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    LittleWalter Top 25 Rezensent

    Aktiv seit: 03. September 2010
    "Hilfreich"-Bewertungen: 1129
    480 Rezensionen
    In The Throes Buddy Miller & Julie
    In The Throes (CD)
    26.05.2024
    Klang:
    5 von 5
    Musik:
    5 von 5

    Americana Deluxe: Buddy & Julie Miller haben Maßstäbe gesetzt und sind immer noch eine Klasse für sich.

    Buddy & Julie Miller machen sich rar, was gemeinsame Veröffentlichungen angeht und deshalb ist es jetzt besonders erfreulich, dass es trotz der psychischen und Schmerz-Erkrankung von Julie wieder ein gemeinsames Album gibt! Hoffentlich ist das ein Zeichen dafür, dass es ihr besser geht!

    Buddy und Julie teilen sich die Gesangs-Aufgaben bei ihren Songs je nach Fundament und gewünschtem Ausdruck auf oder ergänzen sich stimmlich. Julie kann dabei erotisierend-frech, aber auch verletzlich-sensibel klingen, während Buddy das liebevolle Raubein darstellt. Das Paar beherrscht nicht nur kantigen Folk- und beherzten Garagen-Rock, sondern auch sanft-intime Balladen und zu Tränen rührende, dunkle Country-Schmachtfetzen. Das Ganze wird gerne zusätzlich noch mit einer Prise "Sweet Soul Music" versehen.

    Neben erlesenen Eigenkompositionen interpretieren die Beiden immer wieder delikate Stücke von Kolleginnen und Kollegen. Auf "In The Throes" befindet sich allerdings mit "Don`t Make Her Cry" nur ein Lied mit Fremdbeteiligung, hinter dem sich eine kuriose Entstehungsgeschichte verbirgt: Die Musikerin Regina McCrary war Ende der 1970er Jahre Mitglied der Tournee-Band von Bob Dylan. Ihr Vater ermahnte Bob damals mit den Worten: "Don`t Make Her Cry" und Jahrzehnte später versuchten McCrary und Dylan aus dieser Erinnerung ein Lied zu generieren, welches sie jedoch nicht vollenden konnten. Daraufhin riet Bob Dylan, das Fragment an Buddy Miller zu geben. Dieser gab die Vorlage an seine Frau weiter und jetzt kann die Überarbeitung auf "In The Throes" begutachtet werden.

    Somit ist Julie Miller direkt oder mit Vorleistung von anderen an allen Kompositionen beteiligt. Das Album ist quasi eine Erweckung für sie, da sie die Tracks in einer Phase von übersprudelnden Ideen verfasste. Eingebung, Kreativität und blindes Verständnis füreinander machten dann das neue Album überhaupt erst möglich. "In The Throes" ist erst die vierte offizielle Zusammenarbeit der Millers, zumindest was die Nennung beider Namen auf einer Platte angeht. Die Vorgänger-Werke waren "Buddy & Julie Miller" (2001), "Written In Chalk" (2009) und "Breakdown On 20th Avenue South" (2019).

    Auf ihren Solo-Platten unterstützten sich die Eheleute allerdings auch immer tatkräftig. Buddy Miller hatte daneben sogar die Ehre, beim wiederbelebten Projekt Band Of Joy von Robert Plant (so hieß seine erste Gruppe) mitzuwirken. Durch seine individuelle Persönlichkeit setzte er den Studio- und Konzert-Aktivitäten einen markanten Stempel als Musiker und Produzent auf. Buddy & Julie Miller haben 1981 geheiratet und alle musikalischen Aktivitäten, die sie seitdem unternommen haben, sind außergewöhnlich: voller Wärme, Leidenschaft und Originalität. Da bildet auch "In The Throes" keine Ausnahme.

    Für die Liebeserklärung "You’re My Thrill" legt Julie ihre ganze Sensibilität in die Waagschale und singt mit einer zerbrechlich-durchdringenden Stimme, die eine tief empfundene Sehnsucht und eine starke Verletzlichkeit ausdrückt. Die geschmeidig-entspannt ablaufende Ballade transportiert ruhig-wohlige Töne, die in einem eindringlich-schönen Refrain und einer sanften Melodie münden. Traumhaft!

    Der Song "In The Throes" erzählt von Existenz bedrohenden Gefühlen, die jemand nach einer Trennung erfährt. Es ist so, als würde einem der Boden unter den Füßen weggerissen werden ("Ich bin so hilflos und niedergeschlagen..."). Diese Situation spielt sich in einem trocken rockenden Stück ab, das eher Wut als Trauer vermittelt.

    "Und als er meine Hand schüttelte, fühlte es sich wirklich an. Wie die Kraft der Liebe, die dein Herz zum Schmelzen bringt", heißt es bei "Don’t Make Her Cry" aus der Sicht von Bob Dylan, der diese innig flehenden Worte vom Vater seiner Band-Kollegin Regina McCrary hörte, der damit um Schutz für seine Tochter bat. Das muss Dylan stark beeindruckt haben, weil diese Begegnung noch viele Jahre später zu einer Song-Idee führte. Regina McCrary steuert nun bei der Verwirklichung Hintergrund-Gesang bei und Buddy Miller übernimmt die selbstbewusste, aber melancholisch angehauchte leitende Stimme. Julies Harmonien sind sehr dezent, der Bass brummt übersteuert, das Schlagzeug wird mehr getupft als geschlagen, die Orgel zischelt verhalten im Hintergrund und die E-Gitarre füllt manche Sound-Lücken malerisch aus. Und fertig ist ein gefühlsbeladener Americana-Pop-Song, dem man die Bob Dylan-Kompositions-Beteiligung nicht unbedingt anhört.

    "Niccolo" ist eine feine Mischung aus hymnischem Country-Folk, reifem Pop, romantischem Bluegrass und robustem Roots-Rock mit Ohrwurm-Garantie. Einmal im Gehörgang angekommen, setzt sich der Song dort unweigerlich für eine lange Zeit fest.

    Im Duett beteuern Julie und Buddy bei "I Love You" poetisch ihre Liebe zueinander. Der Song wurde als kraftvolle Ballade mit omnipräsentem Schlagzeug konzipiert und entwickelt im Verlauf eine sich steigernde Sogwirkung.

    "The Last Bridge You Will Cross" ist dem Kongressabgeordneten und Bürgerrechtler John Robert Lewis gewidmet. Er hat in seinem Leben starke Signale in Richtung Gleichberechtigung, Frieden und Vergebung ausgesendet, starb aber leider im Jahr 2020. Zusammen mit Martin Luther King organisierte er 1963 den berühmten Marsch auf Washington, der in der denkwürdigen "I Have A Dream"-Rede mündete. 1965 wurde er beim ersten von ihm initiierten Selma-nach-Montgomery-Marsch (der als "Bloody Sunday" in die Geschichte einging) durch Polizeigewalt schwer am Kopf verletzt. Trotzdem setzte er sich mit einem unerschütterlichen Kampf für Vergebung, Gerechtigkeit und die Beendigung der Rassentrennung ein. Intim und in sich gekehrt untermalen Buddy & Julie ihre Ehrenbekundung an ihn, die stimmlich von Emmylou Harris veredelt wird. Gemeinsam erzeugen die Musiker und Musikerinnen eine sakrale, feierliche Stimmung, deren andächtige Wirkung man sich nicht entziehen kann.

    "The Painkillers Ain’t Workin’" ist eine erschütternde Zustandsbeschreibung über Julies Schmerz-Attacken ("Es fühlt sich an, als ob unter dem Bett, auf dem ich liege, Feuer brennt"). Trotzig stemmt sich die Musik mit akustischen und elektrischen Folk-Rock-Klängen gegen die entsetzliche Lage und es werden Rhythmen eingebaut, die aus dem arabischen Raum als aufmunternder Trost hinzugeweht sein könnten.

    "I Been Around" ist ein dreckig-kaputter Blues-Rock, für den Julie wie in Trance, im Rausch oder leicht betäubt singt. Alex Chilton hätte seinen Spaß an dem destruktiven Zustand des Songs gehabt. In der Nacht fiel Julie das gesamte Lied ein und da ihr Mann gerade im hauseigenen Studio war, konservierten sie eine spontane Version, die gleich darauf von Buddy weiter bearbeitet wurde. Danach vergaßen sie die Aufnahme. Beim Sichten der Demo-Tapes fand Buddy sie zufällig wieder und brachte sie in den ursprünglichen, spröden Zustand aufs Album.

    Bei den zärtlichen Country-Folk-Balladen "Tattooed Tear" und "I’ll Never Live It Down" ist Buddy der Chef im Ring. Neben den akzentuierten Gitarren- und Piano-Tönen trägt sein erzählerisch-markanter Gesang sehr zum demütigen Ausdruck der Songs bei.

    Karger Hillbilly Folk + eingängiger Pop + eindringliches Gospel-Feeling = "We’re Leavin’". Auf diese einfache Formel kann man die Bestandteile dieses Lieds, das mit unbekümmerter Aufbruchstimmung wirbt, vielleicht verdichten.

    Zum Abschluss gibt es mit "Oh Shout" noch einen unspektakulären Pop-Song, in den ein kindlich-alberner Singsang eingebaut wurde. Das soll anscheinend eventuell vorhandene trübe Gedanken vertreiben.

    Zusammengefasst ist "In The Throes" wieder ein tolles Album von Buddy & Julie Miller geworden. Das war auch nicht anders zu erwarten. Aber es ist natürlich schön, wenn Vorfreude in wahre Begeisterung umschlägt und dieses Gefühl auch nach einigen Hördurchgängen immer noch anhält. Das mag daran liegen, dass das Ehepaar einen souverän-wirksamen Umgang mit den Instrumentarien des Americana-Sounds beherrscht. Ihre Songs besitzen nicht nur Strahlkraft, sondern verbreiten auch Empathie und Herzblut. Sie wirken nach, bleiben im Gedächtnis und sind scheinbar keinem Alterungsprozess unterworfen. Das sind die Qualitäten, aus denen Evergreens gemacht werden!
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    Sahel Bombino
    Sahel (CD)
    22.05.2024
    Klang:
    4 von 5
    Musik:
    4 von 5

    Die Wüste lebt: Bombino vermittelt mit Vehemenz und Sanftmut zwischen Tradition und Gegenwart.

    Es ist eine Binsenweisheit, dass Musik eine universelle Sprache ist und dennoch gilt weiterhin der anglo-amerikanische Raum als hauptsächliche Brutstätte und Region der alleinigen Rechte-Inhaber, was die Erzeugung von stilprägender Pop- und Rock-Musik angeht. Afrika hat da kaum jemand auf dem Schirm. Und das trotz solch vorbildlicher Künstler wie Fela Kuti oder Angelique Kidjo. An manche Ohren ist allerdings schon der Sound von Tuareg-Gruppen wie Tinariwen oder Tamikrest aus Mali gedrungen, der umgehend den Stempel Wüsten-Trance-Rock verpasst bekam.

    In diese Schublade passt auch Bombino, der schon mit Dan Auerbach von The Black Keys im Studio war und deshalb beinahe als etabliert angesehen werden kann. Und das aus gutem Grund, denn seine Musik ist gar nicht so weit weg vom Blues, Folk oder Garagenrock der Kollegen aus den USA. Der Sänger, Gitarrist und Komponist Bombino stammt aus Niger und gehört dem Nomaden-Volk der Tuareg an, das ursprünglich in der Sahara lebte. Er wurde am 1. Januar 1980 als Goumour Almoctar geboren und als Muslim erzogen. Seine Eltern lehrten ihn, Ehre, Würde und Großzügigkeit als Lebensprinzipien anzuwenden.

    In erster Linie waren die Tuareg Händler. Da sie aber gegen den Kolonialismus und eine strenge Auslegung des Islam rebellierten, haben sie sich den Ruf von erbitterten Kämpfern erworben. Bombino kämpft aber nicht der Waffe, sondern mit Worten für mehr Anerkennung für sein Volk. Im Sinne der Tuareg-Traditionen wurde der Sohn eines Automechanikers von seiner Großmutter erzogen, bis er 1990 mit seinem Vater und seiner Oma aufgrund eines Bürgerkriegs nach Algerien fliehen musste. Dort begann er, sich das Gitarre spielen selber beizubringen. Als 1992 im Niger die Militärregierung durch eine demokratisch gewählte Institution abgelöst wurde, kehrte Bombino in seine Heimat zurück. Hier erhielt er dann professionellen Gitarrenunterricht bei dem angesehenen Musiker Haja Bebe und wurde Mitglied seiner Band. Und da er der jüngste der Gruppe war, nannten ihn alle Bombino, was "kleines Kind" bedeutet. Da sein Vater nicht wollte, dass er Musiker wurde, zog er nach Libyen, arbeitete dort als Hirte und hatte nebenbei genügend Zeit, um seine Gitarren-Technik zu verbessern. Es stellten sich auch bald erste musikalische Erfolge ein und Begegnungen mit Musikern der Rolling Stones stärkten seinen guten Ruf. 2011 erschien dann das erste international veröffentlichte Album "Agadez", gefolgt von dem von Dan Auerbach produzierten "Nomad" aus 2013. In Woodstock entstand 2015 "Azel" und "Deran" wurde 2017 in Casablanca (Marokko) aufgenommen.

    Das aktuelle Album "Sahel" bezieht sich auf das Leben in der Sahel-Zone, zu der die Staaten Senegal, Mauretanien, Mali, Burkina Faso, Niger, Tschad und Sudan gehören. Sahel ist arabisch und bedeutet so viel wie "Küste" oder "Ufer der Wüste". Das Werk besteht aus zehn Songs, die sowohl persönliche Belange als auch politische Themen behandeln. Die hierzu verwendete Sprache ist Tamasheq, die Muttersprache von Bombino.

    Der Opener "Tazidert" (= Geduld) groovt wie Hölle! Als würden Neil Young & Crazy Horse, Can und Sly & The Family Stone um die Wette spielen. Es kommen also druckvolle Energie, verzückende Rauschhaftigkeit und erfrischende Lebensfreude zusammen. Der Rhythmus ist elektrisierend, herrlich primitiv und hypnotisch. Psychedelische Gitarren bringen die Hörerschaft um den Verstand, dezent zischende Synthesizer-Töne stellen die Verbindung zum Jenseits her und die Stimmen beschwören uralte Geister, die im Gehirn Endorphine freisetzen, sodass der wirbelnde akustische Irrsinn in Freude und Lust umgewandelt wird. Magisch, gewaltig, euphorisierend!

    "Alwane" (= Gedanken und Erinnerungen) zeigt danach eine folkloristische Ausrichtung mit transparenten, freundlichen, unverstärkten Tönen. Der mehrstimmige Gesang lässt einen ausgeprägten Gemeinschaftssinn und ein inniges Zusammengehörigkeitsgefühl inmitten einer rauen, lebensfeindlichen Umwelt und politisch instabilen Lage bildlich werden. Das Lied richtet sich an einen Freund, der in seiner Jugend einen Fehler gemacht hat, der sich negativ auf sein ganzes Leben ausgewirkt hat. Der Text beinhaltet die Botschaft, "weise und vorsichtig zu sein, denn das Leben ist zerbrechlich".

    Die scharfe, schneidende und quengelnde E-Gitarre von "Aitma" (= Mein Volk) ist das auffallendste Merkmal des flotten Garagen-Rockers, der von einer unnachgiebig vorwärtsdrängenden Percussion angetrieben wird. Das Lied ruft die Tuareg zur Solidarität auf, damit ihre Kultur erhalten bleiben kann.

    Tendenziell ist "Si Chilan" (= Zwei Tage) ein Pop-Song, aber einer mit einem locker swingenden Takt und einem abenteuerlichen, die Sinne betäubenden E-Gitarren-Solo. Das lockere Stück hat jedoch einen ernsten Hintergrund. Es erinnert an die Verfolgungen und Ungerechtigkeiten, die den Tuareg in den 1980er Jahren angetan wurden.

    Das ruhige "Ayo Nigla" (= Komm, lass uns gehen, mein Liebling) kann musikalisch mit Country-Folk verglichen werden. Der Track transportiert Gefühle der Einsamkeit und der Melancholie, die in einer bittersüßen Melodie verpackt sind. Kein Wunder, denn es geht um eine enttäuschte Liebe.

    Aufstachelndes Tuareg-Jodeln, sich hingebungsvoll umwerbende E-Gitarren und ein stoisches Schlagwerk-Stakkato machen aus "Darfuq" (= Die Sonne und der Mond, göttliche Macht) einen euphorischen Hypno-Rocker. Demütiger Glaube und Ehrfurcht vor der Natur liegen diesem Stück als Haltung zugrunde.

    "Ayes Sachen" (= Dieses Leben ist schwierig) lehnt sich an den Reggae-Rhythmus an. Bombino lässt seine E-Gitarren-Töne elegant fließen und die Percussion trägt geschmeidige Zutaten bei. Somit wird eine gelöste Stimmung erzeugt, obwohl sich die Poesie mit quälenden Problemen beschäftigt. Nämlich mit dem Misstrauen und Verrat zwischen sich nahe stehenden Personen.

    Für "Nik Sant Awanha" (= Meine Brüder, ich kenne unsere Situation) kommen eine wohlige Easy-Listening-Atmosphäre, eine bedächtige Swing-Beweglichkeit sowie stoische Minimal-Music-Abläufe und würdige afrikanische Klänge für ein harmonisches Stelldichein zusammen. Dabei ist das Lied eine Warnung an die Tuareg: Sie sollen sich weder spalten lassen, noch ins Exil gehen, sondern nach Freiheit streben. Zurzeit sind sie nämlich in keiner Regierung der Sahel-Zone vertreten und deshalb werden ihre Interessen nirgends berücksichtigt.

    "Itisahid" (= Ich denke an dich, meine Geliebte) kann sozusagen als Trance-Folk bezeichnet werden. Das Stück wird mit Akustik-Gitarren- und Gesangs-Loops versorgt, sodass der Eindruck eines Klang-Strudels entsteht. Die Erinnerungen an eine glückliche Beziehung, die durch eine plötzliche Trennung zerstört wurde, werden thematisiert. Dieser Schock-Zustand kann einem psychischen Schwindel gleichen, was akustisch ausgedrückt wird.

    Mit "Mes Amis" (= Meine Freunde) kommt "Sahel" langsam und sanft, mit zurückhaltenden Tönen, die Gedanken an eine unerwiderte Liebe begleiten, zum Ende.

    Durch seinen ausgeglichenen Gesang, der auch in den krachenden Momenten keine Spur von Aggressivität aufweist, gibt Bombino die Grundhaltung seiner Lyrik vor: Leben und leben lassen. Neben einer J.J. Cale-Lässigkeit und einer Crazy Horse-Raubeinigkeit ist es vor allem die spezielle, verzaubernde afrikanische Exotik, die der Musik ihren besonderen Charme verleiht. "Sahel" ist ein Werk, das sich auch bei völliger Unkenntnis über afrikanische Musik-Kulturen ohne Störgefühl durchhören lässt. Es biedert sich nicht an anglo-amerikanische Musik an, sondern durchdringt sie und stellt eine Fusion dar, die clever, reizvoll und zugänglich ist. Die Platte zeichnet sich durch ein hohes Maß an Mitgefühl und Leidenschaft aus. "Sahel" besitzt aufgrund der Integration verschiedener Kulturen zudem eine ähnlich verbindende Wirkung wie "Graceland" von Paul Simon.
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    Eat The Worm Jonathan Wilson
    Eat The Worm (CD)
    22.05.2024
    Klang:
    5 von 5
    Musik:
    5 von 5

    Das bunt schillernde Art-Pop-Album "Eat The Worm" ist mit verblüffenden Sound-Eskapaden und etlichen Künstler-Verweisen gespickt.

    Eine beliebte Mutprobe unter Kindern ist: Wer traut sich, den Regenwurm zu essen? Jonathan Wilson hat diese Herausforderung wahrscheinlich angenommen. Er traute sich so was, kann man sich zumindest vorstellen. Denn er beweist schon seit langer Zeit künstlerischen Mut. Für sein fünftes Werk "Eat The Worm" hebelt er nämlich mit leichter Hand konventionelle Song-Strukturen ohne Rücksicht auf kommerzielle Gesichtspunkte aus. Dennoch hält er vertraute Töne in der Hinterhand aufrecht. Ein Kunststück und eine wagemutige Angelegenheit, die sich lohnt und durch eine hohe Attraktivität auszahlt.

    Manchmal bedarf es eines Erlebnisses, das einen aus der Komfortzone holt und die bisherigen Vorstellungen auf erfrischende Weise durcheinanderbringt. Jonathan Wilson hatte solch eine magische Erfahrung, als er eines Abends zufällig den Track "Warm Rumours" von Jim Pembroke hörte. Ein völlig überdrehtes Vaudeville-Pop-Gebilde mit langer Ansage sowie wilden Dynamik-, Tempo- und Melodie-Varianten. Das hat Wilsons Kreativzentrum frei geblasen und ihn zu unkonventionellen Ideen inspiriert.

    Das erste Ergebnis, das sich aus der Arbeit des nächtlichen Improvisierens und der Begegnung mit dem Hirn öffnenden Sound von Jim Pembroke ergab, war "Marzipan". Ein schlurfender, am Ragtime-Jazz angelehnter Rhythmus gibt das gemächliche Tempo vor und Jonathan erzählt von musikalischen Prägungen: Hank Williams, Folk, Country, Jazz - das alles waren Einflüsse, aber eigentlich war der Rock & Roll bei ihm die treibende Kraft. Das Piano romantisiert, Streicher weinen Tränen, die voller Bedauern sind und das Schlagzeug wird vom Besen gestreichelt, wodurch automatisch eine sehnsuchtsvolle Rückblick-Taste gedrückt wird. Wilson vermittelt auf diese Weise Sensibilität, lässt die Komposition auf einer weichen Ebene laufen, baut Effekt-Überraschungen ein und versteht es, eine wohlige Stimmung zu erzeugen, die nicht in Gefühlsduselei versinkt.

    Künstlich erzeugte tropfende und hämmernde Töne, daneben Chor-ähnliche Stimmen, die vom zusammenschweißenden Leid der Gesänge von den Baumwollfeldern der USA-Südstaaten oder von römischen Galeeren inspiriert sein könnten, bilden das Empfangs-Komitee für "Bonamossa" und kehren zyklisch wieder. Das ist ein Lied, in dem sporadisch auf den Blues-Musiker Joe Bonamassa Bezug genommen wird. Warum nur gibt es beim Titel mit "Bonamossa" eine andere Schreibweise? Im Hintergrund lässt eine Maultrommel fast durchgängig eine ländliche Atmosphäre entstehen, während Geigen, Orgel und Bass mit erregenden Tönen den Ernst des Lebens symbolisieren. Ein perlendes E-Piano, kurze Jazz-Trommelwirbel und eine E-Gitarre im psychedelischen Pink Floyd-Modus mischen das Stück gegen Ende noch moderat auf. Die verwendeten Elemente passen eigentlich gar nicht zusammen, ergeben aber dennoch aufgrund der kompositorischen Kompetenz von Mr. Wilson einen Sinn.

    "Ol' Father Time" bringt dem Art-Pop den Groove bei, wobei barocke Motive neben Space-Sounds bestehen und sogar swingen können. Komplexe Strukturen müssen also nicht unbedingt kopflastig und schwierig zu verstehen sein, jedenfalls sind sie es hier nicht.

    Jonathan untermalt die akustische Folk-Ballade "Hollywood Vape" mit blubberndem Synthesizer-Schwirren und wild-orgiastischen Underground-Rock-Attacken. Das Lied übt Gesellschaftskritik und prangert die krassen gesellschaftlichen Gegensätze im "Land Of The Brave And The Free" an: Während manche Menschen in ihrem Van auf der Straße leben müssen, streben Super-Reiche die Kolonialisierung anderer Planeten an. Denen fehlt mindestens der Blick für das Wesentliche, von dem nicht besonders ausgeprägtem Anstand wollen wir gar nicht erst sprechen!

    In "The Village Is Dead" wird der Niedergang des Künstlerviertels Greenwich Village in New York beklagt. Und zwar nicht weinerlich, sondern aufrüttelnd-kämpferisch. Die Geigen erzeugen einen Klang-Sturm, das Schlagzeug wühlt sich unermüdlich durch das Geschehen und der Gesang klärt auf. Er verkündet wütend den Tod der Kreativzelle, wo einst originelle Avantgarde-Künstler wie Moondog zu Hause waren und ehrgeizige Folk-Musiker wie Bob Dylan groß wurden.

    Brasilianische Rhythmen versprechen bei "Wim Hof" eine Aussicht auf Leichtigkeit und Entspannung. Der Song verharrt jedoch in einer bedächtigen, grau gefärbten Stimmung, die eine weiche Melancholie verbreitet. Wim Hof ist ein niederländischer Extremsportler, der seine Fitness auf eine Mischung aus Eisbaden, Atemtechnik und Meditation zurückführt. Laut Song-Text hat Jonathan mit Wim Hof in einem Tauchbecken abgehangen, das kann aber auch ein Bestandteil eines Rauscherlebnisses sein, welches Wilson mit Daniel Lanois hatte, als sie sich spirituell dem Blues-Musiker Lightnin` Hopkins näherten. Oder das Ganze ist der blühenden Fantasie von Jonathan Wilson entsprungen. Manchmal möchte man die Wahrheit gar nicht wissen... Sie kann nämlich Illusionen zerstören.

    Das nachfolgende "Low And Behold" setzt sich aus zwei Bestandteilen zusammen: Einem ruhigen, ausgeruhten Folk- und einem bedrohlich brausenden kammermusikalischen Teil. Das hinterlässt den Eindruck, als hätten sich Neil Young und Van Dyke Parks zu einer Session getroffen.

    Charlie Parker war ein amerikanischer Saxophonist und Komponist, der entscheidend zur Entwicklung des Bebop beigetragen hat. Dafür brach er Mitte der 1940er Jahre aus den damals populären, aber relativ schlichten Anordnungen des Swing aus und erfand stattdessen abenteuerliche, herausfordernde Ausdrucksformen. Parker taucht beim Stück "Charlie Parker" als Traumsequenz auf, in der Jonathan Scat-Gesang zu Parkers "Lullaby In Rhythm" beisteuert. Auch Kurt Elling und Al Jarreau kamen in dieser Gespinst mit ihren besonderen Sangeskünsten vor. Und wie es bei einem ereignisreichen Traum-Geschehen üblich ist, hat auch dieser Song unterschiedliche Ereignisebenen. Die reichen von ausgeruhten Chanson-Beiträgen über durch Klassik infizierte Zwischenspiele sowie Heavy- und Country-Rock-Aromatisierungen bis hin zu Charlie-Parker-Jazz-Anleihen. Dieses Wirrwarr wurde unter den bewährten Händen ihres Schöpfers zu einer spannenden Pop-Sinfonie veredelt.

    "Hey Love" ist danach als Auflockerung ein schlichtes Liebeslied, das Jonathan an seine Frau, die Künstlerin Andres Nahkla (die auch für die Cover-Gestaltung von "Eat The Worm" verantwortlich ist) gerichtet hat. Schlicht bedeutet in diesem Fall aber auf keinen Fall banal, sondern heißt einfach, dass der Song ohne große Verwerfungen, bizarre Abläufe und Ideen-Bombardements auskommt. Schlicht ist in diesem Fall gleichbedeutend mit wohltuend harmonisch und ausgeglichen zu verstehen.

    Die Abkürzung "B.F.F." bedeutet "Best Friends Forever". Zu denen gehört aus Sicht von Jonathan für ihn sicherlich nicht John Mayer, denn er fordert seinen Kopf, weil er ihn für einen Betrüger hält. Es ist ja vielleicht nur sein lyrisches Ich, welches diesen Ausspruch wagt. Die Ballade enthält jedenfalls dramatische Züge, mit Tendenz zur Verzweiflung. So ein kalter, nach der Seele greifender Gefühlsausbruch wie bei "A Salty Dog" von Procol Harum ist gemeint. Bauschige Streicher im Kontrast zu hellen Vibrafon-Klängen und sanften Piano-Tönen bilden die eindringlichen Streichel- und Reibungspunkte dieses Liedes, das in einem raffiniert-beseeltem Ton-Taumel badet.

    Zärtliche Schönheit hat einen Namen und der lautet "East LA". Diese Ballade, die zunächst nur aus Piano, Bass und Gesang besteht, rührt in seiner Intimität und Verletzlichkeit zu Tränen. Im Verlauf werden weitere Zutaten, wie dezent flirrende Synthesizer-Schwingungen, disziplinierter Duett-Gesang mit sich selbst, gefühlvolle Bläsersätze, die direkt aus "After The Goldrush" von Neil Young stammen könnten, sphärisches Mellotron- und Geigen-Rauschen und wuchtige Trommel-Schläge zugesteuert. Das führt zu einer opulenten Verdrehung von innigen Emotionen.

    Das majestätische "Ridin' In A Jag" zeigt sich zum Abschluss unterschwellig dem Country und Folk verbunden, hängt aber mit dem Kopf in den Wolken und legt großen Wert auf ein zaghaft-wehmütig schwingendes Klangbild.

    Der 1974 in North Carolina geborene Jonathan Wilson trat 1997 mit seiner schwerblütig dröhnenden Band Muscadine erstmals öffentlich in Erscheinung. Seitdem hat er eine enorme kreative Entwicklung durchlaufen. Er ist nicht nur als Solo-Künstler ständig gereift, sondern hat sich auch als Gitarrenbauer sowie als Produzent, Komponist oder Begleitmusiker von unter anderem Roger Waters, Roy Harper, Dawes, Father John Misty und Sam Burton einen Namen gemacht.

    „Ich hab endlich das Gefühl, einen Weg gefunden zu haben, um die Dinge so auszudrücken, wie sie mir vorschweben", bewertet Jonathan Wilson das Ergebnis von "Eat The Worm". Die meisten Instrumente spielt der Tüftler hier selber. Diese Töne sind aber häufig die unaufdringlichen, die sich bescheiden zwischen die auffälligen Noten schummeln. Keyboards, Streicher und Bläser setzen die deutlicheren Duftmarken, bilden die Sound-Highlights und brechen mit den Sound-Erwartungen.

    Das Werk ist üppig: Üppig an Einfällen, üppig an Wendungen, üppig an Gefühlsregungen. Den Songs hört man den langen Reifungsprozess an, weil viele Tonspuren vorhanden sind. Denn die Versuchung ist groß, bei genügend Zeit zur Entwicklung immer mehr Ideen unterbringen zu wollen. Dennoch hören sich die Stücke nicht überladen an, weil die Details meistens fein voneinander getrennt wurden, und wenn sie sich dann doch mal überlagern, gibt es keinen Bombast-Einheits-Brei.

    "Eat The Worm" ist ein Lehrstück in zwölf Akten (die Vinyl-Version enthält noch den Bonus-Track "Stud Ram"), bei dem demonstriert wird, wie anspruchsvolle Kompositionskunst mit unterhaltsamen Zutaten zusammengebracht werden kann. Intellekt und Instinkt ergänzen sich dabei fabelhaft. Anspruch und Spaßfaktor haben eine ausgewogene Balance gefunden, sodass die Musik noch lange genüsslich nachwirken kann.
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    21.05.2024
    Klang:
    5 von 5
    Musik:
    5 von 5

    Die bedeutungsschweren Baudelaire-Gedichte erhalten durch Susannas eindringlich-klaren Gesang und der verwinkelten, raumfüllenden Orchesterbegleitung ein geheimnisvoll-verführerisches Antlitz.

    Die norwegische Sängerin, Pianistin und Komponistin Susanna Karolina Wallumrød pflegt eine intensive Beziehung zur Poesie des französischen Dichters Charles Baudelaire, der mit seinem Gedichtzyklus "Les Fleurs Du Mal" ("Die Blumen des Bösen") von 1857 ein wegweisendes Werk im Spannungsfeld zwischen der Sehnsucht des Geistes und dem Schmerz der Realität verfasste.

    Susanna widmete schon 2020 die Platte "Baudelaire And Piano" und 2022 das Album "Elevation" der morbiden Sprachkunst des Franzosen. Nun bringt die bedeutende Künstlerin - die auch als Susanna & The Magical Orchestra oder Susanna & The Brotherhood Of Our Lady bekannt ist - seine "Les Fleurs Du Mal"-Poesie und ihre Vertonungen noch einmal in einem großen Rahmen mit Unterstützung des Norwegian Radio Orchestra zu Gehör. Hierbei handelt sich um acht Eigenkompositionen und drei Tracks von Stina Stjern, die auch Effekte und Stimme beisteuert. Dazu gehört auch das eröffnende "Sarcophagi": Über ein Hintergrundbrummen werden Stimmenfetzen und Geräusche eingeblendet. Stina zitiert das Gedicht "Alchimie De La Douleur", das sich anhört, als würde es über einen Lautsprecher in der Metro übertragen werden.

    Für "Obsession" baut das Orchester eine spannungsgeladene Dramatik auf, so als würde gleich Steven Spielbergs "Der Weiße Hai" aus dem Lautsprecher auftauchen. Diese Ton-Urgewalt bricht nach 40 Sekunden urplötzlich ab und Susannas helle Stimme erscheint wie Phoenix aus der Asche und wird leise von sinfonischer Hingabe umsorgt, gehegt und gepflegt.

    Bei "The Ghost" wird die Beziehung zwischen dem Lead-Gesang und dem Orchester noch intensiviert. Ein gegenseitiges Abtasten und Austesten der Erwartungen führt bei dieser nach einer Joni-Mitchell-Ballade klingenden Elegie zu einer innovativ-originellen Symbiose der sensibel agierenden Klang-Elemente.

    Melodische Lieblichkeit zeigt sich bei "Burial" im Wechsel mit blankem Schaudern, denn textlich geht es um den Horror einer Beerdigung, der in gruseligen Einzelheiten geschildert wird ("Dort wird die Spinne ihre Netze weben und die Viper ihre Brut gebären").

    In "Heavy Sleep" lässt Stina Stjern albtraumhaft wilde Bandschleifen von der Kette, die wie eine Schar von Ratten Angst und Panik verbreiten.

    Der Song "Destruction" füllt die Zeilen "Der Teufel, der fleißig an meiner Seite ist, infiziert die Luft mit vager, unmerklicher Unruhe. Ich schlucke sie und fühle, wie meine Lunge brennt und sie mit einer endlosen schuldigen Lust anschwillt" mit Leben. Nervöse Streichinstrumente bilden das Intro. Der Gesang wirkt ängstlich-eingeschüchtert, will aber Tapferkeit vortäuschen und arrangiert sich deswegen halbwegs mit den wirbelnd-unsicheren Ton-Kaskaden.

    "Rewind" ist ein weiteres kurzes Klangexperiment von Stina Stjern mit unorganischem Rauschen und Fiepen, das zu "Longing For Nothingness" überleitet, wo die befremdlichen Noten zunächst aufgegriffen, dann aber wieder abgestreift werden, was sich trotz des deprimierenden Themas noch zu einem lieblichen Lied auswächst: "Alte Freuden, locken dieses grübelnde Herz nicht mehr! Der Duft des Frühlings ist für immer verschwunden", heißt es da.

    Obwohl sich bei "Alchemy Of Suffering" eine bedrückende Befindlichkeit breit macht, keimt in manchen Schwingungen eine neue Hoffnung. Das Norwegian Radio Orchestra bringt das Kunststück fertig, in den schwingenden Instrumentalbögen sowohl Schrecken als auch Ermunterung darzustellen. Zum Ende des Tracks mischt sich dann Stina Stjern mit ihrem Effekt-Baukasten unter die zunehmend apokalyptisch klingenden Partituren.

    Diese Phase wird mit "Elevation" aufgelöst und weicht einer milderen Melancholie mit leidenschaftlich wallenden und hüpfenden Instrumental- und Vokal-Beiträgen.

    "The Vampire" zieht dann einen entschlossenen, nach Tatendrang klingenden Schlussstrich unter die anspruchsvolle Baudelaire-Würdigung.

    Die Baudelaire-Texte verbreiten keine positive Haltung, sind aber hinsichtlich ihrer Wortgewalt sehr anregend. Es ist Susanna hoch anzurechnen, dass ihre Vertonungen zwar angemessen ernsthaft-dunkel, aber nicht so bleiern-niederschmetternd wie es manche Aussagen sind. Die Orchestrierung sorgt für Wucht, Fülle und Dynamik. Susanna reichert die raffiniert verschachtelten Arrangements mit ihrem prominent herausgestellten, feingliedrigen Gesang, der sich wie ein über dem üppigen Orchester-Geschehen schwebendes Instrument anhört, attraktiv an.

    Deshalb ist dieses Gefüge mehr als nur eine Dichterlesung mit Musik. Es ist eine eigenständige Darstellung der Gefühlswelten, die die düsteren Schilderungen und bedrohlichen Situationen von Baudelaire auslösen können. Das Orchester erschafft eine Sound-Kathedrale, die als eigenständiges Gebäude nur für die Realisierung dieser Fusion aus Lyrik, Mystik und akustischer Ergriffenheit da ist. Ursache und Wirkung der emotionalen Beeinflussungen durch Gedanken und Klänge treten in eine Wechselwirkung ein, sodass sich Buchstaben und Noten gegenseitig künstlerisch aufwertend ergänzen. Klassische Literatur wird auf diese Weise für ein Pop-Publikum nachvollziehbar und spannend aufbereitet.
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    Through And Through Baby Rose
    Through And Through (CD)
    21.05.2024
    Klang:
    4 von 5
    Musik:
    4 von 5

    Vielfalt ist ihr zweiter Vorname: Baby Rose kann auf ihrem neuen Album eine Song-Kollektion vorlegen, die eine große Bandbreite aufweist.

    Wollte man die Künstlerin Baby Rose mit nur einem Adjektiv beschreiben, dann kommt als erstes "vielseitig" in den Sinn. Sie ist anscheinend eine Alleskönnerin, die mit verschiedenen Stilen wie Soul, Funk und HipHop so souverän umgeht, als hätte sie diese Musikrichtungen erfunden.

    Baby Rose wurde als Jasmine Rose Wilson in Washington D.C. geboren und wuchs in Fayetteville, North Carolina auf. Sie fand über die Eigenart, dass ihre Stimmlage tiefer war als bei anderen Kindern und Jugendlichen in ihrem Alter, zur Musik. Mit Singen, Komponieren und Klavier spielen konnte sie daraufhin ihre Persönlichkeit ausdrücken und formen. Es gelang ihr auf diese Weise, sich ihren Idolen Billie Holiday, Nina Simone und Janis Joplin zu nähern und ihre ganze Gefühlswelt in die Noten zu legen. 2019 erschien dann ihr erstes Album mit dem Titel "To Myself" und am 28. April 2023 schob sie das zweite Werk "Through And Through" mit elf Eigenkompositionen nach.

    Der Rhythmus schlängelt sich lasziv und cool durch "Go", dem ersten Lied auf der Platte. Baby Rose lädt die Atmosphäre durch ihren flehenden Gesang temperamentvoll auf. Und wenn dann noch die sinnlichen Background-Ladies in den Reigen einfallen, dann ist eine knisternd erotische Stimmung, wie sie Marvin Gaye 1973 für "Let`s Get It On" aufgebaut hat, zum Greifen nahe.

    Bei "Fight Club" fahren die treibenden Bass-Trommeln druckvoll in die Gehörgänge. So dumpf wie Schläge in die Magengrube. Perlend-spritzige Keyboard-Töne sorgen für ein Gegengewicht und die Duett-Partnerin Georgia Anne Muldrow tauscht sich unterdessen im Call & Response-Stil auf zart flüsternde Art liebenswürdig-bedachtsam aus.

    Die Ballade "Dance With Me" bekam einen dröhnend-kraftvollen Takt verordnet, sodass die Traurigkeit des leidenschaftlich leidenden Gesangs nicht ganz so bedrückend ins Gewicht fällt.

    Bei "Paranoid" wird es sentimental, die intim-verwinkelte jazzige Instrumentierung verhindert aber ein Abgleiten in schmalzige Gefilde.

    "I Won’t Tell" ist ein knackiger Disco-Funk, der direkt in die Beine geht und die Eleganz von Chic mit der Vehemenz von Funkadelic verbindet. Zum Schluss wird es durch eine geschwätzige HipHop-Einlage unruhig. Die Geschmeidigkeit wird in einen zerbröselnden Zustand versetzt und löst sich quasi in ihre Bestandteile auf.

    "Love Bomb" ist ein Smooth-Soul, der ein räumliches Sound-Gefühl hinterlässt, welches Wärme und Behaglichkeit suggeriert.

    "Tell Me It’s Real" verweilt in einem Schwebezustand, entzieht sich dabei eindeutigen Stilzuordnungen und macht aus einem unspektakulären, ausgeglichenen Ablauf eine raffinierte Tugend.

    "Nightcap" besticht durch seinen Ohrwurm-Refrain und eine raffinierte Melodie, ist aber leider viel zu früh vorbei und die erschütternde Dramatik von "Stop The Bleeding" erinnert an die hingebungsvoll gesungenen Tragödien von Anthony & The Johnsons.

    Elektronische Effekte und akustische Instrumente gehen für "Water" eine Fusion ein, die für beide Seiten Vorteile bietet. Durch die Verschmelzung wirkt die Elektronik nicht kühl und die herkömmlichen Instrumente verlieren ihren starren traditionellen Ausdruck.

    "Power" ist eine Mut machende Hymne mit einem einfachen, einprägsamen Ablauf. Ähnlich wie "Give Peace A Chance" der Plastic Ono Band verbreitet der Song ein Mantra, auf das sich wahrscheinlich viele Menschen einigen könnten: "Love Has The Power To Heal The Whole Wide World" ("Liebe hat die Kraft, die ganze Welt zu heilen").

    Baby Rose hat Talent und weiß, was sie will. Sie füllt ihre Rolle als süffige Balladensängerin genauso energisch aus wie die als groovende Soul- und Funk-Botschafterin. Das sehr gelungene, engagiert vorgetragene "Through And Through" sollte ihr weiteres Selbstbewusstsein verschaffen, damit Jasmine Rose Wilson den nächsten Entwicklungsschritt in Ruhe mit Überblick angehen kann.
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    I Inside The Old Year Dying PJ Harvey
    I Inside The Old Year Dying (CD)
    21.05.2024
    Klang:
    5 von 5
    Musik:
    5 von 5

    Liebe, Tod und Auferstehung, Bibel-Motive, Elvis-Referenzen und Shakespeare-Anleihen: Polly Jean Harvey befand sich für "I Inside The Old Year Dying" auf der Suche nach Bedeutung.

    "I Inside The Old Year Dying" ist das zehnte Studio-Album von PJ Harvey und es ist ein ambitioniertes Art-Pop-Werk geworden. Extravaganz in Form von kraftvollen Brüchen und Ausbrüchen sind eher selten, es liegt jetzt eine spezielle, kultivierte Eigentümlichkeit in Form von ungewöhnlichen Abläufen, Klangfarben und Wendungen vor. Ein Spaß an der Schaffung von originellen Sounds ist zu spüren, die oft mit einer versöhnlich-übersinnlichen Komponente verschweißt werden. Die Kompositionen besitzen nicht die experimentelle Schärfe und kompromisslose Provokation der Schöpfungen von Björk, sie entziehen sich aber trotzdem hinsichtlich ihrer nicht übermäßig ausgeprägten Eingängigkeit dem Mainstream, stellen also quasi eine Soft-Variante der experimentellen Pop-Kunst dar.

    Wie ein Nebelhorn sendet "Prayer At The Gate" zu Beginn unklare Signale in den Äther und erhält durch den hohen Gesang von PJ Harvey Antworten, die von lieblich aussehenden Sirenen aus der griechischen Mythologie stammen könnten. Die Sagengestalten sonderten betörende Klänge ab, die in die Irre und dadurch ins Verderben führen sollten. Ähnliche Verlockungen gehen auch hier von der Stimme aus. Es ist nicht zu ermitteln, ob Polly Jean ein falsches Spiel treibt oder ob sie lediglich eine erotische Annäherung anbahnen möchte. Der kryptische Text rankt sich um die Verknüpfung von Leben und Tod und hat auf den ersten Blick so gar nichts Sinnliches an sich. Wobei Psychologen neulich allerdings festgestellt haben wollen, dass uns Todesfurcht empfänglich für Erotik machen kann.
    Stimmen, die sich am Rande zur Albernheit bewegen, umspannen "Autumn Term". Der gelassen groovende Blues-Verschnitt vermittelt eine Vorstellung davon, was passieren kann, wenn erwachsene Seriosität und kindliche Unbekümmertheit aufeinanderprallen.
    Elvis als Referenz, erste Zuordnung: Die filigrane Ballade "Lwonesome Tonight" zitiert nicht nur einen Elvis-Song, sondern textlich auch den Slogan "Love Me Tender" des Kings. Frau Harvey lehnt sich musikalisch an die jauchzende Melancholie von "Prayer At The Gate" an. Sie tiriliert in den höchsten Tönen und mit John Parish steht ihr ein Duett-Partner zur Seite, der durch vornehme Zurückhaltung und andachtsvolle Empathie Sicherheit ausstrahlt.
    Eine einsame Stimme, die im Schoße der Natur versonnen ertönt, leitet "Seem An I" ein. Der psychedelische Folk-Jazz grummelt danach mild und versprüht dabei einen unwiderstehlich weisen Charme. Energische Ausbrüche: Fehlanzeige. Dynamische Abstufungen: Kunstvoll und elegant.

    "The Nether-edge" bewegt sich auf rauschhaft verschlungenen Pfaden. Durch den teils warnend-schrillen Gesang von PJ wird die nebulöse Stimmung durchbrochen und durch die seriös klingenden Abschnitte erhält der Track seine Bodenhaftung.

    Eine offensive Akustik-Gitarre und verzerrte Synthesizer-Schwebetöne steuern "I Inside The Old Year Dying" durch den Sturm, während PJ Harvey bei all dieser Unruhe bestrebt ist, durch Überblick und Scharfsinn ausgleichend zu agieren.

    "All Souls" klingt, als würden psychische Schmerzen zu physischen Wunden werden, die dann wie Trophäen mit Stolz getragen werden. Elektronisch erzeugte Töne drücken Aussichtslosigkeit aus und tropfen zäh wie halb geronnenes Blut zu Boden. Der Gesang kämpft tapfer gegen die Pein an und erobert sich dadurch ein Stück vom Himmel zurück.
    Elvis als Referenz, zweite Zuordnung: Für "A Child's Question, August" wird abermals der Song-Titel "Love Me Tender" zitiert und als Lyrik-Vehikel ein melodischer Psychedelic-Pop gewählt, bei dem sich der Schauspieler Ben Whishaw ("My Brother Tom", 2001) als intim begleitender Gesangs-Partner auszeichnet.

    Dream-Folk ist ein Etikett, das als grobe Orientierung zum Track "I Inside The Old I Dying" passt. Akustische und elektronische Töne bilden ein Gewand aus verschleierten und Takt gebenden Klängen, die sich zu einem Gespinst ergänzen, welches sich sowohl nach leichtem Rausch als auch nach betriebsamer Aktivität anhören. Das dazugehörige Video erzählt dazu "eine kurze Geschichte von Liebe, Tod und Auferstehung, die zum Rhythmus und Gefühl des Songs passt", wie die Regisseure des Kurzfilms erläutern.

    Elvis als Referenz, dritte Zuordnung: Zärtlichkeit und Liebe sind Eckpfeiler jeder glücklichen Beziehung. Die Bitte "Love Me Tender" taucht wieder im Text auf und wird zu einer zentralen Aussage des Albums. Musikalisch brechen allerdings Aggressionen hervor, die sich durch knurrend-zerrende E-Gitarren bemerkbar machen. Dumpfes Trommel-Grollen erzeugt flankierend den Eindruck eines herannahenden Gewitters. Aber "August" beherbergt auch sanfte, zerbrechliche Momente, die über den Gesang und da besonders über den kurzen, fast unmerklichen Beitrag von Ben Whishaw verstärkt werden.
    "A Child's Question, July" ist von einer rätselhaften Unruhe befallen. Die Taktgeber klopfen im hektischen Herzschlag-Intervall, eine Synthesizer-Tonschleife macht nervös und lang gezogene Gitarren-Feedback-Klänge laden die Luft elektrisch auf. So schnell wie sich die Panik-Attacke angekündigt hat, ist sie auch schon wieder vorbei. Das Ereignis dauerte nur drei Minuten.

    Widersprüche und Gegensätze prägen "A Noiseless Noise". Das gilt inhaltlich und auch musikalisch. Ein geräuschloser Lärm ist ein schöner, poetischer Ausdruck für Stille, die hier zwar angedeutet, aber durch heftigen Lärm atomisiert wird. Soft-Rock trifft auf Noise-Rock.

    "I Inside The Old Year Dying" ist das erste Song-Album nach "The Hope Six Demolition Project" von 2016 und zeichnet sich hauptsächlich dadurch aus, dass spirituelle Momente in Töne gegossen wurden. Zärtlichkeit und Sensibilität triumphieren vordergründig über Wut und Krach. Dennoch haben auch laute, missmutige Ausprägungen ihren Platz in der Musik erhalten. Nur die Prioritäten haben sich gegenüber früher umgekehrt. PJ Harvey gelingt diese innig-intensive, klang-abenteuerliche Darstellung, ohne dass sie dafür ihre Haltung ändern muss. Empathie ist bei ihr auch immer mit der dunklen Seite des Lebens verbunden, sodass erst gar keine Sentimentalitäten aufkommen können.

    Laut Polly Jean sollen die Lieder aber in erster Linie einen Ruhepol, Trost und Seelenbalsam bieten und deshalb genau in diese Zeit passen. Es hört sich wie ein Klischee an, dass aus schwierigen Zeiten große Kunst entstehen kann. Die Zweifel, die PJ nach der "The Hope Six Demolition Project"-Tournee plagten, brachten jedoch nach einer Phase der Selbstreflexion die Lust und Kreativität zurück, die zu diesem originellen Neustart führten. "Ich glaube, das Album handelt von der Suche, der Intensität der ersten Liebe und der Suche nach Bedeutung...das Gefühl, das ich von der Platte bekomme, ist ein Gefühl der Liebe - es ist gefärbt von Traurigkeit und Verlust, aber es ist liebevoll", fasst PJ das Ergebnis zusammen.

    "I Inside The Old Year Dying" ist inhaltlich von dem surrealistisch-poetischen Buch "Orlam", das Harvey 2022 herausbrachte, beeinflusst worden. Es wurde im Dialekt der englischen Grafschaft Dorset geschrieben, wo PJ aufwuchs und wirkt sich in seiner gelegentlichen Hinwendung zu biblischen Ableitungen und Shakespeare-Zitaten auf die Texte der Lieder aus. Außerdem gibt es in "Orlam" den ständig blutenden Soldatengeist Wyman-Elvis, der "Love Me Tender" singt. Daher stammt der Bezug in den Songs "Lwonesome Tonight", "A Child's Question, August" und "August".

    PJ Harvey, John Parish, Adam "Cecil" Bartlett und Marc "Flood" Ellis haben eine Vielzahl an natürlichen und verfremdeten Geräuschen zusammengetragen, um die Songs abwechslungsreich zu gestalten. Sie wurden aber trotzdem nicht mit Tönen überladen, weil viele Effekte nur leise auftauchen. Deshalb empfiehlt sich ein Kopfhörer, um alle Einfälle wahrnehmen zu können. Ein Vorhaben, welches eine lange Zeit für unterhaltsame Beschäftigung sorgt.
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    Rain Before Seven Penguin Cafe
    Rain Before Seven (CD)
    21.05.2024
    Klang:
    4 von 5
    Musik:
    3 von 5

    Nachdenklichkeit und Optimismus in Töne verpackt: Penguin Cafe liefern einen fremdartigen Sound-Teppich ab, der zu einer meditativen und belebenden konzentrativen Selbstentspannungs-Übung einlädt.

    Penguin Cafe ist das Nachfolgeprojekt vom Penguin Cafe Orchestra. Arthur Jeffes ist demnach der musikalische Erbe seines Vaters Simon Jeffes, der durch eine Fischvergiftung im Jahr 1972 eine Vision seiner speziellen Klang-Philosophie erlangte.

    Minimal-Art-Rhythmen, weiche psychedelische Tongebilde und komplex verschachtelte melodische Strukturen sind nur ein paar der Zutaten, mit denen Simon Jeffes exotische Schwingungen entstehen ließ. Beim Lauschen dieser Tondichtungen muss das Gehör aufnahmefähig und das Gehirn wach sein, um die Fülle der kunstvoll gestalteten Eindrücke verarbeiten zu können.

    Sein Sohn Arthur Jeffes entwirft Klang-Bilder zu erlebten Ereignissen oder erdachten Vorstellungen. Individuelle Assoziationen spielen bei der Gestaltung der Kompositionen also eine wichtige Rolle. So fußten die Klänge des letzten Werkes "Handfuls Of Night" aus 2019 auf einer im Jahr 2005 von Arthur begleiteten Expedition, welche auf den Erfahrungen des Polarforschers Robert Falcon Scott beruhten. Der Titel des am 7. Juli 2023 erschienenen Albums "Rain Before Seven..." ist der erste Teil einer Bauernregel, die mit "...Fine Before Eleven" weitergeht. Jeffes erläutert, warum ihn der Spruch inspiriert hat: „Er hat so einen dezent optimistischen Beigeschmack, und das gefällt mir sehr. Man verwendet ihn heutzutage kaum noch, aber der Reim beschreibt tatsächlich Wetterphänomene in England, die vom Atlantik aus über die Insel ziehen.“ Und so ist es nicht ungewöhnlich, dass die Musik häufig von einer gewissen Unbeschwertheit begleitet wird, was sowohl für Heiterkeit sorgt, aber unter Umständen auch als banale Ausführung empfunden werden kann. Diese Beurteilung liegt im Auge des Betrachters und hängt davon ab, ob er kulturelle Eigenarten oder zwanglose Unterhaltung erwartet. Und um es vorwegzunehmen: "Rain Before Seven..." bietet beides.

    Als Handelsmetropole ist London eine gesellschaftlich bunt aufgestellte Großstadt. Vielleicht klingt "Welcome To London" deshalb so weltoffen, folkloristisch vielfältig und pulsierend. Ein rituelles Rhythmus-Gefüge ist hier gleichrangig neben dem Schwelgen, das aus einer Hollywood-Love-Story stammen könnte und einem Spannung verheißenden, undurchsichtigen Spaghetti-Western-Flair zu hören.

    "Temporary Shelter From The Storm" hinterlässt hingegen den Eindruck, als würde die akustische Abbildung eines vergnüglichen Lebens einen unerwarteten Trauerflor tragen. Streicher und Bass verbreiten nämlich eine vorbeiziehende Melancholie, während das schnell angeschlagene, heimelig klingende Holzschlaginstrument Balafon und das Piano Schwingungen austeilen, die von Freude und Ausgelassenheit berichten.

    Ein ähnliches Muster führt bei "In Re Budd" zu einer volkstümlich beschwingten Atmosphäre, wie sie in Afrika oder in der Karibik vermutet wird.

    "Second Variety" kommt dagegen sphärisch-verschwommen und introvertiert-versonnen daher.

    Bei "Galahad" geht nach mystisch-undurchschaubarem Beginn doch noch die Sonne auf. Im Strudel von hypnotisch-gleichförmigen Tondichtungen findet der Track seinen individuellen Platz zwischen Fantasy-Soundtrack und Esoterik-Hintergrund-Beschallung.

    Das Piano sorgt bei "Might Be Something" für Bewegung und erzeugt Abläufe, die an das Fließen von Wasser in einem klaren Gebirgs-Bach denken lassen. Der massive Jazz-Bass suggeriert Stabilität und die flirrenden, aber auch tränenden Streicher-Töne zeichnen das Stück weich und lassen es sentimental erscheinen.

    Auch wenn "No One Really Leaves…" grundsätzlich von Traurigkeit geprägt ist, kann die Komposition auch aufmunternde Impulse verzeichnen, die sich zwar dezent in Szene setzen, aber nicht ohne belebende Wirkung bleiben.

    "Find Your Feet" bringt durch synthetisch erzeugte Rhythmen lateinamerikanischen Schwung in das Gefüge ein, der allerdings nicht hemmungslos, sondern kontrolliert dargeboten wird.

    Für "Lamborghini 754" tropfen manche Noten geduldig und schwer zu Boden, andere scheinen Sonnenstrahlen abzubilden, die durch eine Wolkendecke hervortreten - so aufhellend machen sie sich bemerkbar. Aus dieser Mischung entsteht ein emotional ausgeglichenes Gebilde aus Dur und Moll.

    "Goldfinch Yodel" zweigt vom Country & Western eine tanzbare Variante nebst Einsatz einer ausgelassenen Fiedel ab, ohne dabei diese traditionellen Muster schamlos zu kopieren.

    Simon Jeffes bewegt sich mit "Rain Before Seven..." auf dem schmalen Grat zwischen Kunst und Kitsch. Seine Kompositionen sind komplex, entbehren aber auch nicht einer gewissen Leichtigkeit und Ungezwungenheit, die unter Umständen als geläufig und damit als abgenutzt gedeutet werden kann. Das ist eine Einschätzung, die sich nur auf den Bekanntheitsgrad der verwendeten Abläufe bezieht. Nicht aber auf die originelle Konzeption, denn das Projekt Penguin Cafe genießt hinsichtlich seines Sounds beinahe ein Alleinstellungsmerkmal.
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    Alice, Gloria & Jon J.E. Sunde
    Alice, Gloria & Jon (CD)
    21.05.2024
    Klang:
    4 von 5
    Musik:
    4 von 5

    Pop-Musik im Zeichen von Erkenntnissuche: J.E. Sunde betreibt mit "Alice, Gloria And Jon" Seelenhygiene.

    Jon Edward Sunde ist nicht etwa ein Neuling im Zirkus der Pop-Musik. Zusammen mit seinem Bruder Jason und dem Sänger und Perkussionisten Jesse Edgington gründete Jon bereits 2004 die Soft-Psychedelic-Band The Daredevil Christopher Wright, die 2012 ihre bisher letzte Platte "The Nature Of Things" herausbrachte. Seit 2014 veröffentlicht J.E. Solo-Aufnahmen und "Alice, Gloria And Jon" ist jetzt schon sein fünftes Album unter eigenem Namen.

    Jon Edward stammt aus Wisconsin und lebt in Minneapolis. Er wuchs in einer musikalischen Familie auf, seine Eltern waren Folk-Fans und spielten Gitarre und Klavier. Das erfuhr das Online-Portal "Fifteen Questions" in einem Interview mit dem Künstler. Außerdem verriet er: "Mit 12 Jahren fing ich schließlich an, Gitarre zu spielen und Lieder zu schreiben. Nachdem ich an der Universität Musik mit Schwerpunkt Gesang studiert habe, bin ich zu der Überzeugung gelangt, dass mehr Wissen über Musik (Technik, Theorie usw.) in erster Linie dazu beiträgt, dass man seine Ideen schneller verwirklichen kann, es aber nicht unbedingt notwendig ist. Der kreative Impuls und die Erfahrung geben einem schließlich die Fähigkeit, alles zu schaffen, was man sich vorstellen kann."

    J.E. Sunde treiben existenzielle Fragen des Lebens um, die er für sich philosophisch folgendermaßen einordnet: "Das Leben scheint eine ständige Übung in Veränderung zu sein, gefolgt von unserer Anpassung an diesen Wandel, wobei Konfrontationen das ganze Konstrukt ständig durchziehen. Diese Kämpfe sind die Basis, von der ein Großteil unserer tiefgreifenden Entwicklungen ausgeht", vermerkt er unter anderem auf seiner Bandcamp-Seite als inhaltliche Beschreibung von "Alice, Gloria And Jon".

    Vor drei Jahren sang er noch "9 Songs About Love". Jetzt geht es darum, damit umzugehen, dass das erwachsen sein eine seltsame und überraschende Angelegenheit ist. Denn das Leben verläuft in der Regel eben nicht so, wie man es erwartet. In der Realität angekommen, macht sich J. E. Gedanken darüber, dass "die meisten Transformationen aus großer Liebe oder großem Leid heraus entstehen, und leider scheint es keine romantische Version des Leids zu geben".

    Zehn akustische Versionen seiner von Zweifeln durchzogenen Weltanschauung, bei der er nach Lösungen für die Bewältigung von Schwierigkeiten sucht, hat der Musiker jetzt in kompakten 31 Minuten zusammengetragen: Die Frische und der cool swingende Jazz-Rhythmus im Klangbild von "Stop Caring" steht im Kontrast zum durchwachsenen, um Optimismus bemühten, aber dennoch überwiegend trüb-wehmütigem Gesang. Das sind Reibungspunkte, die sofort stimulierende Reaktionen im Hirn hervorrufen. Die allgemeine Wahrnehmung kennt solche sich gleichzeitig widersprechenden Zustände in der Regel nicht. Meistens sind fröhliche und traurige Momente streng voneinander getrennt. Wenn nicht, nennt man sowas wohl eine bittersüße Stimmung, was beim Essen in etwa der Geschmacksnote "süßsauer" entspricht. Dieses sich nicht auf eine Gefühlslage festlegen wollen ist ein cleverer Schachzug des Pop-Künstlers, um eine individuelle Duftmarke zu hinterlassen. Dabei hilft ihm, dass seine Stimme einige Facetten bereithält: Eine traurige, eine hoffnungsvolle, sogar eine übermütige versteckt sich in seinen fein abgeschichteten Stimmband-Schwingungen. "Stop Caring ist ein ideales Beispiel für die komplexe Strategie, die sich Sunde für die Darstellung seines Problemlösungsverhaltens ausgedacht hat. Er hat dafür drei Verhaltensmuster destilliert, die beim Umgang mit Verzweiflung oder existenzieller Unsicherheit von ihm angewendet werden: Aufgeben oder mehr Geld verdienen oder die Verarbeitung der Probleme durch eine spirituelle Verhaltensstrategie - was er letztlich auch bevorzugt.

    Nach diesem emotional schwer zu verdauenden Brocken geht es dann Schlag auf Schlag mit diversen individuell unterschiedlich veranlagten Gefühlsneigungen weiter: Im klanglichen Fahrwasser von Wilcos "Kamera" (von "Yankee Hotel Foxtrot", 2002) wird "Turn The Radio On" fast unmerklich von einem gelassenen Americana-Song zu einem empfindsamen Pop-Ohrwurm übergeleitet. Der Track soll Mut machen und weist darauf hin, dass wir mit den meisten unlösbar scheinenden Herausforderungen gar nicht alleine dastehen, auch wenn es uns so vorkommen mag. Individuelle Kämpfe sind eher die Regel als die Ausnahme, meint Jon Edward zu der Häufigkeitsverteilung von psychischen Dilemmas.

    "You Don’t Wanna Leave It Alone" spielt sich im groovenden New Wave-Milieu ab. Das Stück lebt von dem Kontrast zwischen nüchtern erzählendem und freudig frohlockendem Gesang, gepaart mit elektronischen, monotonen Rhythmen und einer filigran eingesetzten Akustik-Gitarre. Der textliche Inhalt dreht sich wieder einmal um den Umgang mit unerfüllten Erwartungen.

    Der Barock-Pop von Left Banke hat bei "Glory, Gloria" ebenso Spuren hinterlassen wie der Power-Pop der dB`s. Dieser Stil-Mix bildet die Grundlage für eine Charakterstudie über zwei Menschen, die sich ineinander verliebt haben.

    Ein gemütlich-beruhigender Country-Folk-Takt ist eine der Hauptzutaten von "Blind Curve". Dazu werden unter anderem Synthesizer-Töne beigesteuert, die einer Tuba ähneln, was dem Song einen zusätzlichen volkstümlichen Anstrich und durch die synthetische Aneignung von ursprünglich akustischen Signalen eine kuriose Ausrichtung verleiht. Die "Blinde Kurve" steht dabei sinnbildlich für den Lebensweg, den wir nur zu einem geringen Teil einsehen und beeinflussen können.

    "Alice" nutzt eine Art von Pop-Funk, um eine tanzbare, aber dennoch seriös wirkende Ausdrucksform eines anspruchsvollen Pop-Songs zu erschaffen. Für Sunde bedeutet diese rhythmisch suggestive Ausrichtung eine Hinwendung hin zum Krautrock.

    "God" ist ein einminütiger Folk-Song, der nur zur Akustik-Gitarre vorgetragen und von Jon Edward mit einer seltsamen Betonung vorgetragen wird.

    Bei "Home" ist nach ein paar Durchläufen die Luft raus: Was sich zunächst als sensibler Pop darstellt, erweist sich nach einer Weile dann doch als zu leichtgewichtig aufgestellt. Das sorgt dafür, dass sich eine erhöhte Abnutzung bemerkbar macht. Die Idee hinter der Definition von "Heimat" ist hier, dass man zwar physisch der Heimat beraubt werden kann, das Zusammengehörigkeitsgefühl - das auch als Heimat bezeichnet werden kann - wird dadurch aber nicht ausgelöscht.

    Beim fantasievollen, instrumentalen "Morning" wird der Gesang schmerzlich vermisst. Den hat es allerdings ursprünglich tatsächlich gegeben. Aber Mr. Sunde war während des Aufnahmeverfahrens der Auffassung, dass von der Gitarrenlinie zu viel verloren gehen würde, wenn sich eine Stimme darüber legt.

    Die schwankend-schaukelnde Melodie mancher Robert Wyatt-Stücke, wie z. B. beim "Sea Song", hält Einzug in "Nurse". Die erzeugte zittrige Melancholie wird fürsorglich durch eine stabile, mit wechselndem Tempo ausgestattete, stützende Begleitung stabilisiert. Es geht in dem Stück um jemanden, der mit Dankbarkeit auf eine frühere Beziehung zurückblickt, denn sie tat ihm gut und hat seine Zukunft geprägt.

    J.E. Sunde vollbringt mit "Alice, Gloria And Jon" ein vollmundig-vollwertiges, geistreiches Pop-Werk voller Reife und Einfallsreichtum, wie es sonst zum Beispiel nur Paul Simon, Aimee Mann, Elvis Costello, Ron Sexsmith oder Joel Sarakula verwirklichen können. Die fiktiven Charaktere Alice und Gloria dienen dabei als Vehikel für die Beschreibung von Befindlichkeiten, die auch Jon (also J.E. Sunde) betreffen, sodass die Problematiken ohne den Verdacht der übertriebenen Selbstdarstellung verallgemeinert dargestellt werden konnten.

    J.E. Sunde verriet "Fifteen Questions" noch sein Verständnis des schöpferischen Prozesses: "Ich denke, Musik zu machen bringt auf alchemistische Weise so viele verschiedene Dinge zusammen. Es kann das Alltägliche und das Transzendente und alles dazwischen auf eine Weise verbinden, die meiner Meinung nach einzigartig ist, weil es auf all diesen verschiedenen Ebenen funktionieren kann (Lyrik, Melodie, Klangfarbe, Instrumentierung, Beziehung zum kulturellen Moment." Die Verbindung von smarter Eleganz, einfühlsam-raffinierten Arrangements und bedeutenden Textinhalten ist dem Musiker jedenfalls mit "Alice, Gloria And Jon" vortrefflich gelungen.
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    21.05.2024
    Klang:
    5 von 5
    Musik:
    4 von 5

    Wie aus einem Guss: Das Tingvall Trio ist schon lange zu einer akustischen Gemeinschaft zusammengewachsen.

    Mit ihrem neunten Album "Birds" feiert das mit etlichen Preisen ausgezeichnete Tingvall Trio ihr 20-jähriges Bestehen. 20 Jahre, in denen Martin Tingvall (Piano), Omar Rodriguez Calvo (Kontra-Bass) und Jürgen Spiegel (Schlagzeug) zu einer harmonisch-kreativen Einheit geworden sind. Ihre Instrumental-Stücke klingen dabei häufig so melodisch wie Kompositionen, die für Gesang ausgelegt wurden. Der Sound ist glasklar und transparent, ohne steril zu wirken. Die Instrumente werden darin räumlich getrennt abgebildet. Sie vereinen und entfernen sich voneinander wie in einem Rausch der Töne von spielenden Kindern.

    Während das Piano unter anderem die melodische Grundversorgung übernimmt, wechselt der Bass zwischen Beihilfe zur Harmoniebildung und Stabilisierung des Taktes hin und her. Jürgen Spiegel definiert seine Rhythmusarbeit je nach Anforderung neu. Mal setzt er präzise zyklische Wiederholungen exakt wie ein Uhrwerk und mal ist er der für originelle Zwischenklänge zuständige Gestalter. Im Tingvall Trio und bei seinem Duett-Projekt mit dem Pianisten Vladyslav Sendecki hat er sich mit diesen Fähigkeiten als sehr elastisch-dynamischer Schlagzeuger erwiesen.

    Das Album "Birds" "kann dazu anregen, die Umwelt um uns herum anders wahrzunehmen", meint Martin Tingvall und widmet seinen Kompositionen den Vögeln. "Sie umgeben uns tagtäglich mit ihrer Musik und können unglaublich inspirierend sein", fügt er noch hinzu. Aber nicht jeder Titel hat einen direkten Bezug zur Vogelwelt.

    Beim Eröffnungsstück "Woodpecker" besteht jedoch sofort eine Erwartung an schnell klopfende Töne innerhalb eines geruhsamen Grundrauschens: Ein Specht hämmert mit seinem Schnabel im ansonsten ruhigen Wald scheinbar aufgeregt gegen einen Baum, diese Schlussfolgerung ist gemeint. Aber mit solch einer banalen Assoziationskette hat man die bildhafte Vorstellungskraft des Trios unterschätzt: Das Stück hat viel mehr Aktivitäten zu bieten als pure Monotonie im Minimal-Art-Gewand. Der Specht hat ja schließlich auch noch mehr zu tun, als Futter aus der Rinde zu klopfen oder Nisthöhlen zu erschaffen. Und deshalb bildet der Track auch nicht nur eine Situation, sondern das pralle Leben ab, um im Specht-Alltags-Bild zu bleiben.

    "Africa" wirkt durchaus fröhlich, geschäftig, rhythmisch ausgelassen, fernab von einer betulichen Feuilleton-Beitrags-Untermalungs-Szenerie. Das Bass-Solo ersetzt die fehlende Stimme, das Piano glänzt und funkelt in der Sonne und das Schlagzeug freut sich des Lebens.

    Der Bass sendet die möglicherweise lebensrettenden Signale bei "SOS" aus, das Piano erzeugt Dramatik und die Percussion fährt eine hohe Pulsfrequenz. Der Ausgang dieser Aktion bleibt jedoch im Ungewissen.

    Es gab einen Film mit dem Titel "The Day After". Da ging es um den Tag nach einer Atombombenexplosion. Wer dieses inszenierte Grauen einmal gesehen hat, der wird die schrecklichen Bilder nie wieder vergessen. "Die Lebendigen werden die Toten beneiden" hieß es da, was den dargestellten Horror plastisch und drastisch in Worte fasst. Tiefe Traurigkeit wird auch durch die Komposition "The Day After" vermittelt. Auch wenn die dahinter stehenden Gedanken nichts mit der Endzeitstimmung des Films zu tun haben, so scheint in der Vorstellung auf jeden Fall vor einem Tag etwas Erschütterndes vorgefallen zu sein.

    Es gibt Meisterschaften, bei denen die besten "Air Guitar"-Spieler prämiert werden, die ihr Handwerk aber meistens zu Heavy Metal-Klängen vortragen. Für die Musik von "Air Guitar" wird stellenweise ein harter, kurzer Anschlag der Tasten gewählt, der als Gitarrenakkord gewertet werden kann, womit die Verbindung zur Luftgitarre hergestellt wäre. Ansonsten handelt es sich um ein wildes, schnelles Stück mit perlenden McCoy-Tyner-Gedächtnis-Ton-Kaskaden.

    Vögel im Allgemeinen und Paradiesvögel im Besonderen sind die akustischen Themen der nächsten beiden Stücke ("Birds" und "Birds Of Paradise"). Der gestrichene Kontra-Bass verbreitet für "Birds" eine kammermusikalische Dramatik und Schwere, während sich die Piano-Töne luftig-leicht, fantasievoll und beschwingt in die Höhe erheben.
    Die Paradiesvögel von "Birds Of Paradise" sind darauf bedacht, Haltung und Stolz zu bewahren. Sie bewegen sich deswegen zunächst galant-bedächtig. Wenn sie sich aber unbeobachtet fühlen, sind so auch ungezügelt unterwegs. Gleichwohl beherrschen sie es, sich stets anmutig und einfallsreich zu bewegen.

    Romantische Klassik-Piano-Partituren leiten "The Return" ein. Diese sentimentale Stimmung geht in einen ruhigen kammermusikalischen Jazz über, bei dem die melodische Komponente an erster Stelle steht.

    Der Kleiber ist ein etwa 15 Zentimeter kleiner, blau-oranger Vogel, der nur ungefähr 25 Gramm wiegt und eilig an Bäumen rauf und runter laufen kann, um in der Rinde nach Insekten zu suchen. Der Track "Nuthatch" entspricht erst in der zweiten Hälfte hinsichtlich des Tempos und der Dynamik dem umtriebigen Verhalten des auch Spechtmeise genannten gefiederten Waldbewohners. Vorher hinterlassen die Klänge eher den Eindruck eines gemächlichen Tagesablaufs mit wenig Aufregung.

    Der Kolibri ist dafür bekannt, dass er enorm schnell mit den Flügeln schlagen kann. So fix, dass es ihm gelingt, wie ein Hubschrauber auf der Stelle in der Luft stehen bleiben zu können. "Humming Bird" bildet diesen außergewöhnlich raschen Bewegungsablauf nicht akustisch ab, das Piano sondert aber zittrige Klänge ab, die unter Umständen als Flügelschläge gedeutet werden können. Im Kern ist der Track aber eine klassische Piano-Trio-Jazz-Komposition mit lauten, leisen, schnellen und langsamen Tönen im Wechsel.
    Die Nacht hat viele Gesichter und deshalb zeigt "Nighttime" auch mehr als nur eine musikalische Seite. Das Stück ist meditativ, aber über die Gelassenheit hinweg wird improvisiert. Die Musiker generieren auch einen lebhaften Ausdruck und finden eine feine Melodie als Orientierung.

    "A Call For Peace" ist heute wieder wichtiger denn je und die Aussage soll als Mahnung und Gedenken stehen bleiben. Die Noten ringen um Fassung, aber die Traurigkeit lässt sich in diesem Piano-Solo-Stück nicht gänzlich verdrängen.

    20 Jahre Tingvall Trio in Erstbesetzung. Und das ohne Ermüdungserscheinungen. Was für eine erstaunliche Leistung! Herzlichen Glückwunsch dazu und alles Gute für die nächsten 20 Jahre! Um den Eingangs-Gedanken nochmal aufzugreifen: Wie wäre es denn, wenn bei der nächsten Veröffentlichung tatsächlich Vokalisten eingebunden würden, die als zusätzliches Instrument dienen? Mit dieser Innovation hätte das Trio zumindest neue Herausforderungen zu bewältigen, die ihren Gestaltungs-Prozess weiter am Laufen halten.
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    Beautiful Dreams Acantha Lang
    Beautiful Dreams (CD)
    27.11.2023
    Klang:
    4 von 5
    Musik:
    4 von 5

    Jedes Pop-Jahrzehnt brachte außergewöhnliche weibliche Stimmen hervor, die ehrwürdigen Musik-Sparten wie Soul, Funk, Rock, Jazz, Blues oder Pop ordentlich Feuer unter dem Hintern gemacht und diese mit kreativer Individualität belebt haben.

    Den Grundstein für weibliches Selbstbewusstsein im Zusammenhang mit originellen Interpretationen legten in den 1950er-Jahren Billie Holiday und Nina Simone mit ihrem Mut und ihrem Können. Ab den 1960er-Jahren spielte Aretha Franklin, die Queen Of Soul, in ihrer eigenen Liga und die leidenschaftliche Etta James kämpfte für den Blues und gegen Diskriminierung und Drogenabhängigkeit. In den 1970er-Jahren revolutionierte Betty Davis die Rolle der Frau im Funk und Mavis Staples schuf mit der Verbindung von Soul und Gospel auch außerhalb ihres Familienverbundes die Basis für eine lange Karriere. Die dynamische Roots-Music-Künstlerin Merry Clayton, die zum Beispiel bei "Gimme Shelter" der Rolling Stones mit ihrer mächtigen Stimme brillierte, blieb hingegen ein Geheimtipp. In den 1980er-Jahren hatte die schon in den 1960er-Jahren aktiv gewesene, vielseitige R&B- und Soul-Sängerin Bettye LaVette ein Comeback und Chaka Khan, die Frontfrau der Funk-Band Rufus feierte mit "Ain`t Nobody" und "I Feel For You" Chart-Erfolge. Beide Titel blieben durch Cover-Versionen immer wieder im Gespräch. In den 1990er-Jahren erneuerte Erykah Badu den Rhythm & Blues und in den 2000er-Jahren bekamen Jazz und Soul durch Amy Winehouse und Sharon Jones eine neue Popularität. Die 2010er-Jahre brachten mit Eska und Lianne LaHavas zwei faszinierende, Genre-sprengende Sängerinnen zutage und in den 2020er-Jahren verband Celeste Soul-Traditionen mit einer modernen, alternativen Sichtweise.

    In diese "Ahnenreihe" möchte sich auch Acantha Lang mit ihrem breit gefächerten Repertoire einreihen. Sie ist dabei nicht als Sound-Reformerin unterwegs, sie setzt auf Bewährtes, denn es lassen sich einige Muster von den genannten Vorreiterinnen in ihren Liedern lokalisieren.

    Acantha wurde 1980 geboren und wuchs zwar im musikalischen Schmelztiegel von New Orleans auf, fand ihre künstlerische Bestimmung aber in New York, wo sie in Harlem im Blues & Soul-Club The Grill auftrat. Nach drei Jahren nahm sie dann ein Angebot von The Box aus Manhattan an und als dieser Auftrittsort eine Zweigstelle in London eröffnete, übersiedelte sie dahin und trat dort mit eigener Band auf.

    Ihr Kapital ist ihre flexible und ausdrucksstarke Stimme: Damit kann sie ihre Seele entblößen, lässt Liebe und Schmerz greifbar werden und taucht in eine tiefe Spiritualität ab, wenn die Voraussetzungen dafür gegeben sind. Für "Beautiful Dreams" hat sie nun dreizehn eigene Songs aufgenommen, die ihr musikalisches Weltbild abstecken.

    Die cool swingende Soul-Jazz-Ballade "Sugar Woman" versprüht erotischen Pathos, das heißt, laszive Verlockungen und feierliches Ergriffensein geben sich die Klinke in die Hand. Acantha spielt ihre ganze Verführungskunst und Inbrunst aus, verausgabt sich dabei gesanglich aber nicht. Was auch nicht nötig ist, denn die Background-Sängerinnen stehen ihr schützend zur Seite und somit verteilt sich die emotionale Lust und Last auf mehrere Schultern.

    Wer Soul und Jazz überzeugend interpretieren kann, der kann auch verzücktes Gospel-Feeling erzeugen. Diese Gleichung geht auch bei "Come Back Home" auf, denn der anschmiegsame und eindringliche Gospel-Pop-Funk überzeugt auf ganzer Linie.
    Mit dem Song "Beautiful Dreams" wird eine hitzige Groove-Stufe gezündet: Knackige Funk-Gitarren lassen die Luft vibrieren, die Hammond-Orgel rauscht gelassen, Schlagzeug und Bass setzen fette Duftmarken, die Bläser verfeinern den Ablauf und der Background-Gesang schiebt alle Wolken vom Firmament. Acantha ist die Chefin im Ring und hält die energische Stimmung geschickt am Köcheln.

    Milder Gesang und eine korrespondierende E-Gitarre leiten das ruhige Stück "Eventually" ein. Es ist eine bedächtige Power-Ballade geworden, weil das Rhythmus-Gespann und die Orgel der gedankenvollen Grundstimmung jede Menge stärkende Begleit-Akkorde zur Verfügung stellen. Und so kann sich Acantha in ihre Melancholie fallen lassen und sich lediglich darum kümmern, dass sich ihre Stimme zwischen Sentimentalität und Betroffenheit ein Nest baut. Passt!

    Wesentlich zupackender wird es beim rhythmisch brodelnden "He Said / She Said". Schwungvoller Motown-Soul, pulsierender Latin-Funk und jazzige Solo-Ausbrüche haben hier ein Zuhause gefunden.

    Lois, Acanthas Mama, kündigt bei "A Word From My Momma (Interlude)" den folgenden Song an, den ihre Tochter über sie und ihr Leben in New Orleans geschrieben hat.

    Acantha versetzt sich in die Persönlichkeit ihrer Mutter und macht "Lois Lang" zu einer biografischen Erzählung, die im ruhigen Southern-Soul-Metier angesiedelt ist.

    "River Keep Runnin'" ist im Gegensatz dazu ein stürmischer, ruheloser Funk-Rock, bei dem Acantha die Atmosphäre durch ihren engagiert-getriebenen Gesang kräftig aufheizt.

    "It's Gonna Be Alright" sendet den geschmeidigen Nachdruck der frühen Brass-Rock-Tracks von Chicago Transit Authority aus. Hinsichtlich der instrumentalen Intensität wird ein Level der permanent angespannten Erregung erzeugt, wobei die ganz große Eruption ausbleibt.

    Zurück im Balladen-Modus stellt "Carry The Weight" eine gelungene, ausgewogene Mischung zwischen erwachsenem Pop und blauäugigem Soul da.

    Love-Song-Beschaulichkeit und Funk-Rhythmus-Lebendigkeit verbinden sich in "Whatever Happened To Our Love?". Die beiden Komponenten neutralisieren sich dabei gegenseitig, sodass der Song weder Fisch noch Fleisch ist.

    Mit "Keep On" verliert Acantha dann ihre straff organisierte Linie, denn das Lied ist leider zu süßlich und zu lang geraten, während sich "Ride This Train (Extended Version)" nach verhaltenem Beginn langsam seinen Weg hin zur swingenden Jazz-Dance-Nummer bahnt.

    Da sind schon sehr viele schöne Eindrücke dabei, die die "Beautiful Dreams" vermitteln. Von ihren Mitstreitern wird sie prominent in Szene gesetzt, was ihre gesanglichen Fähigkeiten betont. Die Instrumentalisten achten trotzdem darauf, bei den solistischen Aktivitäten nicht zu kurz zu kommen und erzeugen einen vollen, warmen Sound. Man wird jedoch den Eindruck nicht los, dass Acantha Lang ihr Potenzial noch lange nicht voll ausgeschöpft hat. Manchmal scheint sie ihren Fähigkeiten nicht zu trauen oder steht emotional im Abseits zurückhaltender Frömmigkeit. Songs, bei denen der Funk im Vordergrund steht, sind ihr generell gelungen. Bei manchen romantischen Titeln wird die wehleidige Sentimentalität allerdings tendenziell zu dick aufgetragen.

    Es ist unter Umständen ein langer und beschwerlicher Weg in den Pop-Olymp. Acantha hat mit "Beautiful Dreams" den ersten Schritt dahin getan und eine sehr solide, teils begeisternde, teils ausbaufähige Leistung abgeliefert. Da sie ein großes Talent besitzt, darf noch einiges von ihr erwartet werden!
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    In der fernsten der Fernen - Gedichte von Mascha Kaléko Dota
    In der fernsten der Fernen - Gedichte von Mascha Kaléko (CD)
    26.11.2023
    Klang:
    5 von 5
    Musik:
    5 von 5

    Die Gedichte von Mascha Kaléko sorgen immer noch für eine "Zeitgemäße Ansprache" und DOTA belebt sie mit ungekünsteltem Einfühlungsvermögen.

    Wenn es darum geht, eine qualitativ hochwertige Verbindung zwischen Pop, Kunstlied und Cabaret mit deutschen Texten zu erschaffen, dann ist DOTA ganz weit vorne bei der entsprechenden Realisierung. Und zwar sowohl musikalisch wie auch textlich.

    "In den fernsten der Fernen" ist nun schon das zweite DOTA-Album mit zu Liedern gewordenen Gedanken der Dichterin Mascha Kaléko, die 1907 in Galizien geboren wurde und 1975 in der Schweiz starb. "Mascha Kaléko war DIE Dichterin der zwanziger Jahre des letzten Jahrhunderts, hatte zu der Zeit auch sehr viel Erfolg. Ihr erster Gedichtband war so ein richtiger Bestseller. Und dann ist sie als Jüdin vor den Nazis geflohen und hat auch im Exil weiterhin viele Texte geschrieben, die dann nicht mehr so bekannt wurden. Was tragisch ist, weil sie auch später noch ganz tolle Gedichte geschrieben hat. Ich finde, sie sollte ihren ganz gleichberechtigten Platz neben Erich Kästner, Tucholsky und Ringelnatz haben und hoffe, dass ich mit dem Album einen kleinen Beitrag dazu leisten kann. Aber es gibt auch viele Menschen, die ihre Gedichte kennen und schätzen. Und ich glaube, wenn man ein paar gelesen hat, dann weiß man auch warum: Weil die Texte so knapp und präzise sind und so gut verdichtet sind. Und so klar und leicht zugänglich sind, aber trotzdem immer viel Tiefe haben," erzählte Dota Kehr am 30. Juni 2023 im moma-Café des ZDF.

    Um die Bandbreite des Repertoires von "In den fernsten der Fernen" kennen zu lernen, gibt es hier nun Kurz-Steckbriefe der 23 Lieder: Der psychedelische Kraut-Pop "Das "Mögliche"" enthält die prägnanten, vor Lebensweisheit sprühenden Zeilen: "Ich habe mit Engeln und Teufeln gerungen, genährt von der Flamme, geleitet vom Licht. Und selbst das Unmögliche ist mir gelungen, aber das Mögliche schaffe ich nicht."

    Im Sirtaki-Rhythmus wiegen sich die Stimmen von Dota Kehr und Dirk von Lowtzow (Tocotronic) für "In dieser Zeit". Die Gesangslinien grenzen sich klar ab, reiben sich aneinander und verleihen dem Song dadurch eine Aura, die einer schillernden Bedeutungsschwere gleicht.

    "Wenn einer fortgeht..." ist eine intime Folk-Ballade geworden, bei der Gisbert zu Knyphausen die einfühlsame Duett-Stimme übernimmt.

    Das kindgerechte "Sozusagen grundlos vergnügt" ist sozusagen auf logische Weise optimistisch, weil hier die Wahrnehmung als Sammlung von natürlichen Sinnes-Eindrücken verdichtet wird. Es kommt zur Aussage, dass es keine großen Ereignisse sein müssen, die das Leben lebenswert machen, sondern es reicht die pure Freude an der Existenz inmitten einer pulsierenden Natur.

    Für "Sonett in Dur" hat DOTA ein warm tönendes Brass-Pop-Konzept gefunden, das vom Gast-Sänger Clueso stimmig und sympathisch unauffällig begleitet wird.

    Mascha Kaléko musste in ihrem Leben mehrmals ihren Lebensraum verlassen: 1938 flüchtete sie vor den Nazis von Berlin aus nach New York und 1959 wanderte sie auf Wunsch ihres zweiten Ehemannes, dem Dirigenten, Komponisten und Musikwissenschaftler Chemjo Vinaver, nach Israel aus. Der Bewältigung ihrer Heimatverluste gibt sie mit dem voll- und weich-tönenden Art-Pop-Chanson "Die frühen Jahre" eine Bühne: "Zur Heimat erkor ich mir die Liebe" heißt es da, was sich in diesem Zusammenhang wie eine Formel gegen jede Form von Entwurzelung anhört.

    Antiquierte Moralvorstellungen und strenge Konventionen prägten noch lange nach dem 2. Weltkrieg den Ablauf von Beziehungen. Beim 1933 veröffentlichten Gedicht "Großstadtliebe" handelt es sich um die Beschreibung einer Liebelei, die sich wegen der Beschränkungen der persönlichen Verhältnisse nicht weiterentwickeln konnte. Die Klänge versprechen zwar eine ausgelassene Beziehungs-Geschichte, die Texte machen aber deutlich, dass das ein Trugschluss ist.

    Da kommt was Unheimliches auf einen zu, das suggerieren jedenfalls die Streichinstrumente am Anfang von "Der Fremde". Nach deren Verstummen übernehmen Töne, die von einem medizinischen Überwachungsgerät stammen könnten, die Regie. Die Atmosphäre bleibt bedrohlich und die Streicher holen sich zum Ende hin ihre Vormachtstellung zurück. Es geht in dem Stück thematisch um Ablehnung und Ausgrenzung, vermutlich aufgrund von körperlichen Auffälligkeiten ("Sie sprechen von mir nur leise. Und weisen auf meinen Schorf.")

    "Blatt im Wind" ist ein intimes Country-Folk-Stück mit transparenter Instrumentierung und sanft fließender Melodieführung. Dota Kehr singt sehnsüchtig und mit traurigen Untertönen, was perfekt neben die sonstigen bittersüßen Noten passt.

    "Finale" gehört zur Gedichtsammlung "Verse für Zeitgenossen", die Kaléko 1945 im Exil in den USA verfasste. Die Poesie versprüht eine "aufgeräumte Melancholie", wie Thomas Mann die Wirkung der Worte der Lyrikerin beschrieb. DOTA hat dazu Musik entwickelt, die der Schwermütigkeit entgegenwirkt, indem ein trabender Rhythmus, dessen Geschwindigkeit allmählich gesteigert wird, Lebendigkeit und Tatendrang heraufbeschwört.

    "Der Gummiball" beleuchtet als Folk-Pop mit spontaner Ausrichtung musikalisch und inhaltlich die fröhlich-unbeschwerte Seite der Dichterin.

    Bei "Kurzer Epilog" geht es um den Moment der Trennung in einer Beziehung, wenn Eckpunkte bilanziert werden. Die Konfliktsituation wird mit verteilten Rollen als Dialog aufgeführt. Der männliche Sprech-Gesangs-Partner ist hierbei der vielfach talentierte Künstler Rainald Grebe. Die in Zuckerwatte eingepackten Smooth-Jazz-Klänge erzeugen als Stimmung den Kummer verschleiernden Zweckoptimismus.

    Gleicher Inhalt, anderer Sound: Mit dem tänzelnden Synthie-Pop von "Das letzte Mal" beginnen die Bonus-Tracks. Danach kommt "Mit auf die Reise", ein Liebesgedicht, bei dem es darum geht, der geliebten Person etwas Besonderes mit auf Reisen zu geben. Es werden ein paar Sachen aufgeführt, von denen wohl "mein ziemlich gut erhaltnes Herz" die wertvollste Beigabe sein wird. Die liebevollen Gedanken bekommen eine anmutige, von Jazz-Grooves durchzogene, swingende Begleitung verpasst.

    Leider sind die Gedanken, die im Folk-Funk von "Zeitgemäße Ansprache" formuliert werden, immer noch und grade wieder hochaktuell. Mit messerscharfem Verstand analysiert Mascha Kaléko die menschliche Psyche in Krisensituationen: "Wie kommt es nur, dass wir noch lachen, dass uns noch freuen Brot und Wein, dass wir die Nächte nicht durchwachen, verfolgt von tausend Hilfeschrein. Habt ihr die Zeitung nicht gelesen, saht ihr des Grauens Abbild nicht? Wer kann, als wäre nichts gewesen, in Frieden nachgehn seiner Pflicht. Klopft nicht der Schrecken an das Fenster, rast nicht der Wahnsinn durch die Welt, siehst du nicht stündlich die Gespenster, vom blutigroten Trümmerfeld."

    "Der Eremit" ist eine kurze, schunkelnde Moritat über Ausgrenzung und die Kernaussage von "Chanson für Drehorgel" lautet: "Ich träume oft vom Leben, wie`s sein könnte, wenn`s nicht so wär, wie`s nun mal ist". Mit einer ausreichenden Geldversorgung könnte man zum Beispiel hauptberuflich Optimist sein, ist eine dazu geäußerte Überlegung von Mascha. Eingebettet werden diese Visionen in einen New Wave-Pop, der für gute Laune sorgt, wobei die E-Gitarre mal so richtig durchdrehen darf.

    Der Barock-Pop von "Herbstliches Lied" erinnert in seinem Ablauf an "Ich bin leider schuld" von "Wir rufen dich, Galaktika". "Herbstliches Lied" enthält die Zeilen, denen das Album seinen Namen zu verdanken hat: "Der du gebietest dem Mond und den Sternen. Der du die Lilie im Feld nicht verlässt. Sei du mit uns in der fernsten der Fernen! Gib deine Hand uns, beschirm unser Nest." Durch die dunklen, cremigen Streicher erhält der Track einen bedrückenden Grauschleier, der Gänsehaut erzeugt.

    Im Jahr 1968 starb der Sohn von Mascha Kaléko mit nur 30 Jahren und 1973 erlag ihr Mann einer langjährigen Krankheit. "Ich und Du" ist der Ausdruck der innig verbundenen Liebe, bei der die jeweilige Individualität erhalten bleiben durfte: "Ich und Du wir waren ein Paar. Jeder ein seliger Singular. Liebten einander als Ich und als Du. Jeglicher Morgen ein Rendezvous."

    Dota Kehr und ihre Musiker erfinden für diese Verse ein Klang-Gerüst, das sich bedächtig und sanft um die Worte legt, sodass die Formulierungen und die Musik eine harmonische Symbiose eingehen.

    Das gepflegte Jazz-Chanson "Furchtlos trinken" behandelt eine satirische Betrachtungsweise des Alkoholkonsums und -rausches, der als "Brüderschaft mit der Unendlichkeit" bezeichnet wird. Der Liedermacher Götz Widmann sorgt hier mit seiner herben, rauchig-versoffenen Begleit-Stimme für ein authentisches Trinker-Feeling. "Jugendliebe a.D." klingt nach Neuer Deutscher Welle (Ideal, Neonbabies) und beschäftigt sich mit dem über Bord werfen von Prinzipien, wenn man sich erst einmal gesellschaftlich etabliert hat.

    In entspannter Bossa Nova-Seligkeit läuft das Lied "Die vielgerühmte Einsamkeit" ab, das sich um den Satz "Wie schön ist es allein zu sein. Vorausgesetzt natürlich, man hat einen, dem man sagen kann: Wie schön ist es allein zu sein" dreht. Die Gedichte "Sonett in Dur" und "Sonett in Moll" haben die Verbindung von Text und Musik und eine Empfehlung für die Art der Vortragsweise bereits im Titel. Dennoch wird "Sonett in Moll", das vom Schmerz des Verlustes und vom Vergehen des Lebens berichtet, nicht als vollends depressives Stück umgesetzt. Das Licht bahnt sich ab und zu als freudiger Rhythmus seinen Weg zwischen den Schatten hindurch.

    Dota Kehr erhebt für sich den Anspruch, dass ihre Kompositionen nicht wie vertonte Gedichte, sondern wie eigenständige Songs klingen sollen. Das ist ihr vortrefflich gelungen. Im Vergleich zu ihren eigenen Wortschöpfungen zeigt sich darüberhinaus eine verblüffende Geistesverwandtschaft zu Mascha Kaléko, da ihre Aussagen über einen ähnlich feingeistigen Humor und sinngleiche Themen verfügen.

    Die Band (Jan Rohrbach, Bass; Janis Görlich, Schlagzeug; Jonas Hauer, Keyboards) und die Gäste an Streich-, Blas- und Tasteninstrumenten unterstützen Dota Kehr (Gesang, akustische Gitarre) aufmerksam, einfühlsam und spritzig.

    Auch die Beiträge der verschiedenen Gastsängerinnen und Gastsänger, zu denen unter anderem noch Black Sea Dahu, Sarah Lesch und Funny van Dannen gehören, sind durchgängig sinnvoll, sensibel und bereichernd. Beinahe hätte sogar Patti Smith, die auf den ersten Teil der Kaléko-Songs aufmerksam geworden war, als Duett-Partnerin teilgenommen. Aber leider hat die Rechteinhaberin der Kaléko-Texte nicht die Genehmigung zur Vertonung der Übersetzung von "Die frühen Jahre" erteilt.

    "In den fernsten der Fernen" bringt zusammen, was zusammengehört: Kluge Texte, eine abwechslungsreiche Instrumentierung und eine Sängerin/Komponistin mit einem Gespür dafür, wie fremde Wortschöpfungen in eine Gestalt gebracht werden können, dass sie wie eigene Beiträge anhören. Vertonungen von Lyrik klingen häufig gekünstelt, holprig oder wie Hörbücher. Hier wurde alles richtig gemacht, sodass die Kaléko-Vertonungen hinsichtlich der Geschmeidigkeit nicht von den Eigenkompositionen von DOTA zu unterscheiden sind. Ob der Sound nun dem Liedermacher-Genre zuzurechnen ist oder Folk- oder Jazz-Pop-Elemente beinhaltet, DOTA machen bei jeder Interpretation eine gute Figur.

    Die Verse von Mascha Kaléko, die ihre Dichtung als "ironisch-romantische Großstadtlyrik" bezeichnete, sind im Grunde genommen zeitlos, auch wenn sie manchmal das Gesellschafts- und Sittenbild ihrer Lebensphase abbilden. Sie machen Lust darauf, die Poesie in Gänze kennen zu lernen. DOTA erweist der Lyrikerin durch ihre gehaltvoll-lockere künstlerische Wiedergabe ein würdevolles Andenken und krönt ihre eigene Leistung erneut mit einer sehr empfehlenswerten Liedersammlung!
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    26.11.2023
    Klang:
    4 von 5
    Musik:
    4 von 5
    Pressqualität:
    4 von 5

    Loupe liefern den Soundtrack für den Sommer. Die Musik wird aber auch die Stimmung in den dunklen Tagen aufhellen.

    Jedes Jahr hat seine Sommer-Hits. Wobei damit natürlich nicht irgendwelche abstoßend-widerlichen Ballermann-Mitgröhl-Schlager gemeint sind, sondern gepflegte Unterhaltung, die leicht und luftig die Seele streichelt. 2023 kann Loupe diese Funktion übernehmen, denn "Do You Ever Wonder What Comes Next?" vermittelt die gewünschten Qualitäten und macht unter Umständen einen Tag mit unangenehmen Eindrücken zu einem freundlichen Tag. Um den positiv gestimmten Zweck zu erfüllen, simuliert das Rhythmus-Gerüst von Annemarie van der Born am Schlagzeug und Lana Kooper am Bass eine stimulierende Bewegung. Das trägt außerdem dazu bei, den gewünschten Herzschlag-Takt zu erzeugen, der jeden Song leicht und locker oder energisch und stramm begleitet. Zusammen mit der E-Gitarre von Jasmine van der Waals, die stets zupackend, aber nie protzig klingt, ergibt sich ein flexibles Klangbild voller geschmackvoll-delikater Färbungen.

    Loupe ist ein erfrischend agiles Frauen-Quartett aus Amsterdam, das sofort durch die Sängerin und Keyboarderin Julia Korthouwer auffällt, weil ihr Gesang einerseits unschuldig, andererseits aber auch erfahren wirkt. Die jugendlich strahlende Stimme besitzt nämlich neben Feingliedrigkeit auch Tiefgang. Diese Möglichkeiten setzt die Niederländerin geschickt ein, um den Songs eine dynamische Komponente einzuhauchen.

    Dreizehn abwechslungsreiche Lieder haben die vier Damen für ihr Debüt-Album zusammengetragen: Die Percussion schnarrt aufreizend, Gitarre und Bass vereinen sich zum fantasievollen Liebesspiel und Jasmine van der Waals vermittelt durch ihren freudig-optimistischen Ausdruck bei "I Keep Changing" ungehemmte Lebensfreude.

    Der Pop-Funk von "Caught In The Moment", "Lonely Dance" und "I Get It Now" durchlebt nur wenige holprige Break-Beat-Passagen, dafür aber viele harmonische Momente, wobei dann auch der Gesang himmelwärts strebt und die Stücke siegesbewusst aufblühen lässt.

    Die unverdrossene, selbstbewusst-schwungvolle Grundhaltung der Girl-Groups vom Motown-Label, wie The Supremes ("Baby Love"), The Marvelettes ("The Hunter Gets Captured By The Game") oder Martha & The Vandellas ("Dancing In The Street") prägt die Stimmung von "So Far So Good". Der Titel weist musikalisch jedoch eher in Richtung New Wave und da auf solch herausfordernde Formationen wie Martha & The Muffins ("Echo Beach") oder The Soft Boys ("Underwater Moonlight").

    "My Hands" entpuppt sich temporär als Wolf im Schafspelz: Umgarnt der Song die Sinne grundsätzlich leicht und verführerisch, so sprechen die schroff tönenden E-Gitarren zwischendurch eine ganz andere Sprache: Wilde Leidenschaft und schreiender Zorn lassen die Stimmung kurz aufkochen, sodass sich die Gemütslage neu ordnen muss, um die Welt wieder ausgeglichen erscheinen zu lassen.

    Eine träumerische und eine hymnische Komponente vereint "When It All Comes Back" zu einem sensiblen und stürmischen Pop-Song mit Hit-Potenzial.

    Psychedelisch züngelnd und mit bedrohlichen Dark-Wave-Mustern versehen trotzt "Warning Sign" allen Versuchen, nur als lieblich und gut gelaunt durchzugehen.

    Folk-Rock im Loupe-Stil hört sich nachdenklich, gelassen, mysteriös und raffiniert an, wie "Boat Flight" verdeutlicht.

    Unschuldig, leichtfüßig, von Sonne durchflutet zeigt "It’s Getting Wild, Getting Older" dann durchgehend eine heitere, unbeschwerte Seite.

    Die E-Gitarre klackt und klickt für "Catch My Swing" aufgeregt-lustvoll und der Gesang steigert sich unterdessen von unauffällig-mitteilend über anschmiegsam-wohlig bis hin zu euphorisch-freudvoll. Eine überwiegend rauschend-sphärisch gestaltete Phase schließt das von einer verschiedenartigen Rhythmik gestaltete Lied zum Schluss herausfordernd ab.

    Wenn Underground-Folk-Zurückhaltung auf Disco-Coolness und Alternative-Rock-Aufbegehren trifft, dann kann daraus sowas wie "Holding Me Too Tight" entstehen.

    Hinterlässt "Vortex" zunächst noch einen unspektakulären Eindruck, so nimmt das Stück nach mehreren Anläufen Fahrt auf und macht seinem Namen Ehre: Die Musikerinnen erzeugen nämlich einen besonnen zirkulierenden instrumentalen Wirbel, der unterschiedliche Tempi annimmt und den Song auf diese Weise allmählich doch noch attraktiv werden lässt.

    Viele Texte drehen sich darum, inmitten all der Hektik etwas zu finden, woran man sich festhalten kann, lässt Julia Korthouwer wissen. "Do You Ever Wonder What Comes Next?" dient also nicht nur als beflügelnder Begleiter durch die Zeit, sondern vermittelt direkt und unterschwellig philosophische Grundsätze einer individuellen Lebensart, wobei es inhaltlich um die Bewältigung der Gegenwart und der Abschätzung der zukünftigen Möglichkeiten und Gefahren geht. Das Album ist also ein schönes Beispiel dafür, wie Unterhaltung zugleich unverkrampft und niveauvoll sein kann.
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    O Monolith Squid
    O Monolith (CD)
    26.11.2023
    Klang:
    5 von 5
    Musik:
    5 von 5

    Das furiose Sound-Abenteuer von Squid geht mit "O Monolith" ungefiltert und ungebremst weiter.

    Das erste Album von Squid ("Bright Green Field" aus 2021) war eine Wucht. Eine Wucht an Energie, eine Wucht an Kreativität und eine Wucht an mutigen, extravaganten Klang-Mosaiken. Die Gruppe um Ollie Judge (Gesang, Schlagzeug), Louis Burlase (Gitarre, Gesang), Anton Pearson (Gitarre), Laurie Nankivell (Trompete, Bass) und Arthur Leadbetter (Keyboards) war nach dem ersten Album durch die positiven Resonanzen von Presse und Publikum so euphorisiert, dass sie sofort an die Arbeit zur Entwicklung neuer Songs ging. Das Ergebnis heißt "O Monolith" - was für ihren sturen Umgang mit unkonventionellen Mitteln steht - und wurde am 6. Juni 2023 in die Welt entlassen.

    Denkt man am Anfang von "Swing (In A Dream)" noch, Squid hätten durch schwebend-minimalistische Töne unter Verwendung von swingender Percussion eine neue Leichtigkeit für sich entdeckt, so belehren uns die jungen Wilden im Laufe des Stücks eines Besseren. Als nämlich der Gesang einsetzt, legt sich eine dunkle Wolke über den Song, die zunächst nur mit verhalten geäußertem Aggressionspotential ausgestattet ist. Die angespannt-bedrohliche Atmosphäre schaukelt sich dann aber durch klatschend-peitschende Taktgeber und fies-aggressive Gitarren-Salven mehr und mehr hoch, bis es zur tosenden, wütenden Entladung kommt.

    Auch "Devil’s Den" kostet einen breiten Dynamik-Bereich voll aus, der von jazzig-meditativ bis wild-über die Stränge schlagend reicht. Der Song badet in einem Meer aus psychedelischen Folk-Sounds und lässt sich lange nicht provozieren. Dann passiert es aber doch noch, dass der Track massiv aus der Haut fährt und zum schrillen Krach-Monster mutiert, welches völlig außer Rand und Band gerät.

    Neues Lied, ähnliche Vorgehensweise: Behäbige Jazz-Grooves und sphärische Space-Sounds konkurrieren beim "Siphon Song" miteinander. Der Lead-Gesang klingt verfremdet, wie aus dem Computer und erinnert an die Stimm-Experimente von Laurie Anderson ("O Superman"). Die Chor-Stimmen agieren wortlos, aber es ist durchaus möglich, dass auch die Sirenen, die Odysseus auf seinen Irrfahrten in den Tod leiten wollten, so verführerisch sangen. Im Hintergrund braut sich nebenbei allmählich ein Unwetter zusammen, das jegliche Harmonie zusammenbrechen lässt. Nach dem Chaos folgt der Neuaufbau, der aber auch einem unheilvollen Schicksal ausgesetzt zu sein scheint. Squid sind Meister im Inszenieren von Mini-Dramen von apokalyptischen Ausmaßen.

    Wenn der Funk-Groove aus dem dreckigen Untergrund kommt, der Gesang dem Irrsinn nahe kommt und die übrigen Instrumente ein Eigenleben entwickeln, aber der ganze Tumult dennoch Sinn ergibt, dann kann man sicher sein, dass das Quintett Squid dahintersteckt. In diesem Fall wird mit "Undergrowth" ein unberechenbar ablaufendes Stück Musik angeboten, welches durch den kaputten Rhythmus noch lange im Kopf nachhallt.

    Elektronische Spielereien, R2D2-Geräusche, Captain Beefheart-Break-Beats, eine Young Marble Giants-Gedächtnis-Beat-Box, Gesang, der sich zwischen Langeweile und Wahnsinn wohlfühlt, sowie psychedelische Minimal-Art-Strukturen kennzeichnen das von Zukunfts-Angst getriebene "The Blades".

    "After The Flash" marschiert ohne Gleichschritt, ungelenk, unbelehrbar und unsensibel. Ein plötzlicher Stillstand lässt dann auf akustische Weise Licht entstehen, bevor der rumpelnde Trott weitergeht, die Trompete eine Untergangs-Fanfare ertönen lässt und die Welt untergeht.

    Das Energielevel von "Green Light" scheint am Anschlag des Möglichen zu sein, das Tempo entwickelt sich bis hin zu atemberaubend stürmisch und die abrupten Kurs-Änderungen sind irrwitzig und kontrastreich. Bitte anschnallen, sonst schleudern einen die heftigen Bewegungen aus dem Sitz.

    So sperrig, wie der Titel "If You Had Seen The Bull’s Swimming Attempts You Would Have Stayed Away" erscheint, ist auch die Musik: Elektronische Geräusche mit Schräglage, ein mächtig dröhnender Funk- und Jazz-Bass; Percussion in sonnig-karibischer Stimmung; E-Gitarren, die unangenehme Nadelstiche setzen; eine Trompete, die beschwichtigend unterwegs ist; Solo-Gesänge, die aufstacheln oder besänftigen und Harmonie-Stimmen der großartigen Shards, die Ollie Judge gefühlvoll unterstützen oder sakrale Ergriffenheit vermitteln. Das alles und noch viel mehr schrille Klang-Splitter oder theatralisch aufgeblasene Einblendungen werden in fünf Minuten mit einer betriebsamen Intensität verdichtet, als würde ein ganzes Leben an einem vorbeiziehen.

    Treiber und Provokateur bei diesem tosend-ungezügelten Musik-Zirkus ist Sänger Ollie Judge, der auch als Schlagzeuger fungiert. Mit seinen an Mark E. Smith von The Fall erinnernden Word-Tiraden, seinen marktschreierischen Gebärden, wie sie auch vom B-52s-Sänger Fred Schneider ausgeübt wurden oder seiner rotzig-provokativen Stimme, die sich nach John Lydon von P.I.L. anhören kann, erobert er sich häufig einen Platz in der ersten Reihe. Judge entpuppt sich als Enfant terrible der Truppe aus Brighton (England), wobei er alle anderen Eskapaden in den Schatten stellt und als Dreh- und Angelpunkt der Geschehnisse fungiert. Der Frontmann nutzt sowohl die tonalen wie auch die atonalen Bereiche, um je nach Bedarf mit seinen Kollegen zu kooperieren oder sie aufzumischen. Das verleiht den Kompositionen entweder eine starke Geschlossenheit oder eine pfeffrige Schärfe.

    Trotz der schwierigen Tempo- und Dynamiksprünge verliert das Quintett nie den Faden, spielt sich die exakt geschossenen oder angeschnittenen Bälle zielsicher zu und entwickelt ein Feuerwerk an extremen Situationen, die sogar innerhalb eines Stückes unerwartet aufeinanderprallen können. Die Songs durchleben häufig einen Lebenszyklus, der sie gemäßigt beginnen lässt, sie aber irgendwann mit brachialer Gewalt an den Rand der Verzweiflung führt, wo sie kollabieren, sich zersetzen oder schlicht explodieren. Obwohl diese Methodik oft eingesetzt wird, nutzt sie sich nicht ab, denn sie läuft im Detail immer etwas anders ab, bleibt unverhofft und überraschend.

    "O Monolith" ist ein würdiger Nachfolger von "Bright Green Field" geworden. Squid haben weder an Ideenvielfalt, noch an Wucht und Energie eingebüßt. Ihr seltsamer, verdrehter und wuchtiger Art-Punk ist ziemlich einzigartig, aber nicht artig. Die Musiker wirbeln tüchtig Staub auf und agieren oft so raubeinig, dass ihre zarte Seite, die durch warmherzige Holz-Bläser edel herausgestellt wird, manchmal ins Abseits gerät. Sie blüht im Verborgenen und kann ihre Schönheit oft nur indirekt offenbaren. Das gehört anscheinend zum Konzept, denn Squid wollen manchmal verstören, erregen und auffallen. Krach, Kakophonie und Konflikte werden aber fein abgestimmt eingesetzt, sodass kein Song in der Dissonanz versinkt, sondern belebend-sonderbare Effekte erhält, die zur Steigerung der Attraktivität beitragen.

    Was nun bald folgt, ist das für viele Bands schwierige dritte Album, das häufig eine Bewährungsprobe oder eine richtungsweisende Form darstellt. In der aktuellen Verfassung braucht man sich aber bei der anstehenden Herausforderung um Squid keine Sorgen zu machen.
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    Such Ferocious Beauty Cowboy Junkies
    Such Ferocious Beauty (CD)
    08.10.2023
    Klang:
    5 von 5
    Musik:
    5 von 5

    Die Cowboy Junkies können vieles, aber ein schlechtes Album können sie nicht machen.

    Und um es vorwegzunehmen: An der beständigen, hohen Qualität hat sich auch mit dem neuen Werk nichts geändert. 37 Jahre liegen zwischen der ersten Veröffentlichung der Cowboy Junkies aus Kanada ("Whites Off Earth Now", 1986) und "Such Ferocious Beauty". Die Band hat sich seitdem ihren unverkennbaren Sound erhalten, den besonders Sängerin Margo Timmens mit ihrem sphärisch leichten, vernebelten, aber durchdringenden, nach einem Sinn suchenden Gesang prägt. Die Gruppe pendelt dabei zwischen allen Americana-Spielarten wie Blues, Folk und Country, bezieht aber auch Rock und Pop mit ein. Sie variierte ihren speziell konstruierten Klang über die Jahre nur geringfügig, hinterlässt aber trotzdem stets einen frischen und spannenden Eindruck - selbst bei den Balladen. Die über die Jahre vorgenommenen Anpassungen sind marginal, aber wirksam. Sie liegen im Detail, in den die Räume füllenden Extras etwa oder in den unterschiedlichen Schichtungen der Klänge und der unterschiedlichen emotionalen Gewichtung der Stimme von Margo Timmens.

    Die wilde Schönheit, nach dem das neue Werk benannt ist, wird auch Leben genannt. Als Symbol für all die Pracht und Vergänglichkeit ist auf dem Cover ein hübscher, aber kurzlebiger Falter dargestellt. Es gibt auch wieder dezente Sound-Erweiterungen und vorsichtige Veränderungen, die dem typischen Sound-Gefüge aber nichts Revolutionäres anhaben können. Zu gefestigt sind dafür die ästhetischen Grundsätze der Geschwister Margo (Gesang), Peter (Schlagzeug) und Michael Timmens (Kompositionen, Gitarre) und die ihres Freundes Alan Anton (Bass, Kompositionen), die seit 1985 zusammen musizieren.

    "Such Ferocious Beauty" ist eine Art Konzept-Album geworden, bei dem es häufig um die Themen Vergänglichkeit, Akzeptieren von Schicksalsschlägen und Überleben in schweren Zeiten geht. "In der menschlichen Existenz gibt es großen Kummer und großes Leid, aber auch große Freude und Trost. Ich habe vor nichts mehr Demut, als vor der wilden Schönheit, in der wir leben, das schließt auch den Tod mit ein", gibt Margo Timmens zu Protokoll. Für die neuen Songs bedeutete dieser Leitspruch, dass die entworfenen Klänge die gleiche Wertigkeit wie die Poesie bekommen sollten.

    Mit der textlichen Blues-Phrase "Ich wachte morgens auf ..." setzt der Gesang bei "What I Lost" ein. Und schon bald sind wir mittendrin im Geschehen um die Trauer um einen geliebten Menschen. Hintergrund dieses Songs ist nämlich die Demenz und der Tod des Vaters der Timmens-Geschwister. Er taucht dann auch beinahe geisterhaft neben anderen Verwandten in Ausschnitten aus dem gemeinsamen Familienleben im Video zu "What I Lost" auf, was der Tragik ein Gesicht verleiht, sie greifbar und bemitleidenswert erscheinen lässt. Die Gitarre spuckt Feuer und sondert Töne ab, die von einer Totenglocke stammen könnten. Der dröhnende Bass fährt unheilvoll in die Därme und das Schlagzeug zischt und stampft vor Aufregung. Margo singt dazu, wie eine Person, die grade schlechte Nachrichten erhalten hat, die sie verkündet, obwohl sie noch geschockt und voller Entsetzen ist. Das ist ein intensives Bad in belastenden Gefühlen und stellt eine Herausforderung an die Standhaftigkeit dar, die schnell überfordert sein kann - diese Ausnahmesituation vermittelt die Band überaus authentisch.

    Die E-Gitarre behält ihre Aggressivität bei und flutet "Flood" mit Feedback und verzerrten Tönen. Der Gesang ist sanft-harmonisch und fängt die Wut auf, während das Rhythmus-Gespann ausgleichende Lockerheit beisteuert. Die Musiker zeigen einmal mehr, welche emotionale Vielfalt sie wie selbstverständlich verknüpfen und ausspielen können. Ist es elektrifizierender Folk-Rock, der dabei entsteht oder ein Chanson mit Aggressionspotential oder Pop mit Garagen-Rock-Innereien? Alles richtig und auch falsch. Man mag darüber spekulieren, in welche Schublade die Musik gesteckt werden kann, letztlich spielt das keine Rolle, Hauptsache sie betört und versetzt einen in die Lage, sich ihr ganz hingeben und sie genießen zu können. Und das tut sie: ein Volltreffer!

    Den Versuch einer Einordnung soll es noch für "Hard To Build. Easy To Break." geben, um die Flexibilität der Gruppe darzustellen: Das Lied lebt von einem herzhaften Southern-Rock-Groove, der den kräftigen Puls des Stückes bestimmt. Die E-Gitarre ist auch hier kratzbürstig und für die scharfen Töne zuständig, während der Rest der Truppe für die Geschmeidigkeit sorgt.

    Es ist schon erstaunlich, zu welcher prägenden melancholischen Stimmung eine Geige beitragen kann, wenn sie wie hier einfühlsam und langsam von James McKie gespielt wird. Ein kurzes Solo am Anfang von "Circe And Penelope" reicht schon aus, um die Sinne in einen andächtigen Modus zu versetzen. Da alle anderen Beteiligten auf diesem Level mitspielen, entsteht eine anrührend schöne und traurige Ballade.

    Christen glauben daran, dass nach dem Tod die Hölle drohen kann. Für Atheisten ist klar, dass es unter Umständen die Hölle schon zu Lebzeiten auf Erden gibt. Mit diesen und anderen Glaubensansätzen beschäftigt sich auch "Hell Is Real", ein Track, der durch seine anrührende Schlichtheit und durchdringend-gewaltige Gefühlslage besticht.

    "Shadows 2" wurde durch das DH Lawrence Gedicht "Shadows" inspiriert. Er schrieb eine Reihe von Gedichten, in denen er über seinen Tod nachdachte, als er sich dem Ende seines Lebens näherte. Ich schrieb den Song, als unser Vater immer mehr in seine Demenz verfiel und die Welt um ihn herum verlor. "Shadows 2" beginnt aus der Sicht des Protagonisten des Songs (mein Vater), der merkt, wie seine Welt verschwindet, und wechselt am Ende zum Standpunkt des Erzählers (mir), der zusieht, wie er vergeht", erläutert Michael Timmens seine Gedanken zur Entstehung von "Shadows 2". Unterlegt werden diese Gedanken mit gütig-behutsam fließenden Tönen, die eher Dankbarkeit als Trauer ausdrücken.

    Ein kaum variierter Orgel-Dauerton begleitet "Knives" über seine gesamte Laufzeit hinweg. Der monotone Schlagzeug-Takt bestätigt den statischen Eindruck und die fantasievolle Geige arbeitet fleißig dagegen an. Margo holt das Stück mit ihrem konzentrierten, akzentuierten Gesang aus der stoischen Einschränkung heraus und verwandelt es in ein hypnotisch-fesselndes Gebilde.

    Der Boxer Mike Tyson ist in vielerlei Hinsicht ein negatives Vorbild: Private Konflikte "löste" er gelegentlich mit Gewalt, er wurde wegen Vergewaltigung verurteilt und in einem Boxkampf gegen Evander Holyfield biss er diesem 1997, nachdem er nach drei Runden nach Punkten zurückgelegen hatte, ein Stück seines Ohres ab. Wenn man so will, ist "Mike Tyson (Here It Comes)" ein Plädoyer gegen Rücksichtslosigkeit, Gewalt und Überheblichkeit, das durch sich abwechselnde intime und schäumende Klänge akustisch aufbereitet wird. Der Gesamteindruck der Darbietung ist gebremst aufwühlend - Zorn mit angezogener Handbremse beschreibt es in etwa.

    "Throw A Match" ist der einzige etwas zügigere Titel auf dem Album, zumindest was die Instrumentierung angeht. Gitarren und Percussion sorgen für Tempo, Margo folgt dem nicht so ganz, bleibt nur vorsichtig optimistisch, bringt dadurch aber gesanglich reizvolle Kontraste in diesen Folk-Rock-Groove ein.

    "Blue Skies" beginnt mit 20 Sekunden langer Stille - zur Andacht, zum Sammeln, zum Innehalten. Es folgt eine Ton-reduzierte Passage, die nur durch akustische Gitarre und Gesang gefüllt wird. Im Hintergrund sind ungefilterte Geräusche zu vernehmen, die aus dem Studio, aber auch aus der Natur stammen können. Die ergriffene Atmosphäre wird jedenfalls noch durch vorsichtig hin getupfte, sirrende Klänge aufgefüllt, aber dadurch nicht beschädigt. Mit diesen in sich gekehrten Schwingungen geht das Album würdevoll zu Ende. Ein angemessener Abschluss.

    Fest steht wiederum: Die Cowboy Junkies können keine schlechte Platte machen. Mit "Such Ferocious Beauty" ist ihnen sogar ein besonders eindringliches Werk gelungen, das einen vorderen Platz in ihrer üppigen Diskografie verdient. Begeisterung macht sich breit: Mit dieser Platte ist ein Musterbeispiel an austarierten Sounds zwischen hart und weich, streng und emotional sowie robust und feinfühlig entstanden, welches alle diese Kontraste virtuos verwirbelt. Manchmal geschieht das sogar gemeinsam in einem Song. Es gibt kein mittelmäßiges Lied auf diesem Album, sie alle stechen jeweils mit besonderen Merkmalen heraus und ergeben als Ganzes eine hinreißende Kollektion an zeitlos wertvoller Musik.
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    Will & James Ragar Will & James Ragar
    Will & James Ragar (CD)
    07.10.2023
    Klang:
    4 von 5
    Musik:
    4 von 5

    "Will & James Ragar One" ist ein schändlich übersehenes Folk-, Pop- und Jazz-Fusions-Album von 1980.

    Das Jahr 1980 war bei den gut informierten Musikliebhabern durch Alben von den Talking Heads ("Remain In Light"), The Clash ("London Calling"), Wipers ("Is This Real"), Feelies ("Crazy Rhythms"), The Jam ("Sound Affects"), Siouxsie & The Banshees ("Kaleidoscope"), Fehlfarben ("Monarchie und Alltag"), Echo & The Bunnymen ("Crocodiles") oder Joy Division ("Closer") geprägt. Da war kaum Platz für überholt angesehene Genres wie Country-Rock oder Easy Listening. Deshalb wurde "Will & James Ragar One" wahrscheinlich nicht entsprechend gewürdigt und verschwand in der Versenkung. Gut, dass es Labels wie BBE-Music gibt, die ständig auf der Suche nach vergessenen Perlen sind und denen es zu verdanken ist, dass diese zeitlos schöne Platte neu veröffentlicht wurde!

    Sonnig strahlend, cool groovend, mit gut gelaunten karibischen Schwingungen ausgestattet, geht die Rarität zuerst mit "As The Day Grows Tired" ins Rennen, wobei selbst das Gitarren-Solo am Ende des Stückes zur unbeschwerten Laune beiträgt und nicht intellektuell verkopft ist. Das erinnert stark an Yacht-Rock-Pioniere wie Firefall, Bread, Loggins & Messina oder Seals & Crofts. Bei "She's Laughter" gehört eine große Portion Folk-Jazz zum Klangbild, was die Komposition sympathisch eigenwillig erscheinen lässt.

    "My Shining Sun" gibt sich dann vermehrt den improvisierten, träumerischen Tönen des West-Coast-Folk-Rock-Hippie-Sound hin. Weiter geht es in Richtung Jazz: "Don't I Wish To Be Free" hat neben der E-Gitarre eine Flöte als Lead-Instrument und swingt im Late-Night-Bar-Modus.

    Die Flöte bleibt auch bei "Melting Pot" Sound-bestimmend, muss sich das Klangvolumen aber mit einem dezenten, jedoch lautmalerisch richtungsweisenden Jazz-Schlagzeug teilen. Hinzu kommen noch eine selbstbewusste Gitarre und Synthesizer-Schwingungen, die weitläufige Akustik-Nebel verbreiten. Als Instrumental-Stück macht "Melting Pot" eine etwas beliebige Figur. Es hört sich beinahe wie ein Pausenfüller an, der es allen Recht machen will und sich grade deshalb zwischen alle Stühle setzt. Der beflügelnde Duett-Gesang von Will & James wird hier schmerzlich vermisst, denn er hätte für reizende Konturen sorgen können.

    "Needs" und "Hidden Away" sind sentimentale Folk-Pop-Balladen, die nahe an der Kitsch-Grenze angesiedelt sind, durch ihre brillante Instrumentierung aber noch die Kurve in Richtung "angenehmer Easy-Listening-Sound" bekommen. "Parade" basiert auf filigranem Barock-Pop, wurde aber so weit abgespeckt, bis als Begleitung nur noch zwei virtuose Akustik-Gitarren übrig blieben.

    Bei "Louisiana Fall" kommt der übertrieben starke Tremolo-Gesang gekünstelt rüber. Das reibt sich an dem um Ernsthaftigkeit bemühten Track und torpediert den intensiven Jazz-Bezug, was dem fließenden Hör-Genuss arg zusetzt.

    Das Etikett diskreter, psychedelischer Folk passt recht gut zum Lied "Just A Wanderer". Das bedächtige, geheimnisvoll zurückhaltende Lied spielt mit der sich ergänzenden Wirkungen von Ruhe, Transparenz und Individualität. Die Komposition hätte sehr gut ins Repertoire von David Crosby gepasst.

    Der Instrumental-Titel "Oregon" weist zunächst ähnliche Qualitäten wie "Just A Wanderer" auf, bekommt aber nach etwa der Hälfte der fünf Minuten Spielzeit eine vitalisierende Spritze verordnet, so dass Tablas und eine akustische Gitarre für rhythmischen Schwung sorgen. Das Stück hätte sicher auch einen angemessenen Platz auf dem bizarren Psychedelic-Rock-Werk "Just For Love" von Quicksilver Messenger Service unter Leitung von Dino Valenti finden können.

    Diese Wiederveröffentlichung wurde noch mit den beiden Titeln einer Single aus 1980 als Bonus-Tracks ausgestattet. Dabei handelt es sich um die teils schmachtende, teils lebhafte Karibik-Soul-Nummer "Forever" mit einem langen, schmierigen Synthesizer-Solo am Ende und dem Pseudo-Soft Rock-Swing "Bayou Paradise".

    Das Bruderpaar Will & James Ragar musizierte schon in den 1970er Jahren als The Will James Duo und The Will James Band zusammen und spielte dabei unter anderem Songs von Neil Young, Stephen Stills, George Benson, Leon Russell, The Allman Brothers Band, The Nitty Gritty Dirt Band oder Jimi Hendrix. 1980 hatten sie dann ihren persönlichen Stil gefunden und ließen in "One" alle ihre Einflüsse aufgehen.

    Die Brüder spielten in der Folgezeit noch im Vorprogramm solcher Hochkaräter wie Leon Russell, David Bromberg, Billy Cobham oder Stephen Stills, blieben aber ein lokaler Geheimtipp in Louisiana. Zu weiteren gemeinsamen Veröffentlichungen kam es leider nicht und "One" blieb bis jetzt ein gut gehütetes Geheimnis, das jetzt zur Entdeckung freigegeben ist und mindestens viele Soft-Rock-, Soul-Pop- und Folk-Jazz-Fans interessieren dürfte.
    Mushroom Cloud A.S. Fanning
    Mushroom Cloud (CD)
    07.10.2023
    Klang:
    5 von 5
    Musik:
    5 von 5

    Hinein ins Jammertal und hinaus in eine bessere Zukunft: A.S. Fanning verarbeitet mit "Mushroom Cloud" seine Lebenskrisen.

    Der Sänger, Musiker und Komponist A.S. Fanning ist Ire, lebt aber seit 2011 in Berlin. "Mushroom Cloud" ist sein drittes "Exil"-Album, das er dieses Mal mit einer festen Band, bestehend aus Bernardo Sousa (E-Gitarre), Dave Adams (Tasten-Instrumente), Jeff Collier (Schlagzeug, Percussion), Felix Buchner (Bass) und Produzent Robbie Moore (Hintergrundgesang, Percussion, Synthesizer) in nur fünf Studio-Tagen aufgenommen hat. Nachträglich wurden dann noch ein Streichquartett bei zwei Songs, etwas Percussion und auf "Sober" eine Steel-Gitarre hinzugefügt.

    Die Songs entstanden unter dem Einfluss von Isolation (Pandemie) sowie Traurigkeit (Tod des Vaters) und Unsicherheit (Trennung nach einer 13jährigen Beziehung). Ganz abgesehen von den belastenden, Angst einflößenden Nachrichten aufgrund der unsicheren Weltlage (Klimawandel, Artensterben, zunehmende faschistische Tendenzen, Krieg in Europa). Keine guten Voraussetzungen, um optimistisch in die Zukunft zu blicken! Deshalb wohl auch der erschütternde Titel "Mushroom Cloud", der für die Atompilz-Wolke nach einer nuklearen Explosion steht, was auch ein Synonym für die Apokalypse ist.

    "Lass mich dieses sinnlose Leben mit dir teilen. Im Schatten der Pilzwolke", heißt es dann auch im Eröffnungs-Stück "Mushroom Cloud". Die Streicher bestätigen diese Hoffnungslosigkeit, die durchaus auch auf persönliche Katastrophen - wie in diesem Fall die Trennung - übertragen werden kann. Fannings Stimme lässt auf der anderen Seite weise Gelassenheit in diese Schicksals-Sinfonie einfließen: Sein milder Bariton kommentiert die aussichtslose Situation liebevoll und sanft. Der Song verweilt dennoch in einem melancholischen Milieu, welches durch schwelgende Schönheit Ehrfurcht auslöst.

    "Conman" verfügt über einen hypnotisch-monotonen Beat-Box-Dschungel-Rhythmus, der das Lied auf moderne Weise in die Voodoo-Kultur einführt. Eine ganze Weile läuft der Track stoisch groovend ab, bis die Keyboards die auf suggestive Formen aufgebaute Welt durch splitternd-kreischende, zerschossene Sequenzen unsicher werden lässt. Die Musiker emulgieren unterdessen kontrastreiche Emotionen detailverliebt zu einem charmanten, dunklen Chanson mit Endzeit-Visionen ("An dem Tag, an dem der Betrüger kommt, wird er jeden vergiften"). Dumme, arrogante und brutale Herrscher können diese Schrecken schnell Realität werden lassen.

    Sind wir von Geistern umgeben? Für "Haunted" wird das Thema Spuk-Haus in den Text eingewoben, um dem Unerklärlichen ein Gesicht zu verleihen ("Die Wirkung ist ein Teil der Ursache"). Man stelle sich den Gesang von Jim Morrison auf "Waiting For The Sun" vor, als er sowohl wild entschlossen, wie auch wohlwollend seine Stimmbänder in den Dienst der kreativen Sache stellte. Sein damaliges Vorbild Frank Sinatra suchte nach vollendeter Reife und in diesem Hinblick verlieh Morrison dem Lied durch abgerundete Phrasierungen räumliche Tiefe. So in etwa klingt der Gesang auch bei "Haunted": Das Abenteuer, anspruchsvolles Liedgut elegant zu arrangieren, hat hier zu einer veredelten Oberfläche geführt, die den morbiden Strukturen zu mehr Akzeptanz verhilft.

    Die herzzerreißende, schmerzvolle Tränen weinende Steel-Gitarre bei "Sober" ist drauf und dran, A.S. Fanning die Show zu stehlen, da dieser eine zurückhaltend-bescheidene Rolle einnimmt. Auf diese Weise bekommt auch das melodisch anschmiegsame Piano noch eine führende Rolle zugewiesen. Das aufmerksam einige Lücken füllende Schlagzeug wacht unterdessen über die Lebendigkeit dieser geschmackvoll auskomponierten Country-Folk-Ballade. Die Qualen einer Trennung werden darüber hinaus poetisch aufbereitet: "Es ist unerträglich, darüber nachzudenken... Losgelöst, in den Wind geschleudert... Versuchen, den Schmerz und die Angst hinter sich zu lassen".

    "I Feel Bad" verfügt im Prinzip über zwei Lebensgefühle: Ein niedergeschlagen-demoralisiertes und ein kämpferisch-zupackendes. Das Lied schlägt also irgendwann von Melancholie in Wut um. Zunächst werden allerlei Konstellationen beklagt, die schlechte Laune bereiten ("Ich fühle mich schlecht, wenn meine Gedanken kreisen, ich fühle mich schlecht, wenn das nicht so ist"), dann erfolgt die Erklärung dafür ("Ich fühle mich wie der Läufer in der Tretmühle oder der Hamster im Labyrinth"). Mithilfe einer primitiven Timmy-Thomas-Gedächtnis-Rhythmus-Box ("Why Can`t We Live Together") bekommt das melancholische Stück zunächst einen entkrampften Ruhepuls verpasst, der später im hitzigeren Abschnitt vom ungestümen Schlagzeug abgelöst wird.

    "Du wurdest geboren, um ein Glied in der Kette zu sein", heißt es in "Colony Collapse", einem selbstsicher auftretenden Stück mit desillusionierten, pessimistischen Aussagen. Als Gegenentwurf dazu werden nuancenreiche, dynamisch schwankende Spannungsbögen aufgebaut, bei denen sich die Instrumente gegenseitig Freiräume schaffen, um abwechselnd delikate und auch erhellende Einfälle zum Songaufbau beitragen zu können.

    Düstere Einstellungen und Ahnungen begleiten auch "Disease" ("Es fühlt sich an wie Krankheit. Jedes Mal, wenn ich den Raum betrete. Weiß ich, dass das Ende bald kommt"). Dennoch erhält der hypnotisch-intime Song durch seine wandelbare Gesangs-Begleitung genügend Schwung, um dem Trübsinn ein Schnäppchen zu schlagen.

    Zweifel begleiten "Pink Morning/Magic Light" ("Was ist, wenn du merkst, dass du nur aus Angst liebst? Angst vor Freundlichkeit, Angst vor dem Ruin, Angst, dass alles verschwinden könnte"). Das Lied ist trotzdem liebevoll gestimmt, zeigt durch vielversprechende Neuorientierungen und einige Dur-Sequenzen einen Weg heraus aus den Sackgassen und tritt dadurch in gewisser Weise auch therapeutisch auf. Daran können auch die tieftraurigen Streicher-Arrangements nichts ändern.

    A.S. Fanning ist es gelungen, seinen Frust und seine Ängste in kreative Energie umzuwandeln. Bei "Mushroom Cloud" handelt es sich trotz der problembehafteten Themen nicht um eine depressive Verzweiflungstat, sondern vielmehr um "konstruktive Melancholie" (Titel einer Pearls Before Swine/Tom Rapp-Zusammenstellung aus 1999), die die unerfreulichen Phase in zukunftsweisende Chancen umwandeln möchte - dazu muss man aber erst einmal durch das Jammertal hindurch.

    "Ich selbst habe nicht wirklich nach einem Silberstreif am Horizont gesucht. Ich denke, das Beste, was ich tun kann, ist, "Mushroom Cloud" als ein Dokument eines Tiefpunkts zu sehen. Eine Art verbrannte Erde, die hoffentlich zu einem Neuanfang führt", kommentiert Fanning die Szenarien, die seinem neuen Werk zugrunde liegen. Es lassen sich als Referenz zu seinen bitter-süßen Tönen einige gleichgesinnte Künstler finden, deshalb ist die dunkel-harmonische Platte auch eine Empfehlung für Fans von Nick Cave, Bill Callahan, Mark Lanegan, Matt Berninger (The National), Lambchop oder Tindersticks.
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    The Hum James Ellis Ford
    The Hum (CD)
    06.10.2023
    Klang:
    4 von 5
    Musik:
    4 von 5

    Von der zweiten Reihe ins Rampenlicht: Der Allrounder James Ellis Ford veröffentlicht mit "The Hum" sein erstes eigenes Album.

    James Ellis Ford hat in den letzten zwei Jahrzehnten einen respektablen Ruf als Komponist, Multiinstrumentalist, Produzent und Songwriter erlangt. Er arbeitete unter anderem mit den Arctic Monkeys, Depeche Mode oder The Last Shadow Puppets zusammen, machte aber auch mit Jas Shaw als Simian Mobile Disco selber Musik. Nach der Erkrankung seines musikalischen Partners lenkte er seine Aktivitäten nun in Solo-Bahnen um.


    Das Motto der Platte - also das Brummen oder Summen - kann in der Natur entstehen, aber auch von Maschinen verursacht werden. Diese Art von Geräuschen kann bei jedem Stück - manchmal mit etwas Fantasie - lokalisiert werden und bildet den roten Faden durch das Werk. Die Musik von James Ellis Ford verbindet sich mit Schwingungen aus einer Zeit, als Künstler wie Robert Wyatt, Kevin Ayers oder Peter Blegvad mit John Greaves eine improvisierte, experimentelle Rock-Musik umdeuteten und in flexible Tonfolgen transformierten, die auch Jazz-Grooves und lieblich-harmonische Accessoires enthalten durften.


    Für "Tape Loop #07", den Eröffnungstrack von "The Hum", wurden schwirrende, brummende, oszillierende Space-Sounds erzeugt, die an einen imaginären Science-Fiction-Film und an das musikalische Ambient-Music-Erbe von Brian Eno denken lassen.


    James Ellis Ford schiebt mit "Pillow Village" gleich noch einen Instrumental-Titel nach, der sich nahtlos an den Vorgänger anschließt, aber stilistisch eher im melodisch und atmosphärisch starken Chamber-Jazz wildert, wie ihn zum Beispiel das Penguin Cafe Orchestra zelebriert. Das Brummen ist hier eine Frequenz, die nebenbei abfällt und dem Rumoren nahekommt, das Bienen erzeugen, wenn sie sich über Blüten hermachen.


    Ford haderte ein wenig mit seinen Sangeskünsten, was aber völlig unnötig ist, wie "I Never Wanted Anything", der erste Track mit Gesang auf "The Hum" verdeutlicht. James Ellis hat eine milde, freundlich beschwichtigende Stimme, die nicht wegen ihres großen Umfangs, sondern durch bescheidenes Einfühlungsvermögen gefällt. Die Komposition bietet ein Füllhorn von Klängen und Einflüssen an: Merkwürdig künstliches Synthesizer-Geklimper, das sich anhört, als wäre es vom Yellow Magic Orchestra zur Verfügung gestellt worden; samtweiche Bläser-Töne, die die Hörer akustisch in den Arm nehmen; ein locker swingender, sich zurückhaltender Jazz-Funk-Rhythmus, der für agile Hintergrundgeräusche sorgt und der Gesang, der einfach nur friedvoll vermitteln möchte, sind die Hauptbestandteile dieses intelligent arrangierten Art-Pop-Songs, bei dem das dunkle Bassklarinetten-Brummen einen angenehmen, gepflegten Grauschleier ausbreitet.


    Für "Squeaky Wheel" werden quasi die Klangeigenschaften von "Tape Loop #07" und "I Never Wanted Anything" miteinander verbunden, so dass ein sphärischer Pop-Song entsteht. Das Summen ist hier ein maschinelles Rauschen, das uns aufgrund der Konditionierung durch Hollywood-Blockbuster außerirdisch erscheint.


    Durch die gedoppelte Stimme erhält "Golden Hour" einen Chor-ähnlichen Beitrag. Der Song wurde als vornehm ausgestattete, dynamisch flexible, barocke Ballade konzipiert und mit akustischen wie elektronischen Instrumenten feierlich ausgestattet. Inhaltlich geht es um den Zustand der Erleuchtung als höchste Bewusstseinsebene, also um perfekte Harmonie. Die wimmernd-melancholischen Synthesizer-Aktivitäten bilden dabei den solistischen Schwerpunkt und eine melodische Unterstützung für dieses schöne, zu Herzen gehende Lied. Der Synthesizer summt und brummt in hellen und dunklen Tonlagen und trägt dadurch zu den wesentlichen Klangfarben bei.


    "Emptiness" und "Closing Time" sind aus ganz ähnlichem Holz geschnitzt, wirken gesanglich noch etwas ruhig-meditativer, haben aber auch in mondäner Schönheit gebadet. Bei "Emptiness" wird das Brummen zum hellen Klirren und bei "Closing Time" zum Glocken-ähnlichen Klingeln und dunkel-harmonischem Summen. Das ist ein Klang, der an die "Pet Sounds" der Beach Boys erinnert. "Ich liebe rührselige Songs, aber es war so weit außerhalb meiner Komfortzone, dass ich nun tatsächlich einen schreiben wollte. Es war ein Fall von: "Überwinde dich verdammt noch mal und mach es einfach!". Es geht in dem Lied definitiv darum, älter zu werden und sich mit der Sterblichkeit auseinanderzusetzen", erklärt James Ellis Ford seine Beweggründe.


    Unter dem Kopfhörer vermittelt "The Yips" ein dreidimensionales Klangbild. Die verwendeten Ton-Muster weisen nahöstliche Züge auf, obwohl sich der Instrumental-Track im Rock-, Jazz- und Minimal-Art-Bereich bewegt. Die Weltmusik-Bezüge haben damit zu tun, dass die Frau und der Sohn von James palästinensische Wurzeln besitzen, er deshalb die dortige Kultur erforscht hat und die Ergebnisse hier offensichtlich einfließen ließ. Die verwendeten Loops können auch als wildgewordene Insektenschwärme interpretiert werden. Dann hätten wir wieder den Verweis aufs Brummen.


    Das Stück "The Hum" besteht natürlich fast nur aus Brumm-Tönen und verirrt sich dabei in einer mechanisch anmutenden, elektronischen Endlos-Schleife, die nach und nach von mehreren anderen Tonspuren überlagert und abgelöst wird.


    Als kräftig-selbstbewusster Underground-Groove-Rock mit ständig wiederkehrenden Partituren entpuppt sich "Caterpillar" und entlarvt sich dabei selbst als stoischer Verfechter monotoner Klang-Strukturen. Das Brummen geht unter anderem von Bass-Tönen aus und ist ein mächtiges, herrschsüchtiges Dröhnen, genau wie das Flirren der Keyboards.


    "The Yips", "The Hum" und "Caterpillar" ergötzen sich in endlosen Wiederholungen, die keinen hypnotischen Reiz auslösen, sondern paranoide, nervenaufreibende Abläufe aufbauen.


    "The Hum" ist ein echtes Solo-Album, denn James Ellis Ford macht alles selber. Er spielt die Instrumente, also alles was Tasten und Saiten hat, dazu noch Bassklarinette, Flöte und Tenorsaxophon, sowie Vibraphon, Schlagzeug und selbstverständlich kümmert er sich auch um das Komponieren und die Produktion. Er hätte es sich leicht machen und seine zahlreichen Kontakte zwecks Gastauftritte anheuern können, er wollte aber sein eigenes Ding machen, das kaum etwas mit seinem bisherigen Schaffen zu tun hat.


    Das zeigt sich auch in der Wahl der Klang-Landschaften: Stilistisch scheint die Musik aus der Zeit gefallen zu sein, belebt aber ein Genre, das es Wert ist, eine Renaissance zu erhalten, da es schon immer in der Öffentlichkeit zu kurz gekommen ist. Denn hier prallen zwei auf den ersten Blick unvereinbare Welten aufeinander: Easy Listening und experimenteller Pop. Das funktioniert jedoch in der Paarung mit und ohne Gesang sehr gut, wenn man weiß, worauf es ankommt. Und James Ellis Ford hat den Durchblick: Seine Schöpfungen sind so viel sagend, dass beim Hören etliche Assoziationsketten losgetreten werden, so dass man sofort die oben genannten Vorbilder auflegen möchte, um diesem viele Aspekte abdeckenden, anspruchsvollen Sound weiter zuhören zu können. Und allmählich setzt sich noch die Erkenntnis durch, dass es sich beim Begriff "The Hum" auch um die Energie und die Schwingungen handeln kann, aus denen "das Leben, das Universum und der ganze Rest" (das wunderbare Buch von Douglas Adams!) letztendlich besteht.
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    25.07.2023
    Klang:
    4 von 5
    Musik:
    4 von 5

    Von Energiekrise keine Spur: Island Of Love lassen die Gitarren glühen, den Rhythmus krachen und den Adrenalinspiegel steigen.

    Glück muss man haben! So wie das Londoner Trio Island Of Love. Die Band spielte bei der Eröffnung des Third Man Records-Store in London (dem Label von Jack White (ex-The White Stripes)) und wurde vom Fleck weg unter Vertrag genommen. Die Gruppe besteht aus den beiden gleichberechtigten Sängern und Gitarristen Karim Newble und Linus Munch sowie dem Bassisten Daniel Graldo, die zurzeit noch mit keinem festen Schlagzeuger zusammenarbeiten.

    Wenn man hört, mit welcher Wucht die Musiker auf ihrem ersten Longplayer zu Werke gehen, dann kann man sich lebhaft vorstellen, wie mitreißend sie auf der Bühne sein müssen. Ruppig und schneidend aggressiv präsentieren sich Island Of Love schon auf den ersten beiden Tracks ihres Debüt-Albums. Mit schrillem Feedback und verzerrten Gitarren mixen sie ein energiegeladenes Gebräu zusammen. Hüsker Dü und Dinosaur Jr. fallen sofort als Referenz ein.

    Sowohl getrieben-melodische wie auch kreischend-nörgelnde E-Gitarren bringen "Big Whale" in Fahrt und zum Kochen. Erst nach etwa einer Minute setzt der unter Spannung stehende Gesang ein, der das schnelle Tempo seriös begleitet, sich aber nicht überhitzen lässt. Aus dieser Situation heraus kommt der Track nach etwa der Hälfte der fünf Minuten Laufzeit beinahe zum Stillstand. Er durchläuft ein depressives Tal, um dann langsam und wütend wieder in Gang zu kommen. "Fed Rock" legt danach bei gleicher Intensität sogar noch einen Zahn an Geschwindigkeit zu.

    Für "Grow" kommen The Replacements als Paten in Frage. Der Song verbindet Punk-Frechheit und Power-Pop-Schwung nämlich auf ähnlich unbekümmert raubeinige Weise miteinander, so wie es die Band um Paul Westerberg tat. "Blues 2000" hat nichts mit dem 12-Takt-Blues-Schema des traditionellen Musik-Stils zu tun, sondern ist ein instrumentales Zwischenspiel, dass sich ganz und gar den verschränkten Akkorden der miteinander ringenden Gitarristen hingibt.

    Hinter "Sweet Loaf" versteckt sich im Grunde genommen eine liebliche Ballade, was anfangs noch durchscheint. Die knurrigen Gitarren übernehmen aber immer mehr die Regie und zerstören die eigentlich bedächtige Stimmung schließlich vollends.

    Der aufgedrehte Cow-Punk "I've Got The Secret" macht dann wieder mächtig Dampf und ist genau wie der folgende Boogie "Losing Streak" ein weiteres Beispiel für die unbändige Spielfreude der Musiker.

    Jetzt musste wohl nach dem ganzen Krawall eine akustische Ruhe-Phase her: "Weekend At Clive's" ist nichts anderes als eine kurze Übung auf der akustischen Gitarre, ist also im Prinzip nur ein Gag.

    Mit "Charles" bewegt sich Island Of Love dann sicher und abgeklärt auf dem Gebiet des elektrisch verstärkten und übersteuerten Folk-Rocks, so wie es Uncle Tupelo, die Band des Wilco-Frontmannes Jeff Tweedy und des Son Volt-Chefs Jay Farrar Anfang der 1990er Jahre praktizierten.

    "Never Understand" verführt als mitreißende College-Rock-Hymne mit einer einladenden Melodie und einer gesunden Portion Wut. Durch die Steigerung der Geschwindigkeit verweilt der Track zudem hinsichtlich seiner Durchschlagskraft ständig auf hohem Niveau.

    "It Was All OK Forever" täuscht zunächst einen romantischen Folk-Song vor, wandelt sich dann aber noch in einen schäumenden Rocker mit ausladendem, forschen Garagenrock-Gitarren-Solo. Dem schließt sich zum Ende hin wieder eine Ruhepause an, die von einem befreienden Lachen beendet wird. Nach leisen Wellengeräuschen taucht dann plötzlich und überraschend ein nicht gelisteter Track auf, der wahrscheinlich "Island Of Love" heißt. Das Stück klingt wie eine adaptierte Country & Western-Ballade, die mit Stacheldraht umwickelt wurde und in seiner knarzigen, kaputten, angetrunkenen Art ansatzweise an die Beasts Of Bourbon um Tex Perkins erinnert.

    Wer mit den bei manchen Songs zitierten Querverweisen etwas anfangen kann und es mag, wenn sich wilde E-Gitarren duellieren oder gegenseitig anstacheln, der liegt bei "Island Of Love" goldrichtig. Die Rockmusik wird hier nicht neu erfunden oder weiterentwickelt, aber die Gruppe destilliert genau die Elemente aus dem Alternative-Rock der 1990er Jahre heraus, die diese Musik so aufregend gemacht hat: Eine Kombination aus Krach, durchaus eingängigen Melodien und variabel abgestimmten Tempi in einem Mischungsverhältnis, das die Energie direkt unter die Haut gehen lässt.

    "Island Of Love" ist ein fulminantes Debüt-Album, welches ein positives Beispiel für vehemente Wellenbewegungen, also für fruchtbare Referenzen und geschickt verarbeitete Einflüsse in der Pop-Musik geworden, das Lust auf mehr macht.
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    13.05.2023
    Klang:
    5 von 5
    Musik:
    5 von 5

    Aus Alt mach Neu: "Onliness" enthält frisch aufgearbeitetes, bewährtes Material von Josienne Clarke.

    "Die Kontrolle zu haben, war eine beängstigende, aber letztendlich befreiende Erfahrung", beschreibt Josienne Clarke ihre kommerzielle Situation, denn seit der Veröffentlichung ihres 2021er Albums "A Small Unknowable Thing" besitzt die Britin nach zehn Jahren im Tonträger-Geschäft endlich die komplette Einflussnahme über die Vermarktung ihrer Musik. In diesem Zusammenhang hat sie darüber nachgedacht, ihre älteren Werke neu einzuspielen - so wie es schon Taylor Swift tat. Aus dieser Perspektive heraus ist dann "Onliness" entstanden.

    "Onliness" wurde in folgender Besetzung verwirklicht: Josienne Clarke (Gesang, Gitarre, Piano ("The Birds"), Saxophon), Matt Robinson (Keyboards), Dave Hamblett (Schlagzeug), Alec Bowman-Clarke (Bass) und Mary Ann Kennedy (Harfe). Die neuen Einspielungen sind tendenziell durchlässig-transparenter als die Originale. Es hat den Anschein, als hätte die Musikerin die spirituelle Bedeutung der Lieder jetzt erst vollständig durchdrungen, das Wesen abschließend kennengelernt und bis in die letzte Note hinein auf ihre Empfindungen hin abgestimmt.

    Psychedelischer Country-Folk mit sphärisch-filigranen Jazz-Verweisen, die Bewusstseinserweiterung versprechen - wie sie zum Beispiel gerne von David Crosby verwendet wurden - sind bei "The Tangled Tree" tonangebend. Die Neuauflage des Songs ist noch sinnlich-ergreifender ausgefallen als das Original, das Josienne 2014 mit ihrem langjährigen Partner Ben Walker aufgenommen hatte - und das war schon großartig.

    Warme, eindimensionale Bläser-Töne, die wie akustische Teppiche wirken, bilden den Einstieg und die Grundlage für "Only Me Only". Glitzernde Keyboard-Akkorde, ein den Schwebezustand ausfüllender Bass und ein aufmerksames, aber zurückhaltendes Schlagzeug bestimmen den Ablauf und der dazugehörende, alles umsäumende Gesang ist unaufgeregt, konzentriert und klar. Fertig ist ein Art-Folk-Jazz-Pop, der in kein Schema passt, aber nicht mehr aus dem Kopf gehen will.

    "It Would Not Be A Rose" beherbergt ein Rätsel. Das, um was es geht, wird umschrieben, aber nicht genannt: "Und wenn es ein Lied wäre. Wäre es gesungen mit einer langsamen und klagenden Melodie. Und wenn es ein Gesicht wäre. Würde es eine Traurigkeit enthalten, die man nicht einordnen kann." Auf diese Weise werden noch Vergleiche mit einem Vogel, einem Baum, einem Zimmer, einem Meer, einem Herz und der Erde formuliert. Aber die Lösung des Rätsels wird nicht verraten. Klar ist nur: Wäre es eine Blume, wäre es keine Rose. Diese fantasievolle Poesie verlangt nach hintergründig-geheimnisvoller Musik: Was als klassischer, nur von akustischer Gitarre begleiteter Folk beginnt, bekommt im Verlauf langsam anschwellende, geisterhafte Schwebeklänge, klagende Chorstimmen, beiläufig hingeworfene Jazz-Percussion und eine grummelnd-zerrende E-Gitarre verordnet. Das ist eine Transformation von schlicht zu extravagant, wenn man so will.

    "Ghost Light" beinhaltet einen Satz, den viele Menschen, die sich für Umwelt- und Klimaschutz engagieren, als Motivation unterschreiben würden: "Ich kann es nicht ertragen, die Welt auseinander fallen zu sehen." Dennoch ist "Ghost Light" nicht in erster Linie ein Protestsong gegen die irrsinnige Zerstörung unserer Lebensgrundlage, sondern greift vor allem Beziehungsprobleme auf. Die Musik ist gewissermaßen ein Tribut an den am 25. Februar 2020 verstorbenen David Roback. Der Gründer der Neo-Psychedelischen Bands Opal und Mazzy Star hat mit seinem zerbrechlichen, elektrisch aufgeladenen und elegischen Sound für spannende Dream-Pop-Abenteuer gesorgt und damit etliche Musiker beeinflusst. Ihm hätte das seinem Werk nachempfundene "Ghost Light" bestimmt gefallen.

    "Silverline" beschreibt den Wunsch, den Silberstreifen am Horizont zu finden, wenn schwierige Zeiten unerträglich sind. Die dafür konzipierte minimalistische Psychedelic-Folk-Rock-Untermalung holt sich ihre Anregungen gerne bei The Velvet Underground ab.

    Wie eine flüchtige Begegnung ist "Bells Ring" schon nach zweieinhalb Minuten wieder vorbei. "Unsere Liebe ist wie Glockenklang, Glockenklang. Süß und traurig. Der Sog der Sehnsucht, Sehnsucht, Sehnsucht. Ist alles was wir haben". Diese Worte werden mit Hilfe einer gleichförmig-suggestiven, sowohl sphärisch-schwelgenden wie auch beweglich-herausfordernden Ambient-Country-Begleitung relativ unberührt verkündet.

    Vertraute Situationen geben Sicherheit und sorgen für Wohlbefinden. Aber sie sind vergänglich: "Reflektionen bei Sonnenuntergang können mich so traurig machen. Denn es gibt keine Möglichkeit, den Tag, den wir gerade hatten, zu behalten", lautet der Schlusssatz zu diesem Thema bei "Something Familiar". Das Stück zeigt sich als eine schlichte, charmante Ballade, die eine intime Zwiesprache zwischen einer dezent gepickter E-Gitarre und dem gefühlvollen Gesang beinhaltet.

    "The Birds" steht dem Vorgänger hinsichtlich Empfindsamkeit in nichts nach, verfügt aber im direkten Vergleich über einen lebhafteren Schlagzeug-Rhythmus. Josienne Clarke formuliert ihre Gedanken, die zur Gestaltung des Tracks geführt haben, als inspirierende Natur-Beobachtungen: "Der Jahreswechsel, der erste Frost des Winters, seine prickelnde Helligkeit, Melancholie & Sehnsucht. Die Vögel zeichnen seltsame Muster am Himmel, ein Signal dafür, dass unsere Tage bald kurz sein werden. Glasiges Winterlicht, das im Handumdrehen verloren geht, und Dunkelheit, die sich über lange Nächte erstreckt."
    Die Honky-Tonk-Romantik von "Homemade Heartache" erinnert hinsichtlich der herzzerreißenden Sentimentalität an die Flying Burrito Brothers um Gram Parsons und ist in diesem Sinne ein gutes Beispiel dafür, warum Parsons die Country-Musik als White Soul bezeichnete.

    Für "Chicago" verarbeitet Josienne Erinnerungen an die Anfänge ihrer Karriere: "Es ist nicht Chicagos Schuld, dass niemand kam, um mich spielen zu sehen... Du schließt deinen Frieden mit dem Scheitern, eine frühe Lektion, die du lernst." Diese Erkenntnisse werden von einem bauschigen, disziplinierten Pop mit perlender E-Piano-Eleganz und milder Bläser-Elastizität flankiert.

    Der sich mühsam dahinschleppende Garagen-Rock "Things I Didn’t Need" ist ein geeignetes Transportmittel für die Gedanken an ein gebrochenes Herz: "Was hast du mir angetan, was wird das bewirken?" Die E-Gitarre versucht behäbig, mit schweren Tönen die Trümmer der kaputten Beziehung zu beseitigen, das Schlagzeug wird vom verzweifelten zum wütenden Begleiter und die Stimme bemüht sich nach Kräften, Stärke zu zeigen.

    Obwohl der Gesang des melodisch-transparenten Folk-Rocks "Bathed In Light" hell und klar ist, sind die Aussagen des Songs von Resignation geprägt: "Ich bin so verängstigt, dass ich nicht tapfer bin".

    Eine enttäuschte Liebe führt bei "Anyone But Me" dazu, dass die gekränkte Person ankündigt, sie würde am liebsten jeden Menschen auslöschen, der dem Partner etwas bedeutet hat. Mit "Denn wie kannst du es wagen, jemanden außer mir zu lieben" wird in der maßlosen Verletzung noch eine besitzergreifende Aussage draufgesetzt. Die E-Gitarre schreit die Wut heraus, der Puls des Schlagzeugs rast und die Keyboards malen dunkle Wolken in den Himmel. Der Gesang täuscht indessen vor, die Situation im Griff zu haben.

    "I Never Learned French" wurde sehr plastisch und räumlich aufgenommen. Das traurige Klavier klingt, als würde es im Andenken an Nick Drake gespielt worden sein und die Töne scheinen direkt im Nacken zu entstehen. Die Stimme kann im Mundraum lokalisiert werden und das selbstverliebt handelnde Saxophon tummelt sich in der Mitte vom Kopf.

    Das in wohlklingender Melancholie badende "Done" wird von einem sensibel begleitenden Piano und sanften Keyboard-Schwaden getragen. In diese Umgebung passt die Beschreibung vom Ende einer Bindung: "Ich habe nach Gold geschürft. Aber nur Zinn gefunden, das im Sonnenlicht glitzert. Jetzt hinterlässt es Schmutz in meinen Händen, wie es nur die Wahrheit kann." Die Enttäuschung ist groß und die Klänge reflektieren die Seelenqual.

    Wenn jemand in einer Freundschaft ausgenutzt wird, kann sich diese Person schnell als "Workhorse" fühlen. Und wenn sie das erkannt hat, können Urteile wie: "Ich werde mich lieben. So wie du es solltest" über die Lippen kommen. Diese Zwangs-Lage führt in diesem Fall zu einem Lied, das die Befindlichkeiten in Noten umsetzt, die von Trauer, aber auch von einer geläuterten, zukunftsträchtigen Stimmung durchzogen sind.

    "Words Were Never The Answer" ist das einzig neue Stück auf "Onliness". Nur mit akustischer Gitarre vorgetragen, hinterlässt es den Eindruck, dass es später noch eine üppiger arrangierte Version geben könnte. Worte sind nur ein Weg, den universellen Schmerz des einfachen Lebens zu ertragen, philosophiert Josienne nachdenklich über die Aussage des Stückes. "Viele Male habe ich versucht, Leuten Dinge zu erklären, die sie nie verstehen werden, und ich habe gelernt, dass es einen Moment gibt, in dem man aufhören muss zu erklären, zu reden und Worte zu benutzen", ergänzt sie noch ihre Überlegungen zu dem Track.

    Mit ihren Worten, Gedanken und Liedern gelingt es der Musikerin, die Zeit für einen Moment anzuhalten, um sich mit der Verletzlichkeit der Seele auseinanderzusetzen. Gegebenenfalls kann man dann befreit daraus hervorgehen: Musik als Therapieansatz - und dann noch so wunderschön verpackt.

    Josienne Clarke hat darauf hingewiesen, wie wichtig ihr die Gestaltung der Songs und damit die Verbindung von Tönen und Text ist: "Ich glaube, es geht nicht darum, WAS man schreibt, sondern WIE man es schreibt. In Liedern kann es um winzige alltägliche Momente oder Gedanken gehen, aber in der Interpretation geht es darum, wie man daraus ein fesselndes Gefühl oder eine Geschichte macht. Es reicht nicht aus, einfach "eine Sache" zu beschreiben, man muss etwas damit machen, ein schönes Bild schaffen oder eine Emotion aus der Sache herausholen, über die man schreibt", gestand sie dem sehr informativen Online-Musikmagazin ""Fifteen" Questions". Durch solch eine sensible Vorgehensweise kann einem Lied je nach Arrangement-Verfahren eine völlig andere Wirkung zugesprochen werden.

    Neben den kommerziellen Gesichtspunkten gibt es also auch ein kreatives Argument für die Überarbeitung der Songs: "Großartige Songs können eine Vielzahl von Interpretationen tragen und vielleicht ist die Idee einer endgültigen Aufnahme ein bisschen starr und reduzierend. Bonnie Prince Billy hat seine eigenen Kompositionen im Laufe seiner Karriere immer wieder überarbeitet und neu präsentiert... Es ist also keine neue Idee oder eine, die mir exklusiv vorbehalten ist, aber es ist ein viel kreativeres Unterfangen, bei dem der Hörer viel mehr zu gewinnen hat als bei einer konsumgetriebenen "Best Of"‘-Zusammenstellung".

    Das Konzept, bekannte Songs noch einmal neu aufzunehmen, hat sich für Josienne Clarke bezahlt gemacht. Ihre Songs haben eine Renovierung erhalten, durch die sie einen individuellen Veredelungs-Prozess durchlaufen haben. Und das will was heißen, wo doch die Vorlagen schon sehr niveauvoll sind! Josienne Clarke besitzt eine Stimme, die eine entwaffnende Reinheit, eine vielschichtige Modulationsfähigkeit und eine starke Ausdruckskraft besitzt. Hinsichtlich dieser Tugenden und der Stimmfärbung erinnert sie an Sandy Denny, die sowohl bei Fairport Convention wie auch Solo Maßstäbe im Hinblick auf eine detaillierte Zusammenführung von technischer Brillanz und emotionaler Tiefe setzte. Auch Jacqui McShee, die Sängerin der wunderbaren Folk-Jazz-Formation Pentangle, die zwischen 1968 und 1973 ihre einflussreichste Phase hatte, mag ein Einfluss gewesen sein.

    Eine lange Zeit fühlte sich Josienne Clarke von ihrer Plattenfirma gegängelt und unterdrückt, jetzt hat sie aber eine Form der künstlerischen Verwirklichung gefunden, in der sie ganz und gar aufgehen kann. Hinter dem Titel "Onliness" verbirgt sich folgender Sinn: "Er bedeutet sowohl Einsamkeit wie auch Einzigartigkeit; einmalig zu sein, aber auch allein in dem Sinne, dass man von anderen Dingen getrennt ist... Also hat "Onliness" sowohl eine positive Bedeutung als auch eine wirklich melancholische – und ich denke, das passt zu jedem Song, den ich je geschrieben habe." Die Verschmelzung von bezaubernder Schönheit, tiefer Sehnsucht und einer durchdachten, individuellen Inszenierung machen auf jeden Fall aus "Onliness" ein außergewöhnlich imposantes Album!
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    Live At Berkeley 1971 (Digipack) Live At Berkeley 1971 (Digipack) (CD)
    13.05.2023
    Klang:
    4 von 5
    Musik:
    4 von 5

    Mit "Live At Berkeley 1971" von Stephen Stills erscheint jetzt ein intensives, energisches Konzert-Erlebnis eines Ausnahmekünstlers.

    Im Sommer 1971 begann Stephen Stills seine erste Tournee als Solo-Künstler, um seine am 30. Juni des Jahres veröffentlichte Platte "Stephen Stills 2" zu bewerben. "Live At Berkeley 1971" enthält 14 Tracks, die im Verlauf dieser Konzertreihe am 20. und 21. August 1971 im 3.500 Personen fassenden Berkeley Community Theater aufgezeichnet wurden. Die Shows bestanden aus einem akustischen Solo- und Duo-Teil und dem Auftritt einer großen Besetzung, bei der bis zu 13 Musiker auf der Bühne standen, inklusive der fünfköpfigen Memphis Horns.

    Stills war zu dieser Zeit auf dem Zenit seiner Schaffenskraft und stand kurz davor, seine großartige Formation Manassas zu gründen. Von diesem Projekt begleiten ihn hier schon die Musiker Dallas Taylor (Schlagzeug), Calvin "Fuzzy" Samuels (Bass), Joe Lala (Percussion) und Paul Harris (Orgel). Außerdem waren noch Steve Fromholz (Gitarre, Gesang), Stoney George (Alt-Saxophon, Flöte) und als Gast auf zwei Liedern David Crosby (Gesang, Gitarre) in Berkeley dabei.

    Zusammen mit David Crosby (ex-The Byrds), Graham Nash (ex-The Hollies) und Neil Young war Stills zum Folk-Rock-Superstar aufgestiegen. Mit Neil Young, mit dem ihn eine intensive Hass-Liebe verbindet, spielte er ab 1966 bei Buffalo Springfield, die ebenso wie Crosby, Stills, Nash & Young mit hochkarätigen Künstlern besetzt war und eine innovative Rolle bei der Entwicklung des Folk- und Country-Rock spielte.

    Stephen Stills wurde am 3. Januar 1945 in Dallas, Texas geboren. Um professionell Musik machen zu können, brach er das College ab, zog nach New York und tummelte sich dort in der pulsierenden Folk-Szene, wo er mit Richie Furay ein weiteres späteres Buffalo Springfield-Mitglied kennen lernte. Das Schicksal brachte ihn dann auf einer Tournee in Kanada mit Neil Young zusammen. Sie verloren sich zwar wieder aus den Augen, trafen jedoch 1966 in Los Angeles zufällig wieder aufeinander und von da an nahm die gemeinsame Karriere ihren turbulenten Verlauf.

    1971 stand Stephen Stills erstmals seit seinem kommerziellen Karriere-Durchbruch unter eigenem Namen auf der Bühne, konnte aus einem reichhaltigen Repertoire schöpfen und seine virtuose Musikalität in voller Bandbreite demonstrieren. Seine Künste auf der Gitarre wurden auch von einigen Kollegen sehr geschätzt. So sagte der Gitarren-Virtuose Michael Hedges sinngemäß: "Wer Eric Clapton für einen Gitarrengott hält, der sollte sich mal anhören, wie Stephen Stills akustische Gitarre spielt."

    Diese außergewöhnlichen Fähigkeiten beweist er gleich beim Opener "Love The One Your're With", dem Live-Favoriten und Hit seines Debüt-Albums, vortrefflich. Joe Lala vermittelt mit seinem flankierenden, agilen Conga-Feuerwerk schweißtreibendes Latino-Fieber und Stephen zieht alle Register, wenn es darum geht, den kochenden Rhythmus und den zündenden Refrain mit der eingängigen Melodie in Einklang zu bringen. Diese Live-Variante ist zwar nicht so üppig arrangiert wie die tropische R&B-Folk-Rock-Studio-Version, taugt aber auch so prima als dynamische Eröffnungs-Nummer.

    Gleich darauf wird das Tempo für "Do For The Others" drastisch gezügelt. In Zusammenarbeit mit Steve Fromholz (akustische Gitarre und Duett-Gesang) entsteht eine zauberhafte, leichtfüßige Folk-Ballade mit betörenden, sorgfältig abgestimmten Schattierungen.

    "Jesus Gave Love Away For Free" wurde erst 1972 auf dem "Manassas" Album veröffentlicht und erfährt hier im Duo Fromholz/Stills eine traditionelle Country-Balladen-Ausrichtung.
    Für zwei Songs erschien David Crosby im Konzertsaal: Den Pop-Folk "You Don't Have To Cry" (von "Crosby, Stills & Nash") begleitete er gesanglich relativ nah am Original
    und bei seinem ergreifenden "The Lee Shore" übernahm er sogar den Lead-Gesang.
    Im weiteren Verlauf sind die impulsiv-temperamentvollen Songs "Word Game"
    und "Black Queen" weitere eindrucksvolle Demonstrationen der erstklassigen Fingerfertigkeit von Stephen Stills an der akustischen Gitarre.

    Bei "Sugar Babe" und dem Medley "49 Bye-Byes / For What It's Worth" handelt es sich um Solo-Piano-Darbietungen, die balladesk oder kraftvoll-intensiv dargeboten werden.
    Für "Know You've Got To Run" von "Stephen Stills 2" holt Stephen sein Banjo raus und erzeugt damit eine karge Appalachen-Folk-Stimmung. Mit "Bluebird Revisited" beginnt die Band-Phase, die besonders von den scharfen und smarten Bläsersätzen der Memphis Horns geprägt werden.

    Bei "Lean On Me Baby" handelt es sich um einen saftigen Rhythm & Blues des Memphis Horns-Trompeter Wayne Jackson, bei dem sich Stills gesanglich mächtig ins Zeug legt.
    Es folgen noch "Cherokee" und der "Ecology Song", die sich im attraktiv verwinkelten Jazz-Rock-Umfeld von Blood, Sweat & Tears tummeln.

    "Live At Berkeley 1971" ist ein immer noch lebendig wirkendes Zeitdokument, das die Leidenschaft, mit der Stephen Stills damals Musik machte, authentisch überträgt. Leider ist das Verhältnis zwischen Solo- oder Duo- und Band-Auftritten bei dieser Auswahl zu Ungunsten der Ensemble-Leistungen ausgefallen. Deshalb hört man die feurigen, kreativ-ausschweifenden Exkursionen, zu denen Stills auf der elektrischen Gitarre in der Lage ist, leider viel zu selten.

    Anfang der 1970er Jahre war der Sound von Crosby, Stills, Nash & Young (sowohl als Gruppe, wie auch von den einzelnen Mitgliedern) revolutionär, im wahrsten Sinne fortschrittlich, engagiert und überraschend. Ihr Folk-Rock fusionierte Blues-, Soul-, Jazz-, Latin- und Country-Bestandteile und kam so zu erstaunlich hinreißenden Ergebnissen. Als Fan fieberte man jedem neuen Werk entgegen und lauschte gebannt den erbaulich-frischen Tönen, die auch heute noch attraktiv (nach)wirken. Der heutige 78jährige Stephen Stills war dabei eine der Säulen dieser originellen Bewegung.

    "Live At Berkeley 1971" holt die prägenden Erinnerungen zurück ins Gedächtnis, überzeugt klangtechnisch sowie musikalisch und ist deswegen eine sinnvolle und erfreuliche Bergung aus den Archiven.
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    Coast 2 Coast (Limited Edition) (Transluent Blue Vinyl) Pearl & The Oysters
    Coast 2 Coast (Limited Edition) (Transluent Blue Vinyl) (LP)
    13.05.2023
    Klang:
    4 von 5
    Musik:
    4 von 5
    Pressqualität:
    4 von 5

    "Coast 2 Coast" ist eine knallbunte Wundertüte aus dem psychedelischen Space-Age- und Jazz-Pop Märchenland.

    Juliette Pearl Davis und Joachim Polack nennen sich Pearl &The Oysters. Sie hat die Liebe zur Musik zusammengebracht. Nicht nur künstlerisch, sondern auch privat. Beide schwärmen für den Jazz-Pop der 1970er- und den Space-Age-Pop der 1990er Jahre. Unüberhörbar ist außerdem auch eine Zuneigung zu Burt Bacharach, Brian Wilson (The Beach Boys) und dem Yellow Magic Orchestra um Haruomi Hosono und Ryūichi Sakamoto zu spüren.

    Hinter dem Titel "Coast 2 Coast" steckt die Idee, den Zustand des Wandels anhand einer Momentaufnahme festzuhalten. Juliette Pearl Davis und Joachim Polack lernten sich auf der Hochschule in Paris kennen und zogen 2015 nach Gainesville in Florida. Ein neuerlicher Umzug, der im Januar 2020 von der Ostküste zur Westküste der USA nach Los Angeles in Kalifornien stattfand, prägt nun unter anderem die Kulisse ihres neuen, insgesamt vierten Albums. Aber die inhaltlichen Zusammenhänge gehen noch viel weiter, wie das Paar erläutert: "Die Platte erforscht die Idee des Reisens - sowohl körperlich als auch geistig, sowohl erlebt als auch phantasiert. Es geht gleichermaßen um Schlaflosigkeit und den Traumzustand, den Lauf der Zeit, die Trauer der paradiesischen Natur, aber auch das Wunder der Phonographie und des Radios". Federführend bei der Umsetzung dieser Zusammenhänge zu einer in sich stimmigen Klangpalette ist die prägende, leicht beschwingte, klare, hübsche, jugendliche Stimme von Juliette Pearl Davis, die charmant durch den Song-Reigen führt.

    Mit dem kurzen "Intro (...on the Sea-Forest)" nehmen uns Pearl & The Oysters durch Field-Recordings mit in die Natur von Gainesville. Dort in Florida wurden noch etwa die Hälfte der Lieder für "Coast 2 Coast" produziert. Und es geht "tierisch" weiter: Schon bei den ersten Takten von "Fireflies" wird klar, zu welchen aktuellen Formationen eine Geistesverwandtschaft besteht: The Mild High Club, Stereolab, Unknown Mortal Orchestra und The High Llamas stechen als Vergleiche bei diesem farbenfrohen, flirrenden, verzückten Sound heraus. Es ist also auch nicht verwunderlich, dass auf "Coast 2 Coast" als Gäste unter anderem Lætitia Sadier (Sterolab), Riley Geare (Unknown Mortal Orchestra) und Alexander Brettin vom Mild High Club anwesend sind.

    Ein milder Groove, versponnene Effekte und unschuldig-romantischer Gesang machen "Konami" zu einem Genre-übergreifenden, handfesten, griffigen Easy Listening-Song mit Ohrwurm-Potential. Manchmal kommt man einfach nicht an einem Steely Dan-Vergleich vorbei. So wie bei "Pacific Ave", das sich gekonnt an die eleganten Jazz-Grooves von "Peg" aus dem Album "Aja" und die Coolness von "Time Out Of Mind" von "Gaucho" anlehnt.

    Das kurze Zwischenspiel "Timetron" ist dagegen eine offenkundige Hommage an die Computer-Spiel-Musik vom ersten Album des Yellow Magic Orchestra.
    "Timetron" dient überdies als Einleitung für "Loading Screen", wo dessen Klänge abgeschwächt aufgegriffen und als dekorative Hintergrund-Geräusche sowie als Rhythmus-Gerüst eingesetzt werden. Es geht in dem Lied um Bildschirmsucht und Reizüberflutung. Hinsichtlich der Stimmung handelt es sich gewissermaßen um eine Ballade, was bei dem ganzen Zirpen, Klappern und Blubbern jedoch beinahe untergeht.
    "Space Coast" zitiert unter anderem die wehmütigen, vollmundigen Klänge einiger Beach Boys-Klassiker wie "`Til I Die" von "Surf`s Up". Es werden auch vermeintlich aus Hawaii stammende Töne verwendet, was eine trügerisch-klischeehafte, satirisch anmutende Exotik aufkommen lässt.
    Kristalline Harfenklänge leiten "Moon Canyon Park" malerisch ein, woraufhin danach Echo-Imitationen für Verwirrung und schmierige Keyboard-Klänge für ungläubiges Staunen sorgen. Solch eine absurd kitschige Kombination aus unschuldigen und idyllischen Tönen, die durch schöngeistigen Gesang stabil zusammengehalten werden, klingt wie der Soundtrack zu einer Neuverfilmung für "Alice im Wunderland".

    "D'Ya Hear Me!" ist die Variante einer Demo-Version des Brenda Ray-Titels. Sie wird hier jedoch langsamer gespielt und mit mehr Pop-Strahlkraft ausgestattet, als es die karge Vorlage bieten kann. Heraus kommt dabei ein taumelnder Folk-Song, der in seiner arglos-unbekümmerten Art zum Beispiel an die mühelos-luftigen Arrangements von Nouvelle Vague erinnert.

    Total entspannt, beinahe schon schläfrig leitet die Stimme von Juliette Pearl Davis den wattigen, tropischen Lounge-Pop-Jazz "Paraiso" ein, der nach einigen Weckrufen immer wieder in eine gemächliche Rolle zurückfällt. Für "Read The Room" wird mit krachenden und schmirgelnden Gitarren-Akkorden eine weitere musikalische Pearl & The Oysters-Vorliebe integriert: Die Pixies. Lætitia Sadier steuert lieblichen Duett-Gesang bei, das Rhythmus-Gespann prescht voran und baut Druck auf, beim Synthesizer schlagen die Elektronen Blasen vor Vergnügen und in Erinnerung an Walter/Wendy Carlos ("Switched On Bach") werden populäre Klassik-Pop-Muster ulkig-albern verwurstet.

    Ein verführerischer, lasziver Gesang befreit "Vicarious Voyage" vom künstlichen, abweisenden Electro-Pop-Verdacht, der sich zunächst aufdrängt. Darüber hinaus überwiegt im Grunde genommen ein spielerisch-zwangloser Klangzauber, der abermals an die Beach Boys und ihre Werke aus den 1970er-Jahren, wie "Sunflower" denken lässt.
    Beinahe zerstörerisch gehen Pearl & The Oysters mit "Joyful Science" um. Die verzerrte Vocoder-Stimme lässt jegliche Harmonie hinter sich, der Rhythmus setzt zum Ausbruch an, ohne diesen dann schließlich doch zu wagen und das Saxophon bläst selbstbewusst und löst sich von den üblichen, einmütig-gleichgesinnt agierenden Schwingungs-Mustern. Deshalb wird aus dem bisherigen Harmonie-Bestreben letztlich ein Auflehnungs-Versuch.

    "Coast 2 Coast" beinhaltet viele Kompositions-Überraschungen, einige Anleihen bei der Pop-Geschichte und etliche verrückte, verwirrende und spaßige Klänge, die in dieser Ausprägung und Zusammensetzung ungewöhnlich sind und deshalb für ein hohes Maß an Hörvergnügen sorgen. Es steckt zudem jede Menge Liebe zum Detail in diesen Aufnahmen. Aber trotz der hohen Komplexität wirken die Lieder größtenteils flüssig und locker. Pearl & The Oysters lassen aufhorchen, wenn es darum geht, Pop-Musik zu erschaffen, die ästhetisch hochwertig erscheint. Dazu verarbeiten sie ein Füllhorn an ambitionierten Ideen, welche gewitzt und kenntnisreich umgesetzt werden.
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    Fuse Everything But The Girl
    Fuse (CD)
    13.05.2023
    Klang:
    4 von 5
    Musik:
    4 von 5

    Comeback oder Abschiedswerk? Nach 24 Jahren gibt es endlich neue Songs von Everything But The Girl.

    Damit konnte nach 24 Jahren Abstinenz wirklich niemand mehr rechnen! Nämlich, dass Tracey Thorn und Ben Watt nochmal gemeinsam Musik machen würden. Schließlich haben die beiden als Solo-Künstler bewiesen, dass sie auch unabhängig voneinander kulturell funktionieren können. Hätte es also wirklich nötig getan, den Everything But The Girl-Sound wieder aufleben zu lassen?

    Tracey Thorn war inzwischen neben der Kindererziehung noch als Autorin von vier Büchern und als Journalistin tätig. Ben Watt hat sich nebenbei als Produzent und DJ mit eigenem Label (Buzzin` Fly) einen Namen gemacht, was sich bei einigen der neuen Stücke durch die Verwendung oder Einbeziehung eines strammen, unnachgiebigen elektronischen Beats bemerkbar macht.

    So wie beim Opener "Nothing Left To Lose", wo pulsierende, hektische, mächtige, kantige TripHop-Takte den Track fest im Griff zu haben scheinen. Tracey Thorn vermag es jedoch, mit ihrem entschlossenen, Respekt fordernden Gesang - der allerdings nicht frei von zweifelnden Schwingungen ist - die Kraft der Bässe im Zaum zu halten. Pumpende und gegenläufig flirrend-zischende Töne zeigen einen Verlust an Sicherheit und Selbstbeherrschung deutlich an: "Ich brauche eine dickere Haut. Dieser Schmerz dringt immer wieder ein", lautet eine Momentaufnahme voller nüchterner, bedrückender Selbsterkenntnis. Menschliche Emotionen triumphieren aber am Ende dennoch über harsche Maschinen-Klänge.

    "Run A Red Light" stimuliert und zelebriert die Energie, die in der Ruhe, Langsamkeit und Transparenz liegt. Der Song ist cool, clever, sphärisch und einschmeichelnd zugleich. Eine entspannte Stimme, die herausfordernde Akzente besitzt, sorgt für eine Form der Erregung, welche die Luft unterschwellig vibrieren lässt. Die zersetzende Wirkung der Zeit wird dadurch souverän und charmant außer Kraft gesetzt. "Ich habe diesen Song über den Typen am Ende der Nacht geschrieben, der davon träumt, dass sein großer Moment gleich um die Ecke ist", erklärte Ben Watt dem "New Musical Express" seine Gedanken bei der Entstehung des Liedes.

    "Caution To The Wind" nimmt Anleihen bei der hypnotischen Minimal-Art-Musik von Steve Reich oder Philip Glass und steigert allmählich die Dynamik bis in zappelig-nervöse Techno-Bereiche hinein. Tracey Thorn lässt sich davon allerdings nicht aus der Ruhe bringen und singt trotz der aufkommenden Hektik romantisch-abgeklärt weiter.

    Eine dunkel-unheimliche Dramatik liegt über den Keyboard-Tönen von "When You Mess Up", welche vom strengen Gesang sowohl bestätigt wie auch durchbrochen wird.

    Der Electro-Pop "Time & Time Again" verbreitet überwiegend tröstend-aufmunternde Klänge, ohne dabei das Tempo vor Ausgelassenheit ausufern zu lassen. Manche künstlichen, zirpend-fiepende Synthesizer-Töne vermitteln hingegen mit ihrer unnatürlichen Erscheinung eine emotionale Distanz. Von diesen Kontrasten zwischen Wärme und Kühle profitiert dieser intelligent arrangierte Song in hohem Maße.

    Mit "No One Knows We're Dancing" lassen sich jene Tänzer auf die Tanzfläche locken, die nicht verzückt ausflippen, sondern sich von einem Dream-Dance-Pop mit Rausch-Faktor angenehm aufgehoben durch die Nacht tragen lassen wollen.

    Der Verlust von geliebten Menschen ist ein tiefer Einschnitt in die Seele. "Ich habe letzte Woche meinen Verstand verloren", verkündet Tracey Thorn bei "Lost" und jeder Mensch, der sich nach dem Tod von Bezugspersonen schon mal im freien Fall befunden hat, kann das gut nachvollziehen. Dieses Klagelied wurde betont einfach, mit wiederkehrenden, rücksichtsvollen Tönen ausgestattet, so dass es sich wie ein meditatives, besinnliches Gebet anhört.

    "Gib mir etwas, an das ich mich für immer festhalten kann", lautet eine wichtige Aussage von "Forever". Dieser Wunsch findet sich in einem pseudo-optimistischen Song wieder, der von hüpfenden Fake-Reggae-Rhythmen und aufmunterndem Händeklatschen angestachelt wird, aber dennoch eine gedankenvolle Grundstimmung mitbringt.

    Das rätselhaft verschlossene "Interior Space" ist nicht nur ein schwermütiger, sondern auch ein intensiver, aber auch der kürzeste Track auf "Fuse". Er sorgt für Frost auf den Noten, lässt teilweise das Blut in den Adern gefrieren und erzwingt eine ergriffene Demut.

    Auch wenn "Karaoke" grundsätzlich einen traurigen Eindruck hinterlässt, so geht dennoch eine gewisse gelöste Stimmung von dieser Ballade aus. Das ist einer der besonderen kompositorischen Kniffe von Thorn & Watt, die aus ihren Songs kleine raffinierte Meisterwerke der zurückhaltenden, aber dennoch aufwühlenden Art machen. Sie nutzen das Wissen, dass sich Gegensätze anziehen und verstehen es, diese Kenntnis unauffällig so zu verwenden, dass den Liedern gefühlvolle Tiefe oder prickelnde Lebendigkeit und damit zeitlose Attraktivität mitgegeben wird.

    "Fuse" ist eine schöne, überaus gelungene Überraschung geworden. Das Werk zeigt erneut, dass eine Kombination aus Melancholie und Rhythmus nicht widersprüchlich sein muss oder sogar unmöglich ist, sondern ganz im Gegenteil unverhoffte, interessante Blüten hervorbringen kann. Die akustischen Gegenüberstellungen von Yin und Yang oder von gegensätzlichen Gefühlslagen kommen dem wahren Leben sehr nahe und wirken aufgrund dessen authentisch. Deshalb passt auch der Titel "Fuse" so gut zum musikalischen Konzept.

    Die Aufnahmen reihen sich jedenfalls qualitativ nahtlos in die Diskographie der bisher erschienenen zehn Everything But The Girl-Platten ein und hinterlassen einen bewährten Eindruck. So, als wäre die Zeit stehengeblieben. Die auch nach diversen Hördurchgängen immer noch belastbare Substanz und bewegende Ausstrahlung der Stücke von "Fuse" lassen auf eine Fortsetzung hoffen. Aber dazu müssen nicht nur die Sterne günstig stehen, sondern auch die Familienverhältnisse im Hause Thorn & Watt eine Wiederholung zulassen. Und das hat ja zuletzt ganze 24 Jahre gedauert.
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    04.05.2023
    Klang:
    4 von 5
    Musik:
    4 von 5

    In einer vom Adult-Pop dominierten Welt wären Darling West vermutlich Chart-Stürmer.

    Die Sprache der Musik wird überall verstanden und Stilrichtungen sind nicht unbedingt an eine Region gebunden. Kaum jemand würde anhand des Sounds vermuten, dass die Band Darling West aus Norwegen stammt, so authentisch-universell vermitteln sie ihren Pop, der von einem gekonnt adaptierten, feinsinnigen Americana-Aroma durchzogen ist. Ihre Klänge beinhalten einen Ausdruck von Weite, Leidenschaft, Lebensfreude, Liebesleid und Romantik - also quasi ein Abbild der klassischen Pop-Themen. In der Umsetzung dominierten dann Präzision, Spielfreude und emotionaler Überschwang. Wen interessiert da noch die Herkunft? Hier zählt nur die Qualität der Songs.

    "Cosmos" ist nach dem Erstlingswerk "Winter Passing" aus 2014 das fünfte Studio-Album von Darling West aus Oslo, die schon auf dem SXSW-Festival in Austin/Texas und dem Americanafest in Nashville/Tennessee und als Vorgruppe von Lucinda Williams aufgetreten sind. Die Gruppe besteht aus Mari Sandvær Kreken (Gesang, Omnichord, Mundharmonika), Tor Egil Kreken (Bass, 12-saitige E-Gitarre, Akustikgitarre, Gesang), Christer Slaaen (Gitarren) und Thomas Gallatin (Schlagzeug, Percussion). Auf "Cosmos" wird die Kernbesetzung noch von diversen Gästen an Pedal-Steel-Gitarre, elektrischer Harfe, Harmonie-Gesang, Keyboards, Streichinstrumenten, Vibrafon und Blasinstrumenten begleitet, was dem Sound Fülle einbringt und einen Ton-Farbwechsel bei den Arrangements ermöglicht.

    Der Song "Cosmos" ist eine Hymne, die zum Ohrwurm wird und dadurch den perfekten Appetitanreger für ein unbeschwertes, aber dennoch erhebendes Hörvergnügen darstellt. Das Klang-Gerüst wird von Harmonie ausgefüllt und getragen. Die Instrumente unterstützen sich gegenseitig, es gibt keine solistischen Extravaganzen. Selbst das Gitarren-Solo stellt sich in den Dienst der gleichgesinnten, ästhetischen Sache. Ein Hit!

    "Light Ahead" punktet mit einem stoisch groovenden Coolness-Faktor und legt in punkto Optimismus-Ausstrahlung noch eine Schippe gegenüber dem Lied "Cosmos" drauf: Beim ertönen des Refrains scheint die Sonne aufzugehen und es verziehen sich schlagartig alle Schlechtwetter-Wolken. Ein Hit!

    "Still Here" lässt es zunächst ruhig angehen. Der ausgeglichen wirkende Akustik-Folk wird durch einen kontrastreichen Duett-Gesang von Mari Sandvær Kreken und Thomas Gallatin aufgewertet und mutiert plötzlich zu einem seiden glänzenden, sehnsüchtig gleitenden Soft-Rock. Ein Hit!

    "Will I Ever Know" entzieht sich geschickt der Zuordnung zu irgendwelchen Stil-Schubladen. Flüchtig auftauchende Zitate, die aus dem Reggae, dem Electro-Pop, dem Psychedelic-Sound und dem Country-Rock entliehen sind, lassen das Stück immer wieder in anderen Farben glänzen. Clever und smart!

    So reif durchkomponiert, so positiv motivierend, so anziehend einprägsam: Der Power-Pop "Oh Love" wäre selbst im Repertoire von Fleetwood Mac positiv aufgefallen. Ein Hit!

    Zwischen Mountain-Folk und Gospel-Pop ist noch viel Platz für "Wild Dreams", das in beiden Lagern zuhause ist. Eine attraktive Fusion! Eineinhalb Minuten lang werden für "Prelude" glitzernd-blinkende Töne als Einstimmung zur Ballade "Echoes" erzeugt.

    So weit, so gut. Leider erweisen sich grade die Balladen ("Old Man", "Till Night Turns To Day" und eben "Echoes") als Achillesferse von Darling West: Sie verfügen über eine weichgezeichnete Sound-Dekoration, die die Songs seicht, flauschig und schwammig erscheinen lässt. Eine erdige, nachdenklich-dunkle Country-Folk-Basis mit seriös-weisem Gesang hätte die Lieder wahrscheinlich vor dem Schnulzen-Verdacht retten können. Die Band kann nämlich grundsätzlich sehr gut mit verheißungsvoll-sinnlichen Momenten umgehen - wenn sie nicht grade in eine verlockende, süßlich-verwässerte Mainstream-Falle tappt.

    "Cosmos" weist nach Adult-Pop-Gesichtspunkten eine hohe, potentielle Hit-Dichte auf. Der zärtlich-sinnliche Lead-Gesang von Mari Sandvær Kreken ist das Sahnehäubchen auf dieser klug und perfekt arrangierten Musik. Alles scheint nach erstem Betrachten einem Marketing-Konzept zu folgen, das darauf beruht, romantische Sinnlichkeit, aufbauenden Optimismus, zuckersüße Melodien und eingängige Refrains optimal zu kombinieren, um möglicherweise die Charts zu knacken. Also alles nur kühle Berechnung - eventuell sogar von einer Künstlichen Intelligenz ersonnen? Das wäre durchaus möglich, wenn nicht die emotionale Ebene jegliche kritische Distanz atomisieren und einfach nur für gepflegte Ausgeglichenheit und eine entspannt-angenehme Zeit sorgen würde. Da mag man nicht mehr an Berechnung denken.

    Es sieht so aus, als wären Darling West nur noch einen Steinwurf vom ganz großen kommerziellen Erfolg entfernt. Ein Anruf von einem erfolgreichen Agenten aus Nashville oder die Berücksichtigung eines ihrer Stücke in einem Soundtrack sollten genügen, um sie zu Superstars zu machen. Aber will man ihnen das wirklich wünschen?
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    Heaving Lucy Kruger & The Lost Boys
    Heaving (CD)
    10.04.2023
    Klang:
    4 von 5
    Musik:
    4 von 5

    Wenn dunkle Kräfte nach der Seele greifen, dann gibt "Heaving" Hilfe zur Selbsthilfe.

    "Heaving" klingt nach Subkultur, nach Angst, Sex, Gewalt, Verzweiflung und zum Glück außerdem nach Versöhnung. "Heaving" ist das fünfte Album von Lucy Kruger, die mit ihren Solo-Arbeiten unter dem Zusatz The Lost Boys und mit ihrem Duo-Projekt Medicine Boy fest in der Berliner Underground-Pop-Szene verwurzelt ist. Im Januar war sie noch als eine intensive Gesangspartnerin auf "Shifting" des Frank Pop Ensemble zu hören, nun stellt die in Südafrika geborene Künstlerin zehn neue Lieder vor, die besonders gut im Schutz der Nacht gedeihen.

    Da ist Musik, die vom dunklen Ende der Straße herüberschallt, dort wo es unheimlich ist, wo Schmerz und Hoffnungslosigkeit zuhause sind. Jeder Song auf "Heaving" bringt eine andere abseitig-unheimliche Stimmung hervor, so dass die Hitze der Nacht in vielen Grautönen schimmern kann. Gleichwohl geht die Aussicht auf lichte Momente nie gänzlich verloren. "Es gibt den Tod und es gibt die Morgendämmerung", heißt es demzufolge zwangsläufig im Stück "Heaving".

    Der Industrial-Pop von "Auditorium" verbindet mechanische Härte, manipulativen Sprech-Gesang, wortlose Stimm-Laute zwischen Lust und Irrsinn sowie melodische, treuherzige Unschuld miteinander. Dagegen demonstrieren die peitschenden Rhythmen beim Song "Heaving" eine stoische Unnachgiebigkeit. Zudem zerreißen zerrende E-Gitarren-Töne die Luft und Lucy singt als Dekoration dazu mit verführerischem Tonfall wie auch verschämt-unschuldig. Dadurch tun sich subtile, kontroverse Abgründe auf.

    "Howl" bewegt sich an der Schwelle zum Wahnsinn: Lucy schreit ihre Verzweiflung und Wut heraus und gibt sich im nächsten Moment wieder kühl und beherrscht. Der Gesang wird zum unberechenbaren, scharfkantigen Instrument und klingt entweder verzerrt oder klar strukturiert - je nach Lust und Laune. Unsicherheit herrscht auch textlich vor: "Ich bin unschlüssig. Bei allem, was ich getan habe. Und allem, was ich je gesagt habe."

    Rausch oder Traum? Der fein gesponnene, sensible Hippie-Folk von "StereoScope" hinterlässt einen weltabgewandten Eindruck: In Trance gefallene oder lasziv gehauchte Stimmen vernebeln in Verbindung mit einer psychedelisch-filigranen Instrumentierung die Sinne.

    Mit "Burning Building" geht es ab in die Alternative-Rock-Disco. Dahin, wo The Sisters Of Mercy, Siouxsie & The Banshees, The Cure oder Sonic Youth zuhause sind.

    Die geheimnisumwitterte, eindringliche, am schnörkellos-sparsamen Underground-Folk von The Velvet Underground orientierte Ballade "Feedback Hounds" punktet mit schmachtendem Gesang, der Liebreiz und Verführungskunst in sich vereint.

    "Front Row" ist wie ein Vulkan, der bald auszubrechen droht: Zuerst kündigt sich die Eruption an, dann erhöht sich die Intensität. Das erweist sich aber als Fehlalarm. Langsam steigert sich die Energiedichte wieder, das führt jedoch auch nach mehreren Anläufen nicht zum Ausbruch. Eine verdächtige Spannung bleibt dennoch über den gesamten Ablauf hinweg mit hoher Intensität erhalten.

    Knisternde Erotik erfüllt "Tender": Der Bass grummelt zunächst lässig-pumpend und die Gitarre spuckt im Hintergrund elektrische Ladungen aus. Dann wird das Tempo erhöht, der Bass-Puls schlägt bis zum Hals, die Gitarre knurrt wie ein hungriger Bär und die Percussion-Salven bringen das Liebes-Gebräu zum Sieden. Lucy bleibt bei aller Hingabe - die um sie herum herrscht - cool und dämpft so zum Ende hin die Leidenschaft. Ein sinnlicher O(h)rgasmus.

    Auf wundersame Weise gelingt es bei "Heaven Sent", sägende und nach Glocken klingende E-Gitarren-Töne, himmlische Chor-Stimmen, ein trocken und gemächlich klopfendes Schlagzeug, geisterhafte Call & Response-Solo-Gesänge und Schunkel-Einschübe zu einem geisterhaften, aber stimmigen Chanson zusammenzufügen. Die verschwommen-unheimliche "Twin Peaks"-Atmosphäre lässt grüßen.

    Ein sparsam-monotoner Schlagzeug-Trommel-Takt, eine leidende, leicht verzerrte Stimme und Space-Sounds machen aus "Undress" als Abschluss indes einen meditativen, trunkenen Sinnestaumel.

    Die Sängerin und Multiinstrumentalistin Lucy Kruger betritt mit ihren Lost Boys - zu denen in wechselnden Besetzungen Liú Mottes (Gitarre, Bass, Piano), Jean-Louise Parker (Gesang, Viola), Martin Perret (Schlagzeug), Calvin Siderfin (Bass), Andreas Miranda (Bass), ihr Medicine Boy-Partner André Leo (Gitarre) und Gidon Carmel (Schlagzeug) gehören - düstere, teils verstörende Pfade.

    Die Musiker lassen verirrte Seelen vor dem geistigen Auge entstehen, die tanzend durch die Dunkelheit stolpern. Die Gruppe erschafft ihren eigenen psychedelischen Dschungel - so wie es 1981 The Cramps taten - nur mit anderen Mitteln. Der undurchdringliche Dschungel hält sie gefangen, bietet aber auch Schutz. Lucy Kruger erschafft eine Klangwelt, die die Untiefen der Seele erkundet, um ihnen als Ergebnis die Schrecken zu nehmen. Und zu diesem Zweck geht sie dahin, wo es wehtut. Daneben gibt es immer wieder Momente, die in Sicherheit wiegen, beschwichtigen oder sogar Harmonie heraufbeschwören. Was für ein verwirrend-stimulierender Emotions-Cocktail!
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    10.04.2023
    Klang:
    4 von 5
    Musik:
    4 von 5

    Das Konzept von "Phoenix" favorisiert die verheißungsvolle Vereinigung von Gegensätzen.

    Das offensive und lyrische Piano von Tori Amos, der Folk-Jazz-Einfluss von Joni Mitchell (einschließlich einer Reinkarnation des voluminös-melodischen Jaco Pastorius-Bass-Spiels durch Moto Fukushima), das experimentelle Element von Annette Peacock und die Stimmfarbe von Julia Holter sind ein paar Assoziationen, die die Kompositionen von Natalia Kiës hervorrufen. Die vielseitige Musik bietet auf jeden Fall ein Gegengewicht zum allgemeinen Mainstream-Terror mit dessen oft überflüssiger akustischer Umweltverschmutzung an.

    Natalia wuchs in Nikolai (Polen) auf und siedelte mit ihrer Familie nach Köln (Nordrhein-Westfalen) über, als sie acht Jahre alt war. Schon mit fünf Jahren entdeckte sie das Klavier für sich und übte fleißig ohne Druck, alleine aus dem Interesse an der Musik heraus. Nachdem das Talent die Integrationsphase an die neue Heimat hinter sich gebracht hatte, studierte die angehende Künstlerin klassisches Klavier an der Folkwang Universität der Künste in Essen und danach Jazz/Pop-Gesang an der ArtEZ Universität der Künste in Arnhem (Niederlande). Erstaunlicherweise absolvierte sie auch noch ein Studium der Psychologie zum Einfluss von Musik und Stress auf die kognitiven Leistungen an der Heinrich-Heine-Universität in Düsseldorf.

    Dieses Wissen kommt Natalia Kiës nun bei der Abstimmung ihrer emotional kontrastreichen Kompositionen zugute und erklärt den souverän-unverkrampften Umgang mit lyrischen Passagen und Improvisationen. Ein intelligenter Anpassungs-Prozess sorgt dafür, dass die scheinbar widersprüchlich-gewagten Dynamik-Sprünge doch zu stimmigen Ergebnissen führt. Die Methode der konstruktiven Ablenkung zieht sich komplett durch das gesamte Album: Das Piano behauptet bei "Crystalline" trotzig und forsch seine Vormachtstellung. Da können auch die polyrhythmischen Percussion-Einlagen nichts dran ändern. Als wolle Natalia eventuelle Verfolger abhängen, ändert sie das Tempo und die Instrumentierung, schlägt Haken und verändert den Ausdruck des Gesanges. Erstaunlich, dass bei dieser akustischen Achterbahnfahrt der Flow nicht abreißt!

    Natalia Kiës zeigt sich immer noch ihren Wurzeln verbunden und singt deshalb auch ein paar Lieder in polnischer Sprache: Hallende und splitternde Töne, unheimliche Fiebertraum-Klänge und eine wehmütige Stimme spielen die Hauptrollen bei "Moja własna cisza" (= Mein eigenes Schweigen), das sowohl die Inhalte einer Klang-Installation wie auch die eines dramatischen Art-Pop abbildet.

    "I Am Gone" funkt mit Hilfe von schnell getakteten Minimal-Art-Loops ins Jenseits. Diese Signale werden von den Klängen einer psychedelischen Piano-Ballade flankiert, bis dieses anregende Konstrukt plötzlich in einen experimentellen Drogen-Rausch-Taumel verfällt. Ein jäher Bruch, von dem sich der Song nicht mehr erholt.

    Die Percussion-Untermalung erinnert an das Rattern bei einer Zugfahrt und an das Wimmern eines jungen Seehunds, der Bass gibt unauffällig Rückendeckung, das Piano verbreitet meditative Akkorde und der Gesang ist rein und unschuldig. Auf diese Weise wird aus "Fall Asleep" ein berührendes, wenn auch ungewöhnliches Avantgarde-Chanson.

    Pure lyrische Leichtigkeit alleine reicht Natalia nicht aus, um einen Song zu gestalten. Deshalb beherbergt "Piksel I Pigment" noch zusätzlich eine mystisch-folkloristische Prägung und eine jazzig-gedankenverlorene Seite. Tönern wirkende Töne, die mit einem Echo versehen sind und ein Chorgesang mit ursprünglich-traditionellen afrikanischen Schwingungen, die nach Anerkennung suchen, füllen das Klangbild. Da ist dann aber auch noch das sprudelnd wirbelnde Klavier, das eindeutig vom improvisierten Jazz geleitet wird und sich gegen alle Widerstände durchsetzen möchte. Mit diesen Eigenarten wurde auch dieser Song unkonventionell, mit Sinn für attraktive Reibungen, arrangiert.

    "Traces" setzt das Sound-Abenteuer fort, denn märchenhafte Glückseligkeit steht neben progressiven Sound-Experimenten. Es bleibt also auf hohem Niveau positiv aufregend.
    Verhaltene, an brasilianische Rhythmen angelehnte Takte, Minimal-Art-Hypnose, Elektronik-Fiepsen und betörender Gesang bilden zusammen das traumwandlerische Gerüst für "Edda".

    "Świetlik" (= Dachluke) geht einen ähnlichen Weg wie "Edda", nur hier wird zwischendurch ein schnellerer Percussion-Teppich als Impulsgeber zugrunde gelegt.

    Natalia singt mit sich selbst im Duett und verleiht "Kropelka" (= Tröpfchen) mit diesem Stilmittel ein seriös-geistliches Antlitz. Durch einen lebhaften Jazz-Groove wird die bedächtige Stimmung dann zeitweise aber wieder aufgelöst.

    Spritzig-bewegliche Percussion-Instrumente bringen "Snowtrain" in Schwung. Das Piano vermittelt dabei zwischen dem umsichtig-ausgleichenden Gesang und der aktiv-lebhaften Eskorte.

    Ein dynamischer, vom E-Piano angetriebener Jazz-Rock versorgt "Mówić przez sen" (= Im Schlaf reden) zunächst mit Energie und Grazie. Dann wandelt sich prompt die Stimmung: Gesangliche Flexibilität und lyrische Lautmalerei bestimmen auf einmal die Richtung dieser aufsehenerregenden Ballade.

    Natalia Kiës hat bereits mit diesem ersten Album eine reife Leistung vorgelegt. In kleiner Besetzung wird ein umtriebiger, breiter Sound erzeugt, der trotz intellektueller Finessen nie kopflastig kompliziert, sondern stets unbefangen behutsam und erfrischend anders handelt. Deshalb lassen sich die Kompositionen auch in kein Stil-Korsett zwängen. Zu eigenwillig, ungewöhnlich und verzwickt sind sie - und auch liebenswert niveauvoll.

    Nebenbei hören ist keine gute Idee bei "Phoenix", denn dann erschließt sich die komplexe, wohlüberlegte, komplex abgestimmte, formvollendete Collagen-Technik nicht. Die Musikerin und ihre Kollegen Keita Ogawa (Percussion) und Moto Fukushima (Bass) arbeiten unter anderem mit scheinbar aus der Umwelt zu stammenden, aber exklusiv erzeugten Effekten, die sich zurückhaltend ins Klangbild einfügen. So kommen Assoziationen wie Wildenten-Geschnatter, Hunde-Hecheln oder Atem-Geräusche auf, die den Höreindruck zusätzlich unaufdringlich-interessant gestalten.

    "Phoenix" steht in diesem Zusammenhang für die Auferstehung einer progressiven Musikentwicklung, die weder Grenzen noch Konventionen anerkennt, sondern im Geiste einer freien Kreativität nach künstlerischer Erfüllung sucht. Und das ist beeindruckend reif gelungen! Natalia Kiës fordert durch bewusst gesetzte, aufrüttelnde Kontraste und eine innere Vehemenz die Aufmerksamkeit der Hörerschaft heraus. Neugier macht sich bezahlt!
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