schrieb das zu Herzen gehende, intime "Simple Man" einen Tag nachdem Joni Mitchell mit ihm Schluss gemacht hatte. An diesem 7. Juni 1970 spielte er mit Crosby, Stills & Young ein Konzert in New York, bei dem Joni im Publikum saß und sich Zeilen wie "Ich war noch nie so verliebt und wurde noch nie so verletzt" anhören musste.

    Bei "Man In The Mirror" geht es um Selbst-Reflexion und Neuanfang. Die Melodie wirkt zu Beginn unschuldig-naiv wie ein Kinder- oder Wiegenlied. In Verbindung mit der bittersüßen Überleitung entsteht ein romantischer Country-Folk, dem Nash durch seinen glaubwürdigen, starken Gesang das Image eines geläuterten Abenteurers verpasst.

    Es gibt nur eine Erde, die für uns alle da ist. So in etwa ist die weltverbessernde Botschaft des Liedes "There’s Only One" zu lesen. Das klingt zwar wie Kalenderblattphilosophie, ist aber eine unumstößliche Wahrheit. Durch den Gospel-Chor-Harmonie-Gesang erhält die Ballade quasi spirituelle Weihen und geht als Country-Soul durch.

    Der leise-nachdenkliche Barock-Pop "Sleep Song" bekam mit "Another Sleep Song" auf "Wild Tales" einen Nachhall, wobei dem letztgenannten Track eine unheimlich-mysteriöse Aura umgibt.

    Neben "Military Madness" ist "Chicago" das zweite politische Statement auf "Songs For Beginners". Hintergrund des Liedes ist die gewalttätige Auflösung einer Demonstration beim Parteitag der Demokratischen Partei im Jahr 1968 in Chicago. Der locker swingende Pop-Song "Chicago" erreichte Platz 35 der Single-Charts der USA und hat eine Textzeile, die Graham heute nicht mehr so singt: "Vorschriften - wer braucht sie?" ersetzte er durch "Einige dieser Vorschriften - wer braucht sie?". Der Anhang zu dem Lied heißt "We Can Change The World" und zelebriert als kurzes, swingendes Chor-Outro die Macht der außerpolitischen Veränderungen.

    Die Songs auf "Wild Tales" beschreibt Nash als "düster und launisch". Sein Label "Atlantic" konnte sich nicht für das Werk erwärmen und gab nur wenig Geld für Werbung aus, weshalb es kommerziell weniger erfolgreich als sein Vorgänger war. Dabei ist es wesentlich intensiver und wagemutiger. Aufgrund seiner überwiegenden Dunkel- und Verschrobenheit ist es natürlich nicht so zugänglich wie "Songs For Beginners", dafür aber nachhaltig spannend.

    Der Groove-Rocker "Wild Tales" wird im Original von der schneidenden Slide-Gitarre von David Lindley angetrieben. Shane Fontayne erledigt diese Aufgabe bei der Bühnen-Show nicht ganz so enthusiastisch, sondern ist bemüht, ins ausgeglichene Sound-Bild zu passen.

    Das Country-Folk-Stück "Hey You (Looking At The Moon)" hätte in seiner Entspanntheit auch auf Neil Young`s "Harvest" gepasst. Diese Stimmung wurde auch 2019 zuverlässig auf die Bühne übertragen.

    Der "Prison Song" wurde von einem Ereignis inspiriert, das Grahams Vater passierte: Er hatte von einem Arbeitskollegen eine Kamera gekauft, die gestohlen war. Mr. Nash sr. wollte aber gegenüber der Polizei den Verkäufer nicht verraten und ging deshalb wegen einer nicht begangenen Straftat ein Jahr in den Knast. Graham packt seine Kritik am Justizsystem in einen Blues-getränkten Folk-Song, dessen Harmonika-Spiel Wut und Verzweiflung ausdrückt.

    Der Country-Tränenzieher "You’ll Never Be The Same" hält trotzig an der Meinung fest, dass die Verflossene mit der Auflösung der Partnerschaft einen großen Fehler begangen hat. Und was ist passender für den Transport einer solchen Situation, bei der es um die Verletzung von Stolz geht, als ein klassisches Country-Arrangement?

    "And So It Goes" ist ein ergreifendes Lied, das die Magie der Musik beschwört und befeuert. Ein rollender Rhythmus und eine weinende Steel-Guitar bilden die Basis für ein verführerisches Noten-Gerüst.

    Trotz des Titels versprüht "Grave Concern" Kampfgeist und Optimismus. Der Southern-Rock-Track wird wieder von einer markanten Slide-Gitarre dominiert, kann aber auch wegen seines entschlossenen Gesanges gefallen.

    "Oh! Camil (The Winter Soldier)" erzählt die Geschichte des Vietnam-Kriegs-Veterans Scott Camil, der zum Antikriegsaktivisten und Gründer der Vereinigung "Vietnam Vets Against The War" wurde. Nash gießt seine Worte in einen schwungvollen Protest-Song Folk, wie er von Phil Ochs gerne genutzt wurde. Die Live-Version ist etwas langsamer und bedächtiger als das Studio-Original ausgefallen.

    "I Miss You" steckt voller liebeskranker Schwingungen eines gebrochenen Herzens. Die Piano-Ballade badet nicht in Selbstmitleid, sondern reflektiert auch auf demütige Art gute Zeiten.

    Im Vergleich zum vorherigen Track ist "On The Line" beinahe fröhlich. Der Rhythm & Blues-Rhythmus tänzelt, die Harmonika schäumt und der Boogie-Woogie Rhythmus wird kontrolliert im Zaum gehalten. Da kann auch die schön weinerliche Steel-Gitarre die Stimmung nicht mehr runterziehen.

    "Another Sleep Song" ist das Herzstück des Albums, weil es zurückhaltend, innig und schmerzlich wehmütig ist. Eine Stimmung, die in ähnlicher, aber nicht so ausgeprägt-konsequenter Art und Weise über vielen Songs von "Wild Tales" schwebt. Beim Original singt Joni Mitchell eine verletzliche Kopfstimme und in der Live-Version klingt der Bass wie eine dunkle Glocke, die das Unbewusste ins Bewusstsein holt. "Another Sleep Song" ist wie ein Monument, dass aus dünnem, zerbrechlichen Stahl gefertigt wurde.

    Handelt es sich bei "Live (Songs For Beginners / Wild Tales)" etwa "nur" um ein Nostalgieprojekt? Das kann man so sehen, wenn man will. Nash bildet gemäß dem Konzept seine Klassiker so authentisch wie möglich ab, so wie es Konzertbedingungen eben zulassen. Er gibt fast keine Kommentare ab, will sich auch gar nicht neu erfinden oder neue Erkenntnisse und Trends einfließen lassen oder seine Lieder in einem anderen Licht darstellen. Er beweist damit, dass die Songs immer noch einwandfrei funktionieren. Und weil er weder körperlich noch stimmlich zum alten Eisen gehört, kann er eine sehr ordentliche Vorstellung abliefern.

    Die frühen 1970er Jahre waren hinsichtlich der Entwicklung der Pop- und Rock-Musik eine Offenbarung und an der amerikanischen Westküste fanden ehrliche, intelligente, empathische und kreative Musikern zusammen, die sich zunächst gegenseitig befruchteten und im freundschaftlich-originellen Wettstreit miteinander standen. Nach und nach wurde dieser Zustand allerdings durch zu viele Drogen, Arroganz und kommerzielle Ausbeutung zerstört.

    Ich denke, es ist gestattet, angesichts der Erinnerung an die großartige Musik, die im Umfeld von Crosby, Stills, Nash & Young entstand und den Zahn der Zeit schadlos überstanden hat, nostalgisch zu werden. Grade in stürmischen Zeiten tut es gut, sich an bleibenden Werten zu orientieren.
    Meine Produktempfehlungen
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    You Belong There Daniel Rossen
    You Belong There (CD)
    04.05.2022
    Klang:
    5 von 5
    Musik:
    5 von 5

    Vielschichtig, fantasievoll und melodisch verzwickt: Daniel Rossen nutzt die Veröffentlichungs-Pause von Grizzly Bear für einen originellen Solo-Ausflug.

    Es ist eine Bürde, wenn man als Frontmann einer angesehenen Band auf Solo-Pfaden wandelt, denn die Fans erwarten dann eine besonders außergewöhnliche Tat oder etwas nicht ins bisherige Gruppengefüge Passendes. Ansonsten hätten die gesonderten Aktivitäten schließlich auch im bisherigen Verbund erscheinen können. Und wenn es sich dann noch um solch eine exquisite Formation wie Grizzly Bear handelt, dessen Daniel Rossen nun eigenverantwortlich tätig ist, dann hängt die Messlatte besonders hoch. Qualität verpflichtet eben.

    "You Belong There" fällt dadurch auf, dass das Werk in seiner verschnörkelten Pop-Art eher den Grizzly Bear-Schöpfungen ähnelt, als den skurrilen Pop-Experimenten, die Rossen zusammen mit Fred Nicolaus als Department Of Eagles entwarf. Vergleicht man wiederum "Painted Ruins", die letzte Grizzly Bear-Platte aus 2017 mit "You Belong There", so weisen beide Werke einen ähnlichen Komplexitätsgrad auf. Bei "Painted Ruins" waren es die weichen Melodien, die die ausladend-verschlungenen Instrumentalpassagen leicht verdaulich machten. Beim ersten Solo-Album von Daniel Rossen stechen dagegen interessant verflochtene Sound-Ideen prominent hervor, um die Gehörgänge, die erwartungsfroh auf Anregung hoffen, zu erfreuen. Das gelingt, ohne sich dabei als Hörer mit schwierig nachvollziehbaren Klängen einlassen zu müssen. Man sollte dieser Musik auch kein Etikett wie Progressive- oder Art-Rock aufkleben, sondern die Töne einfach als intelligente Unterhaltungsmusik genießen.

    Wabernde Schwingungen verleiten bei "It’s A Passage" dazu, die Gedanken in Träumereien abschweifen zu lassen. Unterstützende, gezielt gesetzte, herausfordernde Noten lösen die Gefühlsduselei verlässlich auf und sorgen dann für eine beständige Wachsamkeit. Die lebhafte akustische Gitarre lässt an spanische Flamenco-Musik denken, der Synthesizer verbreitet mahnende, drohende Akkord-Schübe, Schlagzeug und Bass sind der Fels in der Brandung und Daniel Rossen singt so bewegt und anrührend wie ein gefallener Engel. Das ist eine Stimme, die nicht durch Macht, sondern durch Einfühlungsvermögen überzeugt.

    Bei dem theatralisch ineinander verschachtelten Song "Shadow In The Frame" bildet - wie häufiger auf "You Belong There" - die Interaktion zwischen der akustischen Gitarre, die sowohl klassisch wie auch folkloristisch ausgerichtet sein kann, zusammen mit der elastischen Rhythmus-Abteilung eine treibende Kraft. Für das Stück "You Belong There" werden düstere, aufwühlende Klangkaskaden aufgebaut, die Unheil ankündigen. Die Bedrohung löst sich jedoch zu Gunsten eines friedlichen Endes allmählich auf. Nicht alle Befürchtungen werden also wahr, das Leben hält dann und wann auch ein Happy-End bereit.

    Gegensätze ziehen sich an, wie Gelassenheit und Hektik in "Unpeopled Space". Neben- und übereinander sind sie für die Erschaffung von Bewegungsenergie innerhalb des Tracks zuständig. So wie bei einem Bimetall unterschiedliche Wärmeausdehnungs-Beschaffenheiten für das Verbiegen des Werkstücks verantwortlich sind, so sind an dieser Stelle die unterschiedlichen emotionalen Aggregatzustände der Garant für einen Song mit permanent aktiviertem Erregungspotential. Mit "Celia" wird dann ein kurzer, trauriger Track mit niedergeschlagenem Gesang eingestreut, der sakrale Züge trägt.

    Wasserfallartige Piano-Kaskaden eröffnen "Tangle", das kurz danach wild strudelnd am Rande der Kakophonie taumelt. Das Durcheinander wird daraufhin kurz aufgefangen, verliert im Anschluss aber umso mehr die Fassung und flirtet mit dem Irrsinn. In der zweiten Hälfte gewinnt das Stück an Konturen, sträubt sich aber dennoch gegen einen vorhersehbaren Ablauf. Das ist mutig und eigentümlich. Bertold Brecht, Kurt Weill und Scott Walker hätten ihre Freude daran gehabt.

    Mit "I`ll Wait For Your Visit" ist Daniel Rossen zurück im neoklassischen Pop-Art-Umfeld und unterlegt den pulsierenden Song mit rasanten Jazz-Grooves, perlenden Klavier-Läufen und lyrischen Zwischenstopps. Der atmosphärisch dichte, einfallsreich-verspielte Folk-Jazz von "Keeper And Kin" bedient schließlich sehnsüchtige Aspekte, erfüllt aber auch künstlerisch hochwertige Erwartungen. Als Ergebnis kann von empathischer Avantgarde gesprochen werden.

    Für "The Last One" trifft Country-Folk auf Jazz und geht eine abenteuerliche Affäre ein, bei der beide Stile zu einer zwar offensichtlich gelassenen, aber unterschwellig gereizten Verbindung fusionieren. "Repeat The Pattern" führt zunächst auf eine falsche Fährte, weil sich das Stück anscheinend als harmlos-bedächtiger Barock-Pop zu erkennen gibt. Der Reiz des Songs liegt tatsächlich in seiner Sorglosigkeit, die durch opulente Arrangements so aufgewertet wird, dass sich ein feierlich-anrührender Sound ergibt.

    Daniel Rossen, der sein Solo-Werk im Heimstudio in Santa Fe aufnahm und dafür Kontrabass, Gitarre, Cello und die Holzblasinstrumente selber einspielte, zeigt Geschmackssicherheit. So kommt es, dass trotz der gebotenen anspruchsvollen, dramatischen Gestaltung die Leichtigkeit des Seins zumindest im Hintergrund stets mitschwingt und den Kompositionen einen gelassenen Unterton mitgibt. Schönheit und Einfallsreichtum kennzeichnen die verwunschenen und verschrobenen Klanglandschaften, die auch nach etlichen Hördurchgängen nicht alle Perspektiven gänzlich preisgeben möchten.

    Daniel Rossen wurde am 5. August 1982 in Los Angeles geboren und fing im Jahr 2000 an, Musik zu machen. Im Jahr 2004 stieg er bei Grizzly Bear mit dem Album "Horn Of Plenty" ein. Rossen nennt Van Dyke Parks und Paul McCartney als Einflüsse und diese Kombination veranschaulicht auch seinen Ansatz der luxuriös-eigentümlichen Inszenierung in Verbindung mit einer melodisch-eingängigen Extravaganz der Lieder. In diesem Spannungsfeld zwischen Fantasie und solidem Handwerk kann sich Daniel Rossen jedenfalls optimal entfalten. Wer neben Grizzly Bear auch Steven Wilson, Efterklang, David Sylvian, Tim Bowness oder Elbow schätzt, der wird auch an "You Belong There" große Freude haben.
    Meine Produktempfehlungen
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    Home Cooking Home Cooking (CD)
    04.05.2022
    Klang:
    4 von 5
    Musik:
    3 von 5

    Ein Beispiel für Toleranz: "Home Cooking" demonstriert eine musikalische Annäherung der Kulturen des traditionellen Afrikas mit westlichen Musikströmungen.

    "Home Cooking" hilft dabei, auf akustischem Weg ein Stück der Seele Afrikas zu erkunden. Dabei ist es beim Hören von Vorteil, aber nicht zwingend notwendig, wenn die Folklore Afrikas nicht gänzlich fremd ist oder zumindest "Graceland" von Paul Simon zu den Lieblingsplatten zählt.

    Ntjam Rosie wurde 1983 als Rosie Boei in Kamerun geboren und mit "Home Cooking" wendet sich die seit ihrem neunten Lebensjahr in den Niederlanden lebende Musikerin intensiver als sonst ihrem Ursprung zu. War "Breaking Cycles" aus 2018 noch ein suchendes Experiment zwischen Jazz, Soul und Afro-Beat und der Nachfolger "Family & Friends", der 2020 erschien, mit einem erhöhten Pop-Anteil ausgestattet, so reflektiert das fast nur von Ntjam Rosie im Alleingang zuhause eingespielte "Home Cooking" vermehrt den Sound ihres Geburtslandes.

    Für "What Is Love?" werden sowohl karibische wie auch brasilianische Sounds verarbeitet. Daneben ist noch ein Soft-Disco-Klima vorhanden, das in den warm und sanft gleitenden Afro-Pop unauffällig integriert wurde. Rosies hohe, klare Stimme strahlt herzliche Freundlichkeit aus und jede Note wurde in ein entspannt-sonniges Lebensgefühl eingebettet.

    "Nomad" ist ein Stück, dass sich stark an Trance-artiger afrikanischer Folklore orientiert. Die eingeflossenen melodischen Pop-Zutaten wurden so aufbereitet, dass sie sich nahtlos wie selbstverständlich in den fremdartigen Klangkosmos einfügen. Der Fehlstart ist bei "A nye’e fo’o ma (Home Cooking Version)" (ursprünglich vom Album "The One" aus 2015) dringeblieben. Das intime Stück, dass von einer perkussiv gespielten E-Gitarre, rhythmischem Händeklatschen und sehnsuchtsvollem Gesang geprägt ist, wagt den Spagat zwischen kühlem Jazz-Chanson und lebensfrohem Afro-Folk.

    Unterlegt mit der Sprech- und Sing-Stimme der Großmutter gerät das knappe, gitarrenbegleitete "Cantique 154. A ne w’anye’e" zu einem Einblick in das Familienleben, zu dem auch gemeinsame Hausmusik gehört. So zart, so liebevoll, so schön: Das innig-warme "Bia Yon (Home Cooking Version)" (ursprünglich aus dem Album "Atouba" aus 2008) hat seine Wurzeln im Folk-Jazz. Das Herz schlägt jedoch für Afrika.

    Der im Multi-Track-Verfahren aufgenommene Gesang von "Efas me nga só" verströmt ein trotziges Selbstbewusstsein. Das Stück entwickelt sich vom seltsam gestimmten Chanson zu einem störrischen Funk-Track, der sich ein eigenständiges Pop-Bewusstsein bewahrt hat. Danach folgt ein jazzig-verspielter Einschub mit dem Namen "Interlude: Eyolé Ntjam". Er wird von einem Monolog der Großmutter begleitet.

    Die einsame elektrische Gitarre lässt bei "At The Back Of Beyond (Home Cooking Version)" (ursprünglich vom Album "At The Back Of Beyond" aus 2013) viel Raum für Träumereien. Tempo und Stimmung ändern sich im Verlauf nur unwesentlich. Kurze, moderate Dynamikanpassungen bringen den Track weder aus der Ruhe, noch zum Stillstand. Er bleibt intim, persönlich und achtsam. Das Zwischenspiel "Interlude: Chant de la forêt #2" wird von Flötentönen, indigenen Chor-Gesängen sowie selbst entworfenen Dschungel-Geräuschen gespeist und wirkt in seiner Ausgelassenheit kindlich-albern.

    Glocken- oder Xylophon-artige Töne verleihen "Nsissim Zambe (Home Cooking Version)" (ursprünglich aus dem Album "At The Back Of Beyond" aus 2013) eine zerbrechliche Färbung, während die stoisch monotone akustische Gitarre Gleichmut, Geduld und Einfachheit ausdrückt. Die Stimme zeigt hier unterschiedliche Facetten menschlicher Regung auf, nämlich lieblich-ausgeglichen und engagiert-fordernd.

    Mit einem Monolog in familiärer Umgebung, der in den Ambient-Folk "Akiba Outro" eingebaut wurde, schließt das Werk seinen Einblick in die persönlichen Eindrücke, Erlebnisse, Erinnerungen und Erfahrungen hinsichtlich der Rückbesinnung der Musikerin ab.

    Auch wenn Ntjam Rosie seit ihrer Kindheit in den Niederlanden lebt, so beeinflussen die Schwingungen ihres Geburtslandes mehr oder weniger intensiv schon immer ihre Kunst. Der Titel des achten Albums "Home Cooking" hat dabei eine Doppelbedeutung, weil die Musikerin die Lieder zuhause "zusammengekocht" hat und das hausgemachte Essen in ihrer Familie für eine besondere Bindung steht. Die Platte hat also einen sehr persönlichen Charakter bekommen, der nach Herzensangelegenheit, Wurzelsuche und Lebensbilanz klingt.

    Für die Zuhörerinnen und Zuhörer kann die Musik zu einem (mit 28 Minuten Laufzeit leider viel zu kurzer) Urlaub in bisher unbekannte Gefilde werden: Die Exotik der Musikformen Afrikas finden Zugang zu Pop, Soul und Jazz, so dass eine die Kontinente umspannende Weltmusik entsteht. Musikalisch hat sich der Fokus zwar etwas auf die spirituelle afrikanische Folklore als Schwerpunkt verlagert, Ntjam Rosie sucht aber trotzdem die Verbindung und Nähe zu ihrer aktuellen Lebensweise in den Niederlanden, so dass das Werk vielleicht auch als der Versuch einer Versöhnung der Kulturen wegen der kolonialistischen Vergangenheit Europas angesehen werden kann.

    Auf jeden Fall ist es aber eine spezielle Angelegenheit in Sachen Identitätssuche geworden, bei der auch ältere Kompositionen von Ntjam Rosie einen neuen Anstrich bekommen haben.
    Meine Produktempfehlungen
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    Pretty But It Has No Use Baby Of The Bunch
    Pretty But It Has No Use (CD)
    27.04.2022
    Klang:
    4 von 5
    Musik:
    4 von 5

    Authentizität, Aufblühen und Aufruhr: Das alles steckt in "Pretty But It Has No Use" drin.

    Baby Of The Bunch wird von Bronte Klippell (Gitarre, Gesang), Valentina Dornblut (Schlagzeug), Finja Sander (Bass) und Luca Kaduk (Keyboards) aus Leipzig, Dresden und Berlin seit 6 Jahren betrieben. Sie nennen ihre Musik "Riot Wave" und geben unter anderem Prince, Iggy Pop, Patti Smith, David Bowie, Kate Bush, Babes in Toyland und Big Star als Inspiration an. Mit "Pretty But It Has No Use" legt die Gruppe nun nach den EPs „The Garden Of Eden“ (2018) und „I’m Not The Type Of Girl Your Mom Would Like“ (2019) ihr erstes Volle-Länge-Werk vor.

    Schönheit liegt im Auge des Betrachters. Deshalb ist die Beurteilung, was als schön empfunden wird, auch subjektiv unterschiedlich. Ganz anders sieht es aus, wenn Menschen oder Klänge auf ihren äußeren oder spontanen Eindruck reduziert werden. Das ist in jedem Fall zu kurz gedacht oder argumentiert. Kommen wir in diesem Zusammenhang zur Musik von "Pretty But It Has No Use": Die von Baby Of The Bunch demonstrierte Schönheit schließt neben eingängigen Melodien auch Gefühlsregungen wie dankbare Freude, alberne Ausgelassenheit, befreiende Aggression und Spaß an Abwechslung und musikalischer Weiterentwicklung mit ein.

    Der Einstieg "Happy Here" erscheint vielschichtig wie eine Zwiebel: Jahrmarktstrubel, konstruktive Melancholie, Perspektivenwechsel im Takt, unverfängliche Leichtigkeit und aufgesetzte Opulenz spielen nach- und miteinander eine tragende Rolle bei diesem raffiniert arrangiertem Adult-Pop, wo es darum geht, wie es ist, wenn man sich in einer Gruppe von Menschen plötzlich isoliert und fehl am Platze vorkommt.

    "One In A Million" lässt moderten Funk, sperrige New Wave und harmonischen Pop miteinander konkurrieren, was zu einer belebenden Reibung führt. "Make Out" macht es kurz und knapp. Ein ungestümes Iggy & The Stooges-Punk-Tempo und ein freches Selbstbewusstsein prägen den Song. Das erinnert an eine der ersten weiblichen Rock-Bands, nämlich The Runaways um Joan Jett. Baby Of The Bunch sorgen hier für wütenden Sturm & Drang, ohne dass das Hitpotential darunter leidet.

    "After All" verleugnet nicht seinen unschuldigen Teenage-Pop-Charme, der den Track naiv-sorglos erscheinen lässt. "70s" hat sowohl leichtfüßigen Synthie-Pop-Sound wie auch zornigen Punk im Auge, um die Realisierung von zeitlosem Power-Pop anzustreben. Die kraftvolle Ballade "Don't" vereint danach Empathie und Leidenschaft zu einer verwirbelten Emo-Core-Nummer.

    "I'm In A Band" verbrüdert sich sowohl mit dem Früh-1960er-Jahre-Mersey-Beat der Beatles wie auch mit der ruppig-primitiven, feministischen Riot-Grrrl-Underground-Punk-Bewegung der 1990er Jahre. "I`ve Always Liked Simple Rock" behauptete John Lennon und drückte damit aus, dass er Spontanität für wichtiger als Perfektion hielt. "I'm In A Band" hätte ihm also gefallen können.

    Für "Mean" verbreitet das Synthesizer-Xylophon Eleganz, der Rhythmus ist straff und unerbittlich, die dominanten, zackigen E-Gitarren legen unmissverständlich fest, wer die Richtung vorgibt und die Gesänge zeigen zweifelsfreie Entschlossenheit. Schmierige Synthesizer-Wände veranschaulichen dann noch, dass gewisse Classic-Rock-Elemente sogar cool sein können, wenn sie dosiert eingesetzt werden. Der Track wurde mit Liebe zum Detail arrangiert sowie kenntnisreich und clever durchkomponiert. Er Song macht auf den Umstand aufmerksam, dass Frauen, die sich durchsetzen, oft als zickig angesehen werden, während dieses Verhalten bei Männern als Führungsqualität angesehen wird. Falsch, aber gesellschaftlich akzeptiert.

    "Stay" wirkt grundsätzlich lieblich wie die Balladen von Nanci Griffith. Wo bei ihr beruhigendes Country- und Folk-Instrumentarium zum Einsatz kam, läuten hier E-Gitarre, Bass und Schlagzeug härtere Zeiten ein. Das griffige Piano versucht, zwischen Ausgeglichenheit und Rebellion zu vermitteln, aber die lauteren Instrumente setzen sich in der Wahrnehmung durch. Im wirklichen Leben bekommen auch oft die Großschnauzen und Angeber Gehör, weil die bescheidenen, abwägenden Personen bei deren Geplärre schlicht überhört werden. Falsch, aber gesellschaftlich akzeptiert.

    "The Piss" klingt nicht so dreckig, wie der Titel vermuten lässt. Ganz im Gegenteil. Der Song verbindet die zielstrebige Souveränität einer Suzanne Vega mit der inneren Unruhe von New Order und dem in Ansätzen vorhandenen, zupackend-raubeinigen Rock von Eleventh Dream Day. Mit seinen Brüchen und Sprüngen ist "Watching Paint Dry" quasi das Kunstprojekt des Albums. Das Lied ist ein Art-Rock, der zwar komplexe Strukturen aufweist, minimalistische Textzeilen benutzt, abrupt aufhört, aber trotzdem gut durchhörbar ist.

    Die unterschiedlich gestimmten Songs auf "Pretty But It Has No Use" weisen auf eine ausgeprägte Entwicklungsphase des Quartetts hin. Trotz der Stilvielfalt bleibt die Gruppe eindeutig identifizierbar, weil sie musikalisch offensichtlich so breit aufgestellt ist, dass etliche Ausprägungen ansatzlos in ihr Weltbild passen.

    Pure Schönheit scheint nutzlos zu sein. Das ist eine Erkenntnis, die auch Elvis Costello bereits songtechnisch umsetzte ("All This Useless Beauty", 1996). Wenn Wohlklang allerdings in einer Ton-Mixtur nur ein Bestandteil von vielen ist, dann erblüht er zu einem aufwertenden Element. Das wurde erkannt und zu einer zukunftsweisenden Methode verarbeitet, die dazu führt, dass die Band weiterhin ihr unangepasstes Ding machen kann, ohne sich zu verleugnen. Die Wolf-im Schafspelz-Methode ist nützlich und sinnvoll, denn so besteht die Möglichkeit, dass Baby Of The Bunch trotz mutiger und erfolgreicher, vielversprechender Diversifizierung ihre verdiente Popularität erhalten.
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    Just One Voice Michelle Willis
    Just One Voice (CD)
    12.04.2022
    Klang:
    5 von 5
    Musik:
    5 von 5

    Die heilige Macht der Stimme: Michelle Willis singt auf "Just One Voice" außerordentlich bezaubernd und präsentiert ausgereifte, stark beeindruckende Songs.

    Rückblickend kann festgehalten werden, dass selbstbewusst-talentierte Musikerinnen wie Carole King, Bonnie Raitt, Valerie Carter, Karla Bonhoff, Wendy Waldman oder vor allem Joni Mitchell, die ihre Blütezeit in den 1970er Jahren hatten, die Grundlagen für nachfolgende Künstlerinnen wie Mary Chapin Carpenter, Shawn Colvin, Rosanne Cash, Ntjam Rosie, Lizz Wright, Natalie Prass, Laura Marling und sogar Norah Jones gelegt haben, so dass diese Damen heute ihre Musik traditionsbewusst auf die Errungenschaften dieser Folk-, Country-, Soul- und Jazz-Fusions-Pionierinnen aufbauen können.

    Auch die 1986 in Großbritannien geborene, in Kanada aufgewachsene und seit 2016 in New York lebende Sängerin, Komponistin und Keyboarderin Michelle Willis, die einige Zeit in zweiter Reihe unter anderem für David Crosby und in der Becca Stevens Band arbeitete, profitiert von den Großtaten ihrer Idole. Ihre Erkenntnisse und Erfahrungen haben dazu beigetragen, dass es ihr gelingt, auf dem zweiten Werk "Just One Voice" - nach "See Us Through" aus 2016 - musikalisch reif, ideenreich und bedeutend zu klingen. Die am 8. April 2022 erscheinende Platte ist ein ganz starkes, abwechslungsreiches Singer-Songwriter-Album geworden.

    Der Opener "10ths" ist eine meditative Spielerei. Vielleicht hat Michelle Willis die hier vorgestellte Vorgehensweise von ihrem Mentor David Crosby abgeschaut, der solche Traum-Sequenzen schon auf seinem herausragenden ersten Solo-Werk "If I Could Only Remember My Name" aus 1971 unterbrachte ("Tamalpais High (At About 3)", "Song With No Words (Tree With No Leaves)"). Der wortlose Gesang lässt sich treiben, das E-Piano hinterlässt glitzernde Tropfen in der Luft, der Synthesizer zischt leise wie ein undichtes Ventil und die Steel-Guitar verbreitet intensive Spritzer bittersüßer Wehmut. ""10ths" wurde geschrieben, um loszulassen, um zu entspannen", erklärt Willis und meint, dass sich das Stück wie ein Bad in Mitgefühl anhört. Und wie eine akustische Verführung, die sich mutig auf unbekanntes Terrain vorwagt, bleibt zu ergänzen. Wer sich nicht von diesen knapp vier Minuten mit gesegnetem, esoterisch anmutendem Space-Ambient-Jazz abschrecken lässt, den erwartet im Anschluss allerdings ganz andere Musik. Was für ein irritierender Auftakt.

    Federnd, leichtfüßig, elegant und mit unwiderstehlich betörendem Gesang ausgestattet, erobert der Smooth-Funk-Rock "Liberty" Herz und Verstand im Sturm. Dass Michael McDonald und David Crosby als prominente Backgroundsänger beteiligt sind, ist schön zu wissen, aber nicht wichtig dafür, dass das Stück Flügel verliehen bekam. Das geschieht schon alleine durch den samtenen, schwerelos gleitenden Sound, in dem die attraktive Stimme von Michelle Willis eine zentrale, lenkende Position einnimmt. Der Track verdeutlicht, dass ein Soft-Rock nicht unbedingt schnulzig sein muss, sondern auch mit ultra-chic und leidenschaftlich-makellos übersetzt werden kann.

    Die Folk-Jazz-Ballade "Just One Voice" schmiegt sich warm und sanft an die Gehörgänge an. Ein wohltemperierter Bass, etwas markante Percussion, ein gutmütiges Orgel-Hintergrund-Rauschen und ein dezent flankierendes E-Piano sind die Hauptzutaten bei diesem langsamen Sinnes-Schmeichler, der sich punktuell auch energisch zu Wort meldet.

    "Green Grey" verbreitet einen weichen, souligen Südstaaten-Groove, der gewandt und lebhaft, ohne übermütig zu werden, mit unaufdringlicher Konsequenz in die Beine geht. Für Michelle klingt dieser Song wie eine Kombination aus "Something To Talk About" von Bonnie Raitt und "Cecelia" von Simon & Garfunkel.

    Das Gospel-basierte "Trigger" enthält ein ergriffen-temperamentvolles Duett mit Taylor Ashton, dem Frontmann der kanadischen Folk-Formation Fish & Bird. Erstaunlicherweise handelt es sich hier um die Übungs-Version des Songs, die solch eine fesselnde Energie besaß, welche später nicht nochmal reproduziert werden konnte.

    David Crosby wollte das Lied "Janet" unbedingt selbst aufnehmen, nachdem er es 2016 das erste Mal von Michelle bei den Sessions zu seinem "Lighthouse"-Album hörte und so landete eine Version davon schließlich 2018 auf "Here If You Listen". In dem Lied geht es darum, wie Eifersucht den Charakter vergiften kann. Die schwül-gepflegte Atmosphäre und die cleveren Vitalitäts-Veränderungen erinnern an die Songs vom "The Last Record Album" von Little Feat aus 1975.

    "How Come" ist ein Lehrstück darüber, wie wichtig es ist, dass in einer Beziehung die gegenseitigen Erwartungen abgesteckt werden. Es geht darum, dass man sich klar darüber wird, ob man sich in der aktuellen Konstellation wirklich wohl fühlt. Denn im Zweifel siegt der Egoismus über die Duldungsfähigkeit, denn Veränderungen und Anpassungen sind oft schwer auszuhalten. Für diesen ausschweifend-verwinkelten, mit Barock-Flair angereicherten Westcoast-Rock konnte wieder Michael McDonald (Doobie Brothers) für einen Hochglanz-Gesangsbeitrag gewonnen werden.

    Es gibt diesen Moment, wo klar wird, dass eine Partnerschaft gescheitert ist. Diese Erkenntnis, die von Leid geprägt ist, soll das verträumte, wortlose, mit gläsern klimpernden Synthesizer-Tönen dekorierte "Think Well" einfangen. Begleitet von sorgsam ausgewählten, geschmackvoll verzierenden Tönen des Schweizer Jazz-Mundharmonika-Spielers Grégoire Maret breitet "‘Til The Weight Lifts" ein Gefühl der Geborgenheit, Ruhe und Zufriedenheit aus. Neben einem den Gesang vorsichtig einrahmenden, einfühlsamen Piano gibt es auch richtig stille Momente, die das Lied tiefsinnig erscheinen lassen, so dass der klare, sanft wehende Gesang seine ganze salbungsvolle Wirkung genüsslich ausbreiten kann.

    "On & On" steht für die Empfehlung, unsere sehnlichsten Wünsche rigoros umzusetzen und uns dabei nicht von Zweifeln abbringen zu lassen. Der Lead-Gesang zeigt sich ausgewogen, jubilierend und daneben auch dringlich. Die feingliedrige Instrumentierung passt sich parallel sensibel agierend an die jeweiligen Gefühlsäußerungen an. "Black Night" ist das Ergebnis einer spirituellen Erfahrung. Willis hatte ein kleines Haus im Norden New Yorks gemietet, um den Jahreswechsel von 2018 nach 2019 alleine in der Schönheit der Catskill Mountains zu verbringen. Vorher schrieb sie auf Papierstreifen, was sie in ihrem Leben ändern wollte und als Ballast empfand. Nun verbrannte sie einen Schriftzug nach dem anderen. Das wirkte wie eine Befreiung von Blockaden. Dieses Erlebnis wird hier als psychedelischer Folk verpackt, der durch seine schattenhafte Dynamik in Zusammenhang mit intim-anmutigen Arrangements eine rätselhaft anmutende Stimmung erzeugt.

    Wie man lupenreine Perfektion mit einer feinsinnigen Ausdrucksweise in Einklang bringt, dieses Geheimnis hat Michelle Willis für sich gelöst und kann ihre Hörerschaft deshalb mit delikaten, Seele und Hirn streichelnden Songs beglücken. Als Sängerin ist sie herausragend ausdrucksstark, so dass jede Gefühlsregung mühelos authentisch dargestellt werden kann. "Mühelos" scheint sowieso das Schlüsselwort für das gesamte Geschehen zu sein. Obwohl die Songs komplex und raffiniert aufgebaut sind, wirken sie unangestrengt. Das ist die hohe Kunst der Pop-Ästhetik: Intelligent agieren und dabei unkompliziert klingen. Michelle Willis ist mit "Just One Voice" ein außergewöhnlich interessantes Album gelungen, dass sie als Meisterin ihres Fachs ausweist.
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    Past Life Regression Papercuts
    Past Life Regression (CD)
    12.04.2022
    Klang:
    4 von 5
    Musik:
    4 von 5

    Musik als Hilfe in der Lebens-Krise oder wie zum Donnerwetter funktioniert eine Zweierbeziehung?

    Papercuts ist das Dream- und Soft-Pop-Vehikel von Jason Quever, der sein Leben bisher an der Westküste der USA zwischen San Francisco und Los Angeles verbrachte und 2004 das erste Mal mit seiner Veröffentlichung "Mockingbird" in Erscheinung trat.

    Jason Quever ist ein Träumer, der seine Inspirationen unter anderem aus dem Psychedelic- und Barock-Pop der 1960er Jahre bezieht und somit sind Einflüsse von The Velvet Underground ("Sunday Morning"), The Zombies ("She`s Not There") und den "Magical Mystery Tour"-Beatles unverzichtbar. Durch sehnsüchtige Melodien, gepaart mit beständigen Takten und einer rauschhaften Atmosphäre lässt der Musiker seine Hörer und Hörerinnen in wohlig-verlockenden Schwingungen baden. In den dazu gehörenden Texten werden allerdings oft schmerzvolle Geschehnisse verarbeitet.

    "Meine Liebe liegt neben mir, Meilen entfernt", ist eine Kernaussage von "Lodger" und beschreibt bildhaft eine Entfremdungssituation, in die sich viele Menschen hineinfühlen können, denen schon eine Beziehung in ähnlicher Form entglitten ist, aus welchem Grund auch immer. Unerfüllte Träume, ein Zorn-Trauer-Mix und die Hoffnung, dass die eigenen Wünsche doch noch in Erfüllung gehen mögen, schwirren in dieser Phase als Gedanken-Fetzen durchs Hirn. Das Synthesizer-Flirren übernimmt stellvertretend die Darstellung von Traum-Sequenzen, das Rhythmus-Geflecht steht für Ermunterung und der Gesang schwelgt in Wehmut: So entsteht ein Song, der einen Verlust ausdrückt, aber auch die Kraft symbolisiert, die aus der Misere führt. Die Mehrdimensionalität der Emotionen verhilft dem Lied dazu, ein nachhaltig wirkungsvoller Leitfaden für belastende Lebenslagen zu sein.

    Auch "Sinister Smile" beschreibt eine gescheiterte Liebe: Hier trägt der Protagonist allerdings immer noch den Ring der Verflossenen. Selbst eine neue Liebelei konnte die ursprünglichen Gefühle nicht auslöschen. Häufig weiß man eben erst im Nachhinein zu schätzen, was man gehabt hat. Mit den Mitteln einer sehnsüchtigen Ballade, die nicht jammervoll berichtet, sondern nüchtern analysiert, wird der sensible Musikfreund in diese schwierige Lage mithilfe einer seriösen Adult-Pop-Konstruktion, die sich anhand von straffen Takten über Wasser hält, hineingezogen.

    Wer schon mal ohnmächtig war, weiß, wie erschreckend sich dieser Kontroll-Verlust anfühlt. "Fade Out" berichtet, dass es wie ein paranoider Zustand sei, so als wäre man in einer Wolke gefangen. Sehr unangenehm, solch ein Erlebnis. Musikalisch nutzt Jason Quever den trockenen, coolen, stumpfen Velvet Underground-Folk-Rock, um das Gefühl der Ohnmacht darzustellen. Seine Stimme wirkt dabei gedrückt, als würde sie sich von einer Betäubung erholen. Wäre da nicht die liebliche Melodie, könnte das Stück in Tristesse versinken.

    Da ist jemand ziemlich abgestumpft, die Panikattacke der Partnerin interessiert ihn nicht, also interessiert ihn die Partnerin nicht mehr. Er möchte nur seine Lederjacke zurück, die ist ihm wichtiger als das Leid der Person, mit der er eben noch zusammen war. Für "I Want My Jacket Back" wird dieses Ereignis in einen unschuldigen Folk-Pop gegossen, deshalb wirkt es nicht mehr so anmaßend und gemein. So funktioniert Verdrängung.

    Ist der Erzähler bei "My Sympathies" bei einem Autounfall gestorben oder ist nur ein Treffen nicht zustande gekommen? Etwas zweideutig ist die Beschreibung schon, Randy Newman lässt grüßen, wobei musikalisch hier auf einen nüchternen Barock-Pop gesetzt wird. Eine für die Gegebenheit angemessene Auswahl, wobei ein Augenzwinkern dem Ganzen die Schärfe nimmt.

    "The Strange Boys" versuchen mit Ferngläsern pikante Momente aufzuschnappen und streifen nachts erwartungsvoll durch den Hafenbereich. Das halbseidene Verhalten versinnbildlichen die unrunden, leiernden Synthesizer-Töne am Anfang und drücken aus: "Hier stimmt was nicht". Die Klänge stehen für Fehlverhalten, aber sie werden von einem Sound verdrängt, der durch seinen Glanz und seine Harmonie-Sucht versucht, jegliche Zweifel zu zerstreuen.

    Bei "Palm Sunday" geht es offensichtlich um eine Beziehung, die am Status der Beteiligten litt. Sie ist adlig, er nicht. Aufgrund des hochnäsigen Benehmens von ihr schwingt bei ihm Verbitterung mit. Wenn die Herkunft über die Gefühle siegt, dann ist was faul. Deshalb wurde dieses Stück auch mit einem anklagenden Refrain ausgestattet, der sich aufgrund der Tragik auch mal in einem hilflosen "Lalala" erschöpft. Pop als Erwachsenenbildung, denn nur erlebte Tragödien stählen den Charakter, nicht die erzählten Erlebnisse von Anderen.

    "Hypnotist" dreht sich nicht um zwischenmenschliches Leid, sondern um die Vorstellung, was sein würde, wenn wir nach einem Jahrhundert-Schlaf wieder erwachen. Wäre das Leben dann noch lebenswert? Erwartet uns eine rosige Zukunft oder hat sich die Menschheit zugrunde gerichtet? Zuversichtliche Eindrücke treffen entsprechend mit desillusionierenden Tönen zusammen und verwirbeln miteinander. Der Ausgang der Fiktion bleibt offen, schließlich liegt es an der Durchsetzung eines politischen Willens, wie die Zukunft aussehen wird.

    Ist die Aufforderung an die ex-Partnerin, wieder zu heiraten, als Schritt in die psychische Freiheit zu sehen oder schwingt etwa die Hoffnung mit, dass der ex-Partner erkennen möge, dass die vorherige Beziehung die Bessere war? Egal, "Remarry" ist jedenfalls eine ergreifende, unsentimentale Ballade, die atmosphärisch die Erlangung einer ausgeglichenen Gefühlslage in den Mittelpunkt des musikalischen Geschehens stellt. Jason Quever singt so betörend, als hinge sein Leben davon ab, seine Zuhörer und Zuhörerinnen davon zu überzeugen, dass er es aus tiefstem Herzen ehrlich meint. Der Bass ist präsent und bestimmend, wie der von Peter Hook (New Order). Auffallend, aber nicht penetrant übertrieben, dennoch sicher wie ein Fels in der Brandung. In einem sentimentalen Augenblick können schon mal ein paar Tränen fließen.

    "Comb In Your Hair" verarbeitet nochmal die unsicher schwingende Eingangs-Klänge aus "The Strange Boys". Der Song stemmt sich mächtig gegen einen drohenden Ton-Kollaps und kann aufgrund des mutigen Gesanges und der stabilen Melodie und des unnachgiebigen Rhythmus noch die Kurve kriegen und zu einem selbstsicheren Song wachsen. Hartnäckigkeit zahlt sich eben oft aus.

    "Past Life Regression" beherbergt allerlei Liebes-Dramen, ohne dass dabei die Rückführung an vergangene, schmerzliche Erinnerungen besonders depressiv klingt. Das Leben hat bei Jason Quever deutliche Gebrauchs-Spuren hinterlassen, aber er lässt sich nicht unterkriegen. Er sucht und findet Trost bei seinen musikalischen Helden, die Brian Wilson, John Lennon, Todd Rundgren und Badfinger heißen könnten und so entsteht eine Momentaufnahme, die den Wert von gehaltvollen Kompositionen, verbunden mit einem wachen Bewusstsein für attraktiven Art-Pop und einem individuellen Charme zu einem Werk vereinen, das Musik nicht als ein flüchtiges Erlebnis, sondern als Kulturgut definiert. Hier ist die Musik auch Therapie, wobei der Künstler Befreiung erlangen und die Hörerschaft einen anspruchsvollen Genuss erwarten kann.
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    Great American Painting The Districts
    Great American Painting (CD)
    14.03.2022
    Klang:
    4 von 5
    Musik:
    4 von 5

    "Great American Painting" steht für Transparenz und Vielfalt im Rock & Roll.

    Immer wieder zeigen neue Bands auf, dass die Wirkung des Rock & Roll als treibende Kraft in der populären Musik ungebrochen ist. The Districts gibt es zwar schon seit 2009, sie haben sich aber eine Frische bewahrt, die sie wie eine junge, neugierige, von ihrer Musik begeisterte Kapelle klingen lässt.

    "Great American Painting" erscheint am 11. März 2022 und ist das fünfte Album der vom Quartett zum Trio geschrumpften Gruppe aus Lititz in Pennsylvania, die jetzt in Philadelphia lebt. Die Aufnahmen machen deutlich, dass der Rock & Roll nicht tot ist. Er riecht heutzutage nicht immer nach Schweiß, strotzt bei Bedarf jedoch vor Energie, ist aber auch für den einen oder anderen Ohrwurm gut.

    Mal elastisch wie Gummibänder und mal klirrend wie splitterndes Glas klingen die E-Gitarren bei "Revival Psalm". Die Rhythmus-Abteilung verbreitet dazu einen lockeren und dabei stabilen Groove. Leiht etwa Andy Partridge von XTC dem Song seine Stimmbänder? Macht er nicht, denn der Gesang gehört dem Frontmann Rob Grote, der dem Titel einen eigenwilligen New Wave-Schliff verleiht.

    Beim Anti-Waffengewalt-Song "No Blood" vermischt sich die bissige Schärfe von "Killing An Arab" (The Cure) mit dem unwiderstehlichen Charme von "Make Me Smile (Come Up And See Me)" (Steve Harley & Cockney Rebel) zu einem herausfordernden alternativen Rocker. "Ich schrieb diesen Song als Katharsis mit der Idee, dass keine Waffe und keine Gewalt jemals die Wahrheit und ihre zugehörige Kraft beseitigen kann", erklärt Grote seine Beweggründe für dieses Lied.

    "Do It Over" ist die Power-Ballade des Albums. Die vom Gesang eingebrachte Sentimentalität wird vom aktiven Rhythmus aufgerüttelt und über die silbrigen Gitarren miteinander verknüpft, so dass sie nicht zu süßlich erscheint. Rob Grote erklärt den Track so: "Dieser Song hat mehrere Ebenen von Bedeutung für mich. Da wäre die persönliche Seite übers Älterwerden und Rückblicken, wenn man darüber nachdenkt, wie man gewisse Sachen anders hätte handhaben können. Und dann wäre da eine andere Ebene, die sich damit beschäftigt, wie wir unsere Umwelt und den wunderschönen Planeten, auf dem wir leben, zerstören. Der Song fragt: Hätten wir das anders lösen können, ohne die Erde und uns gegenseitig auszunutzen?"

    Rob Grote wandelt die überschwängliche Energie von "White Devil" durch seine souverän ausgleichende Stimme in hemmungslosen Power-Pop-Schwung um, bevor ein weitläufiger Steel-Guitar-Mittelteil einen sphärischen Country-Rock entstehen lässt. Danach nimmt der Song wieder ordentlich Fahrt auf.

    "Long End" lädt dann zum entspannten Fahren durch weite, verlassene Landschaften ein. Sich kreuz und quer gedankenverloren in gemäßigtem Tempo fortzubewegen scheint die perfekte Einsatzmöglichkeit für den entspannt-locker swingenden Song mit dem nach vorn gemischtem, schleifendem Rhythmus zu sein. Der Puls des Tracks ist dabei im unteren Bereich angesiedelt und die Klänge geben einen Herzschlag vor, der sich im Normbereich befindet. Das ist Cruiser-Rock par excellence.

    Der monotone Takt kommt bei "Outlaw Love" von der Bass-Trommel des Schlagzeugs, nicht aus dem Computer. Trotzdem führt das zu einem technisch-mechanischen Reiz, der noch durch andere gleichbleibende Drum-Figuren variiert wird. Der Song bekommt als Gegengewicht dazu einträchtig-wohlige Signale über harmonischen Background-Gesang. Das Konstrukt führt allerdings zu einer undifferenzierten Gemengelage. Gut, dass dann noch ein paar raue Gitarrenakkorde auftauchen, die den zwiespältigen Eindruck dieses Stückes aber nicht gänzlich retten. Interessant ist der gedankliche Aufhänger für das Stück: "Der Song handelt davon, die Vergangenheit neu zu bewerten, um dabei zu realisieren, wie sehr unsere Wahrnehmung von bestimmten Erfahrungen und Überzeugungen geprägt ist. Wer hatte recht und wer lag falsch? War es Liebe oder nur ein Netz aus Lügen?"

    "Hover" macht sich zunächst durch verzerrte, harte, jaulende Gitarren bemerkbar, atmet dann ausgleichende Pop-Harmonie, wobei sich das Wilde nicht verdrängen lässt und ständig präsent bleibt. Eine roboterhafte Erscheinung liegt der Taktgestaltung von "I Want To Feel It All" zu Grunde, die im Hintergrund die Kontrolle übernimmt. Der Gesang hat Schnappatmung und die Elektronik lässt Traumreisen als beruhigende Klangmodelle entstehen. "Ich habe diesen Song inspiriert von LSD in einem dunklen Wald im Staat Washington unter einem Vulkan geschrieben. Es geht darum, alles Mögliche auf einmal zu fühlen, um emotionale Feuerwerke und Explosionen und das Universum und jeden darin zu lieben. Aber es geht auch um den Tod und die Dunkelheit, die Existenz und Vergebung, den Schmerz und die Akzeptanz", erklärt Grote die Hintergründe des Liedes.

    Dumpf-bedrohliche, monotone Trommeln und helle, freundlich klingende Akustik-Gitarren zeigen bei "On Our Parting My Beloved" Gegensätze auf, die auch das wahre Leben prägen: Freude und Leid liegen da oft dicht beieinander.

    Der Rock & Roll ist stetig im Wandel. Rebellion findet heute nicht mehr unbedingt auf der Straße oder im Übungskeller, sondern zwischen den Ohren oder im Heimstudio statt. Intelligente Aufklärung ist jetzt wichtiger als bloße Provokation, stilistische Öffnung und Anpassungen stellen die Fans vor neue Herausforderungen. Das führt dazu, dass sich die Musik nicht in feste Schubladen einordnen lässt. Das ist der Weg, den The Districts gehen. Gut so! Ein "Great American Painting" kann sowohl Polizeigewalt, Drogenproblematik oder Waffenverherrlichung darstellen, aber auch beeindruckende Landschaften und starke Persönlichkeiten zeigen.

    The Districts, bestehend aus Rob Grote (Gesang, Gitarre), Pat Cassidy (Gitarre) und Braden Lawrence (Schlagzeug) sind unwiderstehlich, wenn sie Garagen-Rock, Power-Pop und Punk mit Hingabe zusammenführen. Dann sprudelt das Temperament über und der Rock & Roll zeigt, wie lebendig er ist.

    Das Trio wollte mit "Great American Painting" den Raum innerhalb der Songs ausweiten, um jedes Instrument klar abgegrenzt zu Gehör zu bringen und dabei eine unbeeinflusste Musik-Collage erschaffen. Klangliche Transparenz und musikalische Vielfalt sind also die ausgeprägten Tugenden von "Great American Painting", die dem Album einen jugendlich-lebendigen Ausdruck verleihen.
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    In The Sun In The Rain Fieh
    In The Sun In The Rain (CD)
    14.03.2022
    Klang:
    4 von 5
    Musik:
    4 von 5

    Ob Sonne oder Regen: Beides gehört zum Leben und findet eine Entsprechung in den vollmundigen, intelligenten Songs von Fieh.

    Auf der Web-Seite des norwegischen Septetts Fieh (wird Fia ausgesprochen und ist der Spitzname der Sängerin und Komponistin Sofie Tollefsbøl) sind folgende Anmerkungen zu ihrem zweiten Album "In The Sun In The Rain" enthalten: "Die aktuelle Musik konzentriert sich auf den Groove, es gibt aber auch experimentelle und orchestrale Songs. Inspiration dazu gaben The Roots, Joni Mitchell, Erykah Badu, die Beatles und Solange. Die Texte kreisen um Themen des Alltags und um die Liebe, es sind echte Geschichten aus dem wahren Leben."

    Die ersten fünf Songs sind dem Bereich "In The Sun" zugordnet worden. Ab "Allthetimeevenwhen" beginnt der "In The Rain"-Abschnitt: Die Orchester-Schöpfungen von George Gershwin ("Rhapsody In Blue"), Jazz-Rock-Fusionen der 1970er Jahre, experimenteller Art-Pop, all dies findet sich im aufregend sprudelnden Track "In The Sun In The Rain (Move On Up)" wieder. Unkonventionell werden hier bewährte Ausdrucksformen zu einem Mix zusammengefügt, der als Fusion über die gängigen Höreindrücke hinausgeht. Der Groove hält dann diese sehr unterschiedlichen Einflüsse zusammen.

    Das gilt auch für "Fast Food", einem Stück, das nicht eindeutig dem Jazz, Soul oder Funk zugerechnet werden kann, aber deren Feuer und körperliche Impulsgebung überträgt. Im Kern handelt es sich um einen aufreizenden Jazz-Pop mit versöhnlicher Singer-Songwriter-Seele. Ein verschlungener Kompositions-Ansatz trifft mit Wucht auf traditionelle Country-Folk-Strukturen, was ein Gerangel um die Vorherrschaft der verwendeten Bestandteile auslöst. Dadurch entsteht eine nützlich-fruchtbare Auseinandersetzung.

    Bei "Telephone Girl" schwingt ein angedeuteter Dub-Reggae-Rhythmus mit, was lässige Vibrationen hervorbringt. Das klappt zuverlässig und führt wegen überwiegender Pop-Tendenzen in letzter Konsequenz zu einem kultivierten Easy Listening-Sound.

    Für "Rosalie" wird in erster Linie eine rhythmische Energie angezapft und belebend wiedergegeben. Das heißt, der Song erzeugt eine milde Euphorie, wobei die Verwirbelung diverser Pop-Erfahrungen sich auch noch aufmunternd auswirkt. Ohne diese belebenden Wirkungen wäre der Song eher von zurückhaltender Natur.

    Fieh erweisen sich nicht als Bilderstürmer, sondern als Verwalter des Bewährten. Deshalb adaptiert "Grendehus Funkedelic" auch nicht ungeniert den Sound von George Clintons Funkedelic, sondern spielt ausgelassen mit stärkenden Punk-Funk-Komponenten, die dem Art-Pop eine rebellische Färbung verleihen. Inspiration muss eben nicht zwangsläufig zu einem Plagiat führen.

    Pur, rein und klar ertönt nicht nur das Xylophon zu Beginn von "Allthetimeevenwhen", sondern auch der helle, freundliche Gesang ist von ungetrübter Unschuld und strahlender Sorglosigkeit geprägt. Die vielschichtig und beweglich gestalteten Arrangements stehen der sonnigen Leichtigkeit dabei in keiner Weise im Wege. Das Stück ist ein Musterbeispiel an anspruchsvoller und dabei unbekümmerter Unterhaltung.

    Zwei Merkmale prägen "Englishman": Ein Rhythmus-Geflecht, welches sich anhört, als wäre es von Bill Withers ("Ain`t No Sunshine") ausgeliehen worden und eine melodische Ausgelassenheit, die dem kalifornischen Sunshine-Pop der 1960er Jahre von Association oder Harpers Bizarre nahekommt.

    "Rooftop" bedient Fragmente, die aus den goldenen Zeiten des Psychedelic-Pop der 1960er und 1970er Jahre in die Jetztzeit gerettet wurden: Opulente Instrumentierungen, rauschhaft umnebelte Phantasien und ausdrucksstarke Gesänge lassen den Song abgeklärt und erhaben erscheinen.

    Dunkle, langsam gesungene und gespielte Töne verbreiten bei "Anger Management (Jesus)" eine bedächtige Stimmung, die durch ihre hypnotische Wirkung zur Entschleunigung beitragen und zum Innehalten animieren kann.

    Break-Beats und Space-Pop-Elemente konkurrieren bei "Howcome" um Anerkennung. Die beiden konträren Ausprägungen harmonieren, weil sie sich zum Wohle eines anziehenden Kontrastes respektvoll umgarnen. Dadurch werden die gegenseitigen toxischen Effekte neutralisiert.

    Schutzlos ausgeliefert erforschen Bass und Stimme den Klangraum von "Hero". Dabei treffen sie auf suchende Keyboard-Ton-Splitter, die diese Expedition geistreich unterstützen. Es bleibt viel Platz für zusätzliche Noten in diesem Gefüge, bis das Schlagzeug taktvoll regulierende Akzente setzt und flirrend-sirrende Streicher-Arrangements die Lücken genießerisch-sanft füllen.

    Sofie Tollefsbøls klare Stimme bleibt dabei Anziehungspunkt und Leitlinie, ohne die Lieder ungebührlich zu dominieren. Der flexible Gesang passt sich jeder emotionalen Situation an. Ob hohe, optimistische Töne verlangt werden oder die Unterstützung einer bedrückenden Situation ansteht, Sofie Tollefsbøl schmiegt sich jeder Herausforderung nahtlos an. Sie setzt sich souverän gegen den üppigen Instrumenten-Cocktail ab, agiert dabei aber stets songdienlich.

    Fieh sind ein Phänomen. Mit ihrem zweiten Werk nach "Cold Water Burning Sky" aus 2019 legen sie ein äußerst inspirierendes, vor Attraktivität aus allen Nähten platzendes Album vor, das reif, entschlossen, abwechslungsreich und rundum edel-gepflegt klingt. Pop-kulturelle Erfahrungen und kreative Eigen-Entwicklungen lassen Kompositionen erstrahlen, die sowohl wohlige Klang-Erinnerungen erzeugen, wie auch für bemerkenswerte neue Ansichten sorgen.

    Fieh erschaffen eine Atmosphäre, die verträumte und lebensnahe Klänge zu einem Bündel stimulierender Schwingungen zusammenfasst. Aufgrund der breiten stilistischen Abdeckung könnten die Norweger und Norwegerinnen jede Menge Hörer und Hörerinnen betören. Bei "In The Sun In The Rain" zählt die musikalische Qualität genauso viel wie die glanzvolle, ausdrucksvolle Ausgestaltung. So kommt es, dass selbst so gegensätzliche Zutaten wie Groove, Experiment und Orchestrierung bestens mit- und nebeneinander funktionieren. Mehr noch, sie ergänzen sich bei Fieh prächtig!
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    Artifacts: The Collected EPs, Early Works & B-Sides Beirut
    Artifacts: The Collected EPs, Early Works & B-Sides (CD)
    14.03.2022
    Klang:
    5 von 5
    Musik:
    5 von 5

    "Artifacts" zeigt die Anfänge der wundersamen und wunderbaren Klangwelt des Zach Condon im Rückspiegel.

    "Artifacts" enthält den Untertitel "Collected EPs, Early Works & B-Sides". Es gibt also dieses Mal keine wirklich neuen Sachen von Zach Condon, dem Vordenker von Beirut zu hören, sondern einen Über- und Rückblick, der sich abseits der bisherigen fünf tollen Alben abspielt. Die Raritätensammlung enthält 26 Stücke und ist in vier Bereiche unterteilt: "Lon Gisland, Transatlantique, O Leãozinho", "The Misfits", "New Directions And Early Works" und "The B-Sides".

    Zach Condon, Jahrgang 1986, ist ein Sound-Besessener, der schon im Alter von 11 Jahren im Verlauf einer hartnäckigen Schlaflosigkeit begann, eigene Musik auf einem analogen 4-Spur-Kassettenrekorder aufzunehmen. Er wuchs in Newport News, Virginia und Santa Fe, New Mexico auf, brach die High School mit 17 ab und reiste mit seinen Brüdern durch Europa, wo er den Balkan-Folk lieben lernte. Nach seiner Rückkehr studierte er Portugiesisch sowie Fotografie und veröffentlichte 2007 die hier enthaltene 5-Track-EP "Lon Gisland", nachdem bereits 2006 das erste Album "Gulag Orkestar" unter dem Namen Beirut erschienen war.

    Schon mit dem "Lon Gisland"-Opener "Elephant Gun" ist man voll drin in dem auf exotische Weise bewusstseinserweiternden Kosmos von Beirut, der den Eindruck vermittelt, als würden Sounds aus aller Welt konzentriert aufgesaugt und als prächtiges, bunt schillerndes Kaleidoskop wieder abgegeben werden. Mit allerlei Blech-Bläsern, Percussion-Instrumenten, Ukulele und Euphonium wird die vollmundige Ballade mit schmachtendem Gesang so aufbereitet, dass sie trotz sentimentaler Neigung herzhaft und tröstend klingt.

    Feuriger Balkan-Pop lässt "My Family's Role In The World Revolution" beben und sorgt für ein schwungvolles Tempo. Durch ein schwirrend-singendes Akkordeon und ein freundlich brummendes Euphonium in Verbindung mit fremdländischen Trommel- und majestätischen Trompeten-Tönen verschmilzt "Scenic World" zu einer feinen East-Meets-West-Mischung.

    Das kurze Intermezzo "The Long Island Sound" hört sich dann wie ein nostalgischer Nachhall von "Scenic World" an. Wie sehr Jazz und osteuropäische Folklore rhythmisch miteinander verzahnt sind, zeigt "Carousels" turbulent schäumend auf.

    Mariachi-Trompeten und die dazugehörigen schnell angeschlagenen akustischen Gitarren entführen die ehemalige Single-B-Seite "Transatlantique" an die Grenze zwischen den USA und Mexiko. Das ist der Border-Sound, auf den auch Calexico einige ihrer Kompositionen aufbauen.

    Die geruhsame, mild gestimmte, im Original nur zur akustischen Gitarre von Caetano Veloso vorgetragene Bossa Nova "O Leãozinho" wird von Beirut durch allerhand Instrumente wie Basstrommeln, klingelnde Gitarren und jubilierende Flöten hinsichtlich des Klangvolumens aufgewertet.

    Der Bereich "The Misfits" umfasst Songs, die Condon schon mit 14 Jahren verfasste sowie Arbeiten, die zwischen 2001 und 2005 entstanden. Dazu gehört "Autumn Tall Tales": Der Eintönigkeit eines Drum-Computers wird eine bedächtig-herbstbunte Lautmalerei entgegengesetzt. Leichter Cocktail-Jazz, ein stoisch marschierender Rhythmus, eine nachtblaue Trompete und selbstvergessener Singsang lassen das Stück zu einem angenehmen Tagtraum-Begleiter erblühen.

    Bei "Fyodor Dormant" hat der Gesang starke Ähnlichkeit mit dem schwelgend-leidenden Ausdruck von Rufus Wainwright. Eine einsame Solo-Trompete sorgt für sehnsüchtiges Fernweh, noch angestachelt von künstlichen, aber dennoch leichtfüßig-karibisch anmutenden Beats. "Ich weiß nicht, ob die Leute, die den Großteil meiner Musik hören, sofort wissen, wie sehr ich als Teenager Synthesizer geliebt habe. Für mich waren sie eine willkommene Flucht aus der damals von E-Gitarren dominierten Musik aus den USA und von Großbritannien, bevor ich das breitere Spektrum der Musik außerhalb dieser engen Mauern kennenlernte", erklärt Zach Condon diesen Abschnitt seiner musikalischen Sozialisation.

    "Poisoning Claude" war eines der ersten Stücke, die Zach Condon entworfen hat. Der Synthesizer sondert Töne ab, die sich ständig spiralartig zu drehen scheinen. Auf diese Weise entsteht so etwas wie Kirmesstimmung. Das Konstrukt klingt aber auch nach 1980er Jahre Electro-Pop. Human League kommen in den Sinn. Dieser Track lässt sich voll und ganz darauf ein, ohne Weltmusik-Ambitionen auszukommen.

    "Bercy" gehört auch zu den Frühwerken und vermittelt bei gleicher Ausgangslage wie "Poisoning Claude" neben pulsierenden Hintergrund-Tönen zusätzlich eine sakrale Atmosphäre. Das Bohrgeräusch am Ende des Tracks stammt von Zachs Vater, der zur Zeit der Einspielung die Farbe von der Schlafzimmertür schliff, ohne zu wissen, dass da grade ein Meister seines Fachs in den Startlöchern steckte.

    Das Akkordeon auf "Your Sails" stammt noch von Zachs Großeltern. Es lässt eine wehmütige maritime Atmosphäre aufkommen und wird erneut von dem traurigen Rufus-Wainwright-Gedächtnis-Gesang getragen. "Irrlichter" ist ein Synthesizer-dominiertes, instrumentales Stück, bei dem funkensprühende Elemente neben andächtigen Tönen (be)stehen.

    Das "New Directions And Early Works" genannte Kapitel beginnt mit Retro-Klängen: Primitive Drum-Sounds und an frühe Computer-Spiel-Untermalungen angelehnte Farfisa-Orgel-Schleifen verleihen "Sicily" einen sympathischen Do-It-Yourself-Charme. Dem gegenüber stehen schunkelnde Sounds und ein sehnsuchtsvoller, betörend anschmeichelnder Gesang. Gegensätze ziehen sich auch hier behutsam an.

    "Now I'm Gone" brachte den Beirut-Chef an seine Grenzen. Monatelang hatte er versucht, einen Sound, den er im Kopf hatte, in die Wirklichkeit zu überführen. Ausschweifend und impulsiv sollte er klingen, als würde er bluten. Die auf Tape gebannten Schwingungen lassen an die Bergung von Rhythmen indigener Völker denken, über die spirituell-ehrfürchtige Noten gelegt werden.

    Eine erbauliche Farfisa-Orgel entführt "Napoleon On The Bellerophon" in andachtsvolle Klang-Räume, die von einem würdevoll-selbstbewussten Piano gefüllt werden, bevor eine Hoffnungs-Offensive die bedrückende Tristesse wegspült. Eine gewisse Melancholie bleibt erhalten, aber sie wirkt nun konstruktiv und beherrschbar.

    Der Folk von "Interior Of A Dutch House" ertönt ebenso universell wie leichtfüßig. "Im Nachhinein klingt es wie eine ziemlich optimistische Melodie von jemandem, der gerade die Schule aus Erschöpfung und Frustration abgebrochen und Angst vor der Zukunft hatte". So ordnet Condon den Track in seine Biografie ein. Dagegen hört sich "Fountains And Tramways" wie eine Persiflage eines Frank Sinatra-Songs an. Tatsächlich hatte Zach Condon in dieser Zeit wirklich seine Frank Sinatra-, Dean Martin- und Burt Bacharach-Phase.

    Der ausgereifte, dunkelgraue Folk-Jazz "Hot Air Balloon" entstand, als der Künstler grade mal 16 Jahre alt war! Das Lied bewegt sich nur langsam vorwärts, ist durch Schwermut belastet und vermag dennoch die volle Konzentration der Hörerschaft auf sich zu ziehen.

    "The B-Sides" beinhaltet 7 Stücke. "Fisher Island Sound" wird von einer eiligen Ukulele und trampelnden Trommeln vorangetrieben. Ein fideles Euphonium imitiert irischen Folklore-Schwung und stachelt den Optimismus zusammen mit Blechbläser-Fanfaren noch mehr an. Der Gesang lässt sich davon nicht aus der Ruhe bringen und gibt sich souverän und ausgleichend. Dieser attraktive Weltmusik-Art-Pop ist ein Musterbeispiel dafür, wie Töne Zuversicht und Energie vermitteln können.

    So langsam ist "So Slowly" gar nicht. Coolness und Eleganz, gepaart mit ausdrucksstarken, stumpfen Takten lassen auffällige Kollisionen entstehen, die massiv vom lieblichen Gesang abgefedert werden. "Die Treue zum Ursprung" könnte die Titelmelodie einer komödiantischen Krimi-Serie sein, weil hier Ernsthaftigkeit und Heiterkeit gleichzeitig mitschwingen. Durch die Wiederholung der Motive blickt sogar noch ein meditativer Charakter durch.

    "The Crossing" wurde als Auftragskomposition für die Regisseurin Alma Ha`rel geschrieben. Man kann sich das atmosphärisch dichte, gesanglose Stück gut als Untermalung für Dokumentationen aller Art vorstellen oder für den Abspann eines Filmes, so wie vorgesehen.

    Das beschwichtigende, verträumte, mit etlichen Klangfarben vollgepackte "Zagora" stammt aus der Zeit, als die Tourneen zum Album "The Rip Tide", das 2011 erschien, anstanden. Das Lied verbreitet eine helle, neugierige und freundliche Stimmung. "Dieser Song erschien mir immer als Soundtrack für die dunkleren Orte in meinem Kopf und die kleinen Momente der Inspiration, die mich durchhalten lassen", kommentiert der Verfasser seine Sichtweise.

    Spärliche Dub-Effekte versetzen "Le Phare Du Cap Bon" ein wenig in Wallung. Der Track setzt im Verlauf auf einen gleichförmigen Groove, der durch ein swingendes Jazz-Schlagzeug und elastisch-hallende E-Piano-Akkorde angereichert wird. Das der japanischen Folklore und dem Rhythm & Blues nahestehende "Babylon" vermittelt einen weiteren Eindruck davon, welch unerschrockener Sound-Mixer Zach Condon ist.

    Obwohl es sich bei "Artifacts" teilweise um frühe Einspielungen handelt, gibt es erstaunlicherweise keinen größeren Stilbruch und keine außerordentlichen Qualitätsschwankungen zwischen den Frühwerken und den späteren Einfällen. Condons Handschrift ist stets deutlich erkennbar, er war sich seiner Sache also immer sicher, er wusste genau, wohin er wollte und befand sich außerdem in der Lage, seine Ziele auch passend umsetzen zu können.

    Zach Condon ist ein kreativer Tüftler und ein Ausbund an originellen Ideen, die er völlig unabhängig von Moden und Trends selbstbewusst in Szene setzt. Er ist ein Mann mit einer Vision, er steckt den Kopf mal in die Wolken, ist aber auch bereit, auf seine innere Stimme zu hören und dunklere Ecken seiner Seele akustisch zu Wort kommen zu lassen. Seine gedankliche Vorstellungskraft im Hinblick auf die Erschaffung von originellen Sounds muss ähnlich ausgeprägt sein, wie die von Brian Wilson (The Beach Boys) oder Will Holland (Quantic). Ein positiv Verrückter also, der seine Vorstellungen bündeln und zu Songs verarbeiten kann, die überraschen und verzaubern können!
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    I Am My Mother Black Sea Dahu
    I Am My Mother (CD)
    14.03.2022
    Klang:
    4 von 5
    Musik:
    4 von 5

    Fabeln sind Lehrstücke über menschliches Denken und Verhalten. Also besteht „I Am My Mother“ aus akustischen Fabeln.

    In einigen Gegenden sind Fabelwesen tief im kollektiven Bewusstsein verwachsen. In Bayern ist es der Wolpertinger und in der Schweiz gibt es den Dahu, eine Art Gämse, die vorne kurze und hinten lange Beine hat.

    Die Schweizer Geschwister Janine (Lead-Gesang, Gitarre, Streichinstrumente), Vera (Gesang, Gitarre) und Simon (Gesang, Cello) Cathrein haben zunächst unter der Bezeichnung Josh Musik gemacht und 2012 ihre Platte "The Kids Of The Sun" herausgebracht. Ab 2018 firmierten sie sich um und leisten seitdem ihrem Schweizer Fabelwesen unter dem Band-Namen Black Sea Dahu Tribut. Nach "White Creatures" aus 2018 erscheint nun am 25. Februar 2022 das zweite Album "I Am My Mother".

    Der Familienverbund, der durch Nick Furrer (Schlagzeug), Pascal Eugster (E-Bass) und Ramon Ziegler (Keyboards) ergänzt wird, fühlt sich in einem Gespinst aus drogenvernebeltem Psychedelic-Folk, exzentrischem Alternative-Rock und seltsam verschobenem Art-Pop wohl. Die gesangliche Ausdrucksform erinnert dabei in ihrer anrührenden Betroffenheit oft an Jeff Buckley oder Rufus Wainwright. Pearls Before Swine um Tom Rapp, Kevin Ayers, David Crosby und Midlake sind weitere Eckpfeiler, die die Einordnung des Sounds vorstellbar machen, aber dennoch die Wirklichkeit nicht gänzlich im Detail beschreiben helfen. Denn Black Sea Dahu sind eigen: eigensinnig, eigenartig, eigenständig.

    Der Opener "Glue" beschäftigt sich mit dem Wert von Gedanken, Erfahrungen und Erinnerungen: Gedanken sind flüchtig, sie ändern sich durch emotionale Einwirkungen und Erfahrungen. Gedanken sind Leim, meinen Black Sea Dahu in "Glue". Auch Erfahrungen führen nicht immer dazu, dass der gleiche Fehler nicht noch einmal gemacht wird, sonst würde sich Geschichte nicht ständig wiederholen. Erinnerungen verblassen, können im Falle einer Demenz-Erkrankung sogar völlig verloren gehen. Der Song zu diesen Überlegungen gerät in einen seltsam torkelnden Walzer, wobei Traum und Wirklichkeit nicht mehr auseinandergehalten werden können. Der flehentlich-groteske, sich an der Grenze zum Nervenzusammenbruch bewegende Gesang verstärkt die bizarre, erschütternde Stimmung dabei noch.

    Schwebeklänge versuchen, "Human Kind" die Bodenhaftung zu entziehen, aber ein stoischer, trockener und karibisch beschwingter Rhythmus arbeitet regelmäßig dagegen an. Gezupfte Akustikgitarren legen unterdessen die Basis für eine teilnahmsvoll-bedächtige Erzählweise.

    "One And One Equals Four" beginnt mit der Aussage: "Es gibt einen Ozean zwischen dir und mir, der nicht überwunden werden kann". Das beschreibt die ganze Tragik einer Liebesbeziehung, die vor einer Zerreißprobe steht. Entsprechend ist der Song ein Paradebeispiel für eine erschütternde Ballade, bei der das Innerste nach außen gekehrt wird. Dahinter verbirgt sich die Hoffnung, dass der Seelenstriptease Linderung verschafft oder vielleicht sogar zu einer Lösung der verfahrenen Situation führt. Das in Moll gestimmte Piano verströmt Trauer, der Gesang nimmt diesen Eindruck auf und windet sich mal gefasst, mal winselnd um die Noten. Nostalgische Streicherklänge erhöhen den Sentimentalitätsfaktor, aber ein abgespecktes, Becken-loses Schlagzeug und flatternde Flöten-Töne, die sich wie ein aufgescheuchter Vogelschwarm anhören, sichern den Track gegen den drohenden Abgrund ab. Aufflackernde psychedelische Gitarren- und Synthesizer-Klänge verschaffen nur einen kurzen, milden rauschhaften Trost, die Tristesse setzt sich ungeachtet dessen fort. „In meiner Welt gibt es kein 1+1=2! So einfach ist es eben nicht. Die Dinge gehen nicht auf, und ich versuche, das mit meiner Musik zu erzählen“, erklärt Janine Cathrein den Song-Titel, dessen Gleichung nicht aufgehen mag.

    "Transience" vermittelt grüblerische Impressionen vom Tournee-Leben, bei denen die Sehnsucht nach dem Partner gegen die Liebe zur Musik hinsichtlich der Wertigkeit abgewogen wird. Die Musik erhält bei diesem Vergleich den höheren Rang. Eine folkloristische Akustik-Gitarre, sanfte Piano-Klänge, ein warm rauschendes Harmonium, eine aus dem Nichts erscheinende kompakte Rhythmus-Einheit, eine neugierig stichelnde E-Gitarre und eine Stimme, die um Vertrauen und Aufmerksamkeit wirbt, das sind die wesentlichen Bestandteile dieser würdig-erhabenen, pastoral anmutenden Musik.

    "Make The Seasons Change" ist das lebhafteste Stück des Albums. Es schlüpft aus einem Kokon, bestehend aus jenseitig anmutenden Tönen und tritt mit schnell pulsierenden Takten ins aktive Leben ein. Auch der Gesang bricht aus der Melancholie aus, jubiliert, macht sich frei, gebärdet sich ab und zu sogar übermütig-wild und daher gerät das Stück zu einem Befreiungsakt aus dem Trübsinn, bei dem die E-Gitarren abschließend die weitere Richtung vorgeben: Vorwärts ins Licht.

    "Affection" spielt romantische, klassische Klaviermusik gegen exotische Weltmusik in Verbindung mit Surf-Sounds aus, wobei alle Bestandteile ihre Daseinsberechtigungen haben und sich final betrachtet gegenseitig befruchten.

    Der Name des Tracks "I Am My Mother" klingt erst einmal seltsam. Im Laufe des Textes versetzt sich Janine jeweils in eine andere Person aus der Familie und zeigt prägende Bezugspunkte der gegenseitigen Verbindung auf. Das vertrackte Stück dehnt den Begriff der Pop-Musik in Richtung Freak-Folk aus und gibt der bisherigen Klang-Palette somit noch eine weitere Orientierung mit. Neben Harmonie wird noch Zügellosigkeit und Spieltrieb kultiviert, so dass der Song durch diese Reibungspunkte originelle Reize absondert.

    Was für ein interessantes Hör-Abenteuer, das sich zwar manchmal am Rande der Verzweiflung bewegt, aber dennoch eine inspirierende Wirkung entfacht, weil die Grautöne authentisch wirken und sympathisch verschroben unterfüttert werden. Die Deutung der Texte ist übrigens nicht immer klar in eine Richtung abzugrenzen. "I Am My Mother" ist eine Platte über Empathie, Akzeptanz und die Kunst, die Schönheit im nie endenden Tanz zwischen dem Hässlichen und dem Erhabenen zu erkennen. Es geht darum, seine Wurzeln und seinen Platz in einer Welt zu finden, die immer im Wandel ist. Es geht um Handlungsfähigkeit und Selbstermächtigung. Es geht um alle Arten von Beziehungen: Liebe, Familie, Gesellschaft… Aber im Grunde ist es ein leidenschaftlicher und offener Liebesbrief an die Musik", erklärt die Gruppe ihre Beweggründe.
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    14.03.2022
    Klang:
    4 von 5
    Musik:
    4 von 5
    Pressqualität:
    4 von 5

    Power-Pop aus Schweden: Bedroom Eyes erweisen sich mit "Sisyphus Eyes" als würdige Hüter des Genres.

    Jonas Melker Alexander Jonsson wurde am 6. April 1983 in Föllinge, Schweden, geboren und tritt seit 2006 als Power-Pop-Inkarnation unter dem Namen Bedroom Eyes auf. Jonas Jonsson schreibt die Songs und singt. Ihm zur Seite stehen Markus Eriksson (Gitarren und Tasten), Kim Fastesson (Gitarren), Emil Fritzson-Lindquist (Schlagzeug) und Mattias Andersson (Bass). Mit "Sisyphus Rock" erscheint am 25. Februar 2022 das dritte Album des Projektes mit acht neuen Liedern, die live in einem Studio, das sich in den Wäldern Schwedens befindet, aufgenommen wurden.

    Wie kann der Begriff "Power-Pop" beschrieben werden? Die Bezeichnung wurde erstmalig von Pete Townshend 1967 geprägt, um den damaligen Stil von The Who zu beschreiben. Er lebte in den 1970er Jahren wieder auf, um für die Musiker, die sich nach der Trennung der Beatles an deren Musik orientierten, einen Oberbegriff zu finden. Zu den Vertretern dieser Richtung zählten unter anderem Todd Rundgren, die von Paul McCartney geförderten Badfinger, die Raspberries um Eric Carmen oder Big Star, bei denen Alex Chilton nach seiner Box Tops-Zeit Mitglied war. Ende der 1970er und in den 1980er Jahren gab es durch Bands wie The Knack ("My Sharona"), The Romantics ("Talking In Your Sleep"), Cheap Trick ("I Want You To Want Me") und Blondie ("Hanging On The Telephone") kurzzeitig eine Power-Pop-Hitphase. In den 1990ern kam es im Alternative- und College-Rock zu einem Revival, welches Formationen wie The Posies, Urge Overkill, Teenage Fanclub, Fountains Of Wayne oder Redd Kross hervorbrachte. Mit "Bohemian Like You" von The Dandy Warhols gab es dank des Einsatzes in einem Werbespot im Jahr 2000 einen weiteren Hit im Power-Pop-Stil.

    Trotz des breiten Interpretations-Spektrums gibt es eine Schnittmenge, die für viele Songs des Genres gilt: Oft sind die Lieder gitarrenorientiert, besitzen clevere Melodien mit Ohrwurmqualität und werden von jugendlich-leidenschaftlichem Gesang getragen, der überschäumende Gefühle transportiert. Der emotionale Überschwang der Teenager-Jahre wird quasi akustisch wiederbelebt.

    Den Schweden um Jonas Jonsson ist offenbar bewusst, welche Tendenzen und Entwicklungen der Power-Pop im Laufe der Jahrzehnte genommen hat, denn sie fahren ihre Fühler aus, um aus bekannten und verborgenen Ecken des Genres den passenden Nektar für ihre Bedürfnisse saugen zu können. Der Inspiration folgt die fruchtbare Erkenntnis, welche Bestandteile zur Umsetzung der eigenen Kreationen beitragen können.

    "Streaming My Consciousness" gehört zu den Pop-Rockern, die sich langsam ins Hirn fressen, zunächst jedoch erst einmal einen abwartenden Eindruck hinterlassen. Aber mit zunehmender Laufzeit steigen Druck und Intensität an. Die Gitarren schwingen sich zu stabilisierenden Soli auf, die die süße Melodie mit spritzig-sprühenden Duftmarken durchziehen.

    "Sisyfuzz" verkörpert den Pop-Punk der bewährten Buzzcocks-Schule. Harmonie und Schärfe liegen dicht beieinander und die elektrisch verstärkten Saiten sorgen mit himmelsstürmenden, vor Leidenschaft berstenden Akkorden für pure Energie. Leider ist der Song schon nach eineinhalb Minuten vorbei, grade als die Band richtig loslegen und abheben wollte. Ein Hit, der leider abgewürgt wird.

    Mehrere Faktoren beeinflussen "The Dark Between The Stars" wesentlich: Lieblicher Gesang, ein strammer Rhythmus, eine knurrende Lead-Gitarre, die bellt, aber nicht beißt und weiche Hintergrund-Klang-Wolken, die nach künstlichen Flöten oder Mellotron-Tönen klingen. Diese zwischen weich und hart angesiedelte Kost mag es sich mit niemandem verderben, weder mit den Freunden eingängiger Pop-Musik, noch mit der Fraktion, die treibend-lebhafte Klänge erwartet. Genau deshalb dümpelt der Track unentschieden zwischen Power und Pop dahin.

    Das Stück "Paul Westerberg" ist eine Würdigung für den Sänger und Gitarristen der Replacements aus Minneapolis, die ihre Hochphase Mitte- bis Ende der 1980er Jahre hatten. Sie wurden damals dem College-Rock zugerechnet, bei dem sich bekanntlich viele Power-Pop-Einflüsse identifizieren ließen. Westerberg hat auf seiner Homepage schon registriert, dass es diesen Song gibt, der ihm gewidmet ist. Er kommentiert das Ereignis so: "Der Text: "Du hast einen neuen Freund, habe ich gehört, wenn du einen Ersatz brauchst, bin ich dein Paul Westerberg" ist so charmant. Ich persönlich weiß nicht, ob ich einen berühmt-schrulligen Einsiedler als Freund haben möchte, aber jedem das Seine, oder?". Jedenfalls schlüpfen Bedroom Eyes hier in die Rolle der Replacements und lassen sich zu Ehren des Leaders auf deren zackigen, Punk- beeinflussten Garagen-Rock ein, den sie mit einem Bubble-Gum-Pop-Refrain ausstatten, der vielversprechende akustische Widerhaken aufzuweisen hat. Die Hormone schlagen Purzelbäume.

    Die Ballade "One Of Those Things" fühlt sich in diesem Gefüge wie ein Fremdkörper an, weil sie so anheimelnd und sanft daherkommt. Zu viel leichter Pop, zu wenig zupackende Power. Noise-Rock-Feedback-Gitarren lassen bei "Kim" das Krach-Pendel dann zur anderen Seite ausschlagen, aber der ausgleichende Gesang federt die aggressiven Drohgebärden freundlich ab. Die Gitarren beruhigen sich wieder, beherbergen zwar noch ein raues Kratzen, lassen sich jedoch wohlwollend auf eine melodische Unterstützung ein und werden erst in der vorgezogenen Ausblendung nach drei Minuten wieder gegen den Strich gebürstet. Dann ist noch immer nicht Schluss, denn das Stück nimmt nach einer Minute Feedback-Taumel nochmal für eine Minute Fahrt auf, bis dann der wirkliche Fade-Out einsetzt.

    "Store Blå" (= großes blau) wird in dem schwedischen Dialekt Jämska gesungen und von einem schnellen synthetischen Break-Beat eingeleitet. Danach übernehmen vital-hypnotische Schwingungen das Geschehen, bevor die wieder sympathisch-gutmütig klingende Stimme von Jonas Jonsson den Song in Richtung Mainstream lenkt, was dem von Schrammel-Gitarren angeführten, eingängigen Rock-Pop-Sound zugute kommt.

    Zum Abschluss gibt es mit "Here Comes Godot" noch einen kraftvoll-euphorisch tönenden Rocker, der aus dem Repertoire des aus Maryland stammenden Tommy Keene sein könnte. Die großartige, leider viel zu früh verstorbene Leitfigur des Power-Pop hat einige Vorzeigealben, wie zum Beispiel "Based On Happy Times" aus 1989, hervorgebracht. "Here Comes Godot" hat alles, was einen deftig zupackenden, melodisch hoch attraktiven Song ausmacht: Mächtig angeheizte, druckvoll-erregte Gitarren, ein zielstrebiger Rhythmus, der jedes Tempo und jede Schwankung mitmacht und ein Gesang, der große Leidenschaft und unbändige Lebensfreude ausdrückt.

    Wie schön, dass Power-Pop-Verehrer immer noch nicht ausgestorben sind! Auf "Sisyphus Rock" wird vieles richtig umgesetzt, was die Faszination des belebenden Musik-Stils ausmacht. Es wird jede Menge Spaß verbreitet, den auch die Musiker bei ihren spontanen Aufnahme-Sessions gehabt haben werden. Zumindest kann man das Lachen am Ende von "Here Comes Godot" so deuten. Die Songs zaubern ein Lächeln ins Gesicht, lassen mindestens einen Fuß wippen und an stürmische Jugendzeiten denken. Was für ein herrlicher gedanklicher Jungbrunnen! Hätte Sisyphus diese Musik bei seinem Frondienst gehört, hätte er den Stein mit Leichtigkeit und einem Pfeifen auf den Lippen den Berg hoch gerollt und die Sage müsste umgeschrieben werden.
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    Oui (CD)
    20.02.2022
    Klang:
    5 von 5
    Musik:
    5 von 5

    Voller Tatendrang: Urge Overkill haben auch nach 11 Jahren Pause mit "Oui" nichts von ihrer Bedeutung verloren.

    Veröffentlichungen aus Nostalgie-Gründen führen in der Musik häufig zu fragwürdigen Ergebnissen, da sie häufig wegen der Verklärung vergangener Zeiten oder aus Geldmangel passieren. Urge Overkill, die sich nach einer Textzeile aus "Funkentelechy" von Parliament benannten, wurden 1986 in Chicago von Nash Kato (Gesang, Gitarre), Eddie "King" Roeser (Gesang, Gitarre, Bass) und dem Schlagzeuger Pat Byrne gegründet. Sie gehörten in den neunziger Jahren zum Non plus Ultra des alternativen Power-Pop und College-Rock. Ihre Popularität wurde dadurch angeheizt, dass sie 1991 auf der "Nevermind"-Tournee von Nirvana der Opening-Act waren und weil ihr "Girl, You`re A Woman Now" - eine Cover-Version des Neil-Diamond-Songs - im Soundtrack von "Pulp Fiction" auftauchten.

    Insgesamt brachte die Gruppe von 1989 bis 1995 fünf Alben raus, danach war Funkstille. 2011 gab es mit "Rock & Roll Submarine" ein Reunion-Werk, das nahtlos an den beachtlichen Vorgänger "Exit The Dragon" anknüpfen konnte. Und jetzt kommt natürlich die Frage auf, ob solch ein überzeugender Anschluss mit "Oui" wieder gelingen konnte. Die Stimmen von Roeser und Kato haben natürlich seit den 1990igern eine andere Färbung erhalten. Sie sind sonorer, weniger lässig, dafür brüchiger, vom Leben gezeichnet und damit charaktervoller als früher. Aber diese Entwicklung fügt sich großartig in die neuen Songs ein.

    "Freedom!" ist ein Wunsch, ein Aufschrei und eine Anweisung zugleich. Es handelt sich hier tatsächlich um eine Cover-Version des erstmals 1984 veröffentlichten Wham!-Songs, geschrieben von George Michael. Urge Overkill nähern sich dem gutgelaunten Original mit etwas Distanz und dosierter Härte an. Aber es kocht unter der Oberfläche und so vermittelt die neue Variante zwar Respekt, aber dennoch eine ruppigere, kraftvollere Sichtweise.

    "A Necessary Evil" sollte ursprünglich "It`s Killing Me" heißen und dreht sich um Kommunikation in einer Beziehung: Nicht alles muss ausdiskutiert werden, es ist auch in Ordnung, Dinge offen zu lassen, lautet das Credo. Nicht nur Soul- oder Funk-Stücke können grooven, das funktioniert auch im Rock und macht diesen treibenden, swingenden Bubblegum-Track zu einem unwiderstehlichen Ohrwurm. Und häufig ist der Groove auch der Schlüssel dazu, dass ein Song den Zahn der Zeit gut übersteht.

    "Follow My Shadow" ist auch ein solcher Evergreen-Kandidat, der darüber hinaus das kompakt-stabile Format von "Sister Havana" besitzt. Deftiger Druck, melodische Finesse und jede Menge Hooklines steuern den Track unnachgiebig in Richtung Ziellinie, als würden sie von starken Magneten angezogen.

    "How Sweet The Light" hat eine große persönliche Bedeutung für Nash Kato. Mitte der 2000er Jahre war er ausgebrannt, pleite und verzweifelt. Irgendwann stellte er sich die Frage, für welche Dinge es sich lohne, am Leben zu bleiben und auf Basis dieser Überlegungen entstand der Song, der auch Tom Petty gut zu Gesichte gestanden hätte. Southern-Rock und klirrender Gitarren-Pop gehen eine aufreizende Allianz ein, die den Song diskret vibrieren lässt.

    Im Gegensatz dazu hört sich "I Been Ready" an, als wäre das robuste Grunge-Pop-Stück in Zusammenarbeit mit J Mascis von Dinosaur Jr entstanden. Brachiale Gewalt trifft auf Pop-Süße. "A Prisoner's Dilemma" wechselt in kurzer Zeit vom hymnischen College-Rock zum wogenden Boogie-Blues und verbindet dann beide Richtungen nahtlos miteinander, um später noch etwas Pop-Jazz-Flair einfließen zu lassen.

    Wuchtig und kompromisslos legt der temperamentvolle Blues-Rocker "Forgiven" los. ZZ Top treffen gedanklich auf George Thorogood und sorgen für einen stürmischen Auftritt. "Totem Pole" schaltet dann ein paar Gänge zurück und geht deshalb als kraftvolle Ballade durch, bei der der Schmuse-Faktor gegen Null geht.

    "Litany" zeigt auf, wie es sich anhört, wenn sanftmütiger Pop mit bissigen Hard-Rock-Elementen bombardiert wird. Plötzlich entsteht dadurch ein feuriger Hybrid, der irgendwann vor Erregung zu bersten droht. Für "I Can't Stay Glad@u" wird ein Zustand herbeigeführt, bei dem der Song in einer coolen Folk-Rock-Situation mit souveränem Power-Pop gleichgestellt wird.

    "Won't Let Go" setzt alles auf eine Karte und klotzt mit zähflüssigem, bulligem Crazy-Horse-Garagen-Rock laut drauflos, um durch Imponiergehabe für Aufsehen zu sorgen. Das stoische, gelassen rumpelnde "Snow" eignet sich vorzüglich als Rausschmeißer. Spätestens danach ist man von "Oui" so elektrisiert, dass umgehend der Repeat-Knopf gedrückt wird.

    "Oui" ist überhaupt kein nostalgischer Aufguss geworden und fügt sich qualitativ hochwertig in die Diskografie von Urge Overkill ein. Die Songs verfügen über genügend Energie und Leidenschaft, um das Album, das keinen Durchhänger zu beklagen hat, in einem Rutsch mit Genuss und hohem Spaßfaktor durchhören zu können. Comeback gelungen, bitte mehr davon! Zu "Oui" kann also ohne Einschränkung ja gesagt werden!
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    Solace Solace (CD)
    20.02.2022
    Klang:
    5 von 5
    Musik:
    5 von 5

    "Trost brauchen wir alle", meinen Sendecki & Spiegel und erschufen deshalb ein "Therapie-Album" zur Überbrückung von trostlosen Zeiten.

    Vladyslav Sendecki (Piano) & Jürgen Spiegel (Schlagzeug, Percussion) sind herausragend virtuose Musiker, das steht außer Frage. Ob man sich mit ihrer Art der Verkörperung von modernem Jazz arrangieren kann, steht allerdings auf einem anderen Blatt. Dazu benötigt man nämlich grundsätzlich offene Ohren und den Mut, sich mit den Ideen künstlerisch begabter Musiker auseinandersetzen zu wollen, auch wenn dies ab und zu ins Land der Improvisation führen kann. Wenn diese Voraussetzungen gegeben sind, kann eigentlich nichts mehr schief gehen, denn wie gesagt, die Fähigkeiten des Duos sind außergewöhnlich. Nach "Two In The Mirror" aus 2019 legen die Musiker jetzt nach und präsentieren 13 neue Einspielungen, die sich auf 63 Minuten Laufzeit verteilen.

    Musik ist gut für den Körper und Balsam für die Seele. Das weiß jeder, der sich in akustischen Reizen verlieren kann, sie als Genuss begreift und für den Klänge unverzichtbar für sein Leben sind. Dieses Zusammengehörigkeitsgefühl ist natürlich noch um ein Vielfaches höher bei Personen, die professionell mit Musik zu tun haben und in irgendeiner Form davon leben. Was grade außerordentlich schwierig ist. Und deshalb brauchen nicht nur der ehemalige Pianist der NDR Bigband, Vladyslav Sendecki und der Percussion-Mann und Produzent Jürgen Spiegel eine Überbrückungs-Hilfe und vor allem Beistand. Aus diesem Grund heißt das neue Werk auch "Solace", was Trost bedeutet.

    Die Musiker sprechen davon, dass sie das Album auch für sich selbst als Therapie aufgenommen haben. Es soll positive Stimmungen verbreiten, auch Nostalgie darf gerne aufkommen, aber die Musik ist natürlich noch viel breiter aufgestellt, so dass ein schillerndes Spektrum an Gefühlen aufgeworfen wird. Und es ist immer wieder erstaunlich, welche Klangvielfalt zwei Instrumentalisten aufbauen können, wenn sie ein Gespür für Zeit, Tonmodulation und die Abhängigkeit von Dynamik, Tempo und Lautstärke verinnerlicht haben.

    Auch der Tanz ist ein Sinnbild für freien Ausdruck, gelebte Körperlichkeit, feinsinnige Anmut und rhythmische Eleganz. Als Mitglied des Tingvall Trio hat sich Jürgen Spiegel bereits 2020 mit seinen Kollegen Martin Tingvall (Piano) und Omar Rodriguez Calvo (Kontrabass) auf dem Album "Dance" mit dem Thema befasst. Spiegels Komposition "Ballerina" greift diese Assoziationen wieder auf und das Duo verarbeitet spielerisch Eindrücke im Hinblick ihrer Vorstellungen über eine Ballerina. Demnach ist die Tänzerin galant, äußerst beweglich, zügig und auch mal verinnerlicht unterwegs - so ist jedenfalls die Musik aufgestellt.

    "New York Streets" ist eine nachtblaue Ballade, die zu später Stunde in verräucherten Clubs laufen könnte. In Zeiten, wenn nur noch ein harter Kern übermüdeter Einzelgänger anwesend ist. Das Stück findet nach einer nachdenklichen Periode aus dem Blues heraus. Dazu werden spritzige Piano-Akkord-Wechsel aufgefahren, um die Nachtschwärmer wach und bei Laune zu halten. Die eingestreuten Improvisationen stören dabei die ursprüngliche, getragene Melodie nicht, so dass das Stück jeden, der sich seiner Melancholie hingeben möchte, durch belebende Faktoren stützt.

    "Contemplation" hält, was der Name verspricht. Besinnung, Einkehr und innere Konzentration sind angesagt. Solch eine Assoziation wird durch tropfende und perlende, mit Pausen durchzogene und liebevoll gestreichelte Piano-Töne sowie zarte und absichernde Schlagwerk-Zutaten erreicht. Die Vortrags-Bezeichnung "Furioso" steht für ein leidenschaftlich bewegtes Musik-Stück. Sendecki & Spiegel begegnen dieser Aufforderung mit einer Komposition, die sich wellenartig auszubreiten scheint. Wobei die Höhe der Wellen variiert und auf diese Weise ein organisch auf und ab schwellender, akustischer Seegang simuliert wird.

    Trost spenden kann grundsätzlich nur eine Person, die Kraft, Zutrauen, Mut, Wärme und Zuversicht ausstrahlt. Deshalb laufen die vom Stück "Solace" übermittelten Emotionen auch aus Sicht eines Trostspendenden ab, der verständnisvoll und weise ist. Der Trostsuchende kann sich also an den beschriebenen Tugenden laben und daran genesen. Sendecki verbindet Mitgefühl und Hoffnung mit seinen Aktionen und Spiegel ist dabei der treue Begleiter, auf den man sich in jeder Situation blind verlassen kann. "Just A Few Chords" wirkt dagegen hastig, gereizt und impulsiv. Die Musiker treiben sich gegenseitig voreinander her, ohne dass zu erkennen ist, wer letztlich bei dieser furiosen Jagd im Vorteil ist.

    Die Cover-Version von Peter Gabriels "Don't Give Up" aus 1986 war bereits ein Höhepunkt auf der "Two In The Mirror"-Tournee. Im Song geht es um einen Mann, der arbeitslos geworden ist und sich dadurch gegenüber seiner Familie und der Gesellschaft wertlos fühlt. Beim Original singt Kate Bush die Duett-Stimme, die den Protagonisten anfleht, nicht aufzugeben und ihm versichert, dass es Menschen gibt, die an ihn glauben und ihn unterstützen. Die Noten, die aus Kate Bushs Kehle fließen, sind flehentlich und ermutigend, so dass sie in dieser bedrückenden Situation das Selbstwertgefühl wieder herstellen kann. Bei der Sendecki & Spiegel-Variante gibt es keinen Gesang, der die Rolle des Vermittlers übernimmt. Deshalb deuten die Jazz-Stars die Aussage des Liedes auch etwas anders. Neben einer gewissen Traurigkeit schwingen in ihrer Interpretation auch Wut und Trotz mit. Das ist durchaus authentisch und nachvollziehbar, denn es war damals unter anderem die schwierige wirtschaftliche Lage in Großbritannien unter Premierministerin Thatcher, die die Menschen zornig machte und in Notlagen brachte, was Gabriel zu dem Thema inspirierte.

    Bei "Still I Rise" schlägt nicht nur der Rhythmus Purzelbäume. Das Stück sprudelt hervor wie ein klarer Gebirgsbach, der sich talwärts seinen eigenständigen Weg suchen darf. Spritzige Percussion-Fills assistieren dabei munter dem plätschernden Piano auf dem Weg ins Meer. Der "Letter To Myself" ist eine intime Angelegenheit geworden. Das innige Zwiegespräch zwischen Klavier und Schlagzeug gleicht einer Meditation, die nicht nur nach innen gerichtet ist, sondern eine nach außen gelenkte Strahlkraft besitzt, die die Hörerschaft in diese persönlichen Betrachtungen mit einbezieht.

    Der Begriff "Partita" kommt aus der klassischen Musik und hat im Laufe der Jahre mehrere Bedeutungen erhalten. So steht er für eine Folge von Variationen über eine populäre Melodie, wird als Bezeichnung für ein Instrumentalstück benutzt oder beschreibt die Abfolge von Instrumental- oder Orchesterstücken, die ohne längere Pausen hintereinander gespielt werden. Das Wort ist also ein Synonym für eine Suite. Hier sind die Grenzen zwischen Klassik und Jazz allerdings fließend, denn diese Einteilungen und damit die Bedeutung des Begriffes "Partita" ergeben sich eher zufällig, abhängig davon, welchen Erfahrungsschatz der Einzelne beim Hören mit einbringt. Romantik steht allerdings im Vordergrund der Komposition.

    "Punk Talk" hat wenig mit Punk-Rock im engeren Sinn zu tun. Zwar ist das Tempo hier relativ hoch und der Rhythmus scheppert, es fehlt jedoch eine richtig aufmüpfige Haltung, um diesem Gebilde außerordentlich anarchisch-abtrünnige Verhaltensweisen zuordnen zu können. Eine musikalische Revolution findet nicht statt, bahnt sich höchstens im Geheimen an. Die Musiker haben aber hörbar ihren Spaß an dieser überwiegend ausgelassenen Spielweise.

    "Exhibition" ist da schon freizügiger, verzichtet aber im Wesentlichen auf eine führende Melodie, nährt sich stattdessen von losen, experimentellen Darstellungen, ohne dabei verschroben-verschreckend zu sein. Wir haben es hier mit einer unkonventionellen Haltung zu tun, die Raum für Erkenntnisgewinne und Fantasien schafft.

    "Little People" steht zum Abschluss der Platte stellvertretend für viele Einflüsse auf "Solace": Durch leichtflüssige Träumereien, ernsthafte Kunstaussagen, verspielte Klangabenteuer und eine perfekte Abstimmung der instrumentalen Zuordnungen wird ein Klang-Modell erschaffen, dem das Korsett "Jazz" schon längst zu eng geworden ist. Zum Glück gibt es noch keine Marketing-Schublade, mit der solch eine schöne, geistreiche Musik abgestempelt und damit reduziert werden kann.

    "Solace", aufgenommen in dem neu gebauten Konzertsaal JazzHall in Hamburg, ist wieder ein audiophiles Erlebnis geworden. Die Töne kommen klar und räumlich voneinander abgegrenzt, in einem natürlich ausgewogenen Sound aus den Lautsprechern. Aber nicht nur der Sound ist besonders, auch die Interaktion zwischen den Musikern ist noch feinfühliger geworden. Es ist absolut brillant, welche harmonische Synthese die Musiker eingehen. Sie agieren, als wären sie telepathisch miteinander verbunden, absolut schwerelos, logisch, innig, reif und kreativ stellen sie sich aufeinander ein. Sie klingen wie eine Person, die alle Instrumente gleichzeitig spielt, so selbstverständlich zusammengehörig klingt das. Perfekte, intuitiv beseelte Interaktion hat also zwei Namen: Sendecki & Spiegel.
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    Ants From Up There (CD)
    20.02.2022
    Klang:
    4 von 5
    Musik:
    5 von 5

    Black Country, New Road können mit "Ants From Up There" einen enormen Reifeprozess nachweisen, der der Gruppe ungeahnte Möglichkeiten eröffnet.

    Das Septett Black Country, New Road aus London veröffentlichte am 5. Februar 2021 ihr erstes Werk, das passenderweise "For The First Time" hieß. Fast auf den Tag genau ein Jahr später gibt es nun unter dem Titel "Ants From Up There" den Nachfolger zu diesem aufregend-ungestümen Erstlingswerk. Da stellt sich natürlich die Frage, ob die Newcomer-Band ihr Pulver schon verschossen hat oder ob sie qualitativ an die Leidenschaft des Vorgängers anknüpfen kann.

    Mit dem "Intro" hinterlassen Black Country, New Road schon mal eine turbulente Einführung. Minimal-Art-Bläser-Sätze lösen Alarm aus, der Bass brummt angetan und das Schlagzeug wird kräftig bearbeitet, so dass alle Sinne geschärft und erregt sind.

    "Chaos Space Marine" breitet dann über die wachgerüttelten Zuhörer und Zuhörerinnen ein Füllhorn an Einflüssen aus: Schräges Musiktheater, der smarte Pop-Charme von Devine Comedy, die seriöse Ernsthaftigkeit von David Bowie, die bei seinen dramatischen "Baal"-Aufnahmen von 1981 zu Tage trat, eine barocke Geige, ein Boogie-Woogie Klavier, rasante Balkan-Folk-Jazz-Wettläufe - alle diese Elemente spielen eine Rolle in der attraktiv-berauschenden Aufführung.

    Der beschaulich-wohltuende, Bass-fundierte Dark-Americana-Sound von "Concorde" entwickelt sich unter Berücksichtigung von erzählerischen Verzögerungen langsam zu einem bewegten, lauten, fordernden, kniffligen Art-Rock, bei dem sich der Gesang von Isaac Wood allmählich vom leisen Flüstern zum entrüsteten Rufen steigert.

    Unter niedergeschlagenem Gesang bäumt sich die pompöse Ballade "Bread Song" wiederholt dramatisch und wuchtig auf, um nach einem eruptiven Höhepunkt unter längerer Beteiligung eines klackernden und stampfenden Rhythmus endgültig in sich zusammenzufallen. Die Spannung ist dehnbar, über leise Sohlen wird sie langsam aufgebaut und schließlich am Köcheln gehalten.

    Bekanntlich ist "Good Will Hunting" ein Drama, zu dem Matt Damon und sein Kumpel Ben Affleck ein Drehbuch geschrieben haben. Der dazugehörige Film kam 1997 in die Kinos, der Song hat aber inhaltlich nichts damit zu tun. Die Komposition beginnt wie das "Intro" mit einem kurzen Signalton, um dann bewusst eine etwas sperrige und ruckelige Wahrnehmung abzusondern, bei der sich sowohl der anarchische Blues eines Captain Beefheart wie auch der provokante Post-Punk von The Fall als Vergleiche anbieten.

    Im Jahr 2020 wurden Black Country, New Road als Live-Stream dem Haldern Pop-Festival zugeschaltet. Bei dieser Veranstaltung entstanden die Grundlagen für das Stück "Haldern", das akustischen, modernen, freigeistigen Jazz mit Minimalismus und impulsiven Rock-Rhythmen vereint.

    Das kurze Instrumental-Stück "Mark’s Theme" beginnt mit einem melodisch-selbstverliebtem Saxophonsolo, das in einen blumig-ästhetischen, sentimental veranlagten Kontext überführt wird, der keinen Raum für Krawall bereit hält. Die Komposition ist schließlich eine Hommage an den Onkel von Saxophonist Lewis Evans, der 2021 an COVID verstarb.

    Auch "The Place Where He Inserted The Blade" ist jemandem gewidmet, nämlich Bob Dylan. Isaac Wood sagt dazu: "Ich fing an, dieses Stück als Antwort auf "I've Made Up My Mind to Give Myself to You" (aus "Rough & Rowdy Ways" von 2020) zu schreiben, bzw. wurde stark davon inspiriert. Das ganze seltsame, bluesige, entspannte Ding, bei dem alle Instrumente ineinander übergehen, hat mich sehr angesprochen."

    Feinsinnige Träumereien, die von Piano, Gitarre und Flöte in den Raum gehaucht werden, leiten "The Place Where He Inserted The Blade" sanftmütig und transparent ein. Der Song vermittelt ein Füllhorn an konträren Emotionen: Schmerz und Freude, Begeisterung und Niedergeschlagenheit, Mut und Unsicherheit gehören dazu. Isaac Wood singt so engagiert, als hinge sein Leben davon ab, möglichst überzeugend zu sein und er vermittelt seine Worte entsprechend gefühlsbetont, drastisch und dringlich.

    Black Country, New Road bewegen sich auf einem Terrain, in dem sie ihre Schöpfungen selbstbewusst zu einer stolzen, verschwenderisch-überschwänglichen Kunstform erheben. Dazu gehört auch das neunminütige "Snow Globes". Das Stück verfügt über eine dreiminütige instrumentale Einführung, die mit einem monotonen Grund-Takt, unter ständiger Hinzunahme von Instrumenten, in den Hauptteil des Songs überleitet. Anschließend geht es kontinuierlich mit demselben Rhythmus-Prinzip weiter, wobei sich das Schlagzeug eine Weile frei bewegen darf, was der Komposition eine wohltuend-auffrischende Unruhe verleiht. Zum Ende hin gibt es versöhnliche Töne, die den Track gemächlich ausklingen lassen.

    "Basketball Shoes" ist die Grundlage und Blaupause für das gesamte Werk, wie sich Isaac Wood ausdrückt. Über 12 Minuten lang hat sich das Septett Zeit gelassen, um dieses Epos zu zelebrieren. Solch einen Monster-Track würde man eigentlich unter "Progressive Rock" ablegen, ohne sich weiter darum zu kümmern, wäre er von übertriebenen Tempo-Wechseln und verschwurbelten Solo-Demonstrationen geprägt. Aber so einfach macht es uns das Musiker-Kollektiv nicht. Das Gebilde ist zwar verschachtelt und kompliziert, aber seine lyrischen Feinheiten und die stürmisch-wilde Energie löst es aus einer selbstgefälligen Sicht heraus und identifiziert Art-es als Punk. Spontanität siegt über arrogant-besserwisserisches Kalkül. Es lebe die Leidenschaft!

    Kürzlich wurde bekannt gegeben, dass der Frontmann Isaac Wood - dessen honorige Stimme schon mal an Kurt Wagner von Lambchop erinnert, die Gruppe verlassen hat, um sich persönlich neu zu ordnen. Das geschah also noch kurz vor der Veröffentlichung von "Ants From Up There", die für den 4. Februar 2022 vorgesehen ist. Zweifellos hinterlässt er eine große Lücke, aber die britischen Alleskönner haben genug Format, um diesen Verlust auszugleichen. Die verbliebenen sechs Mitglieder (Tyler Hyde (Bass), Lewis Evans (Saxophon), Georgia Ellery (Geige), May Kershaw (Keyboards), Charlie Wayne (Schlagzeug) und Luke Mark (Gitarre)) haben zumindest angekündigt, dass sie weiter gemeinsam Musik machen wollen.

    Die Band mag es gerne vielfältig und ausladend. Dennoch wird es bei "Ants From Up There" weder wirr und unausgegoren, noch gibt es Langeweile. Die Tracks wurden abwechslungsreich und fesselnd arrangiert und bieten deshalb jede Menge Entdeckungs-Futter an. Die Musik vermittelt den Eindruck, dass sehr viel Zeit mit der Abstimmung zugebracht wurde. Und zwar hinsichtlich des Ablaufs und der Wirkung der einzelnen Kompositionen aufeinander, sowie auch mit der Anordnung untereinander. Das Werk wirkt wie eine bewusst herausfordernd angelegte, kühne Inszenierung, die in 10 voneinander abhängigen Abschnitte unterteilt ist. "Ein sich wiederholendes musikalisches Motiv, das sich von "Intro" bis zum abschließenden "Basketball Shoes" durch das Album zieht, spielt eine Schlüsselrolle bei der Schaffung des Klebstoffs, der die Platte zusammenhält", kommentiert das Ensemble diese Annahme.

    Das Album ist entspannter als sein Vorgänger. Die dort zur Schau gestellte Wut und der Drang zu Experimenten ist etwas in den Hintergrund geraten, obwohl es weiterhin vertrackt zusammengesetzte Song-Strukturen gibt. Liegt die ausgewogene Gestaltung eventuell daran, dass die Aufnahmen letzten Sommer in der Idylle der Isle Of Wight in einer harmonischen Atmosphäre stattfanden? Oder hat sich die Gruppe einfach nur musikalisch weiterentwickelt und suchte einen Sound, der mehr Entfaltungsmöglichkeiten bereithält?

    Wichtig ist schließlich das Ergebnis und das bringt einen Zugewinn. Die Band orientiert sich weiterhin nicht an Trends oder aktualisiert vordergründig Retro-Sounds, sondern beschreitet künstlerisch unabhängig im Teamwork erarbeitete Wege. Und das ist ein Gewinn für jeden, der an gewichtiger und gleichzeitig unterhaltsamer Musik interessiert ist. Black Country, New Road heben ab, um die Pop- und Rock-Musik zu revolutionieren. Ob sie unter den erschwerten Vorzeichen weiter durchstarten können, wird sich zeigen. Mit den neuen Songs präsentieren sie sich jedenfalls leidenschaftlich wie eh und je. Nur die Perspektiven haben sich verschoben, Aggression und Provokation sind nun nicht mehr die Hauptbestandteile in der Klangpalette. In Punkto Einfallsreichtum präsentiert sich das Ensemble mit "Ants From Up There" auch deshalb besonders überraschend, verwegen und originell - was will man mehr?
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    Laurel Hell (CD)
    20.02.2022
    Klang:
    4 von 5
    Musik:
    4 von 5

    Mit "Laurel Hell" verschafft sich Mitski eine kreative Möglichkeit, um Widersprüche zu verarbeiten.

    Wenn jemand im Alter von Mitte zwanzig schon in über einem Dutzend Orte gelebt hat, dann gibt es aus den vielen Erfahrungen heraus bestimmt eine Menge zu erzählen und es hat sich eventuell eine eindeutige, stabile Weltsicht gebildet. Ein Beispiel für solch eine Biografie ist Mitski Miyawaki, die 1990 als Tochter eines amerikanischen Vaters und einer japanischen Mutter in Japan geboren wurde. Der Wunsch, sich als Musikerin beweisen zu wollen, blühte nach dem Abitur auf, das in der Türkei absolviert wurde. Erste Songs entstanden daraufhin.

    Während ihres Musikstudiums erschienen dann die ersten beiden Veröffentlichungen ("Lush", 2012 und "Retired In Sad, New Career In Business", 2013), welche orchestralen Piano-Pop mit Pathos beinhalteten und sich in etwa an Tori Amos oder Kate Bush orientierten. "Bury Me At Makeout Creek" zeigte 2014 eine aggressivere Seite unter der Einbeziehung von lauten, verzerrten Gitarren. Das vierte Studioalbum "Puberty 2" aus 2016 ergänzte den Sound um elektronische Elemente und präsentiert sich relativ ausgewogen zwischen intimer Zurückhaltung und aufmüpfiger Dringlichkeit.

    Vor der Veröffentlichung von "Be The Cowboy" in 2018 warnte Mitski über soziale Medien und in Interviews allerdings ihre Fans vor dem Album, weil sie für dieses Projekt die Perspektive der Außenseiterin aufgegeben hatte. Nichtsdestotrotz scheute sich die Künstlerin nicht, ihre Klangwelt nochmals anzupassen und auf einen erhöhten Synthesizer-Einsatz zu setzen. Der Rock-Einfluss sank und der Pop-Anteil wurde angehoben. Und nun gibt es mit "Laurel Hell" ein waschechtes Synthie-Art-Pop-Werk mit Verweisen auf den 1980er-Jahre-Dance-Sound zu hören. Die Platte besteht aus Song-Beispielen, die Down- oder Up-Tempo genauso wie Zerbrechlichkeit und Freude berücksichtigen. Wer Vergleiche sucht: Joan As Policewoman oder Goldfrapp sind auf ähnlichem Gebiet zuhause.

    "Laurel Hell" geht mit "Valentine, Texas" los. Der Song verbreitet eine sakrale Stimmung, der Gesang ist tieftraurig und die Synthies bauen mächtig rauschende und triumphierende Klangwände auf. Der Ausdruck "Working For The Knife" gilt als Metapher für belastend-quälende Kräfte, welche zum Beispiel Krankheiten, das Alter oder der Kapitalismus aus Sicht von Mitski sein können. Dazu gibt die Musikerin folgenden Kommentar ab: "Es geht darum, von einem Kind mit einem Traum zu einem Erwachsenen mit einem Job zu werden, und das Gefühl zu haben, dass man irgendwo auf dem Weg zurückgelassen wurde. Es geht darum, mit einer Welt konfrontiert zu sein, die deine Menschlichkeit nicht anzuerkennen scheint, und keinen Ausweg zu sehen". Die Ballade zeichnet sich durch eine starke, von der Stimme emotional modulierte Melodie aus, die von bedrohlichen wie auch optimistisch erscheinenden Synthesizer Klang-Schwaden verziert wird. Ab und zu tauchen auch griffige Riffs einer elektrischen Gitarre im Klangbild auf, die dem bauschigen Tongemälde etwas Schärfe verleihen.

    "Stay Soft" ist ein Plädoyer für die Empfindsamkeit und dafür, sich gegen alle Widerstände treu zu bleiben. Ein swingender Soul-Jazz-Groove sorgt in diesem Zusammenhang für optimistische Töne und aufmunternde Rhythmen. Monotonie wird für "Everyone" zum vorherrschenden instrumentalen Stilmittel erhoben. Der Rhythmus läuft stoisch klopfend und tropfend ab, selbst die schwebend-surrende Hintergrunduntermalung vermittelt einen statischen Charakter. Mitski versucht verzweifelt, gegen den Trott anzugehen und transportiert mit ihrer Stimme etwas Leben und Wärme in diese unwirtliche, starre Welt.

    "Heat Lightning" dreht sich um eine Form der Bewältigung von Partnerproblemen. Quälende Gedanken, die sich bei Schlaflosigkeit tief ins Hirn fressen, lassen Schwierigkeiten manchmal überdimensional anwachsen. Da hilft es, zum Selbstschutz - zumindest für die Nacht - vor den Schwierigkeiten zu kapitulieren, um Frieden zu finden. Das Stück beginnt tröstend, kleine Wallungen lassen kurz Furcht aufflammen, aber es bleibt überwiegend ruhig und bedächtig - wie bei einem Wiegenlied für Erwachsene.

    "Ich brauchte Liebeslieder über echte Beziehungen, die keine Machtkämpfe sind, die man gewinnen oder verlieren kann. Ich brauchte Lieder, die mir helfen, anderen und mir selbst zu verzeihen. Ich mache die ganze Zeit Fehler. Ich will nicht den Eindruck erwecken, dass ich ein Vorbild bin, aber ich bin auch kein schlechter Mensch". So fasst Mitski ihre Motivation für die Entstehung von therapeutisch wirksamer Musik zusammen.

    Bei "The Only Heartbreaker" wird die eben angedeutete schwerwiegende Grauzone beschrieben, die bei einer Trennung entstehen kann. Der Verlassene sieht sich als Opfer, die Person, die die Trennung beschlossen hat, wird vom Umfeld in der Regel als schuldig angesehen. Häufig liegt die Wahrheit über die Ursachen des Bruches irgendwo in der Mitte. In dem Lied geht es um die Person, die in den Augen der Öffentlichkeit die Beziehung zerstört hat. Unter einem stumpfen "Aerobic-Disco-Takt" entstand hier - mit nachdenklich-nüchternem Gesang unterfüttert - ein flotter Pop-Song mit unwiderstehlicher Ohrwurm-Garantie, der die Schuldgefühle, die im Text angedeutet werden, mit Optimismus kaschiert. Das ist bisher der einzige Song, bei dem Mitski einen Co-Autor hatte. Und zwar Dan Wilson, Gründungsmitglied von Trip Shakespeare und Semisonic, der auch "Someone Like You" gemeinsam mit Adele geschrieben hat. Mitski hatte sich festgefahren und schon einige Versionen von "The Only Heartbreaker" eingespielt, aber ihr fehlte die Überzeugung, sich für eine Variante zu entscheiden. Wilson half, die gedanklichen Knoten zu entwirren und einen gemeinsamen, schwungvollen Abschluss zu finden. Ob dabei vielleicht ein weniger auffälliges Rhythmus-Gerüst einen Mehrwert gebracht hätte, darüber lässt sich vortrefflich streiten.

    ""Love Me More" hat von allen Songs auf dem Album die meisten Änderungen erfahren. Es war mal zu schnell, mal zu langsam, und irgendwann war es sogar ein Country-Song im alten Stil. Schließlich, ich glaube, weil wir "Der Exorzist" gesehen hatten, dachten wir an Mike Oldfields "Tubular Bells" und experimentierten damit, ein Ostinato über den Refrain zu legen. Als wir das Ostinato immer weiter entwickelten, um es über die Akkordfolgen zu legen, begannen wir zu hören, wie der Track klingen sollte". Soviel zur Entstehungsgeschichte dieses Liedes, in dem es nicht vorrangig um eine Liebesgeschichte, sondern um die Folgen geht, die die Entscheidung, Künstlerin zu werden, für Mitski mit sich gebracht haben. Musikalisch bleibt der Track blass, hat einen zu eiligen Disco-Beat, so dass sich Gefühle in dieser Hektik nicht wohlig ausbreiten können, was auch zu einem Verstolpern der Melodie führt, die sich nicht richtig entfalten kann.

    Auch "Should’ve Been Me" widmet sich der Untreue und betrachtet den Umstand, wie es ist, wenn alles versucht wurde, die Beziehung zu retten, dies aber trotz aller Liebe nicht gelang. Ein künstlicher Motown-Sound-Takt lässt den lockeren Pop-Song dann eher nach Phil Collins als nach den Klassikern der Supremes, der Four Tops oder der Temptations klingen. "There’s Nothing Left For You" umweht die dunkle Färbung von "Streets Of Philadelphia" (Bruce Springsteen). Dem Song fehlt es trotzdem an ergreifender Tiefe, weil Mitski zu viel Süße in ihren Gesang legt und damit an Glaubwürdigkeit einbüßt.

    "I Guess" behält sich vor, eintönig sein zu wollen, was - sofern es gewollt ist - ein mutiger Kunstgriff ist, der aber zu kontroversen Sichtweisen führen kann. "That’s Our Lamp" hinterlässt keinen bleibenden Eindruck, weil das Lied wild-romantisch und belebend sein möchte, sich aber relativ ereignislos zwischen den mit wenig Durchschlagskraft dargebotenen, unterschiedlichen Gefühlsebenen verfängt.

    "Laurel Hell" entstand während der pandemischen Isolation in Zusammenarbeit zwischen Mitski und ihrem Produzenten und Multiinstrumentalisten Patrick Hyland. Grundsätzlich wollten die Beiden ein stimulierendes, kontrastreiches Werk, das ernste Inhalte abbildet, erschaffen. Der Scharfsinn dieser Vorstellungen stellt sich durch Diskrepanzen innerhalb der Songs ein. Besonders bei den düsteren Liedern gibt es eine gewinnbringende Wechselwirkung zwischen melancholischem Gesang und strammem Rhythmus. Eine feierlich-herausfordernde Spiritualität, ausgelassen-belebende Party-Takte und eine sinnlich-begeisterte Pop-Sensibilität ziehen sich durch einige Stücke und sorgen dort für erquickliche Abwechslung. Gemäß des Album-Titels, der für ein undurchdringliches, gleichartig aussehendes Dickicht steht, versucht Mitski mithilfe von Klängen, die dieses Sinnbild reproduzieren, sich aus ihren gedanklichen Wirrungen, Konflikten und Widersprüchen zu befreien. So entstand Musik mit einer therapeutischen Wirkung für die Künstlerin, die auch für die Hörerschaft einigen Mehrwert zu bieten hat.
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    Sidelines (CD)
    20.02.2022
    Klang:
    4 von 5
    Musik:
    4 von 5

    Mit der Erinnerung ans Erwachsenwerden gelingt Wild Rivers mit "Sidelines" auch erwachsen klingender Pop.

    In diesen unruhigen Zeiten wäre es schön, wenn es Musik geben würde, die einen starken, aufrechten, mitfühlenden und wissenden Eindruck vermitteln könnte, welche gleichzeitig den Ohren schmeichelt und niveauvoll unterhält. Was, sowas gibt es tatsächlich und wird am 04. Februar 2022 der Öffentlichkeit präsentiert? Wild Rivers heißt das Trio aus Toronto, Kanada, das genau diese Erwartungen erfüllt und mit "Sidelines" ihr zweites Album nach "Wild Rivers" aus 2016 vorlegt. Die verarbeiteten Themen drehen sich bei der Rumpf-Besetzung von Khalid Yassein (Gitarre, Gesang, Klavier), Devan Glover (Gesang) und Andrew Oliver (Leadgitarre, Synthesizer) um das Erwachsenwerden, haben aber auch allgemeingültige Bedeutung, so dass neben einem weise-abgehangenen Pop, Rock und Folk für Genießer auch hilfreiche Denkanstöße abgeleitet werden können.

    Von besonders gebildeten Menschen erwartet man häufig, dass sie den totalen Durchblick haben und intellektuell die Welt, so wie sie wirklich ist, durchblicken und erklären können. Aber häufig sagen diese Leute: "Je mehr ich sehe, desto weniger weiß ich darüber". Das zeigt, wie komplex die Wirklichkeit sein kann und offenbart eine authentische Demut zu dem, was der menschliche Geist in der Lage ist zu erfassen und dem, was noch alles verborgen bleibt.

    In "More Or Less" wird genau dieser Gedanke im Hinblick auf die Entwicklung vom unbekümmert agierenden Jugendlichen zum verantwortungsbewussten Erwachsenen aufgegriffen. Der Song transportiert zunächst Sehnsucht, die sich im geschlechterübergreifenden Duett-Gesang materialisiert, dann setzt ein straffer Rhythmus ein, der den Track aus der romantisierenden Ecke holt und mit der nackten, ungeschönten Realität konfrontiert. Ein E-Gitarren-Solo gibt kraftstrotzend die Richtung an und der Refrain "The More I See, The Less I Know About It" wird zum wegweisenden Mantra.

    Wer ist dieser "Freund", der am Anfang von "Bedrock" beschrieben wird: "Ich habe diesen Freund, den ich gerne auf meinen Schultern trage. Er sieht mir sehr ähnlich. Ich hatte irgendwie gehofft, wir würden uns auseinanderentwickeln, wenn wir älter werden. Aber er wird furchtbar schwer." Handelt es sich um ein Geheimnis, welches nicht ans Tageslicht gelangen darf oder um ein schlechtes Gewissen, das belastend auf den Schultern liegt? Beides ist möglich, aber klar wird das nicht und das ist gut so, denn auf diese Weise bleibt die Geschichte angenehm rätselhaft. Der knackige Power-Pop, der dieses Mysterium begleitet, hätte auch ganz formidabel ins Repertoire von Tom Petty & The Heartbreakers gepasst.

    Bei "Long Time" geht es darum, was der Anruf einer vergangenen Liebe auslösen kann. Der Verstand sagt dir, dass du darüber hinweg bist, deine Gefühle können dich aber in eine prekäre Lage bringen. Der Ausgang dieser Überlegungen bleibt hier im Ungewissen. Sängerin Devan Glover stattet die Ballade mit einem süßen Schmelz aus, der manchmal in schmalzige Gefilde abdriftet. Auf eine übertriebene Süße hätte gerne verzichtet werden können, denn der Song ist in den Passagen überzeugend, in denen er einen aufrechten Gemütszustand ohne besondere Hervorhebung ausdrückt.

    "Stubborn Heart" offenbart melodische Qualitäten, welche an die Beatles oder an Fleetwood Mac denken lassen. Daraus machen Wild Rivers auch keinen Hehl: "Wir mögen es, unsere Lieblingsteile aus jedem Genre zu nehmen und sie zusammenzufügen und zu sehen, was funktioniert und was sich gut anfühlt", gibt Devan offen zu, wenn sie über die Beschreibung der Entstehung der Wild-Rivers-Kompositionen berichtet. Und ein guter Ohrwurm ist ein guter Ohrwurm und "Stubborn Heart" ist ein guter Ohrwurm.

    Der in sich gekehrte und gleichzeitig auch rhythmisch aktive Country-Folk von "Amsterdam" spiegelt eine Stimmung wider, die Aufbruch und Umbruch offenbart. Im Lied geht es um eine Frau, die nach Europa ziehen wollte, um mit ihrem Freund keine Fernbeziehung mehr führen zu müssen. Eines Tages, aus dem Nichts, sagte er alles am Telefon ab. "Ich stellte mir all die Dinge vor, auf die sie sich gefreut hatte, und begann, einen Song aus ihrer Perspektive zu schreiben. Deine frühen 20er sind so ein hartes Übergangsalter. Du kommst aus deiner Jugend und wirst in die reale Welt verstreut, und es heißt untergehen oder schwimmen. Oft schmiedet man Pläne und stellt sich diese Realität vor, die sich nicht so entwickelt, wie man es erwartet hat, und diese Art der Verwüstung fühlte sich wie eine wirklich rohe und nachvollziehbare Emotion an, aus der ich schöpfen wollte", erzählt Songwriter Khaled Yassein über seine Song-Idee.

    Ein Zweifel an der aktuellen persönlichen Situation und die Suche nach einer angemessenen, Glück verheißenden Lebensform bestimmen "Weatherman". Die Musiker fabrizieren rund um diese zwiespältigen Überlegungen einen eindeutig und klar strukturierten Pop-Song, der genauso gut ins Ohr geht wie "Stubborn Heart". Hit-Alarm!

    "Untouchable" ist ein bedächtiger Folk-Song, der von Khalid Yassein zunächst sachte zur akustischen Gitarre vorgetragen wird. Als dann aber eine singende elektrische Gitarre, der herzschlagförmige Rhythmus und die wehenden Keyboards einsetzen, kommt Fleisch ans karge Ton-Gerüst und das Lied lebt ausdrucksstark auf. Wer denkt, es ginge jetzt erst richtig los, der wird enttäuscht: Das Stück wird keine 3 Minuten alt.

    Gemischte Gefühle bestimmen "Better When We're Falling Apart". Eine Hass-Liebe zermürbt die beschriebene Partner-Situation und so kommt man zu dem Schluss, dass es trotz der noch zweifellos vorhandenen gegenseitigen Gefühle besser ist, sich zu trennen ("Wir sind ausgelaugt und drehen uns im Kreis"). Stimmungsmäßig wird das Lied ohne große emotionale Ausbrüche als cooler Soft-Rock abgewickelt und endet in einem abrupten Schluss.

    Produzent Peter Katis (The National, Interpol, Sharon van Etten) lässt den Folk-Song "Neon Stars" so klingen, als wäre er im Freien am Lagerfeuer entstanden. Er hinterlässt einen Eindruck von Weite und Klarheit. Zwei Stimmen, eine akustische Gitarre und sparsame Fills einer E-Gitarre genügen, um die Luft knistern zu lassen. Die gegenseitige Zuneigung, die das Paar einmal verbunden hat, überträgt sich eins zu eins auf die Noten und lässt hoffen, dass sie wieder zueinander finden.

    Noch intimer, flehender und voller Begehren läuft "Safe Flight" ab. Ein im Gegensatz zu den anderen Arrangements eher bombastisch wirkendes Klang-Spektrum versucht, sich über den Gesang zu stülpen, wird aber durch das schleunige Ende des Stücks davon abgehalten.

    Danach breitet sich erbarmungslos Stille aus. Eben noch haben die Gefühle Purzelbaum geschlagen und nun wird man wieder auf seine eigenen Empfindungen zurückgeworfen. Das nennt man brutale Realität. Und um den Umgang mit dem wahren Leben handelt es sich ja schließlich auch bei diesem Quasi-Konzept-Album. Mit poetischen Texten, die den Bezug zur Umgangssprache nicht gänzlich verloren haben und mit Musik, die ihren Anker beim klassischen Pop-Song sucht, gelingt es den Musikern, ein Werk abzuliefern, welches einige zeitlos attraktive Lieder zu bieten hat. Die Stücke sind in der Lage, ihre stimulierende Wirkung authentisch auszubreiten. Und darum geht es doch eigentlich immer in der Pop-Musik.
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    Shoals Palace
    Shoals (CD)
    23.01.2022
    Klang:
    4 von 5
    Musik:
    4 von 5

    Angst isst die Seele auf - wenn man ihr nicht die Bedrohlichkeit nimmt.

    Palace bewegen sich in einer Parallel-Welt der Musik-Richtungen, denn sie sind nicht eindeutig zu greifen. Die Musiker bauen Versatzstücke, die sich quer durch die Pop-Kultur ziehen, in ihren Sound ein und wirken dabei sowohl zugänglich wie auch verschlossen.

    Die 2012 in London gegründete Band Palace ist nicht mit dem Ensemble gleichen Namens von Will Oldham (alias Bonnie "Prince" Billy) zu verwechseln. Das englische Quartett besteht derzeit aus dem Frontmann Leo Wyndham (Gesang, Gitarre) sowie Rupert Turner (Gitarre), Will Dorey (Bass) nebst Matt Hodges (Drums, Percussion) und setzt sich auf "Shoals", dem dritten Album der Formation, mit dem Thema Angst und ihre Auswirkungen auf die Menschen auseinander. Die Künstler kapitulieren allerdings nicht vor diesem mächtigen Gefühl, sondern arrangieren sich mit dem oft zur geistigen und körperlichen Blockade führenden Zustand. Die beklemmende Emotion wird angenommen und als etwas zutiefst Menschliches und Normales akzeptiert.

    Die Gruppe gibt dazu folgende Stellungnahme zu Protokoll: "Shoals" ist eine Platte über die Konfrontation mit unseren eigenen Ängsten und Befürchtungen. Durch die Pandemie wurden wir mehr denn je mit uns selbst konfrontiert, ohne dass wir uns ablenken konnten, und sahen plötzlich, wer wir sind, in der rohesten Form. Sie hielt uns einen Spiegel vor, der uns unsere Fehler und Unvollkommenheit vor Augen führte und uns zwang, unser wahres Ich zu sehen. Das Album symbolisiert, wie unser Geist schöne und gefährliche Tiefen haben kann, wie der Ozean. Unsere Ängste und Gedanken sind wie Fischschwärme, die sich ständig von Ort zu Ort bewegen und verschieben: Chaotisch, oft unzähmbar und unberechenbar."

    Leo Wyndham spricht in diesem Zusammenhang sogar davon, dass die Lieder schon fast eine Art Liebesbrief an die Angst darstellen, der mit "Never Said It Was Easy" beginnt. Das Lied zeigt sich als wiegender, beruhigter Electro-Pop-Blues und gibt damit einen entschleunigten Grundtakt vor. Sänger Leo Wyndham scheut sich nicht, dazu auch im hohen Tonbereich unterwegs zu sein, was der Musik Zerbrechlichkeit, Demut und Intimität verleiht.

    Aufgrund der gerne verwendeten sentimentalen Töne, die genussvoll ausgebreitet werden, klingen die Kompositionen im Grunde nach Pop für Ambient-Sound- oder Radiohead- oder Pink Floyd-Bewunderer. Die episch-ätherischen Sounds, die oft durch viel Hall einen übersinnlich-geheimnisvollen Eindruck hinterlassen, docken im Umfeld von Blues, Soul, Gospel oder Folk an, wodurch die Lieder ihre Erdung erhalten. "Shame On You" vereinigt den Dark-Wave solcher Bands wie Echo & The Bunnymen mit sonnig-gelassenen Beach Boys-Harmonien und den von Rhythm & Blues durchzogenen Psychedelic-Rock-Ideen von Arthur Lee`s Love.

    Für "Fade" kehrt Palace ihre aggressive, hart rockende Seite hervor. Die Gitarren schlagen dafür monotone Riffs und treibende Akkorde an. Dem Gesang wird der Grauschleier genommen und so bringt "Fade" frischen Wind in den Ablauf.

    Die Schwerkraft ist die schwächste Elementarkraft im Universum. Und trotzdem sorgt sie dafür, dass sich die kosmischen Elemente zuverlässig auf ihren Bahnen bewegen. Das Stück "Gravity" definiert sich sowohl über Space Sounds wie auch über seinen starken Hippie-Folk-Rock-Rhythmus in Verbindung mit sehnsüchtig leidendem Gesang. Im Sinne der Gravitationswirkung wird der Komposition durch ihre konsequent beibehaltene Energie eine verlässliche Richtung ermöglicht. Leo Wyndham meint zur Bedeutung des Liedes: "In "Gravity" geht es um die perspektivische Erkenntnis unserer eigenen Unwichtigkeit, weil wir alle nur Atome aus Luft und Wasser in einem unendlichen Universum sind. Es sind diese ernüchternden nächtlichen Gedanken, die uns in einem Zustand der Paranoia wachhalten können, in dem wir an unserem eigenen Zweck und Platz zweifeln."

    Jubilierend, schmachtend und flehend wird der Wunsch "Give Me The Rain" übermittelt. Den Song begleitet eine funkelnde Gitarrenspur, die dafür sorgt, dass das Begehren hoch in den Himmel getragen wird. Der idyllische Folk von "Friends Forever" bekommt danach eine seidige elektrische Legierung verpasst, bei der schon mal der angedickte Garagen-Rock in der Tradition von Neil Young & Crazy Horse aufblitzt. Ansonsten bemühen sich die Musiker jedoch, den Track sanft schwingen zu lassen.

    Leo Wyndham hegt eine Verbundenheit zum Meer. Sie taucht nicht nur im Album-Titel "Shoals" (= Untiefen) und in der Cover-Gestaltung auf, sondern zieht sich mehr oder weniger deutlich durch einige Songs. Auch "Killer Whale" ist dafür natürlich ein Beispiel. Dem Namen zum Trotz sind hier allerdings keine gewalttätigen Klänge zu hören. Mit exotischen Tönen, die aus einem japanischen Tempel zu stammen scheinen und Drums, die sich anhören wie leere Schuhkartons, verschafft sich Palace einen Klangraum, in dem sie ihre betörend-ergreifenden Töne wie leichte Federn fliegen lassen.

    Zu "Lover (Don't Let Me Down)" gibt es folgende Aussage: Der Song handelt von der Angst vor Verlust. Es geht darum, dass wir die eigenen Ängste in Schuldzuweisungen verwandeln und die Person, die wir dabei am Ende angreifen, ist oft die Person, die wir am meisten lieben und der wir vertrauen. Das Lied entwickelt sich langsam aus einem Instrumenten-Cocktail, der sich wie zufällig hingetropft anhört, zu einem sich in der Dynamik steigernden, abwechslungsreichen Power-Pop, der gar nicht erst versucht, seine spritzigen Country-Folk-Wurzeln zu verbergen.

    "Sleeper" kommt gar nicht schläfrig daher, sondern beherbergt einen unruhigen Takt, der durch den eifrigen Gesang etwas geglättet wird. Dennoch tritt die Nervosität stets zutage, erst zum Ende hin legt sich die Anspannung. Bei der Ballade "Salt" wird auf überraschende, belebende, aber trotzdem unaufdringliche Soundeffekte gesetzt. Das Stück erfährt dadurch eine hörspielartige Aufwertung.

    Der Track "Shoals" beginnt als quirlige Ton-Schleife, entwickelt sich dann aber flugs zu einem mit Effekt-Spielchen durchzogenen, komplexen Art-Pop. ""Where The Sky Becomes The Sea" ist ein Song über den herzzerreißenden Gedanken, nach dem Tod von dem geliebten Menschen getrennt zu sein, sich aber eines Tages an einem Ort jenseits des Meeres wiederzufinden, für immer vereint", sagt Leo Wyndham zu dem in Wohlklang schwelgenden Folk-Song mit Neigung zu üppiger Schwärmerei.

    Es brauchte mehr als einen Durchlauf, bis die Songs auf "Shoals" ihre einnehmende Wirkung entfalten konnten. Im Alltags-Geschehen funktionierte das nicht. Erst am Abend, wenn sich die Dunkelheit wie ein verfremdender Schleier auf die reale Landschaft gelegt hatte, konnte die leichte Melancholie in Kombination mit rhythmischen Frischzelleninjektionen die angemessene Aufmerksamkeitsspanne erhöhen. Und dann passierte die Wandlung: Aus einem bisher durchschnittlichen Höreindruck wurde ein interessanter Lauschangriff, der seine verlockenden Duftstoffe hinterließ. Die Musik wurde also mit der für sie passenden Zeit verknüpft, so dass ihre emotionale Reife überspringen konnte.

    Die Erkenntnis über die Stärke dieser Klänge gelang erst über die Nutzung einer zweiten Chance. "Untiefe" ist demnach ein passender Titel für das Album, denn diese Bezeichnung hat eine Doppelbedeutung: Sie steht für eine geringe Wassertiefe genauso wie für eine große Tiefe. Und so unterschiedlich verhält es sich auch mit der Wirkung der Musik: Sie kann für seicht oder für komplex gehalten werden, je nach der Aufmerksamkeit, mit der man sich ihr widmet. Und sie wird intensiver, je mehr Zeit man ihr gönnt.
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    15.01.2022
    Klang:
    4 von 5
    Musik:
    4 von 5

    Blow erzeugen auf "Shake The Disease" aufreizende, unter Umständen sogar heilsame Klänge, die nicht verschreibungspflichtig sind.

    Wo ein Anfang ist, muss auch ein Ende sein. Und so ist zu vermelden, dass sich die Formation Blow aus Frankreich schon vor der Veröffentlichung ihres zweiten Albums "Shake The Disease", das am 14. Januar 2022 erscheint, aufgelöst hat. Quentin Guglielmi (Texte und Gesang), Thomas Clairice (Synthesizer und Bass) und Jean-Etienne Maillard (Gitarre) geben interne Differenzen für das Aus an, erklären aber auch, dass sie weiterhin unabhängig voneinander schöpferisch tätig sein wollen. Dennoch ist die Trennung bitter, denn das neue Werk präsentiert klug durchdachte, saftig produzierte Kompositionen mit Schwung und Tiefgang. Diese Kombination versprach interessante Zukunfts-Aussichten.

    "Meguro" ist ein Stadtteil von Tokyo. Dazu lässt sich jedoch weder aus dem kryptischen Text noch aus dem offiziellen Video zu dem Lied eine Verbindung ableiten. Der Song hört sich an, als würden Rhythmen und Melodie eine schlüpfrige Vereinigung von Sinnlichkeit und Leidenschaft anstreben. Der Bass rumort wie ein brunftiger Stier, die Gitarre kitzelt erotisch, schemenhaft wehende Synthesizer-Töne bringen Romantik ins Spiel und der Gesang vermittelt Vertrauen und verspricht ausgelassenen Spaß. Ein perfekter Schlafzimmer-Sound!

    Ein satter Bass, stimulierende Funk-Riffs, kitschig hervorgehobene, spitze, kreischende und klickende Gitarren sowie kribblig-aufregende Dynamik-Schwankungen lassen "Special" zu einem raffiniert-fordernden Dance-Track anschwellen. "Full Delight" pulsiert danach regelmäßig in forschem Tempo und wird dabei von einem erfrischend aufspielenden Schlagzeug als Taktgeber unterstützt, so dass sich die anschmiegsame Melodielinie nur schwer gegen diese eingeschwungenen, eilig voranschreitenden Gegebenheiten durchsetzen kann. Letztlich gibt es ein Remis zwischen der ausgeglichen-ruhigen Stimmlage und den sich sportlich-ausdauernd bewegenden Instrumental-Passagen.

    Für "Lost Your Soul" wird in einen desillusioniert-gleichgültigen Gesangs-Modus gewechselt. Die gedrückte Stimmlage bewegt sich entlang des Falsett und das vokale Tempo bleibt durchgehend langsam, wobei der Refrain gebetsmühlenartig wiederholt wird. Auf diese Weise entsteht ein Track, dessen Rhythmus sich zwar aufbäumt, aber zwangsweise an die Kette genommen wird, so dass er sich nicht aufmunternd auswirken kann. Die Melodie mag sich auch nicht so richtig behaupten und entfalten. Aufgrund der irritierenden Fremdartigkeit ist das Stück allerdings hörenswert, weil es ungewöhnlich gegenläufig konstruiert ist.

    "Keep On Fighting" beinhaltet eine deutliche Referenz an Daft Punk, Nile Rodgers-Gedächtnis-E-Gitarren-Akkorde inbegriffen. Der Song hat einen Killer-Groove, ist mit Hook-Lines gespickt und wirkt so euphorisierend, dass er das Lustzentrum des Gehirns lange Zeit blockiert, wenn er einmal gezündet hat. Ein Hit! "One Life" liebäugelt damit, die Gunst der Hörerschaft durch nüchterne Sachlichkeit zu erlangen. Das Tempo scheint gedrosselt zu sein, jedenfalls wird das Stück nicht von der Leine gelassen, damit der Club zum Kochen gebracht werden kann. Der Bass blubbert angenehm, das Schlagzeug swingt fröhlich, Synthesizer malen entweder sphärische Schäfchenwolken in den Äther oder geben munter ploppende Töne von sich. Und der Gesang streicht unauffällig-ausgleichend sowie versöhnend über das sachlich-lockere Geschehen hinweg.

    Mit einer Rhythmik, die aufgrund ihrer afrikanischen Wurzeln an Paul Simons "Graceland" erinnert, betätigt sich "Free Fallin" als mild gesonnener, weltmusikalischer Electro-Pop-Botschafter, der vermitteln, aber sich nicht in den Vordergrund drängen möchte. "Duality" ist ein kurzes instrumentales Zwischenspiel, das wie ein unvollendeter Track klingt, dem noch kein Gesang zugeordnet wurde.

    Der Song "Shake The Disease" gleitet quasi auf einer weichen, samtenen Noten-Oberfläche dahin. Ohne Ecken und Kanten verkörpert die Musik einen glatten Soft-Soul-Sound, der sich durch die einfühlsamen Harmonie- und Duett-Gesänge von Anna Majidson kuschelig anpasst, aber doch eine gewisse Distanzierung ausstrahlt. Diese Reibungen lassen das Lied bei allem Sanftmut unter der Oberfläche knistern. Mit "Scarlett Crush" verhält es sich ähnlich, auch wenn hier die Taktung etwas vehement-offensiver ausgelegt ist.

    "Otherline" erinnert an den sperrigen Soul und Psychedelic-Rock von Lewis Taylor, der sein unkonventionelles Erstlingswerk 1996 veröffentlichte und mit diesem ebenso wie mit seinem zweiten, erst vier Jahre später erschienenen Werk "Lewis II" leider kommerziellen Schiffbruch erlitt. Künstlerisch sind die Alben allerdings vom Feinsten. Break Beats, geheimnisvolle Fills und eine Stimme, die zu einem gebrochenen Mann zu gehören scheint, lassen "Otherline" auf eine kunstvolle Weise skurril, zerrissen und extravagant erscheinen. "Suicide Love" verbindet zum Schluss meditative, hingebungsvolle Momente mit aufblühend-hellen Bestandteilen, so dass ein absichtlich in sich verwickeltes und verdrehtes Erscheinungsbild entsteht.

    Blow erfinden die elektronische Pop-Musik auf Funk- und Soul-Basis nicht neu, sie legen aber mit "Shake The Disease" ein Zeugnis darüber ab, was alles in diesen Verbindungen an Möglichkeiten steckt. Das Trio beschränkt sich in ihrer Sinnsuche nicht nur auf den Party-Aspekt, sondern bringt auch eine Ebene der ernsthafteren Soundgestaltung mit ein. So entsteht ein Treffen von entgegengesetzten Kräften, die dem Yin & Yang entsprechen, was sowohl die Texte wie auch die Musik kennzeichnet. Deshalb kann das Album nicht nur als Spaß-Verstärker herangezogen werden, es funktioniert auch prächtig als ein Alltagsbegleiter, der unterschiedliche emotionale Ebenen vermittelt. Vielleicht können durch diese unterschiedlichen Stimulationen wirklich Krankheiten abgeschüttelt werden. Einen Versuch ist es auf jeden Fall wert. Schade nur, dass sich die Band trotz dieses überzeugenden Werkes getrennt hat, aber jedes Ende ist schließlich auch ein neuer Anfang!
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