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    LittleWalter Top 25 Rezensent

    Aktiv seit: 03. September 2010
    "Hilfreich"-Bewertungen: 1112
    472 Rezensionen
    Beautiful Dreams Acantha Lang
    Beautiful Dreams (CD)
    27.11.2023
    Klang:
    4 von 5
    Musik:
    4 von 5

    Jedes Pop-Jahrzehnt brachte außergewöhnliche weibliche Stimmen hervor, die ehrwürdigen Musik-Sparten wie Soul, Funk, Rock, Jazz, Blues oder Pop ordentlich Feuer unter dem Hintern gemacht und diese mit kreativer Individualität belebt haben.

    Den Grundstein für weibliches Selbstbewusstsein im Zusammenhang mit originellen Interpretationen legten in den 1950er-Jahren Billie Holiday und Nina Simone mit ihrem Mut und ihrem Können. Ab den 1960er-Jahren spielte Aretha Franklin, die Queen Of Soul, in ihrer eigenen Liga und die leidenschaftliche Etta James kämpfte für den Blues und gegen Diskriminierung und Drogenabhängigkeit. In den 1970er-Jahren revolutionierte Betty Davis die Rolle der Frau im Funk und Mavis Staples schuf mit der Verbindung von Soul und Gospel auch außerhalb ihres Familienverbundes die Basis für eine lange Karriere. Die dynamische Roots-Music-Künstlerin Merry Clayton, die zum Beispiel bei "Gimme Shelter" der Rolling Stones mit ihrer mächtigen Stimme brillierte, blieb hingegen ein Geheimtipp. In den 1980er-Jahren hatte die schon in den 1960er-Jahren aktiv gewesene, vielseitige R&B- und Soul-Sängerin Bettye LaVette ein Comeback und Chaka Khan, die Frontfrau der Funk-Band Rufus feierte mit "Ain`t Nobody" und "I Feel For You" Chart-Erfolge. Beide Titel blieben durch Cover-Versionen immer wieder im Gespräch. In den 1990er-Jahren erneuerte Erykah Badu den Rhythm & Blues und in den 2000er-Jahren bekamen Jazz und Soul durch Amy Winehouse und Sharon Jones eine neue Popularität. Die 2010er-Jahre brachten mit Eska und Lianne LaHavas zwei faszinierende, Genre-sprengende Sängerinnen zutage und in den 2020er-Jahren verband Celeste Soul-Traditionen mit einer modernen, alternativen Sichtweise.

    In diese "Ahnenreihe" möchte sich auch Acantha Lang mit ihrem breit gefächerten Repertoire einreihen. Sie ist dabei nicht als Sound-Reformerin unterwegs, sie setzt auf Bewährtes, denn es lassen sich einige Muster von den genannten Vorreiterinnen in ihren Liedern lokalisieren.

    Acantha wurde 1980 geboren und wuchs zwar im musikalischen Schmelztiegel von New Orleans auf, fand ihre künstlerische Bestimmung aber in New York, wo sie in Harlem im Blues & Soul-Club The Grill auftrat. Nach drei Jahren nahm sie dann ein Angebot von The Box aus Manhattan an und als dieser Auftrittsort eine Zweigstelle in London eröffnete, übersiedelte sie dahin und trat dort mit eigener Band auf.

    Ihr Kapital ist ihre flexible und ausdrucksstarke Stimme: Damit kann sie ihre Seele entblößen, lässt Liebe und Schmerz greifbar werden und taucht in eine tiefe Spiritualität ab, wenn die Voraussetzungen dafür gegeben sind. Für "Beautiful Dreams" hat sie nun dreizehn eigene Songs aufgenommen, die ihr musikalisches Weltbild abstecken.

    Die cool swingende Soul-Jazz-Ballade "Sugar Woman" versprüht erotischen Pathos, das heißt, laszive Verlockungen und feierliches Ergriffensein geben sich die Klinke in die Hand. Acantha spielt ihre ganze Verführungskunst und Inbrunst aus, verausgabt sich dabei gesanglich aber nicht. Was auch nicht nötig ist, denn die Background-Sängerinnen stehen ihr schützend zur Seite und somit verteilt sich die emotionale Lust und Last auf mehrere Schultern.

    Wer Soul und Jazz überzeugend interpretieren kann, der kann auch verzücktes Gospel-Feeling erzeugen. Diese Gleichung geht auch bei "Come Back Home" auf, denn der anschmiegsame und eindringliche Gospel-Pop-Funk überzeugt auf ganzer Linie.
    Mit dem Song "Beautiful Dreams" wird eine hitzige Groove-Stufe gezündet: Knackige Funk-Gitarren lassen die Luft vibrieren, die Hammond-Orgel rauscht gelassen, Schlagzeug und Bass setzen fette Duftmarken, die Bläser verfeinern den Ablauf und der Background-Gesang schiebt alle Wolken vom Firmament. Acantha ist die Chefin im Ring und hält die energische Stimmung geschickt am Köcheln.

    Milder Gesang und eine korrespondierende E-Gitarre leiten das ruhige Stück "Eventually" ein. Es ist eine bedächtige Power-Ballade geworden, weil das Rhythmus-Gespann und die Orgel der gedankenvollen Grundstimmung jede Menge stärkende Begleit-Akkorde zur Verfügung stellen. Und so kann sich Acantha in ihre Melancholie fallen lassen und sich lediglich darum kümmern, dass sich ihre Stimme zwischen Sentimentalität und Betroffenheit ein Nest baut. Passt!

    Wesentlich zupackender wird es beim rhythmisch brodelnden "He Said / She Said". Schwungvoller Motown-Soul, pulsierender Latin-Funk und jazzige Solo-Ausbrüche haben hier ein Zuhause gefunden.

    Lois, Acanthas Mama, kündigt bei "A Word From My Momma (Interlude)" den folgenden Song an, den ihre Tochter über sie und ihr Leben in New Orleans geschrieben hat.

    Acantha versetzt sich in die Persönlichkeit ihrer Mutter und macht "Lois Lang" zu einer biografischen Erzählung, die im ruhigen Southern-Soul-Metier angesiedelt ist.

    "River Keep Runnin'" ist im Gegensatz dazu ein stürmischer, ruheloser Funk-Rock, bei dem Acantha die Atmosphäre durch ihren engagiert-getriebenen Gesang kräftig aufheizt.

    "It's Gonna Be Alright" sendet den geschmeidigen Nachdruck der frühen Brass-Rock-Tracks von Chicago Transit Authority aus. Hinsichtlich der instrumentalen Intensität wird ein Level der permanent angespannten Erregung erzeugt, wobei die ganz große Eruption ausbleibt.

    Zurück im Balladen-Modus stellt "Carry The Weight" eine gelungene, ausgewogene Mischung zwischen erwachsenem Pop und blauäugigem Soul da.

    Love-Song-Beschaulichkeit und Funk-Rhythmus-Lebendigkeit verbinden sich in "Whatever Happened To Our Love?". Die beiden Komponenten neutralisieren sich dabei gegenseitig, sodass der Song weder Fisch noch Fleisch ist.

    Mit "Keep On" verliert Acantha dann ihre straff organisierte Linie, denn das Lied ist leider zu süßlich und zu lang geraten, während sich "Ride This Train (Extended Version)" nach verhaltenem Beginn langsam seinen Weg hin zur swingenden Jazz-Dance-Nummer bahnt.

    Da sind schon sehr viele schöne Eindrücke dabei, die die "Beautiful Dreams" vermitteln. Von ihren Mitstreitern wird sie prominent in Szene gesetzt, was ihre gesanglichen Fähigkeiten betont. Die Instrumentalisten achten trotzdem darauf, bei den solistischen Aktivitäten nicht zu kurz zu kommen und erzeugen einen vollen, warmen Sound. Man wird jedoch den Eindruck nicht los, dass Acantha Lang ihr Potenzial noch lange nicht voll ausgeschöpft hat. Manchmal scheint sie ihren Fähigkeiten nicht zu trauen oder steht emotional im Abseits zurückhaltender Frömmigkeit. Songs, bei denen der Funk im Vordergrund steht, sind ihr generell gelungen. Bei manchen romantischen Titeln wird die wehleidige Sentimentalität allerdings tendenziell zu dick aufgetragen.

    Es ist unter Umständen ein langer und beschwerlicher Weg in den Pop-Olymp. Acantha hat mit "Beautiful Dreams" den ersten Schritt dahin getan und eine sehr solide, teils begeisternde, teils ausbaufähige Leistung abgeliefert. Da sie ein großes Talent besitzt, darf noch einiges von ihr erwartet werden!
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    In der fernsten der Fernen - Gedichte von Mascha Kaléko Dota
    In der fernsten der Fernen - Gedichte von Mascha Kaléko (CD)
    26.11.2023
    Klang:
    5 von 5
    Musik:
    5 von 5

    Die Gedichte von Mascha Kaléko sorgen immer noch für eine "Zeitgemäße Ansprache" und DOTA belebt sie mit ungekünsteltem Einfühlungsvermögen.

    Wenn es darum geht, eine qualitativ hochwertige Verbindung zwischen Pop, Kunstlied und Cabaret mit deutschen Texten zu erschaffen, dann ist DOTA ganz weit vorne bei der entsprechenden Realisierung. Und zwar sowohl musikalisch wie auch textlich.

    "In den fernsten der Fernen" ist nun schon das zweite DOTA-Album mit zu Liedern gewordenen Gedanken der Dichterin Mascha Kaléko, die 1907 in Galizien geboren wurde und 1975 in der Schweiz starb. "Mascha Kaléko war DIE Dichterin der zwanziger Jahre des letzten Jahrhunderts, hatte zu der Zeit auch sehr viel Erfolg. Ihr erster Gedichtband war so ein richtiger Bestseller. Und dann ist sie als Jüdin vor den Nazis geflohen und hat auch im Exil weiterhin viele Texte geschrieben, die dann nicht mehr so bekannt wurden. Was tragisch ist, weil sie auch später noch ganz tolle Gedichte geschrieben hat. Ich finde, sie sollte ihren ganz gleichberechtigten Platz neben Erich Kästner, Tucholsky und Ringelnatz haben und hoffe, dass ich mit dem Album einen kleinen Beitrag dazu leisten kann. Aber es gibt auch viele Menschen, die ihre Gedichte kennen und schätzen. Und ich glaube, wenn man ein paar gelesen hat, dann weiß man auch warum: Weil die Texte so knapp und präzise sind und so gut verdichtet sind. Und so klar und leicht zugänglich sind, aber trotzdem immer viel Tiefe haben," erzählte Dota Kehr am 30. Juni 2023 im moma-Café des ZDF.

    Um die Bandbreite des Repertoires von "In den fernsten der Fernen" kennen zu lernen, gibt es hier nun Kurz-Steckbriefe der 23 Lieder: Der psychedelische Kraut-Pop "Das "Mögliche"" enthält die prägnanten, vor Lebensweisheit sprühenden Zeilen: "Ich habe mit Engeln und Teufeln gerungen, genährt von der Flamme, geleitet vom Licht. Und selbst das Unmögliche ist mir gelungen, aber das Mögliche schaffe ich nicht."

    Im Sirtaki-Rhythmus wiegen sich die Stimmen von Dota Kehr und Dirk von Lowtzow (Tocotronic) für "In dieser Zeit". Die Gesangslinien grenzen sich klar ab, reiben sich aneinander und verleihen dem Song dadurch eine Aura, die einer schillernden Bedeutungsschwere gleicht.

    "Wenn einer fortgeht..." ist eine intime Folk-Ballade geworden, bei der Gisbert zu Knyphausen die einfühlsame Duett-Stimme übernimmt.

    Das kindgerechte "Sozusagen grundlos vergnügt" ist sozusagen auf logische Weise optimistisch, weil hier die Wahrnehmung als Sammlung von natürlichen Sinnes-Eindrücken verdichtet wird. Es kommt zur Aussage, dass es keine großen Ereignisse sein müssen, die das Leben lebenswert machen, sondern es reicht die pure Freude an der Existenz inmitten einer pulsierenden Natur.

    Für "Sonett in Dur" hat DOTA ein warm tönendes Brass-Pop-Konzept gefunden, das vom Gast-Sänger Clueso stimmig und sympathisch unauffällig begleitet wird.

    Mascha Kaléko musste in ihrem Leben mehrmals ihren Lebensraum verlassen: 1938 flüchtete sie vor den Nazis von Berlin aus nach New York und 1959 wanderte sie auf Wunsch ihres zweiten Ehemannes, dem Dirigenten, Komponisten und Musikwissenschaftler Chemjo Vinaver, nach Israel aus. Der Bewältigung ihrer Heimatverluste gibt sie mit dem voll- und weich-tönenden Art-Pop-Chanson "Die frühen Jahre" eine Bühne: "Zur Heimat erkor ich mir die Liebe" heißt es da, was sich in diesem Zusammenhang wie eine Formel gegen jede Form von Entwurzelung anhört.

    Antiquierte Moralvorstellungen und strenge Konventionen prägten noch lange nach dem 2. Weltkrieg den Ablauf von Beziehungen. Beim 1933 veröffentlichten Gedicht "Großstadtliebe" handelt es sich um die Beschreibung einer Liebelei, die sich wegen der Beschränkungen der persönlichen Verhältnisse nicht weiterentwickeln konnte. Die Klänge versprechen zwar eine ausgelassene Beziehungs-Geschichte, die Texte machen aber deutlich, dass das ein Trugschluss ist.

    Da kommt was Unheimliches auf einen zu, das suggerieren jedenfalls die Streichinstrumente am Anfang von "Der Fremde". Nach deren Verstummen übernehmen Töne, die von einem medizinischen Überwachungsgerät stammen könnten, die Regie. Die Atmosphäre bleibt bedrohlich und die Streicher holen sich zum Ende hin ihre Vormachtstellung zurück. Es geht in dem Stück thematisch um Ablehnung und Ausgrenzung, vermutlich aufgrund von körperlichen Auffälligkeiten ("Sie sprechen von mir nur leise. Und weisen auf meinen Schorf.")

    "Blatt im Wind" ist ein intimes Country-Folk-Stück mit transparenter Instrumentierung und sanft fließender Melodieführung. Dota Kehr singt sehnsüchtig und mit traurigen Untertönen, was perfekt neben die sonstigen bittersüßen Noten passt.

    "Finale" gehört zur Gedichtsammlung "Verse für Zeitgenossen", die Kaléko 1945 im Exil in den USA verfasste. Die Poesie versprüht eine "aufgeräumte Melancholie", wie Thomas Mann die Wirkung der Worte der Lyrikerin beschrieb. DOTA hat dazu Musik entwickelt, die der Schwermütigkeit entgegenwirkt, indem ein trabender Rhythmus, dessen Geschwindigkeit allmählich gesteigert wird, Lebendigkeit und Tatendrang heraufbeschwört.

    "Der Gummiball" beleuchtet als Folk-Pop mit spontaner Ausrichtung musikalisch und inhaltlich die fröhlich-unbeschwerte Seite der Dichterin.

    Bei "Kurzer Epilog" geht es um den Moment der Trennung in einer Beziehung, wenn Eckpunkte bilanziert werden. Die Konfliktsituation wird mit verteilten Rollen als Dialog aufgeführt. Der männliche Sprech-Gesangs-Partner ist hierbei der vielfach talentierte Künstler Rainald Grebe. Die in Zuckerwatte eingepackten Smooth-Jazz-Klänge erzeugen als Stimmung den Kummer verschleiernden Zweckoptimismus.

    Gleicher Inhalt, anderer Sound: Mit dem tänzelnden Synthie-Pop von "Das letzte Mal" beginnen die Bonus-Tracks. Danach kommt "Mit auf die Reise", ein Liebesgedicht, bei dem es darum geht, der geliebten Person etwas Besonderes mit auf Reisen zu geben. Es werden ein paar Sachen aufgeführt, von denen wohl "mein ziemlich gut erhaltnes Herz" die wertvollste Beigabe sein wird. Die liebevollen Gedanken bekommen eine anmutige, von Jazz-Grooves durchzogene, swingende Begleitung verpasst.

    Leider sind die Gedanken, die im Folk-Funk von "Zeitgemäße Ansprache" formuliert werden, immer noch und grade wieder hochaktuell. Mit messerscharfem Verstand analysiert Mascha Kaléko die menschliche Psyche in Krisensituationen: "Wie kommt es nur, dass wir noch lachen, dass uns noch freuen Brot und Wein, dass wir die Nächte nicht durchwachen, verfolgt von tausend Hilfeschrein. Habt ihr die Zeitung nicht gelesen, saht ihr des Grauens Abbild nicht? Wer kann, als wäre nichts gewesen, in Frieden nachgehn seiner Pflicht. Klopft nicht der Schrecken an das Fenster, rast nicht der Wahnsinn durch die Welt, siehst du nicht stündlich die Gespenster, vom blutigroten Trümmerfeld."

    "Der Eremit" ist eine kurze, schunkelnde Moritat über Ausgrenzung und die Kernaussage von "Chanson für Drehorgel" lautet: "Ich träume oft vom Leben, wie`s sein könnte, wenn`s nicht so wär, wie`s nun mal ist". Mit einer ausreichenden Geldversorgung könnte man zum Beispiel hauptberuflich Optimist sein, ist eine dazu geäußerte Überlegung von Mascha. Eingebettet werden diese Visionen in einen New Wave-Pop, der für gute Laune sorgt, wobei die E-Gitarre mal so richtig durchdrehen darf.

    Der Barock-Pop von "Herbstliches Lied" erinnert in seinem Ablauf an "Ich bin leider schuld" von "Wir rufen dich, Galaktika". "Herbstliches Lied" enthält die Zeilen, denen das Album seinen Namen zu verdanken hat: "Der du gebietest dem Mond und den Sternen. Der du die Lilie im Feld nicht verlässt. Sei du mit uns in der fernsten der Fernen! Gib deine Hand uns, beschirm unser Nest." Durch die dunklen, cremigen Streicher erhält der Track einen bedrückenden Grauschleier, der Gänsehaut erzeugt.

    Im Jahr 1968 starb der Sohn von Mascha Kaléko mit nur 30 Jahren und 1973 erlag ihr Mann einer langjährigen Krankheit. "Ich und Du" ist der Ausdruck der innig verbundenen Liebe, bei der die jeweilige Individualität erhalten bleiben durfte: "Ich und Du wir waren ein Paar. Jeder ein seliger Singular. Liebten einander als Ich und als Du. Jeglicher Morgen ein Rendezvous."

    Dota Kehr und ihre Musiker erfinden für diese Verse ein Klang-Gerüst, das sich bedächtig und sanft um die Worte legt, sodass die Formulierungen und die Musik eine harmonische Symbiose eingehen.

    Das gepflegte Jazz-Chanson "Furchtlos trinken" behandelt eine satirische Betrachtungsweise des Alkoholkonsums und -rausches, der als "Brüderschaft mit der Unendlichkeit" bezeichnet wird. Der Liedermacher Götz Widmann sorgt hier mit seiner herben, rauchig-versoffenen Begleit-Stimme für ein authentisches Trinker-Feeling. "Jugendliebe a.D." klingt nach Neuer Deutscher Welle (Ideal, Neonbabies) und beschäftigt sich mit dem über Bord werfen von Prinzipien, wenn man sich erst einmal gesellschaftlich etabliert hat.

    In entspannter Bossa Nova-Seligkeit läuft das Lied "Die vielgerühmte Einsamkeit" ab, das sich um den Satz "Wie schön ist es allein zu sein. Vorausgesetzt natürlich, man hat einen, dem man sagen kann: Wie schön ist es allein zu sein" dreht. Die Gedichte "Sonett in Dur" und "Sonett in Moll" haben die Verbindung von Text und Musik und eine Empfehlung für die Art der Vortragsweise bereits im Titel. Dennoch wird "Sonett in Moll", das vom Schmerz des Verlustes und vom Vergehen des Lebens berichtet, nicht als vollends depressives Stück umgesetzt. Das Licht bahnt sich ab und zu als freudiger Rhythmus seinen Weg zwischen den Schatten hindurch.

    Dota Kehr erhebt für sich den Anspruch, dass ihre Kompositionen nicht wie vertonte Gedichte, sondern wie eigenständige Songs klingen sollen. Das ist ihr vortrefflich gelungen. Im Vergleich zu ihren eigenen Wortschöpfungen zeigt sich darüberhinaus eine verblüffende Geistesverwandtschaft zu Mascha Kaléko, da ihre Aussagen über einen ähnlich feingeistigen Humor und sinngleiche Themen verfügen.

    Die Band (Jan Rohrbach, Bass; Janis Görlich, Schlagzeug; Jonas Hauer, Keyboards) und die Gäste an Streich-, Blas- und Tasteninstrumenten unterstützen Dota Kehr (Gesang, akustische Gitarre) aufmerksam, einfühlsam und spritzig.

    Auch die Beiträge der verschiedenen Gastsängerinnen und Gastsänger, zu denen unter anderem noch Black Sea Dahu, Sarah Lesch und Funny van Dannen gehören, sind durchgängig sinnvoll, sensibel und bereichernd. Beinahe hätte sogar Patti Smith, die auf den ersten Teil der Kaléko-Songs aufmerksam geworden war, als Duett-Partnerin teilgenommen. Aber leider hat die Rechteinhaberin der Kaléko-Texte nicht die Genehmigung zur Vertonung der Übersetzung von "Die frühen Jahre" erteilt.

    "In den fernsten der Fernen" bringt zusammen, was zusammengehört: Kluge Texte, eine abwechslungsreiche Instrumentierung und eine Sängerin/Komponistin mit einem Gespür dafür, wie fremde Wortschöpfungen in eine Gestalt gebracht werden können, dass sie wie eigene Beiträge anhören. Vertonungen von Lyrik klingen häufig gekünstelt, holprig oder wie Hörbücher. Hier wurde alles richtig gemacht, sodass die Kaléko-Vertonungen hinsichtlich der Geschmeidigkeit nicht von den Eigenkompositionen von DOTA zu unterscheiden sind. Ob der Sound nun dem Liedermacher-Genre zuzurechnen ist oder Folk- oder Jazz-Pop-Elemente beinhaltet, DOTA machen bei jeder Interpretation eine gute Figur.

    Die Verse von Mascha Kaléko, die ihre Dichtung als "ironisch-romantische Großstadtlyrik" bezeichnete, sind im Grunde genommen zeitlos, auch wenn sie manchmal das Gesellschafts- und Sittenbild ihrer Lebensphase abbilden. Sie machen Lust darauf, die Poesie in Gänze kennen zu lernen. DOTA erweist der Lyrikerin durch ihre gehaltvoll-lockere künstlerische Wiedergabe ein würdevolles Andenken und krönt ihre eigene Leistung erneut mit einer sehr empfehlenswerten Liedersammlung!
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    Do You Ever Wonder What Comes Next? (Limited Edition) (Orange Marbled Vinyl) Do You Ever Wonder What Comes Next? (Limited Edition) (Orange Marbled Vinyl) (LP)
    26.11.2023
    Klang:
    4 von 5
    Musik:
    4 von 5
    Pressqualität:
    4 von 5

    Loupe liefern den Soundtrack für den Sommer. Die Musik wird aber auch die Stimmung in den dunklen Tagen aufhellen.

    Jedes Jahr hat seine Sommer-Hits. Wobei damit natürlich nicht irgendwelche abstoßend-widerlichen Ballermann-Mitgröhl-Schlager gemeint sind, sondern gepflegte Unterhaltung, die leicht und luftig die Seele streichelt. 2023 kann Loupe diese Funktion übernehmen, denn "Do You Ever Wonder What Comes Next?" vermittelt die gewünschten Qualitäten und macht unter Umständen einen Tag mit unangenehmen Eindrücken zu einem freundlichen Tag. Um den positiv gestimmten Zweck zu erfüllen, simuliert das Rhythmus-Gerüst von Annemarie van der Born am Schlagzeug und Lana Kooper am Bass eine stimulierende Bewegung. Das trägt außerdem dazu bei, den gewünschten Herzschlag-Takt zu erzeugen, der jeden Song leicht und locker oder energisch und stramm begleitet. Zusammen mit der E-Gitarre von Jasmine van der Waals, die stets zupackend, aber nie protzig klingt, ergibt sich ein flexibles Klangbild voller geschmackvoll-delikater Färbungen.

    Loupe ist ein erfrischend agiles Frauen-Quartett aus Amsterdam, das sofort durch die Sängerin und Keyboarderin Julia Korthouwer auffällt, weil ihr Gesang einerseits unschuldig, andererseits aber auch erfahren wirkt. Die jugendlich strahlende Stimme besitzt nämlich neben Feingliedrigkeit auch Tiefgang. Diese Möglichkeiten setzt die Niederländerin geschickt ein, um den Songs eine dynamische Komponente einzuhauchen.

    Dreizehn abwechslungsreiche Lieder haben die vier Damen für ihr Debüt-Album zusammengetragen: Die Percussion schnarrt aufreizend, Gitarre und Bass vereinen sich zum fantasievollen Liebesspiel und Jasmine van der Waals vermittelt durch ihren freudig-optimistischen Ausdruck bei "I Keep Changing" ungehemmte Lebensfreude.

    Der Pop-Funk von "Caught In The Moment", "Lonely Dance" und "I Get It Now" durchlebt nur wenige holprige Break-Beat-Passagen, dafür aber viele harmonische Momente, wobei dann auch der Gesang himmelwärts strebt und die Stücke siegesbewusst aufblühen lässt.

    Die unverdrossene, selbstbewusst-schwungvolle Grundhaltung der Girl-Groups vom Motown-Label, wie The Supremes ("Baby Love"), The Marvelettes ("The Hunter Gets Captured By The Game") oder Martha & The Vandellas ("Dancing In The Street") prägt die Stimmung von "So Far So Good". Der Titel weist musikalisch jedoch eher in Richtung New Wave und da auf solch herausfordernde Formationen wie Martha & The Muffins ("Echo Beach") oder The Soft Boys ("Underwater Moonlight").

    "My Hands" entpuppt sich temporär als Wolf im Schafspelz: Umgarnt der Song die Sinne grundsätzlich leicht und verführerisch, so sprechen die schroff tönenden E-Gitarren zwischendurch eine ganz andere Sprache: Wilde Leidenschaft und schreiender Zorn lassen die Stimmung kurz aufkochen, sodass sich die Gemütslage neu ordnen muss, um die Welt wieder ausgeglichen erscheinen zu lassen.

    Eine träumerische und eine hymnische Komponente vereint "When It All Comes Back" zu einem sensiblen und stürmischen Pop-Song mit Hit-Potenzial.

    Psychedelisch züngelnd und mit bedrohlichen Dark-Wave-Mustern versehen trotzt "Warning Sign" allen Versuchen, nur als lieblich und gut gelaunt durchzugehen.

    Folk-Rock im Loupe-Stil hört sich nachdenklich, gelassen, mysteriös und raffiniert an, wie "Boat Flight" verdeutlicht.

    Unschuldig, leichtfüßig, von Sonne durchflutet zeigt "It’s Getting Wild, Getting Older" dann durchgehend eine heitere, unbeschwerte Seite.

    Die E-Gitarre klackt und klickt für "Catch My Swing" aufgeregt-lustvoll und der Gesang steigert sich unterdessen von unauffällig-mitteilend über anschmiegsam-wohlig bis hin zu euphorisch-freudvoll. Eine überwiegend rauschend-sphärisch gestaltete Phase schließt das von einer verschiedenartigen Rhythmik gestaltete Lied zum Schluss herausfordernd ab.

    Wenn Underground-Folk-Zurückhaltung auf Disco-Coolness und Alternative-Rock-Aufbegehren trifft, dann kann daraus sowas wie "Holding Me Too Tight" entstehen.

    Hinterlässt "Vortex" zunächst noch einen unspektakulären Eindruck, so nimmt das Stück nach mehreren Anläufen Fahrt auf und macht seinem Namen Ehre: Die Musikerinnen erzeugen nämlich einen besonnen zirkulierenden instrumentalen Wirbel, der unterschiedliche Tempi annimmt und den Song auf diese Weise allmählich doch noch attraktiv werden lässt.

    Viele Texte drehen sich darum, inmitten all der Hektik etwas zu finden, woran man sich festhalten kann, lässt Julia Korthouwer wissen. "Do You Ever Wonder What Comes Next?" dient also nicht nur als beflügelnder Begleiter durch die Zeit, sondern vermittelt direkt und unterschwellig philosophische Grundsätze einer individuellen Lebensart, wobei es inhaltlich um die Bewältigung der Gegenwart und der Abschätzung der zukünftigen Möglichkeiten und Gefahren geht. Das Album ist also ein schönes Beispiel dafür, wie Unterhaltung zugleich unverkrampft und niveauvoll sein kann.
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    O Monolith Squid
    O Monolith (CD)
    26.11.2023
    Klang:
    5 von 5
    Musik:
    5 von 5

    Das furiose Sound-Abenteuer von Squid geht mit "O Monolith" ungefiltert und ungebremst weiter.

    Das erste Album von Squid ("Bright Green Field" aus 2021) war eine Wucht. Eine Wucht an Energie, eine Wucht an Kreativität und eine Wucht an mutigen, extravaganten Klang-Mosaiken. Die Gruppe um Ollie Judge (Gesang, Schlagzeug), Louis Burlase (Gitarre, Gesang), Anton Pearson (Gitarre), Laurie Nankivell (Trompete, Bass) und Arthur Leadbetter (Keyboards) war nach dem ersten Album durch die positiven Resonanzen von Presse und Publikum so euphorisiert, dass sie sofort an die Arbeit zur Entwicklung neuer Songs ging. Das Ergebnis heißt "O Monolith" - was für ihren sturen Umgang mit unkonventionellen Mitteln steht - und wurde am 6. Juni 2023 in die Welt entlassen.

    Denkt man am Anfang von "Swing (In A Dream)" noch, Squid hätten durch schwebend-minimalistische Töne unter Verwendung von swingender Percussion eine neue Leichtigkeit für sich entdeckt, so belehren uns die jungen Wilden im Laufe des Stücks eines Besseren. Als nämlich der Gesang einsetzt, legt sich eine dunkle Wolke über den Song, die zunächst nur mit verhalten geäußertem Aggressionspotential ausgestattet ist. Die angespannt-bedrohliche Atmosphäre schaukelt sich dann aber durch klatschend-peitschende Taktgeber und fies-aggressive Gitarren-Salven mehr und mehr hoch, bis es zur tosenden, wütenden Entladung kommt.

    Auch "Devil’s Den" kostet einen breiten Dynamik-Bereich voll aus, der von jazzig-meditativ bis wild-über die Stränge schlagend reicht. Der Song badet in einem Meer aus psychedelischen Folk-Sounds und lässt sich lange nicht provozieren. Dann passiert es aber doch noch, dass der Track massiv aus der Haut fährt und zum schrillen Krach-Monster mutiert, welches völlig außer Rand und Band gerät.

    Neues Lied, ähnliche Vorgehensweise: Behäbige Jazz-Grooves und sphärische Space-Sounds konkurrieren beim "Siphon Song" miteinander. Der Lead-Gesang klingt verfremdet, wie aus dem Computer und erinnert an die Stimm-Experimente von Laurie Anderson ("O Superman"). Die Chor-Stimmen agieren wortlos, aber es ist durchaus möglich, dass auch die Sirenen, die Odysseus auf seinen Irrfahrten in den Tod leiten wollten, so verführerisch sangen. Im Hintergrund braut sich nebenbei allmählich ein Unwetter zusammen, das jegliche Harmonie zusammenbrechen lässt. Nach dem Chaos folgt der Neuaufbau, der aber auch einem unheilvollen Schicksal ausgesetzt zu sein scheint. Squid sind Meister im Inszenieren von Mini-Dramen von apokalyptischen Ausmaßen.

    Wenn der Funk-Groove aus dem dreckigen Untergrund kommt, der Gesang dem Irrsinn nahe kommt und die übrigen Instrumente ein Eigenleben entwickeln, aber der ganze Tumult dennoch Sinn ergibt, dann kann man sicher sein, dass das Quintett Squid dahintersteckt. In diesem Fall wird mit "Undergrowth" ein unberechenbar ablaufendes Stück Musik angeboten, welches durch den kaputten Rhythmus noch lange im Kopf nachhallt.

    Elektronische Spielereien, R2D2-Geräusche, Captain Beefheart-Break-Beats, eine Young Marble Giants-Gedächtnis-Beat-Box, Gesang, der sich zwischen Langeweile und Wahnsinn wohlfühlt, sowie psychedelische Minimal-Art-Strukturen kennzeichnen das von Zukunfts-Angst getriebene "The Blades".

    "After The Flash" marschiert ohne Gleichschritt, ungelenk, unbelehrbar und unsensibel. Ein plötzlicher Stillstand lässt dann auf akustische Weise Licht entstehen, bevor der rumpelnde Trott weitergeht, die Trompete eine Untergangs-Fanfare ertönen lässt und die Welt untergeht.

    Das Energielevel von "Green Light" scheint am Anschlag des Möglichen zu sein, das Tempo entwickelt sich bis hin zu atemberaubend stürmisch und die abrupten Kurs-Änderungen sind irrwitzig und kontrastreich. Bitte anschnallen, sonst schleudern einen die heftigen Bewegungen aus dem Sitz.

    So sperrig, wie der Titel "If You Had Seen The Bull’s Swimming Attempts You Would Have Stayed Away" erscheint, ist auch die Musik: Elektronische Geräusche mit Schräglage, ein mächtig dröhnender Funk- und Jazz-Bass; Percussion in sonnig-karibischer Stimmung; E-Gitarren, die unangenehme Nadelstiche setzen; eine Trompete, die beschwichtigend unterwegs ist; Solo-Gesänge, die aufstacheln oder besänftigen und Harmonie-Stimmen der großartigen Shards, die Ollie Judge gefühlvoll unterstützen oder sakrale Ergriffenheit vermitteln. Das alles und noch viel mehr schrille Klang-Splitter oder theatralisch aufgeblasene Einblendungen werden in fünf Minuten mit einer betriebsamen Intensität verdichtet, als würde ein ganzes Leben an einem vorbeiziehen.

    Treiber und Provokateur bei diesem tosend-ungezügelten Musik-Zirkus ist Sänger Ollie Judge, der auch als Schlagzeuger fungiert. Mit seinen an Mark E. Smith von The Fall erinnernden Word-Tiraden, seinen marktschreierischen Gebärden, wie sie auch vom B-52s-Sänger Fred Schneider ausgeübt wurden oder seiner rotzig-provokativen Stimme, die sich nach John Lydon von P.I.L. anhören kann, erobert er sich häufig einen Platz in der ersten Reihe. Judge entpuppt sich als Enfant terrible der Truppe aus Brighton (England), wobei er alle anderen Eskapaden in den Schatten stellt und als Dreh- und Angelpunkt der Geschehnisse fungiert. Der Frontmann nutzt sowohl die tonalen wie auch die atonalen Bereiche, um je nach Bedarf mit seinen Kollegen zu kooperieren oder sie aufzumischen. Das verleiht den Kompositionen entweder eine starke Geschlossenheit oder eine pfeffrige Schärfe.

    Trotz der schwierigen Tempo- und Dynamiksprünge verliert das Quintett nie den Faden, spielt sich die exakt geschossenen oder angeschnittenen Bälle zielsicher zu und entwickelt ein Feuerwerk an extremen Situationen, die sogar innerhalb eines Stückes unerwartet aufeinanderprallen können. Die Songs durchleben häufig einen Lebenszyklus, der sie gemäßigt beginnen lässt, sie aber irgendwann mit brachialer Gewalt an den Rand der Verzweiflung führt, wo sie kollabieren, sich zersetzen oder schlicht explodieren. Obwohl diese Methodik oft eingesetzt wird, nutzt sie sich nicht ab, denn sie läuft im Detail immer etwas anders ab, bleibt unverhofft und überraschend.

    "O Monolith" ist ein würdiger Nachfolger von "Bright Green Field" geworden. Squid haben weder an Ideenvielfalt, noch an Wucht und Energie eingebüßt. Ihr seltsamer, verdrehter und wuchtiger Art-Punk ist ziemlich einzigartig, aber nicht artig. Die Musiker wirbeln tüchtig Staub auf und agieren oft so raubeinig, dass ihre zarte Seite, die durch warmherzige Holz-Bläser edel herausgestellt wird, manchmal ins Abseits gerät. Sie blüht im Verborgenen und kann ihre Schönheit oft nur indirekt offenbaren. Das gehört anscheinend zum Konzept, denn Squid wollen manchmal verstören, erregen und auffallen. Krach, Kakophonie und Konflikte werden aber fein abgestimmt eingesetzt, sodass kein Song in der Dissonanz versinkt, sondern belebend-sonderbare Effekte erhält, die zur Steigerung der Attraktivität beitragen.

    Was nun bald folgt, ist das für viele Bands schwierige dritte Album, das häufig eine Bewährungsprobe oder eine richtungsweisende Form darstellt. In der aktuellen Verfassung braucht man sich aber bei der anstehenden Herausforderung um Squid keine Sorgen zu machen.
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    Such Ferocious Beauty Cowboy Junkies
    Such Ferocious Beauty (CD)
    08.10.2023
    Klang:
    5 von 5
    Musik:
    5 von 5

    Die Cowboy Junkies können vieles, aber ein schlechtes Album können sie nicht machen.

    Und um es vorwegzunehmen: An der beständigen, hohen Qualität hat sich auch mit dem neuen Werk nichts geändert. 37 Jahre liegen zwischen der ersten Veröffentlichung der Cowboy Junkies aus Kanada ("Whites Off Earth Now", 1986) und "Such Ferocious Beauty". Die Band hat sich seitdem ihren unverkennbaren Sound erhalten, den besonders Sängerin Margo Timmens mit ihrem sphärisch leichten, vernebelten, aber durchdringenden, nach einem Sinn suchenden Gesang prägt. Die Gruppe pendelt dabei zwischen allen Americana-Spielarten wie Blues, Folk und Country, bezieht aber auch Rock und Pop mit ein. Sie variierte ihren speziell konstruierten Klang über die Jahre nur geringfügig, hinterlässt aber trotzdem stets einen frischen und spannenden Eindruck - selbst bei den Balladen. Die über die Jahre vorgenommenen Anpassungen sind marginal, aber wirksam. Sie liegen im Detail, in den die Räume füllenden Extras etwa oder in den unterschiedlichen Schichtungen der Klänge und der unterschiedlichen emotionalen Gewichtung der Stimme von Margo Timmens.

    Die wilde Schönheit, nach dem das neue Werk benannt ist, wird auch Leben genannt. Als Symbol für all die Pracht und Vergänglichkeit ist auf dem Cover ein hübscher, aber kurzlebiger Falter dargestellt. Es gibt auch wieder dezente Sound-Erweiterungen und vorsichtige Veränderungen, die dem typischen Sound-Gefüge aber nichts Revolutionäres anhaben können. Zu gefestigt sind dafür die ästhetischen Grundsätze der Geschwister Margo (Gesang), Peter (Schlagzeug) und Michael Timmens (Kompositionen, Gitarre) und die ihres Freundes Alan Anton (Bass, Kompositionen), die seit 1985 zusammen musizieren.

    "Such Ferocious Beauty" ist eine Art Konzept-Album geworden, bei dem es häufig um die Themen Vergänglichkeit, Akzeptieren von Schicksalsschlägen und Überleben in schweren Zeiten geht. "In der menschlichen Existenz gibt es großen Kummer und großes Leid, aber auch große Freude und Trost. Ich habe vor nichts mehr Demut, als vor der wilden Schönheit, in der wir leben, das schließt auch den Tod mit ein", gibt Margo Timmens zu Protokoll. Für die neuen Songs bedeutete dieser Leitspruch, dass die entworfenen Klänge die gleiche Wertigkeit wie die Poesie bekommen sollten.

    Mit der textlichen Blues-Phrase "Ich wachte morgens auf ..." setzt der Gesang bei "What I Lost" ein. Und schon bald sind wir mittendrin im Geschehen um die Trauer um einen geliebten Menschen. Hintergrund dieses Songs ist nämlich die Demenz und der Tod des Vaters der Timmens-Geschwister. Er taucht dann auch beinahe geisterhaft neben anderen Verwandten in Ausschnitten aus dem gemeinsamen Familienleben im Video zu "What I Lost" auf, was der Tragik ein Gesicht verleiht, sie greifbar und bemitleidenswert erscheinen lässt. Die Gitarre spuckt Feuer und sondert Töne ab, die von einer Totenglocke stammen könnten. Der dröhnende Bass fährt unheilvoll in die Därme und das Schlagzeug zischt und stampft vor Aufregung. Margo singt dazu, wie eine Person, die grade schlechte Nachrichten erhalten hat, die sie verkündet, obwohl sie noch geschockt und voller Entsetzen ist. Das ist ein intensives Bad in belastenden Gefühlen und stellt eine Herausforderung an die Standhaftigkeit dar, die schnell überfordert sein kann - diese Ausnahmesituation vermittelt die Band überaus authentisch.

    Die E-Gitarre behält ihre Aggressivität bei und flutet "Flood" mit Feedback und verzerrten Tönen. Der Gesang ist sanft-harmonisch und fängt die Wut auf, während das Rhythmus-Gespann ausgleichende Lockerheit beisteuert. Die Musiker zeigen einmal mehr, welche emotionale Vielfalt sie wie selbstverständlich verknüpfen und ausspielen können. Ist es elektrifizierender Folk-Rock, der dabei entsteht oder ein Chanson mit Aggressionspotential oder Pop mit Garagen-Rock-Innereien? Alles richtig und auch falsch. Man mag darüber spekulieren, in welche Schublade die Musik gesteckt werden kann, letztlich spielt das keine Rolle, Hauptsache sie betört und versetzt einen in die Lage, sich ihr ganz hingeben und sie genießen zu können. Und das tut sie: ein Volltreffer!

    Den Versuch einer Einordnung soll es noch für "Hard To Build. Easy To Break." geben, um die Flexibilität der Gruppe darzustellen: Das Lied lebt von einem herzhaften Southern-Rock-Groove, der den kräftigen Puls des Stückes bestimmt. Die E-Gitarre ist auch hier kratzbürstig und für die scharfen Töne zuständig, während der Rest der Truppe für die Geschmeidigkeit sorgt.

    Es ist schon erstaunlich, zu welcher prägenden melancholischen Stimmung eine Geige beitragen kann, wenn sie wie hier einfühlsam und langsam von James McKie gespielt wird. Ein kurzes Solo am Anfang von "Circe And Penelope" reicht schon aus, um die Sinne in einen andächtigen Modus zu versetzen. Da alle anderen Beteiligten auf diesem Level mitspielen, entsteht eine anrührend schöne und traurige Ballade.

    Christen glauben daran, dass nach dem Tod die Hölle drohen kann. Für Atheisten ist klar, dass es unter Umständen die Hölle schon zu Lebzeiten auf Erden gibt. Mit diesen und anderen Glaubensansätzen beschäftigt sich auch "Hell Is Real", ein Track, der durch seine anrührende Schlichtheit und durchdringend-gewaltige Gefühlslage besticht.

    "Shadows 2" wurde durch das DH Lawrence Gedicht "Shadows" inspiriert. Er schrieb eine Reihe von Gedichten, in denen er über seinen Tod nachdachte, als er sich dem Ende seines Lebens näherte. Ich schrieb den Song, als unser Vater immer mehr in seine Demenz verfiel und die Welt um ihn herum verlor. "Shadows 2" beginnt aus der Sicht des Protagonisten des Songs (mein Vater), der merkt, wie seine Welt verschwindet, und wechselt am Ende zum Standpunkt des Erzählers (mir), der zusieht, wie er vergeht", erläutert Michael Timmens seine Gedanken zur Entstehung von "Shadows 2". Unterlegt werden diese Gedanken mit gütig-behutsam fließenden Tönen, die eher Dankbarkeit als Trauer ausdrücken.

    Ein kaum variierter Orgel-Dauerton begleitet "Knives" über seine gesamte Laufzeit hinweg. Der monotone Schlagzeug-Takt bestätigt den statischen Eindruck und die fantasievolle Geige arbeitet fleißig dagegen an. Margo holt das Stück mit ihrem konzentrierten, akzentuierten Gesang aus der stoischen Einschränkung heraus und verwandelt es in ein hypnotisch-fesselndes Gebilde.

    Der Boxer Mike Tyson ist in vielerlei Hinsicht ein negatives Vorbild: Private Konflikte "löste" er gelegentlich mit Gewalt, er wurde wegen Vergewaltigung verurteilt und in einem Boxkampf gegen Evander Holyfield biss er diesem 1997, nachdem er nach drei Runden nach Punkten zurückgelegen hatte, ein Stück seines Ohres ab. Wenn man so will, ist "Mike Tyson (Here It Comes)" ein Plädoyer gegen Rücksichtslosigkeit, Gewalt und Überheblichkeit, das durch sich abwechselnde intime und schäumende Klänge akustisch aufbereitet wird. Der Gesamteindruck der Darbietung ist gebremst aufwühlend - Zorn mit angezogener Handbremse beschreibt es in etwa.

    "Throw A Match" ist der einzige etwas zügigere Titel auf dem Album, zumindest was die Instrumentierung angeht. Gitarren und Percussion sorgen für Tempo, Margo folgt dem nicht so ganz, bleibt nur vorsichtig optimistisch, bringt dadurch aber gesanglich reizvolle Kontraste in diesen Folk-Rock-Groove ein.

    "Blue Skies" beginnt mit 20 Sekunden langer Stille - zur Andacht, zum Sammeln, zum Innehalten. Es folgt eine Ton-reduzierte Passage, die nur durch akustische Gitarre und Gesang gefüllt wird. Im Hintergrund sind ungefilterte Geräusche zu vernehmen, die aus dem Studio, aber auch aus der Natur stammen können. Die ergriffene Atmosphäre wird jedenfalls noch durch vorsichtig hin getupfte, sirrende Klänge aufgefüllt, aber dadurch nicht beschädigt. Mit diesen in sich gekehrten Schwingungen geht das Album würdevoll zu Ende. Ein angemessener Abschluss.

    Fest steht wiederum: Die Cowboy Junkies können keine schlechte Platte machen. Mit "Such Ferocious Beauty" ist ihnen sogar ein besonders eindringliches Werk gelungen, das einen vorderen Platz in ihrer üppigen Diskografie verdient. Begeisterung macht sich breit: Mit dieser Platte ist ein Musterbeispiel an austarierten Sounds zwischen hart und weich, streng und emotional sowie robust und feinfühlig entstanden, welches alle diese Kontraste virtuos verwirbelt. Manchmal geschieht das sogar gemeinsam in einem Song. Es gibt kein mittelmäßiges Lied auf diesem Album, sie alle stechen jeweils mit besonderen Merkmalen heraus und ergeben als Ganzes eine hinreißende Kollektion an zeitlos wertvoller Musik.
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    Will & James Ragar Will & James Ragar
    Will & James Ragar (CD)
    07.10.2023
    Klang:
    4 von 5
    Musik:
    4 von 5

    "Will & James Ragar One" ist ein schändlich übersehenes Folk-, Pop- und Jazz-Fusions-Album von 1980.

    Das Jahr 1980 war bei den gut informierten Musikliebhabern durch Alben von den Talking Heads ("Remain In Light"), The Clash ("London Calling"), Wipers ("Is This Real"), Feelies ("Crazy Rhythms"), The Jam ("Sound Affects"), Siouxsie & The Banshees ("Kaleidoscope"), Fehlfarben ("Monarchie und Alltag"), Echo & The Bunnymen ("Crocodiles") oder Joy Division ("Closer") geprägt. Da war kaum Platz für überholt angesehene Genres wie Country-Rock oder Easy Listening. Deshalb wurde "Will & James Ragar One" wahrscheinlich nicht entsprechend gewürdigt und verschwand in der Versenkung. Gut, dass es Labels wie BBE-Music gibt, die ständig auf der Suche nach vergessenen Perlen sind und denen es zu verdanken ist, dass diese zeitlos schöne Platte neu veröffentlicht wurde!

    Sonnig strahlend, cool groovend, mit gut gelaunten karibischen Schwingungen ausgestattet, geht die Rarität zuerst mit "As The Day Grows Tired" ins Rennen, wobei selbst das Gitarren-Solo am Ende des Stückes zur unbeschwerten Laune beiträgt und nicht intellektuell verkopft ist. Das erinnert stark an Yacht-Rock-Pioniere wie Firefall, Bread, Loggins & Messina oder Seals & Crofts. Bei "She's Laughter" gehört eine große Portion Folk-Jazz zum Klangbild, was die Komposition sympathisch eigenwillig erscheinen lässt.

    "My Shining Sun" gibt sich dann vermehrt den improvisierten, träumerischen Tönen des West-Coast-Folk-Rock-Hippie-Sound hin. Weiter geht es in Richtung Jazz: "Don't I Wish To Be Free" hat neben der E-Gitarre eine Flöte als Lead-Instrument und swingt im Late-Night-Bar-Modus.

    Die Flöte bleibt auch bei "Melting Pot" Sound-bestimmend, muss sich das Klangvolumen aber mit einem dezenten, jedoch lautmalerisch richtungsweisenden Jazz-Schlagzeug teilen. Hinzu kommen noch eine selbstbewusste Gitarre und Synthesizer-Schwingungen, die weitläufige Akustik-Nebel verbreiten. Als Instrumental-Stück macht "Melting Pot" eine etwas beliebige Figur. Es hört sich beinahe wie ein Pausenfüller an, der es allen Recht machen will und sich grade deshalb zwischen alle Stühle setzt. Der beflügelnde Duett-Gesang von Will & James wird hier schmerzlich vermisst, denn er hätte für reizende Konturen sorgen können.

    "Needs" und "Hidden Away" sind sentimentale Folk-Pop-Balladen, die nahe an der Kitsch-Grenze angesiedelt sind, durch ihre brillante Instrumentierung aber noch die Kurve in Richtung "angenehmer Easy-Listening-Sound" bekommen. "Parade" basiert auf filigranem Barock-Pop, wurde aber so weit abgespeckt, bis als Begleitung nur noch zwei virtuose Akustik-Gitarren übrig blieben.

    Bei "Louisiana Fall" kommt der übertrieben starke Tremolo-Gesang gekünstelt rüber. Das reibt sich an dem um Ernsthaftigkeit bemühten Track und torpediert den intensiven Jazz-Bezug, was dem fließenden Hör-Genuss arg zusetzt.

    Das Etikett diskreter, psychedelischer Folk passt recht gut zum Lied "Just A Wanderer". Das bedächtige, geheimnisvoll zurückhaltende Lied spielt mit der sich ergänzenden Wirkungen von Ruhe, Transparenz und Individualität. Die Komposition hätte sehr gut ins Repertoire von David Crosby gepasst.

    Der Instrumental-Titel "Oregon" weist zunächst ähnliche Qualitäten wie "Just A Wanderer" auf, bekommt aber nach etwa der Hälfte der fünf Minuten Spielzeit eine vitalisierende Spritze verordnet, so dass Tablas und eine akustische Gitarre für rhythmischen Schwung sorgen. Das Stück hätte sicher auch einen angemessenen Platz auf dem bizarren Psychedelic-Rock-Werk "Just For Love" von Quicksilver Messenger Service unter Leitung von Dino Valenti finden können.

    Diese Wiederveröffentlichung wurde noch mit den beiden Titeln einer Single aus 1980 als Bonus-Tracks ausgestattet. Dabei handelt es sich um die teils schmachtende, teils lebhafte Karibik-Soul-Nummer "Forever" mit einem langen, schmierigen Synthesizer-Solo am Ende und dem Pseudo-Soft Rock-Swing "Bayou Paradise".

    Das Bruderpaar Will & James Ragar musizierte schon in den 1970er Jahren als The Will James Duo und The Will James Band zusammen und spielte dabei unter anderem Songs von Neil Young, Stephen Stills, George Benson, Leon Russell, The Allman Brothers Band, The Nitty Gritty Dirt Band oder Jimi Hendrix. 1980 hatten sie dann ihren persönlichen Stil gefunden und ließen in "One" alle ihre Einflüsse aufgehen.

    Die Brüder spielten in der Folgezeit noch im Vorprogramm solcher Hochkaräter wie Leon Russell, David Bromberg, Billy Cobham oder Stephen Stills, blieben aber ein lokaler Geheimtipp in Louisiana. Zu weiteren gemeinsamen Veröffentlichungen kam es leider nicht und "One" blieb bis jetzt ein gut gehütetes Geheimnis, das jetzt zur Entdeckung freigegeben ist und mindestens viele Soft-Rock-, Soul-Pop- und Folk-Jazz-Fans interessieren dürfte.
    Mushroom Cloud A.S. Fanning
    Mushroom Cloud (CD)
    07.10.2023
    Klang:
    5 von 5
    Musik:
    5 von 5

    Hinein ins Jammertal und hinaus in eine bessere Zukunft: A.S. Fanning verarbeitet mit "Mushroom Cloud" seine Lebenskrisen.

    Der Sänger, Musiker und Komponist A.S. Fanning ist Ire, lebt aber seit 2011 in Berlin. "Mushroom Cloud" ist sein drittes "Exil"-Album, das er dieses Mal mit einer festen Band, bestehend aus Bernardo Sousa (E-Gitarre), Dave Adams (Tasten-Instrumente), Jeff Collier (Schlagzeug, Percussion), Felix Buchner (Bass) und Produzent Robbie Moore (Hintergrundgesang, Percussion, Synthesizer) in nur fünf Studio-Tagen aufgenommen hat. Nachträglich wurden dann noch ein Streichquartett bei zwei Songs, etwas Percussion und auf "Sober" eine Steel-Gitarre hinzugefügt.

    Die Songs entstanden unter dem Einfluss von Isolation (Pandemie) sowie Traurigkeit (Tod des Vaters) und Unsicherheit (Trennung nach einer 13jährigen Beziehung). Ganz abgesehen von den belastenden, Angst einflößenden Nachrichten aufgrund der unsicheren Weltlage (Klimawandel, Artensterben, zunehmende faschistische Tendenzen, Krieg in Europa). Keine guten Voraussetzungen, um optimistisch in die Zukunft zu blicken! Deshalb wohl auch der erschütternde Titel "Mushroom Cloud", der für die Atompilz-Wolke nach einer nuklearen Explosion steht, was auch ein Synonym für die Apokalypse ist.

    "Lass mich dieses sinnlose Leben mit dir teilen. Im Schatten der Pilzwolke", heißt es dann auch im Eröffnungs-Stück "Mushroom Cloud". Die Streicher bestätigen diese Hoffnungslosigkeit, die durchaus auch auf persönliche Katastrophen - wie in diesem Fall die Trennung - übertragen werden kann. Fannings Stimme lässt auf der anderen Seite weise Gelassenheit in diese Schicksals-Sinfonie einfließen: Sein milder Bariton kommentiert die aussichtslose Situation liebevoll und sanft. Der Song verweilt dennoch in einem melancholischen Milieu, welches durch schwelgende Schönheit Ehrfurcht auslöst.

    "Conman" verfügt über einen hypnotisch-monotonen Beat-Box-Dschungel-Rhythmus, der das Lied auf moderne Weise in die Voodoo-Kultur einführt. Eine ganze Weile läuft der Track stoisch groovend ab, bis die Keyboards die auf suggestive Formen aufgebaute Welt durch splitternd-kreischende, zerschossene Sequenzen unsicher werden lässt. Die Musiker emulgieren unterdessen kontrastreiche Emotionen detailverliebt zu einem charmanten, dunklen Chanson mit Endzeit-Visionen ("An dem Tag, an dem der Betrüger kommt, wird er jeden vergiften"). Dumme, arrogante und brutale Herrscher können diese Schrecken schnell Realität werden lassen.

    Sind wir von Geistern umgeben? Für "Haunted" wird das Thema Spuk-Haus in den Text eingewoben, um dem Unerklärlichen ein Gesicht zu verleihen ("Die Wirkung ist ein Teil der Ursache"). Man stelle sich den Gesang von Jim Morrison auf "Waiting For The Sun" vor, als er sowohl wild entschlossen, wie auch wohlwollend seine Stimmbänder in den Dienst der kreativen Sache stellte. Sein damaliges Vorbild Frank Sinatra suchte nach vollendeter Reife und in diesem Hinblick verlieh Morrison dem Lied durch abgerundete Phrasierungen räumliche Tiefe. So in etwa klingt der Gesang auch bei "Haunted": Das Abenteuer, anspruchsvolles Liedgut elegant zu arrangieren, hat hier zu einer veredelten Oberfläche geführt, die den morbiden Strukturen zu mehr Akzeptanz verhilft.

    Die herzzerreißende, schmerzvolle Tränen weinende Steel-Gitarre bei "Sober" ist drauf und dran, A.S. Fanning die Show zu stehlen, da dieser eine zurückhaltend-bescheidene Rolle einnimmt. Auf diese Weise bekommt auch das melodisch anschmiegsame Piano noch eine führende Rolle zugewiesen. Das aufmerksam einige Lücken füllende Schlagzeug wacht unterdessen über die Lebendigkeit dieser geschmackvoll auskomponierten Country-Folk-Ballade. Die Qualen einer Trennung werden darüber hinaus poetisch aufbereitet: "Es ist unerträglich, darüber nachzudenken... Losgelöst, in den Wind geschleudert... Versuchen, den Schmerz und die Angst hinter sich zu lassen".

    "I Feel Bad" verfügt im Prinzip über zwei Lebensgefühle: Ein niedergeschlagen-demoralisiertes und ein kämpferisch-zupackendes. Das Lied schlägt also irgendwann von Melancholie in Wut um. Zunächst werden allerlei Konstellationen beklagt, die schlechte Laune bereiten ("Ich fühle mich schlecht, wenn meine Gedanken kreisen, ich fühle mich schlecht, wenn das nicht so ist"), dann erfolgt die Erklärung dafür ("Ich fühle mich wie der Läufer in der Tretmühle oder der Hamster im Labyrinth"). Mithilfe einer primitiven Timmy-Thomas-Gedächtnis-Rhythmus-Box ("Why Can`t We Live Together") bekommt das melancholische Stück zunächst einen entkrampften Ruhepuls verpasst, der später im hitzigeren Abschnitt vom ungestümen Schlagzeug abgelöst wird.

    "Du wurdest geboren, um ein Glied in der Kette zu sein", heißt es in "Colony Collapse", einem selbstsicher auftretenden Stück mit desillusionierten, pessimistischen Aussagen. Als Gegenentwurf dazu werden nuancenreiche, dynamisch schwankende Spannungsbögen aufgebaut, bei denen sich die Instrumente gegenseitig Freiräume schaffen, um abwechselnd delikate und auch erhellende Einfälle zum Songaufbau beitragen zu können.

    Düstere Einstellungen und Ahnungen begleiten auch "Disease" ("Es fühlt sich an wie Krankheit. Jedes Mal, wenn ich den Raum betrete. Weiß ich, dass das Ende bald kommt"). Dennoch erhält der hypnotisch-intime Song durch seine wandelbare Gesangs-Begleitung genügend Schwung, um dem Trübsinn ein Schnäppchen zu schlagen.

    Zweifel begleiten "Pink Morning/Magic Light" ("Was ist, wenn du merkst, dass du nur aus Angst liebst? Angst vor Freundlichkeit, Angst vor dem Ruin, Angst, dass alles verschwinden könnte"). Das Lied ist trotzdem liebevoll gestimmt, zeigt durch vielversprechende Neuorientierungen und einige Dur-Sequenzen einen Weg heraus aus den Sackgassen und tritt dadurch in gewisser Weise auch therapeutisch auf. Daran können auch die tieftraurigen Streicher-Arrangements nichts ändern.

    A.S. Fanning ist es gelungen, seinen Frust und seine Ängste in kreative Energie umzuwandeln. Bei "Mushroom Cloud" handelt es sich trotz der problembehafteten Themen nicht um eine depressive Verzweiflungstat, sondern vielmehr um "konstruktive Melancholie" (Titel einer Pearls Before Swine/Tom Rapp-Zusammenstellung aus 1999), die die unerfreulichen Phase in zukunftsweisende Chancen umwandeln möchte - dazu muss man aber erst einmal durch das Jammertal hindurch.

    "Ich selbst habe nicht wirklich nach einem Silberstreif am Horizont gesucht. Ich denke, das Beste, was ich tun kann, ist, "Mushroom Cloud" als ein Dokument eines Tiefpunkts zu sehen. Eine Art verbrannte Erde, die hoffentlich zu einem Neuanfang führt", kommentiert Fanning die Szenarien, die seinem neuen Werk zugrunde liegen. Es lassen sich als Referenz zu seinen bitter-süßen Tönen einige gleichgesinnte Künstler finden, deshalb ist die dunkel-harmonische Platte auch eine Empfehlung für Fans von Nick Cave, Bill Callahan, Mark Lanegan, Matt Berninger (The National), Lambchop oder Tindersticks.
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    The Hum James Ellis Ford
    The Hum (CD)
    06.10.2023
    Klang:
    4 von 5
    Musik:
    4 von 5

    Von der zweiten Reihe ins Rampenlicht: Der Allrounder James Ellis Ford veröffentlicht mit "The Hum" sein erstes eigenes Album.

    James Ellis Ford hat in den letzten zwei Jahrzehnten einen respektablen Ruf als Komponist, Multiinstrumentalist, Produzent und Songwriter erlangt. Er arbeitete unter anderem mit den Arctic Monkeys, Depeche Mode oder The Last Shadow Puppets zusammen, machte aber auch mit Jas Shaw als Simian Mobile Disco selber Musik. Nach der Erkrankung seines musikalischen Partners lenkte er seine Aktivitäten nun in Solo-Bahnen um.


    Das Motto der Platte - also das Brummen oder Summen - kann in der Natur entstehen, aber auch von Maschinen verursacht werden. Diese Art von Geräuschen kann bei jedem Stück - manchmal mit etwas Fantasie - lokalisiert werden und bildet den roten Faden durch das Werk. Die Musik von James Ellis Ford verbindet sich mit Schwingungen aus einer Zeit, als Künstler wie Robert Wyatt, Kevin Ayers oder Peter Blegvad mit John Greaves eine improvisierte, experimentelle Rock-Musik umdeuteten und in flexible Tonfolgen transformierten, die auch Jazz-Grooves und lieblich-harmonische Accessoires enthalten durften.


    Für "Tape Loop #07", den Eröffnungstrack von "The Hum", wurden schwirrende, brummende, oszillierende Space-Sounds erzeugt, die an einen imaginären Science-Fiction-Film und an das musikalische Ambient-Music-Erbe von Brian Eno denken lassen.


    James Ellis Ford schiebt mit "Pillow Village" gleich noch einen Instrumental-Titel nach, der sich nahtlos an den Vorgänger anschließt, aber stilistisch eher im melodisch und atmosphärisch starken Chamber-Jazz wildert, wie ihn zum Beispiel das Penguin Cafe Orchestra zelebriert. Das Brummen ist hier eine Frequenz, die nebenbei abfällt und dem Rumoren nahekommt, das Bienen erzeugen, wenn sie sich über Blüten hermachen.


    Ford haderte ein wenig mit seinen Sangeskünsten, was aber völlig unnötig ist, wie "I Never Wanted Anything", der erste Track mit Gesang auf "The Hum" verdeutlicht. James Ellis hat eine milde, freundlich beschwichtigende Stimme, die nicht wegen ihres großen Umfangs, sondern durch bescheidenes Einfühlungsvermögen gefällt. Die Komposition bietet ein Füllhorn von Klängen und Einflüssen an: Merkwürdig künstliches Synthesizer-Geklimper, das sich anhört, als wäre es vom Yellow Magic Orchestra zur Verfügung gestellt worden; samtweiche Bläser-Töne, die die Hörer akustisch in den Arm nehmen; ein locker swingender, sich zurückhaltender Jazz-Funk-Rhythmus, der für agile Hintergrundgeräusche sorgt und der Gesang, der einfach nur friedvoll vermitteln möchte, sind die Hauptbestandteile dieses intelligent arrangierten Art-Pop-Songs, bei dem das dunkle Bassklarinetten-Brummen einen angenehmen, gepflegten Grauschleier ausbreitet.


    Für "Squeaky Wheel" werden quasi die Klangeigenschaften von "Tape Loop #07" und "I Never Wanted Anything" miteinander verbunden, so dass ein sphärischer Pop-Song entsteht. Das Summen ist hier ein maschinelles Rauschen, das uns aufgrund der Konditionierung durch Hollywood-Blockbuster außerirdisch erscheint.


    Durch die gedoppelte Stimme erhält "Golden Hour" einen Chor-ähnlichen Beitrag. Der Song wurde als vornehm ausgestattete, dynamisch flexible, barocke Ballade konzipiert und mit akustischen wie elektronischen Instrumenten feierlich ausgestattet. Inhaltlich geht es um den Zustand der Erleuchtung als höchste Bewusstseinsebene, also um perfekte Harmonie. Die wimmernd-melancholischen Synthesizer-Aktivitäten bilden dabei den solistischen Schwerpunkt und eine melodische Unterstützung für dieses schöne, zu Herzen gehende Lied. Der Synthesizer summt und brummt in hellen und dunklen Tonlagen und trägt dadurch zu den wesentlichen Klangfarben bei.


    "Emptiness" und "Closing Time" sind aus ganz ähnlichem Holz geschnitzt, wirken gesanglich noch etwas ruhig-meditativer, haben aber auch in mondäner Schönheit gebadet. Bei "Emptiness" wird das Brummen zum hellen Klirren und bei "Closing Time" zum Glocken-ähnlichen Klingeln und dunkel-harmonischem Summen. Das ist ein Klang, der an die "Pet Sounds" der Beach Boys erinnert. "Ich liebe rührselige Songs, aber es war so weit außerhalb meiner Komfortzone, dass ich nun tatsächlich einen schreiben wollte. Es war ein Fall von: "Überwinde dich verdammt noch mal und mach es einfach!". Es geht in dem Lied definitiv darum, älter zu werden und sich mit der Sterblichkeit auseinanderzusetzen", erklärt James Ellis Ford seine Beweggründe.


    Unter dem Kopfhörer vermittelt "The Yips" ein dreidimensionales Klangbild. Die verwendeten Ton-Muster weisen nahöstliche Züge auf, obwohl sich der Instrumental-Track im Rock-, Jazz- und Minimal-Art-Bereich bewegt. Die Weltmusik-Bezüge haben damit zu tun, dass die Frau und der Sohn von James palästinensische Wurzeln besitzen, er deshalb die dortige Kultur erforscht hat und die Ergebnisse hier offensichtlich einfließen ließ. Die verwendeten Loops können auch als wildgewordene Insektenschwärme interpretiert werden. Dann hätten wir wieder den Verweis aufs Brummen.


    Das Stück "The Hum" besteht natürlich fast nur aus Brumm-Tönen und verirrt sich dabei in einer mechanisch anmutenden, elektronischen Endlos-Schleife, die nach und nach von mehreren anderen Tonspuren überlagert und abgelöst wird.


    Als kräftig-selbstbewusster Underground-Groove-Rock mit ständig wiederkehrenden Partituren entpuppt sich "Caterpillar" und entlarvt sich dabei selbst als stoischer Verfechter monotoner Klang-Strukturen. Das Brummen geht unter anderem von Bass-Tönen aus und ist ein mächtiges, herrschsüchtiges Dröhnen, genau wie das Flirren der Keyboards.


    "The Yips", "The Hum" und "Caterpillar" ergötzen sich in endlosen Wiederholungen, die keinen hypnotischen Reiz auslösen, sondern paranoide, nervenaufreibende Abläufe aufbauen.


    "The Hum" ist ein echtes Solo-Album, denn James Ellis Ford macht alles selber. Er spielt die Instrumente, also alles was Tasten und Saiten hat, dazu noch Bassklarinette, Flöte und Tenorsaxophon, sowie Vibraphon, Schlagzeug und selbstverständlich kümmert er sich auch um das Komponieren und die Produktion. Er hätte es sich leicht machen und seine zahlreichen Kontakte zwecks Gastauftritte anheuern können, er wollte aber sein eigenes Ding machen, das kaum etwas mit seinem bisherigen Schaffen zu tun hat.


    Das zeigt sich auch in der Wahl der Klang-Landschaften: Stilistisch scheint die Musik aus der Zeit gefallen zu sein, belebt aber ein Genre, das es Wert ist, eine Renaissance zu erhalten, da es schon immer in der Öffentlichkeit zu kurz gekommen ist. Denn hier prallen zwei auf den ersten Blick unvereinbare Welten aufeinander: Easy Listening und experimenteller Pop. Das funktioniert jedoch in der Paarung mit und ohne Gesang sehr gut, wenn man weiß, worauf es ankommt. Und James Ellis Ford hat den Durchblick: Seine Schöpfungen sind so viel sagend, dass beim Hören etliche Assoziationsketten losgetreten werden, so dass man sofort die oben genannten Vorbilder auflegen möchte, um diesem viele Aspekte abdeckenden, anspruchsvollen Sound weiter zuhören zu können. Und allmählich setzt sich noch die Erkenntnis durch, dass es sich beim Begriff "The Hum" auch um die Energie und die Schwingungen handeln kann, aus denen "das Leben, das Universum und der ganze Rest" (das wunderbare Buch von Douglas Adams!) letztendlich besteht.
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    Island of Love Island of Love (CD)
    25.07.2023
    Klang:
    4 von 5
    Musik:
    4 von 5

    Von Energiekrise keine Spur: Island Of Love lassen die Gitarren glühen, den Rhythmus krachen und den Adrenalinspiegel steigen.

    Glück muss man haben! So wie das Londoner Trio Island Of Love. Die Band spielte bei der Eröffnung des Third Man Records-Store in London (dem Label von Jack White (ex-The White Stripes)) und wurde vom Fleck weg unter Vertrag genommen. Die Gruppe besteht aus den beiden gleichberechtigten Sängern und Gitarristen Karim Newble und Linus Munch sowie dem Bassisten Daniel Graldo, die zurzeit noch mit keinem festen Schlagzeuger zusammenarbeiten.

    Wenn man hört, mit welcher Wucht die Musiker auf ihrem ersten Longplayer zu Werke gehen, dann kann man sich lebhaft vorstellen, wie mitreißend sie auf der Bühne sein müssen. Ruppig und schneidend aggressiv präsentieren sich Island Of Love schon auf den ersten beiden Tracks ihres Debüt-Albums. Mit schrillem Feedback und verzerrten Gitarren mixen sie ein energiegeladenes Gebräu zusammen. Hüsker Dü und Dinosaur Jr. fallen sofort als Referenz ein.

    Sowohl getrieben-melodische wie auch kreischend-nörgelnde E-Gitarren bringen "Big Whale" in Fahrt und zum Kochen. Erst nach etwa einer Minute setzt der unter Spannung stehende Gesang ein, der das schnelle Tempo seriös begleitet, sich aber nicht überhitzen lässt. Aus dieser Situation heraus kommt der Track nach etwa der Hälfte der fünf Minuten Laufzeit beinahe zum Stillstand. Er durchläuft ein depressives Tal, um dann langsam und wütend wieder in Gang zu kommen. "Fed Rock" legt danach bei gleicher Intensität sogar noch einen Zahn an Geschwindigkeit zu.

    Für "Grow" kommen The Replacements als Paten in Frage. Der Song verbindet Punk-Frechheit und Power-Pop-Schwung nämlich auf ähnlich unbekümmert raubeinige Weise miteinander, so wie es die Band um Paul Westerberg tat. "Blues 2000" hat nichts mit dem 12-Takt-Blues-Schema des traditionellen Musik-Stils zu tun, sondern ist ein instrumentales Zwischenspiel, dass sich ganz und gar den verschränkten Akkorden der miteinander ringenden Gitarristen hingibt.

    Hinter "Sweet Loaf" versteckt sich im Grunde genommen eine liebliche Ballade, was anfangs noch durchscheint. Die knurrigen Gitarren übernehmen aber immer mehr die Regie und zerstören die eigentlich bedächtige Stimmung schließlich vollends.

    Der aufgedrehte Cow-Punk "I've Got The Secret" macht dann wieder mächtig Dampf und ist genau wie der folgende Boogie "Losing Streak" ein weiteres Beispiel für die unbändige Spielfreude der Musiker.

    Jetzt musste wohl nach dem ganzen Krawall eine akustische Ruhe-Phase her: "Weekend At Clive's" ist nichts anderes als eine kurze Übung auf der akustischen Gitarre, ist also im Prinzip nur ein Gag.

    Mit "Charles" bewegt sich Island Of Love dann sicher und abgeklärt auf dem Gebiet des elektrisch verstärkten und übersteuerten Folk-Rocks, so wie es Uncle Tupelo, die Band des Wilco-Frontmannes Jeff Tweedy und des Son Volt-Chefs Jay Farrar Anfang der 1990er Jahre praktizierten.

    "Never Understand" verführt als mitreißende College-Rock-Hymne mit einer einladenden Melodie und einer gesunden Portion Wut. Durch die Steigerung der Geschwindigkeit verweilt der Track zudem hinsichtlich seiner Durchschlagskraft ständig auf hohem Niveau.

    "It Was All OK Forever" täuscht zunächst einen romantischen Folk-Song vor, wandelt sich dann aber noch in einen schäumenden Rocker mit ausladendem, forschen Garagenrock-Gitarren-Solo. Dem schließt sich zum Ende hin wieder eine Ruhepause an, die von einem befreienden Lachen beendet wird. Nach leisen Wellengeräuschen taucht dann plötzlich und überraschend ein nicht gelisteter Track auf, der wahrscheinlich "Island Of Love" heißt. Das Stück klingt wie eine adaptierte Country & Western-Ballade, die mit Stacheldraht umwickelt wurde und in seiner knarzigen, kaputten, angetrunkenen Art ansatzweise an die Beasts Of Bourbon um Tex Perkins erinnert.

    Wer mit den bei manchen Songs zitierten Querverweisen etwas anfangen kann und es mag, wenn sich wilde E-Gitarren duellieren oder gegenseitig anstacheln, der liegt bei "Island Of Love" goldrichtig. Die Rockmusik wird hier nicht neu erfunden oder weiterentwickelt, aber die Gruppe destilliert genau die Elemente aus dem Alternative-Rock der 1990er Jahre heraus, die diese Musik so aufregend gemacht hat: Eine Kombination aus Krach, durchaus eingängigen Melodien und variabel abgestimmten Tempi in einem Mischungsverhältnis, das die Energie direkt unter die Haut gehen lässt.

    "Island Of Love" ist ein fulminantes Debüt-Album, welches ein positives Beispiel für vehemente Wellenbewegungen, also für fruchtbare Referenzen und geschickt verarbeitete Einflüsse in der Pop-Musik geworden, das Lust auf mehr macht.
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    Onliness: Songs Of Solitude & Singularity Josienne Clarke
    Onliness: Songs Of Solitude & Singularity (CD)
    13.05.2023
    Klang:
    5 von 5
    Musik:
    5 von 5

    Aus Alt mach Neu: "Onliness" enthält frisch aufgearbeitetes, bewährtes Material von Josienne Clarke.

    "Die Kontrolle zu haben, war eine beängstigende, aber letztendlich befreiende Erfahrung", beschreibt Josienne Clarke ihre kommerzielle Situation, denn seit der Veröffentlichung ihres 2021er Albums "A Small Unknowable Thing" besitzt die Britin nach zehn Jahren im Tonträger-Geschäft endlich die komplette Einflussnahme über die Vermarktung ihrer Musik. In diesem Zusammenhang hat sie darüber nachgedacht, ihre älteren Werke neu einzuspielen - so wie es schon Taylor Swift tat. Aus dieser Perspektive heraus ist dann "Onliness" entstanden.

    "Onliness" wurde in folgender Besetzung verwirklicht: Josienne Clarke (Gesang, Gitarre, Piano ("The Birds"), Saxophon), Matt Robinson (Keyboards), Dave Hamblett (Schlagzeug), Alec Bowman-Clarke (Bass) und Mary Ann Kennedy (Harfe). Die neuen Einspielungen sind tendenziell durchlässig-transparenter als die Originale. Es hat den Anschein, als hätte die Musikerin die spirituelle Bedeutung der Lieder jetzt erst vollständig durchdrungen, das Wesen abschließend kennengelernt und bis in die letzte Note hinein auf ihre Empfindungen hin abgestimmt.

    Psychedelischer Country-Folk mit sphärisch-filigranen Jazz-Verweisen, die Bewusstseinserweiterung versprechen - wie sie zum Beispiel gerne von David Crosby verwendet wurden - sind bei "The Tangled Tree" tonangebend. Die Neuauflage des Songs ist noch sinnlich-ergreifender ausgefallen als das Original, das Josienne 2014 mit ihrem langjährigen Partner Ben Walker aufgenommen hatte - und das war schon großartig.

    Warme, eindimensionale Bläser-Töne, die wie akustische Teppiche wirken, bilden den Einstieg und die Grundlage für "Only Me Only". Glitzernde Keyboard-Akkorde, ein den Schwebezustand ausfüllender Bass und ein aufmerksames, aber zurückhaltendes Schlagzeug bestimmen den Ablauf und der dazugehörende, alles umsäumende Gesang ist unaufgeregt, konzentriert und klar. Fertig ist ein Art-Folk-Jazz-Pop, der in kein Schema passt, aber nicht mehr aus dem Kopf gehen will.

    "It Would Not Be A Rose" beherbergt ein Rätsel. Das, um was es geht, wird umschrieben, aber nicht genannt: "Und wenn es ein Lied wäre. Wäre es gesungen mit einer langsamen und klagenden Melodie. Und wenn es ein Gesicht wäre. Würde es eine Traurigkeit enthalten, die man nicht einordnen kann." Auf diese Weise werden noch Vergleiche mit einem Vogel, einem Baum, einem Zimmer, einem Meer, einem Herz und der Erde formuliert. Aber die Lösung des Rätsels wird nicht verraten. Klar ist nur: Wäre es eine Blume, wäre es keine Rose. Diese fantasievolle Poesie verlangt nach hintergründig-geheimnisvoller Musik: Was als klassischer, nur von akustischer Gitarre begleiteter Folk beginnt, bekommt im Verlauf langsam anschwellende, geisterhafte Schwebeklänge, klagende Chorstimmen, beiläufig hingeworfene Jazz-Percussion und eine grummelnd-zerrende E-Gitarre verordnet. Das ist eine Transformation von schlicht zu extravagant, wenn man so will.

    "Ghost Light" beinhaltet einen Satz, den viele Menschen, die sich für Umwelt- und Klimaschutz engagieren, als Motivation unterschreiben würden: "Ich kann es nicht ertragen, die Welt auseinander fallen zu sehen." Dennoch ist "Ghost Light" nicht in erster Linie ein Protestsong gegen die irrsinnige Zerstörung unserer Lebensgrundlage, sondern greift vor allem Beziehungsprobleme auf. Die Musik ist gewissermaßen ein Tribut an den am 25. Februar 2020 verstorbenen David Roback. Der Gründer der Neo-Psychedelischen Bands Opal und Mazzy Star hat mit seinem zerbrechlichen, elektrisch aufgeladenen und elegischen Sound für spannende Dream-Pop-Abenteuer gesorgt und damit etliche Musiker beeinflusst. Ihm hätte das seinem Werk nachempfundene "Ghost Light" bestimmt gefallen.

    "Silverline" beschreibt den Wunsch, den Silberstreifen am Horizont zu finden, wenn schwierige Zeiten unerträglich sind. Die dafür konzipierte minimalistische Psychedelic-Folk-Rock-Untermalung holt sich ihre Anregungen gerne bei The Velvet Underground ab.

    Wie eine flüchtige Begegnung ist "Bells Ring" schon nach zweieinhalb Minuten wieder vorbei. "Unsere Liebe ist wie Glockenklang, Glockenklang. Süß und traurig. Der Sog der Sehnsucht, Sehnsucht, Sehnsucht. Ist alles was wir haben". Diese Worte werden mit Hilfe einer gleichförmig-suggestiven, sowohl sphärisch-schwelgenden wie auch beweglich-herausfordernden Ambient-Country-Begleitung relativ unberührt verkündet.

    Vertraute Situationen geben Sicherheit und sorgen für Wohlbefinden. Aber sie sind vergänglich: "Reflektionen bei Sonnenuntergang können mich so traurig machen. Denn es gibt keine Möglichkeit, den Tag, den wir gerade hatten, zu behalten", lautet der Schlusssatz zu diesem Thema bei "Something Familiar". Das Stück zeigt sich als eine schlichte, charmante Ballade, die eine intime Zwiesprache zwischen einer dezent gepickter E-Gitarre und dem gefühlvollen Gesang beinhaltet.

    "The Birds" steht dem Vorgänger hinsichtlich Empfindsamkeit in nichts nach, verfügt aber im direkten Vergleich über einen lebhafteren Schlagzeug-Rhythmus. Josienne Clarke formuliert ihre Gedanken, die zur Gestaltung des Tracks geführt haben, als inspirierende Natur-Beobachtungen: "Der Jahreswechsel, der erste Frost des Winters, seine prickelnde Helligkeit, Melancholie & Sehnsucht. Die Vögel zeichnen seltsame Muster am Himmel, ein Signal dafür, dass unsere Tage bald kurz sein werden. Glasiges Winterlicht, das im Handumdrehen verloren geht, und Dunkelheit, die sich über lange Nächte erstreckt."
    Die Honky-Tonk-Romantik von "Homemade Heartache" erinnert hinsichtlich der herzzerreißenden Sentimentalität an die Flying Burrito Brothers um Gram Parsons und ist in diesem Sinne ein gutes Beispiel dafür, warum Parsons die Country-Musik als White Soul bezeichnete.

    Für "Chicago" verarbeitet Josienne Erinnerungen an die Anfänge ihrer Karriere: "Es ist nicht Chicagos Schuld, dass niemand kam, um mich spielen zu sehen... Du schließt deinen Frieden mit dem Scheitern, eine frühe Lektion, die du lernst." Diese Erkenntnisse werden von einem bauschigen, disziplinierten Pop mit perlender E-Piano-Eleganz und milder Bläser-Elastizität flankiert.

    Der sich mühsam dahinschleppende Garagen-Rock "Things I Didn’t Need" ist ein geeignetes Transportmittel für die Gedanken an ein gebrochenes Herz: "Was hast du mir angetan, was wird das bewirken?" Die E-Gitarre versucht behäbig, mit schweren Tönen die Trümmer der kaputten Beziehung zu beseitigen, das Schlagzeug wird vom verzweifelten zum wütenden Begleiter und die Stimme bemüht sich nach Kräften, Stärke zu zeigen.

    Obwohl der Gesang des melodisch-transparenten Folk-Rocks "Bathed In Light" hell und klar ist, sind die Aussagen des Songs von Resignation geprägt: "Ich bin so verängstigt, dass ich nicht tapfer bin".

    Eine enttäuschte Liebe führt bei "Anyone But Me" dazu, dass die gekränkte Person ankündigt, sie würde am liebsten jeden Menschen auslöschen, der dem Partner etwas bedeutet hat. Mit "Denn wie kannst du es wagen, jemanden außer mir zu lieben" wird in der maßlosen Verletzung noch eine besitzergreifende Aussage draufgesetzt. Die E-Gitarre schreit die Wut heraus, der Puls des Schlagzeugs rast und die Keyboards malen dunkle Wolken in den Himmel. Der Gesang täuscht indessen vor, die Situation im Griff zu haben.

    "I Never Learned French" wurde sehr plastisch und räumlich aufgenommen. Das traurige Klavier klingt, als würde es im Andenken an Nick Drake gespielt worden sein und die Töne scheinen direkt im Nacken zu entstehen. Die Stimme kann im Mundraum lokalisiert werden und das selbstverliebt handelnde Saxophon tummelt sich in der Mitte vom Kopf.

    Das in wohlklingender Melancholie badende "Done" wird von einem sensibel begleitenden Piano und sanften Keyboard-Schwaden getragen. In diese Umgebung passt die Beschreibung vom Ende einer Bindung: "Ich habe nach Gold geschürft. Aber nur Zinn gefunden, das im Sonnenlicht glitzert. Jetzt hinterlässt es Schmutz in meinen Händen, wie es nur die Wahrheit kann." Die Enttäuschung ist groß und die Klänge reflektieren die Seelenqual.

    Wenn jemand in einer Freundschaft ausgenutzt wird, kann sich diese Person schnell als "Workhorse" fühlen. Und wenn sie das erkannt hat, können Urteile wie: "Ich werde mich lieben. So wie du es solltest" über die Lippen kommen. Diese Zwangs-Lage führt in diesem Fall zu einem Lied, das die Befindlichkeiten in Noten umsetzt, die von Trauer, aber auch von einer geläuterten, zukunftsträchtigen Stimmung durchzogen sind.

    "Words Were Never The Answer" ist das einzig neue Stück auf "Onliness". Nur mit akustischer Gitarre vorgetragen, hinterlässt es den Eindruck, dass es später noch eine üppiger arrangierte Version geben könnte. Worte sind nur ein Weg, den universellen Schmerz des einfachen Lebens zu ertragen, philosophiert Josienne nachdenklich über die Aussage des Stückes. "Viele Male habe ich versucht, Leuten Dinge zu erklären, die sie nie verstehen werden, und ich habe gelernt, dass es einen Moment gibt, in dem man aufhören muss zu erklären, zu reden und Worte zu benutzen", ergänzt sie noch ihre Überlegungen zu dem Track.

    Mit ihren Worten, Gedanken und Liedern gelingt es der Musikerin, die Zeit für einen Moment anzuhalten, um sich mit der Verletzlichkeit der Seele auseinanderzusetzen. Gegebenenfalls kann man dann befreit daraus hervorgehen: Musik als Therapieansatz - und dann noch so wunderschön verpackt.

    Josienne Clarke hat darauf hingewiesen, wie wichtig ihr die Gestaltung der Songs und damit die Verbindung von Tönen und Text ist: "Ich glaube, es geht nicht darum, WAS man schreibt, sondern WIE man es schreibt. In Liedern kann es um winzige alltägliche Momente oder Gedanken gehen, aber in der Interpretation geht es darum, wie man daraus ein fesselndes Gefühl oder eine Geschichte macht. Es reicht nicht aus, einfach "eine Sache" zu beschreiben, man muss etwas damit machen, ein schönes Bild schaffen oder eine Emotion aus der Sache herausholen, über die man schreibt", gestand sie dem sehr informativen Online-Musikmagazin ""Fifteen" Questions". Durch solch eine sensible Vorgehensweise kann einem Lied je nach Arrangement-Verfahren eine völlig andere Wirkung zugesprochen werden.

    Neben den kommerziellen Gesichtspunkten gibt es also auch ein kreatives Argument für die Überarbeitung der Songs: "Großartige Songs können eine Vielzahl von Interpretationen tragen und vielleicht ist die Idee einer endgültigen Aufnahme ein bisschen starr und reduzierend. Bonnie Prince Billy hat seine eigenen Kompositionen im Laufe seiner Karriere immer wieder überarbeitet und neu präsentiert... Es ist also keine neue Idee oder eine, die mir exklusiv vorbehalten ist, aber es ist ein viel kreativeres Unterfangen, bei dem der Hörer viel mehr zu gewinnen hat als bei einer konsumgetriebenen "Best Of"‘-Zusammenstellung".

    Das Konzept, bekannte Songs noch einmal neu aufzunehmen, hat sich für Josienne Clarke bezahlt gemacht. Ihre Songs haben eine Renovierung erhalten, durch die sie einen individuellen Veredelungs-Prozess durchlaufen haben. Und das will was heißen, wo doch die Vorlagen schon sehr niveauvoll sind! Josienne Clarke besitzt eine Stimme, die eine entwaffnende Reinheit, eine vielschichtige Modulationsfähigkeit und eine starke Ausdruckskraft besitzt. Hinsichtlich dieser Tugenden und der Stimmfärbung erinnert sie an Sandy Denny, die sowohl bei Fairport Convention wie auch Solo Maßstäbe im Hinblick auf eine detaillierte Zusammenführung von technischer Brillanz und emotionaler Tiefe setzte. Auch Jacqui McShee, die Sängerin der wunderbaren Folk-Jazz-Formation Pentangle, die zwischen 1968 und 1973 ihre einflussreichste Phase hatte, mag ein Einfluss gewesen sein.

    Eine lange Zeit fühlte sich Josienne Clarke von ihrer Plattenfirma gegängelt und unterdrückt, jetzt hat sie aber eine Form der künstlerischen Verwirklichung gefunden, in der sie ganz und gar aufgehen kann. Hinter dem Titel "Onliness" verbirgt sich folgender Sinn: "Er bedeutet sowohl Einsamkeit wie auch Einzigartigkeit; einmalig zu sein, aber auch allein in dem Sinne, dass man von anderen Dingen getrennt ist... Also hat "Onliness" sowohl eine positive Bedeutung als auch eine wirklich melancholische – und ich denke, das passt zu jedem Song, den ich je geschrieben habe." Die Verschmelzung von bezaubernder Schönheit, tiefer Sehnsucht und einer durchdachten, individuellen Inszenierung machen auf jeden Fall aus "Onliness" ein außergewöhnlich imposantes Album!
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    Live At Berkeley 1971 (Digipack) Live At Berkeley 1971 (Digipack) (CD)
    13.05.2023
    Klang:
    4 von 5
    Musik:
    4 von 5

    Mit "Live At Berkeley 1971" von Stephen Stills erscheint jetzt ein intensives, energisches Konzert-Erlebnis eines Ausnahmekünstlers.

    Im Sommer 1971 begann Stephen Stills seine erste Tournee als Solo-Künstler, um seine am 30. Juni des Jahres veröffentlichte Platte "Stephen Stills 2" zu bewerben. "Live At Berkeley 1971" enthält 14 Tracks, die im Verlauf dieser Konzertreihe am 20. und 21. August 1971 im 3.500 Personen fassenden Berkeley Community Theater aufgezeichnet wurden. Die Shows bestanden aus einem akustischen Solo- und Duo-Teil und dem Auftritt einer großen Besetzung, bei der bis zu 13 Musiker auf der Bühne standen, inklusive der fünfköpfigen Memphis Horns.

    Stills war zu dieser Zeit auf dem Zenit seiner Schaffenskraft und stand kurz davor, seine großartige Formation Manassas zu gründen. Von diesem Projekt begleiten ihn hier schon die Musiker Dallas Taylor (Schlagzeug), Calvin "Fuzzy" Samuels (Bass), Joe Lala (Percussion) und Paul Harris (Orgel). Außerdem waren noch Steve Fromholz (Gitarre, Gesang), Stoney George (Alt-Saxophon, Flöte) und als Gast auf zwei Liedern David Crosby (Gesang, Gitarre) in Berkeley dabei.

    Zusammen mit David Crosby (ex-The Byrds), Graham Nash (ex-The Hollies) und Neil Young war Stills zum Folk-Rock-Superstar aufgestiegen. Mit Neil Young, mit dem ihn eine intensive Hass-Liebe verbindet, spielte er ab 1966 bei Buffalo Springfield, die ebenso wie Crosby, Stills, Nash & Young mit hochkarätigen Künstlern besetzt war und eine innovative Rolle bei der Entwicklung des Folk- und Country-Rock spielte.

    Stephen Stills wurde am 3. Januar 1945 in Dallas, Texas geboren. Um professionell Musik machen zu können, brach er das College ab, zog nach New York und tummelte sich dort in der pulsierenden Folk-Szene, wo er mit Richie Furay ein weiteres späteres Buffalo Springfield-Mitglied kennen lernte. Das Schicksal brachte ihn dann auf einer Tournee in Kanada mit Neil Young zusammen. Sie verloren sich zwar wieder aus den Augen, trafen jedoch 1966 in Los Angeles zufällig wieder aufeinander und von da an nahm die gemeinsame Karriere ihren turbulenten Verlauf.

    1971 stand Stephen Stills erstmals seit seinem kommerziellen Karriere-Durchbruch unter eigenem Namen auf der Bühne, konnte aus einem reichhaltigen Repertoire schöpfen und seine virtuose Musikalität in voller Bandbreite demonstrieren. Seine Künste auf der Gitarre wurden auch von einigen Kollegen sehr geschätzt. So sagte der Gitarren-Virtuose Michael Hedges sinngemäß: "Wer Eric Clapton für einen Gitarrengott hält, der sollte sich mal anhören, wie Stephen Stills akustische Gitarre spielt."

    Diese außergewöhnlichen Fähigkeiten beweist er gleich beim Opener "Love The One Your're With", dem Live-Favoriten und Hit seines Debüt-Albums, vortrefflich. Joe Lala vermittelt mit seinem flankierenden, agilen Conga-Feuerwerk schweißtreibendes Latino-Fieber und Stephen zieht alle Register, wenn es darum geht, den kochenden Rhythmus und den zündenden Refrain mit der eingängigen Melodie in Einklang zu bringen. Diese Live-Variante ist zwar nicht so üppig arrangiert wie die tropische R&B-Folk-Rock-Studio-Version, taugt aber auch so prima als dynamische Eröffnungs-Nummer.

    Gleich darauf wird das Tempo für "Do For The Others" drastisch gezügelt. In Zusammenarbeit mit Steve Fromholz (akustische Gitarre und Duett-Gesang) entsteht eine zauberhafte, leichtfüßige Folk-Ballade mit betörenden, sorgfältig abgestimmten Schattierungen.

    "Jesus Gave Love Away For Free" wurde erst 1972 auf dem "Manassas" Album veröffentlicht und erfährt hier im Duo Fromholz/Stills eine traditionelle Country-Balladen-Ausrichtung.
    Für zwei Songs erschien David Crosby im Konzertsaal: Den Pop-Folk "You Don't Have To Cry" (von "Crosby, Stills & Nash") begleitete er gesanglich relativ nah am Original
    und bei seinem ergreifenden "The Lee Shore" übernahm er sogar den Lead-Gesang.
    Im weiteren Verlauf sind die impulsiv-temperamentvollen Songs "Word Game"
    und "Black Queen" weitere eindrucksvolle Demonstrationen der erstklassigen Fingerfertigkeit von Stephen Stills an der akustischen Gitarre.

    Bei "Sugar Babe" und dem Medley "49 Bye-Byes / For What It's Worth" handelt es sich um Solo-Piano-Darbietungen, die balladesk oder kraftvoll-intensiv dargeboten werden.
    Für "Know You've Got To Run" von "Stephen Stills 2" holt Stephen sein Banjo raus und erzeugt damit eine karge Appalachen-Folk-Stimmung. Mit "Bluebird Revisited" beginnt die Band-Phase, die besonders von den scharfen und smarten Bläsersätzen der Memphis Horns geprägt werden.

    Bei "Lean On Me Baby" handelt es sich um einen saftigen Rhythm & Blues des Memphis Horns-Trompeter Wayne Jackson, bei dem sich Stills gesanglich mächtig ins Zeug legt.
    Es folgen noch "Cherokee" und der "Ecology Song", die sich im attraktiv verwinkelten Jazz-Rock-Umfeld von Blood, Sweat & Tears tummeln.

    "Live At Berkeley 1971" ist ein immer noch lebendig wirkendes Zeitdokument, das die Leidenschaft, mit der Stephen Stills damals Musik machte, authentisch überträgt. Leider ist das Verhältnis zwischen Solo- oder Duo- und Band-Auftritten bei dieser Auswahl zu Ungunsten der Ensemble-Leistungen ausgefallen. Deshalb hört man die feurigen, kreativ-ausschweifenden Exkursionen, zu denen Stills auf der elektrischen Gitarre in der Lage ist, leider viel zu selten.

    Anfang der 1970er Jahre war der Sound von Crosby, Stills, Nash & Young (sowohl als Gruppe, wie auch von den einzelnen Mitgliedern) revolutionär, im wahrsten Sinne fortschrittlich, engagiert und überraschend. Ihr Folk-Rock fusionierte Blues-, Soul-, Jazz-, Latin- und Country-Bestandteile und kam so zu erstaunlich hinreißenden Ergebnissen. Als Fan fieberte man jedem neuen Werk entgegen und lauschte gebannt den erbaulich-frischen Tönen, die auch heute noch attraktiv (nach)wirken. Der heutige 78jährige Stephen Stills war dabei eine der Säulen dieser originellen Bewegung.

    "Live At Berkeley 1971" holt die prägenden Erinnerungen zurück ins Gedächtnis, überzeugt klangtechnisch sowie musikalisch und ist deswegen eine sinnvolle und erfreuliche Bergung aus den Archiven.
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    Coast 2 Coast (Limited Edition) (Transluent Blue Vinyl) Coast 2 Coast (Limited Edition) (Transluent Blue Vinyl) (LP)
    13.05.2023
    Klang:
    4 von 5
    Musik:
    4 von 5
    Pressqualität:
    4 von 5

    "Coast 2 Coast" ist eine knallbunte Wundertüte aus dem psychedelischen Space-Age- und Jazz-Pop Märchenland.

    Juliette Pearl Davis und Joachim Polack nennen sich Pearl &The Oysters. Sie hat die Liebe zur Musik zusammengebracht. Nicht nur künstlerisch, sondern auch privat. Beide schwärmen für den Jazz-Pop der 1970er- und den Space-Age-Pop der 1990er Jahre. Unüberhörbar ist außerdem auch eine Zuneigung zu Burt Bacharach, Brian Wilson (The Beach Boys) und dem Yellow Magic Orchestra um Haruomi Hosono und Ryūichi Sakamoto zu spüren.

    Hinter dem Titel "Coast 2 Coast" steckt die Idee, den Zustand des Wandels anhand einer Momentaufnahme festzuhalten. Juliette Pearl Davis und Joachim Polack lernten sich auf der Hochschule in Paris kennen und zogen 2015 nach Gainesville in Florida. Ein neuerlicher Umzug, der im Januar 2020 von der Ostküste zur Westküste der USA nach Los Angeles in Kalifornien stattfand, prägt nun unter anderem die Kulisse ihres neuen, insgesamt vierten Albums. Aber die inhaltlichen Zusammenhänge gehen noch viel weiter, wie das Paar erläutert: "Die Platte erforscht die Idee des Reisens - sowohl körperlich als auch geistig, sowohl erlebt als auch phantasiert. Es geht gleichermaßen um Schlaflosigkeit und den Traumzustand, den Lauf der Zeit, die Trauer der paradiesischen Natur, aber auch das Wunder der Phonographie und des Radios". Federführend bei der Umsetzung dieser Zusammenhänge zu einer in sich stimmigen Klangpalette ist die prägende, leicht beschwingte, klare, hübsche, jugendliche Stimme von Juliette Pearl Davis, die charmant durch den Song-Reigen führt.

    Mit dem kurzen "Intro (...on the Sea-Forest)" nehmen uns Pearl & The Oysters durch Field-Recordings mit in die Natur von Gainesville. Dort in Florida wurden noch etwa die Hälfte der Lieder für "Coast 2 Coast" produziert. Und es geht "tierisch" weiter: Schon bei den ersten Takten von "Fireflies" wird klar, zu welchen aktuellen Formationen eine Geistesverwandtschaft besteht: The Mild High Club, Stereolab, Unknown Mortal Orchestra und The High Llamas stechen als Vergleiche bei diesem farbenfrohen, flirrenden, verzückten Sound heraus. Es ist also auch nicht verwunderlich, dass auf "Coast 2 Coast" als Gäste unter anderem Lætitia Sadier (Sterolab), Riley Geare (Unknown Mortal Orchestra) und Alexander Brettin vom Mild High Club anwesend sind.

    Ein milder Groove, versponnene Effekte und unschuldig-romantischer Gesang machen "Konami" zu einem Genre-übergreifenden, handfesten, griffigen Easy Listening-Song mit Ohrwurm-Potential. Manchmal kommt man einfach nicht an einem Steely Dan-Vergleich vorbei. So wie bei "Pacific Ave", das sich gekonnt an die eleganten Jazz-Grooves von "Peg" aus dem Album "Aja" und die Coolness von "Time Out Of Mind" von "Gaucho" anlehnt.

    Das kurze Zwischenspiel "Timetron" ist dagegen eine offenkundige Hommage an die Computer-Spiel-Musik vom ersten Album des Yellow Magic Orchestra.
    "Timetron" dient überdies als Einleitung für "Loading Screen", wo dessen Klänge abgeschwächt aufgegriffen und als dekorative Hintergrund-Geräusche sowie als Rhythmus-Gerüst eingesetzt werden. Es geht in dem Lied um Bildschirmsucht und Reizüberflutung. Hinsichtlich der Stimmung handelt es sich gewissermaßen um eine Ballade, was bei dem ganzen Zirpen, Klappern und Blubbern jedoch beinahe untergeht.
    "Space Coast" zitiert unter anderem die wehmütigen, vollmundigen Klänge einiger Beach Boys-Klassiker wie "`Til I Die" von "Surf`s Up". Es werden auch vermeintlich aus Hawaii stammende Töne verwendet, was eine trügerisch-klischeehafte, satirisch anmutende Exotik aufkommen lässt.
    Kristalline Harfenklänge leiten "Moon Canyon Park" malerisch ein, woraufhin danach Echo-Imitationen für Verwirrung und schmierige Keyboard-Klänge für ungläubiges Staunen sorgen. Solch eine absurd kitschige Kombination aus unschuldigen und idyllischen Tönen, die durch schöngeistigen Gesang stabil zusammengehalten werden, klingt wie der Soundtrack zu einer Neuverfilmung für "Alice im Wunderland".

    "D'Ya Hear Me!" ist die Variante einer Demo-Version des Brenda Ray-Titels. Sie wird hier jedoch langsamer gespielt und mit mehr Pop-Strahlkraft ausgestattet, als es die karge Vorlage bieten kann. Heraus kommt dabei ein taumelnder Folk-Song, der in seiner arglos-unbekümmerten Art zum Beispiel an die mühelos-luftigen Arrangements von Nouvelle Vague erinnert.

    Total entspannt, beinahe schon schläfrig leitet die Stimme von Juliette Pearl Davis den wattigen, tropischen Lounge-Pop-Jazz "Paraiso" ein, der nach einigen Weckrufen immer wieder in eine gemächliche Rolle zurückfällt. Für "Read The Room" wird mit krachenden und schmirgelnden Gitarren-Akkorden eine weitere musikalische Pearl & The Oysters-Vorliebe integriert: Die Pixies. Lætitia Sadier steuert lieblichen Duett-Gesang bei, das Rhythmus-Gespann prescht voran und baut Druck auf, beim Synthesizer schlagen die Elektronen Blasen vor Vergnügen und in Erinnerung an Walter/Wendy Carlos ("Switched On Bach") werden populäre Klassik-Pop-Muster ulkig-albern verwurstet.

    Ein verführerischer, lasziver Gesang befreit "Vicarious Voyage" vom künstlichen, abweisenden Electro-Pop-Verdacht, der sich zunächst aufdrängt. Darüber hinaus überwiegt im Grunde genommen ein spielerisch-zwangloser Klangzauber, der abermals an die Beach Boys und ihre Werke aus den 1970er-Jahren, wie "Sunflower" denken lässt.
    Beinahe zerstörerisch gehen Pearl & The Oysters mit "Joyful Science" um. Die verzerrte Vocoder-Stimme lässt jegliche Harmonie hinter sich, der Rhythmus setzt zum Ausbruch an, ohne diesen dann schließlich doch zu wagen und das Saxophon bläst selbstbewusst und löst sich von den üblichen, einmütig-gleichgesinnt agierenden Schwingungs-Mustern. Deshalb wird aus dem bisherigen Harmonie-Bestreben letztlich ein Auflehnungs-Versuch.

    "Coast 2 Coast" beinhaltet viele Kompositions-Überraschungen, einige Anleihen bei der Pop-Geschichte und etliche verrückte, verwirrende und spaßige Klänge, die in dieser Ausprägung und Zusammensetzung ungewöhnlich sind und deshalb für ein hohes Maß an Hörvergnügen sorgen. Es steckt zudem jede Menge Liebe zum Detail in diesen Aufnahmen. Aber trotz der hohen Komplexität wirken die Lieder größtenteils flüssig und locker. Pearl & The Oysters lassen aufhorchen, wenn es darum geht, Pop-Musik zu erschaffen, die ästhetisch hochwertig erscheint. Dazu verarbeiten sie ein Füllhorn an ambitionierten Ideen, welche gewitzt und kenntnisreich umgesetzt werden.
    Meine Produktempfehlungen
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    Fuse Everything But The Girl
    Fuse (CD)
    13.05.2023
    Klang:
    4 von 5
    Musik:
    4 von 5

    Comeback oder Abschiedswerk? Nach 24 Jahren gibt es endlich neue Songs von Everything But The Girl.

    Damit konnte nach 24 Jahren Abstinenz wirklich niemand mehr rechnen! Nämlich, dass Tracey Thorn und Ben Watt nochmal gemeinsam Musik machen würden. Schließlich haben die beiden als Solo-Künstler bewiesen, dass sie auch unabhängig voneinander kulturell funktionieren können. Hätte es also wirklich nötig getan, den Everything But The Girl-Sound wieder aufleben zu lassen?

    Tracey Thorn war inzwischen neben der Kindererziehung noch als Autorin von vier Büchern und als Journalistin tätig. Ben Watt hat sich nebenbei als Produzent und DJ mit eigenem Label (Buzzin` Fly) einen Namen gemacht, was sich bei einigen der neuen Stücke durch die Verwendung oder Einbeziehung eines strammen, unnachgiebigen elektronischen Beats bemerkbar macht.

    So wie beim Opener "Nothing Left To Lose", wo pulsierende, hektische, mächtige, kantige TripHop-Takte den Track fest im Griff zu haben scheinen. Tracey Thorn vermag es jedoch, mit ihrem entschlossenen, Respekt fordernden Gesang - der allerdings nicht frei von zweifelnden Schwingungen ist - die Kraft der Bässe im Zaum zu halten. Pumpende und gegenläufig flirrend-zischende Töne zeigen einen Verlust an Sicherheit und Selbstbeherrschung deutlich an: "Ich brauche eine dickere Haut. Dieser Schmerz dringt immer wieder ein", lautet eine Momentaufnahme voller nüchterner, bedrückender Selbsterkenntnis. Menschliche Emotionen triumphieren aber am Ende dennoch über harsche Maschinen-Klänge.

    "Run A Red Light" stimuliert und zelebriert die Energie, die in der Ruhe, Langsamkeit und Transparenz liegt. Der Song ist cool, clever, sphärisch und einschmeichelnd zugleich. Eine entspannte Stimme, die herausfordernde Akzente besitzt, sorgt für eine Form der Erregung, welche die Luft unterschwellig vibrieren lässt. Die zersetzende Wirkung der Zeit wird dadurch souverän und charmant außer Kraft gesetzt. "Ich habe diesen Song über den Typen am Ende der Nacht geschrieben, der davon träumt, dass sein großer Moment gleich um die Ecke ist", erklärte Ben Watt dem "New Musical Express" seine Gedanken bei der Entstehung des Liedes.

    "Caution To The Wind" nimmt Anleihen bei der hypnotischen Minimal-Art-Musik von Steve Reich oder Philip Glass und steigert allmählich die Dynamik bis in zappelig-nervöse Techno-Bereiche hinein. Tracey Thorn lässt sich davon allerdings nicht aus der Ruhe bringen und singt trotz der aufkommenden Hektik romantisch-abgeklärt weiter.

    Eine dunkel-unheimliche Dramatik liegt über den Keyboard-Tönen von "When You Mess Up", welche vom strengen Gesang sowohl bestätigt wie auch durchbrochen wird.

    Der Electro-Pop "Time & Time Again" verbreitet überwiegend tröstend-aufmunternde Klänge, ohne dabei das Tempo vor Ausgelassenheit ausufern zu lassen. Manche künstlichen, zirpend-fiepende Synthesizer-Töne vermitteln hingegen mit ihrer unnatürlichen Erscheinung eine emotionale Distanz. Von diesen Kontrasten zwischen Wärme und Kühle profitiert dieser intelligent arrangierte Song in hohem Maße.

    Mit "No One Knows We're Dancing" lassen sich jene Tänzer auf die Tanzfläche locken, die nicht verzückt ausflippen, sondern sich von einem Dream-Dance-Pop mit Rausch-Faktor angenehm aufgehoben durch die Nacht tragen lassen wollen.

    Der Verlust von geliebten Menschen ist ein tiefer Einschnitt in die Seele. "Ich habe letzte Woche meinen Verstand verloren", verkündet Tracey Thorn bei "Lost" und jeder Mensch, der sich nach dem Tod von Bezugspersonen schon mal im freien Fall befunden hat, kann das gut nachvollziehen. Dieses Klagelied wurde betont einfach, mit wiederkehrenden, rücksichtsvollen Tönen ausgestattet, so dass es sich wie ein meditatives, besinnliches Gebet anhört.

    "Gib mir etwas, an das ich mich für immer festhalten kann", lautet eine wichtige Aussage von "Forever". Dieser Wunsch findet sich in einem pseudo-optimistischen Song wieder, der von hüpfenden Fake-Reggae-Rhythmen und aufmunterndem Händeklatschen angestachelt wird, aber dennoch eine gedankenvolle Grundstimmung mitbringt.

    Das rätselhaft verschlossene "Interior Space" ist nicht nur ein schwermütiger, sondern auch ein intensiver, aber auch der kürzeste Track auf "Fuse". Er sorgt für Frost auf den Noten, lässt teilweise das Blut in den Adern gefrieren und erzwingt eine ergriffene Demut.

    Auch wenn "Karaoke" grundsätzlich einen traurigen Eindruck hinterlässt, so geht dennoch eine gewisse gelöste Stimmung von dieser Ballade aus. Das ist einer der besonderen kompositorischen Kniffe von Thorn & Watt, die aus ihren Songs kleine raffinierte Meisterwerke der zurückhaltenden, aber dennoch aufwühlenden Art machen. Sie nutzen das Wissen, dass sich Gegensätze anziehen und verstehen es, diese Kenntnis unauffällig so zu verwenden, dass den Liedern gefühlvolle Tiefe oder prickelnde Lebendigkeit und damit zeitlose Attraktivität mitgegeben wird.

    "Fuse" ist eine schöne, überaus gelungene Überraschung geworden. Das Werk zeigt erneut, dass eine Kombination aus Melancholie und Rhythmus nicht widersprüchlich sein muss oder sogar unmöglich ist, sondern ganz im Gegenteil unverhoffte, interessante Blüten hervorbringen kann. Die akustischen Gegenüberstellungen von Yin und Yang oder von gegensätzlichen Gefühlslagen kommen dem wahren Leben sehr nahe und wirken aufgrund dessen authentisch. Deshalb passt auch der Titel "Fuse" so gut zum musikalischen Konzept.

    Die Aufnahmen reihen sich jedenfalls qualitativ nahtlos in die Diskographie der bisher erschienenen zehn Everything But The Girl-Platten ein und hinterlassen einen bewährten Eindruck. So, als wäre die Zeit stehengeblieben. Die auch nach diversen Hördurchgängen immer noch belastbare Substanz und bewegende Ausstrahlung der Stücke von "Fuse" lassen auf eine Fortsetzung hoffen. Aber dazu müssen nicht nur die Sterne günstig stehen, sondern auch die Familienverhältnisse im Hause Thorn & Watt eine Wiederholung zulassen. Und das hat ja zuletzt ganze 24 Jahre gedauert.
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    04.05.2023
    Klang:
    4 von 5
    Musik:
    4 von 5

    In einer vom Adult-Pop dominierten Welt wären Darling West vermutlich Chart-Stürmer.

    Die Sprache der Musik wird überall verstanden und Stilrichtungen sind nicht unbedingt an eine Region gebunden. Kaum jemand würde anhand des Sounds vermuten, dass die Band Darling West aus Norwegen stammt, so authentisch-universell vermitteln sie ihren Pop, der von einem gekonnt adaptierten, feinsinnigen Americana-Aroma durchzogen ist. Ihre Klänge beinhalten einen Ausdruck von Weite, Leidenschaft, Lebensfreude, Liebesleid und Romantik - also quasi ein Abbild der klassischen Pop-Themen. In der Umsetzung dominierten dann Präzision, Spielfreude und emotionaler Überschwang. Wen interessiert da noch die Herkunft? Hier zählt nur die Qualität der Songs.

    "Cosmos" ist nach dem Erstlingswerk "Winter Passing" aus 2014 das fünfte Studio-Album von Darling West aus Oslo, die schon auf dem SXSW-Festival in Austin/Texas und dem Americanafest in Nashville/Tennessee und als Vorgruppe von Lucinda Williams aufgetreten sind. Die Gruppe besteht aus Mari Sandvær Kreken (Gesang, Omnichord, Mundharmonika), Tor Egil Kreken (Bass, 12-saitige E-Gitarre, Akustikgitarre, Gesang), Christer Slaaen (Gitarren) und Thomas Gallatin (Schlagzeug, Percussion). Auf "Cosmos" wird die Kernbesetzung noch von diversen Gästen an Pedal-Steel-Gitarre, elektrischer Harfe, Harmonie-Gesang, Keyboards, Streichinstrumenten, Vibrafon und Blasinstrumenten begleitet, was dem Sound Fülle einbringt und einen Ton-Farbwechsel bei den Arrangements ermöglicht.

    Der Song "Cosmos" ist eine Hymne, die zum Ohrwurm wird und dadurch den perfekten Appetitanreger für ein unbeschwertes, aber dennoch erhebendes Hörvergnügen darstellt. Das Klang-Gerüst wird von Harmonie ausgefüllt und getragen. Die Instrumente unterstützen sich gegenseitig, es gibt keine solistischen Extravaganzen. Selbst das Gitarren-Solo stellt sich in den Dienst der gleichgesinnten, ästhetischen Sache. Ein Hit!

    "Light Ahead" punktet mit einem stoisch groovenden Coolness-Faktor und legt in punkto Optimismus-Ausstrahlung noch eine Schippe gegenüber dem Lied "Cosmos" drauf: Beim ertönen des Refrains scheint die Sonne aufzugehen und es verziehen sich schlagartig alle Schlechtwetter-Wolken. Ein Hit!

    "Still Here" lässt es zunächst ruhig angehen. Der ausgeglichen wirkende Akustik-Folk wird durch einen kontrastreichen Duett-Gesang von Mari Sandvær Kreken und Thomas Gallatin aufgewertet und mutiert plötzlich zu einem seiden glänzenden, sehnsüchtig gleitenden Soft-Rock. Ein Hit!

    "Will I Ever Know" entzieht sich geschickt der Zuordnung zu irgendwelchen Stil-Schubladen. Flüchtig auftauchende Zitate, die aus dem Reggae, dem Electro-Pop, dem Psychedelic-Sound und dem Country-Rock entliehen sind, lassen das Stück immer wieder in anderen Farben glänzen. Clever und smart!

    So reif durchkomponiert, so positiv motivierend, so anziehend einprägsam: Der Power-Pop "Oh Love" wäre selbst im Repertoire von Fleetwood Mac positiv aufgefallen. Ein Hit!

    Zwischen Mountain-Folk und Gospel-Pop ist noch viel Platz für "Wild Dreams", das in beiden Lagern zuhause ist. Eine attraktive Fusion! Eineinhalb Minuten lang werden für "Prelude" glitzernd-blinkende Töne als Einstimmung zur Ballade "Echoes" erzeugt.

    So weit, so gut. Leider erweisen sich grade die Balladen ("Old Man", "Till Night Turns To Day" und eben "Echoes") als Achillesferse von Darling West: Sie verfügen über eine weichgezeichnete Sound-Dekoration, die die Songs seicht, flauschig und schwammig erscheinen lässt. Eine erdige, nachdenklich-dunkle Country-Folk-Basis mit seriös-weisem Gesang hätte die Lieder wahrscheinlich vor dem Schnulzen-Verdacht retten können. Die Band kann nämlich grundsätzlich sehr gut mit verheißungsvoll-sinnlichen Momenten umgehen - wenn sie nicht grade in eine verlockende, süßlich-verwässerte Mainstream-Falle tappt.

    "Cosmos" weist nach Adult-Pop-Gesichtspunkten eine hohe, potentielle Hit-Dichte auf. Der zärtlich-sinnliche Lead-Gesang von Mari Sandvær Kreken ist das Sahnehäubchen auf dieser klug und perfekt arrangierten Musik. Alles scheint nach erstem Betrachten einem Marketing-Konzept zu folgen, das darauf beruht, romantische Sinnlichkeit, aufbauenden Optimismus, zuckersüße Melodien und eingängige Refrains optimal zu kombinieren, um möglicherweise die Charts zu knacken. Also alles nur kühle Berechnung - eventuell sogar von einer Künstlichen Intelligenz ersonnen? Das wäre durchaus möglich, wenn nicht die emotionale Ebene jegliche kritische Distanz atomisieren und einfach nur für gepflegte Ausgeglichenheit und eine entspannt-angenehme Zeit sorgen würde. Da mag man nicht mehr an Berechnung denken.

    Es sieht so aus, als wären Darling West nur noch einen Steinwurf vom ganz großen kommerziellen Erfolg entfernt. Ein Anruf von einem erfolgreichen Agenten aus Nashville oder die Berücksichtigung eines ihrer Stücke in einem Soundtrack sollten genügen, um sie zu Superstars zu machen. Aber will man ihnen das wirklich wünschen?
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    Heaving Lucy Kruger & The Lost Boys
    Heaving (CD)
    10.04.2023
    Klang:
    4 von 5
    Musik:
    4 von 5

    Wenn dunkle Kräfte nach der Seele greifen, dann gibt "Heaving" Hilfe zur Selbsthilfe.

    "Heaving" klingt nach Subkultur, nach Angst, Sex, Gewalt, Verzweiflung und zum Glück außerdem nach Versöhnung. "Heaving" ist das fünfte Album von Lucy Kruger, die mit ihren Solo-Arbeiten unter dem Zusatz The Lost Boys und mit ihrem Duo-Projekt Medicine Boy fest in der Berliner Underground-Pop-Szene verwurzelt ist. Im Januar war sie noch als eine intensive Gesangspartnerin auf "Shifting" des Frank Pop Ensemble zu hören, nun stellt die in Südafrika geborene Künstlerin zehn neue Lieder vor, die besonders gut im Schutz der Nacht gedeihen.

    Da ist Musik, die vom dunklen Ende der Straße herüberschallt, dort wo es unheimlich ist, wo Schmerz und Hoffnungslosigkeit zuhause sind. Jeder Song auf "Heaving" bringt eine andere abseitig-unheimliche Stimmung hervor, so dass die Hitze der Nacht in vielen Grautönen schimmern kann. Gleichwohl geht die Aussicht auf lichte Momente nie gänzlich verloren. "Es gibt den Tod und es gibt die Morgendämmerung", heißt es demzufolge zwangsläufig im Stück "Heaving".

    Der Industrial-Pop von "Auditorium" verbindet mechanische Härte, manipulativen Sprech-Gesang, wortlose Stimm-Laute zwischen Lust und Irrsinn sowie melodische, treuherzige Unschuld miteinander. Dagegen demonstrieren die peitschenden Rhythmen beim Song "Heaving" eine stoische Unnachgiebigkeit. Zudem zerreißen zerrende E-Gitarren-Töne die Luft und Lucy singt als Dekoration dazu mit verführerischem Tonfall wie auch verschämt-unschuldig. Dadurch tun sich subtile, kontroverse Abgründe auf.

    "Howl" bewegt sich an der Schwelle zum Wahnsinn: Lucy schreit ihre Verzweiflung und Wut heraus und gibt sich im nächsten Moment wieder kühl und beherrscht. Der Gesang wird zum unberechenbaren, scharfkantigen Instrument und klingt entweder verzerrt oder klar strukturiert - je nach Lust und Laune. Unsicherheit herrscht auch textlich vor: "Ich bin unschlüssig. Bei allem, was ich getan habe. Und allem, was ich je gesagt habe."

    Rausch oder Traum? Der fein gesponnene, sensible Hippie-Folk von "StereoScope" hinterlässt einen weltabgewandten Eindruck: In Trance gefallene oder lasziv gehauchte Stimmen vernebeln in Verbindung mit einer psychedelisch-filigranen Instrumentierung die Sinne.

    Mit "Burning Building" geht es ab in die Alternative-Rock-Disco. Dahin, wo The Sisters Of Mercy, Siouxsie & The Banshees, The Cure oder Sonic Youth zuhause sind.

    Die geheimnisumwitterte, eindringliche, am schnörkellos-sparsamen Underground-Folk von The Velvet Underground orientierte Ballade "Feedback Hounds" punktet mit schmachtendem Gesang, der Liebreiz und Verführungskunst in sich vereint.

    "Front Row" ist wie ein Vulkan, der bald auszubrechen droht: Zuerst kündigt sich die Eruption an, dann erhöht sich die Intensität. Das erweist sich aber als Fehlalarm. Langsam steigert sich die Energiedichte wieder, das führt jedoch auch nach mehreren Anläufen nicht zum Ausbruch. Eine verdächtige Spannung bleibt dennoch über den gesamten Ablauf hinweg mit hoher Intensität erhalten.

    Knisternde Erotik erfüllt "Tender": Der Bass grummelt zunächst lässig-pumpend und die Gitarre spuckt im Hintergrund elektrische Ladungen aus. Dann wird das Tempo erhöht, der Bass-Puls schlägt bis zum Hals, die Gitarre knurrt wie ein hungriger Bär und die Percussion-Salven bringen das Liebes-Gebräu zum Sieden. Lucy bleibt bei aller Hingabe - die um sie herum herrscht - cool und dämpft so zum Ende hin die Leidenschaft. Ein sinnlicher O(h)rgasmus.

    Auf wundersame Weise gelingt es bei "Heaven Sent", sägende und nach Glocken klingende E-Gitarren-Töne, himmlische Chor-Stimmen, ein trocken und gemächlich klopfendes Schlagzeug, geisterhafte Call & Response-Solo-Gesänge und Schunkel-Einschübe zu einem geisterhaften, aber stimmigen Chanson zusammenzufügen. Die verschwommen-unheimliche "Twin Peaks"-Atmosphäre lässt grüßen.

    Ein sparsam-monotoner Schlagzeug-Trommel-Takt, eine leidende, leicht verzerrte Stimme und Space-Sounds machen aus "Undress" als Abschluss indes einen meditativen, trunkenen Sinnestaumel.

    Die Sängerin und Multiinstrumentalistin Lucy Kruger betritt mit ihren Lost Boys - zu denen in wechselnden Besetzungen Liú Mottes (Gitarre, Bass, Piano), Jean-Louise Parker (Gesang, Viola), Martin Perret (Schlagzeug), Calvin Siderfin (Bass), Andreas Miranda (Bass), ihr Medicine Boy-Partner André Leo (Gitarre) und Gidon Carmel (Schlagzeug) gehören - düstere, teils verstörende Pfade.

    Die Musiker lassen verirrte Seelen vor dem geistigen Auge entstehen, die tanzend durch die Dunkelheit stolpern. Die Gruppe erschafft ihren eigenen psychedelischen Dschungel - so wie es 1981 The Cramps taten - nur mit anderen Mitteln. Der undurchdringliche Dschungel hält sie gefangen, bietet aber auch Schutz. Lucy Kruger erschafft eine Klangwelt, die die Untiefen der Seele erkundet, um ihnen als Ergebnis die Schrecken zu nehmen. Und zu diesem Zweck geht sie dahin, wo es wehtut. Daneben gibt es immer wieder Momente, die in Sicherheit wiegen, beschwichtigen oder sogar Harmonie heraufbeschwören. Was für ein verwirrend-stimulierender Emotions-Cocktail!
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    • Teen Tapes (For Performing Your Own Stunts) Lucy Kruger & The Lost Boys
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    Phœnix Phœnix (CD)
    10.04.2023
    Klang:
    4 von 5
    Musik:
    4 von 5

    Das Konzept von "Phoenix" favorisiert die verheißungsvolle Vereinigung von Gegensätzen.

    Das offensive und lyrische Piano von Tori Amos, der Folk-Jazz-Einfluss von Joni Mitchell (einschließlich einer Reinkarnation des voluminös-melodischen Jaco Pastorius-Bass-Spiels durch Moto Fukushima), das experimentelle Element von Annette Peacock und die Stimmfarbe von Julia Holter sind ein paar Assoziationen, die die Kompositionen von Natalia Kiës hervorrufen. Die vielseitige Musik bietet auf jeden Fall ein Gegengewicht zum allgemeinen Mainstream-Terror mit dessen oft überflüssiger akustischer Umweltverschmutzung an.

    Natalia wuchs in Nikolai (Polen) auf und siedelte mit ihrer Familie nach Köln (Nordrhein-Westfalen) über, als sie acht Jahre alt war. Schon mit fünf Jahren entdeckte sie das Klavier für sich und übte fleißig ohne Druck, alleine aus dem Interesse an der Musik heraus. Nachdem das Talent die Integrationsphase an die neue Heimat hinter sich gebracht hatte, studierte die angehende Künstlerin klassisches Klavier an der Folkwang Universität der Künste in Essen und danach Jazz/Pop-Gesang an der ArtEZ Universität der Künste in Arnhem (Niederlande). Erstaunlicherweise absolvierte sie auch noch ein Studium der Psychologie zum Einfluss von Musik und Stress auf die kognitiven Leistungen an der Heinrich-Heine-Universität in Düsseldorf.

    Dieses Wissen kommt Natalia Kiës nun bei der Abstimmung ihrer emotional kontrastreichen Kompositionen zugute und erklärt den souverän-unverkrampften Umgang mit lyrischen Passagen und Improvisationen. Ein intelligenter Anpassungs-Prozess sorgt dafür, dass die scheinbar widersprüchlich-gewagten Dynamik-Sprünge doch zu stimmigen Ergebnissen führt. Die Methode der konstruktiven Ablenkung zieht sich komplett durch das gesamte Album: Das Piano behauptet bei "Crystalline" trotzig und forsch seine Vormachtstellung. Da können auch die polyrhythmischen Percussion-Einlagen nichts dran ändern. Als wolle Natalia eventuelle Verfolger abhängen, ändert sie das Tempo und die Instrumentierung, schlägt Haken und verändert den Ausdruck des Gesanges. Erstaunlich, dass bei dieser akustischen Achterbahnfahrt der Flow nicht abreißt!

    Natalia Kiës zeigt sich immer noch ihren Wurzeln verbunden und singt deshalb auch ein paar Lieder in polnischer Sprache: Hallende und splitternde Töne, unheimliche Fiebertraum-Klänge und eine wehmütige Stimme spielen die Hauptrollen bei "Moja własna cisza" (= Mein eigenes Schweigen), das sowohl die Inhalte einer Klang-Installation wie auch die eines dramatischen Art-Pop abbildet.

    "I Am Gone" funkt mit Hilfe von schnell getakteten Minimal-Art-Loops ins Jenseits. Diese Signale werden von den Klängen einer psychedelischen Piano-Ballade flankiert, bis dieses anregende Konstrukt plötzlich in einen experimentellen Drogen-Rausch-Taumel verfällt. Ein jäher Bruch, von dem sich der Song nicht mehr erholt.

    Die Percussion-Untermalung erinnert an das Rattern bei einer Zugfahrt und an das Wimmern eines jungen Seehunds, der Bass gibt unauffällig Rückendeckung, das Piano verbreitet meditative Akkorde und der Gesang ist rein und unschuldig. Auf diese Weise wird aus "Fall Asleep" ein berührendes, wenn auch ungewöhnliches Avantgarde-Chanson.

    Pure lyrische Leichtigkeit alleine reicht Natalia nicht aus, um einen Song zu gestalten. Deshalb beherbergt "Piksel I Pigment" noch zusätzlich eine mystisch-folkloristische Prägung und eine jazzig-gedankenverlorene Seite. Tönern wirkende Töne, die mit einem Echo versehen sind und ein Chorgesang mit ursprünglich-traditionellen afrikanischen Schwingungen, die nach Anerkennung suchen, füllen das Klangbild. Da ist dann aber auch noch das sprudelnd wirbelnde Klavier, das eindeutig vom improvisierten Jazz geleitet wird und sich gegen alle Widerstände durchsetzen möchte. Mit diesen Eigenarten wurde auch dieser Song unkonventionell, mit Sinn für attraktive Reibungen, arrangiert.

    "Traces" setzt das Sound-Abenteuer fort, denn märchenhafte Glückseligkeit steht neben progressiven Sound-Experimenten. Es bleibt also auf hohem Niveau positiv aufregend.
    Verhaltene, an brasilianische Rhythmen angelehnte Takte, Minimal-Art-Hypnose, Elektronik-Fiepsen und betörender Gesang bilden zusammen das traumwandlerische Gerüst für "Edda".

    "Świetlik" (= Dachluke) geht einen ähnlichen Weg wie "Edda", nur hier wird zwischendurch ein schnellerer Percussion-Teppich als Impulsgeber zugrunde gelegt.

    Natalia singt mit sich selbst im Duett und verleiht "Kropelka" (= Tröpfchen) mit diesem Stilmittel ein seriös-geistliches Antlitz. Durch einen lebhaften Jazz-Groove wird die bedächtige Stimmung dann zeitweise aber wieder aufgelöst.

    Spritzig-bewegliche Percussion-Instrumente bringen "Snowtrain" in Schwung. Das Piano vermittelt dabei zwischen dem umsichtig-ausgleichenden Gesang und der aktiv-lebhaften Eskorte.

    Ein dynamischer, vom E-Piano angetriebener Jazz-Rock versorgt "Mówić przez sen" (= Im Schlaf reden) zunächst mit Energie und Grazie. Dann wandelt sich prompt die Stimmung: Gesangliche Flexibilität und lyrische Lautmalerei bestimmen auf einmal die Richtung dieser aufsehenerregenden Ballade.

    Natalia Kiës hat bereits mit diesem ersten Album eine reife Leistung vorgelegt. In kleiner Besetzung wird ein umtriebiger, breiter Sound erzeugt, der trotz intellektueller Finessen nie kopflastig kompliziert, sondern stets unbefangen behutsam und erfrischend anders handelt. Deshalb lassen sich die Kompositionen auch in kein Stil-Korsett zwängen. Zu eigenwillig, ungewöhnlich und verzwickt sind sie - und auch liebenswert niveauvoll.

    Nebenbei hören ist keine gute Idee bei "Phoenix", denn dann erschließt sich die komplexe, wohlüberlegte, komplex abgestimmte, formvollendete Collagen-Technik nicht. Die Musikerin und ihre Kollegen Keita Ogawa (Percussion) und Moto Fukushima (Bass) arbeiten unter anderem mit scheinbar aus der Umwelt zu stammenden, aber exklusiv erzeugten Effekten, die sich zurückhaltend ins Klangbild einfügen. So kommen Assoziationen wie Wildenten-Geschnatter, Hunde-Hecheln oder Atem-Geräusche auf, die den Höreindruck zusätzlich unaufdringlich-interessant gestalten.

    "Phoenix" steht in diesem Zusammenhang für die Auferstehung einer progressiven Musikentwicklung, die weder Grenzen noch Konventionen anerkennt, sondern im Geiste einer freien Kreativität nach künstlerischer Erfüllung sucht. Und das ist beeindruckend reif gelungen! Natalia Kiës fordert durch bewusst gesetzte, aufrüttelnde Kontraste und eine innere Vehemenz die Aufmerksamkeit der Hörerschaft heraus. Neugier macht sich bezahlt!
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    • Scarlet's Walk Tori Amos
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    • Perfect Release Annette Peacock
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    V Unknown Mortal Orchestra
    V (CD)
    10.04.2023
    Klang:
    4 von 5
    Musik:
    4 von 5

    Wie so viele Musikproduktionen der letzten Jahre ist auch "V" in gewisser Weise ein COVID 19-Album geworden, aber eines mit einer positiven Wendung.

    Der hawaiianisch-neuseeländische Musiker Ruban Nielson, der der Kopf hinter dem Unknown Mortal Orchestra ist, zog von Portland in Oregon nach Palm Springs in Kalifornien, als die Schatten der Pandemie am Horizont auftauchten. Dadurch konnte er sich nach 10 Jahren Dauerstress in einem warmen, trockenen Klima eine Auszeit gönnen, die sich wohltuend auf seinen Allgemeinzustand und auch auf seine Stimme auswirkte.

    Mit neuem Elan machte er sich im Heimstudio an die Aufnahmen zu "V" und kombinierte schließlich 14 Titel, die aus Instrumentalstücken und Songs bestehen, zum aktuellen Doppelalbum. Stilistische Beschränkungen gibt es keine. Egal ob Pop-Song, Disco-Groove oder Jazz-Improvisation, alle Einfälle werden unkonventionell - aber passend wie bei einem Puzzle - in das extravagante Gesamt-Gefüge des Unknown Mortal Orchestra eingebunden. Dabei entstehen oft psychedelisch verschränkte Erfindungen, die die Grenzen zwischen Mainstream und Underground verschieben oder sogar aufheben.

    Nach Einbruch der Dunkelheit ist es gefährlich, lautet das gleichförmige Mantra des Songs "The Garden". Diese Warnung führt erst im späteren Verlauf des unergründlich rätselhaften Tracks durch ein wild fabulierendes E-Gitarren-Solo zur Verbreitung von aufgeregten Schwingungen. Nebenher ist eine erregte Stimmung angesagt, die durch den sachlich geprägten, die Gefahr herunterspielenden Refrain abgeschwächt wird. Eine herrlich verwirrende Gemütslage wird aufsehenerregend und deutlich dargestellt.

    Bei "Guilty Pleasures" geht es inhaltlich um die Sturm- und Drangzeit, wenn Hormone das Verlangen, Wünschen und Handeln steuern. Der Song ist aber trotzdem nicht hyperaktiv gestimmt, denn der Takt wird akkurat swingend mithilfe eines eleganten Jazz-Funk-Vibes im Zaum gehalten. Der technisch leicht angeraute Gesang bemüht sich unterdessen um Beherrschung, während der Synthesizer freudvoll vermittelnd dazwischenfunkt. So in etwa hätte eine Zusammenarbeit von Steely Dan und Weather Report klingen können, was übrigens genauso für "The Beach" gilt.

    Das Wort "Meshuggah" stammt aus dem hebräischen und bedeutet so viel wie verrückt oder nicht bei Verstand sein. Das Stück geht der Frage nach, was jemanden verrückt werden lässt und was man tun kann, um es nicht zu werden. Einsamkeit ist ein psychischer Killer und geistig-körperliche Energie sorgt dagegen für Frieden und Kraft, lauten zwei Aussagen dazu. Der Track verfügt über einen zackig-hüpfenden Dance-Music-Takt und eine verschachtelte Melodielinie, ohne dass er dadurch schräg wirkt. Ein zwingender Groove ist eben immer noch die beste Medizin, um einen Song interessant zu gestalten!

    Und den gibt es auch beim instrumentalen, mit einer karibischen Aura ausgestatteten, jazz-rockigen "The Widow" zu hören, das von einem perlend-glitzernden E-Piano geleitet und durch kauzige Saxophon-Töne in seinem gut geölten Flow überrascht wird.

    "In The Rear View" ist eine sich schleppend fortbewegende Ballade, die von lieblich-rauem Gesang und einem Ohrwurm-Refrain getragen und dadurch vor zerstörerischer Tristesse bewahrt wird. "Wirst du dich später jemals an mich erinnern?", fragt sich der Erzähler in einem traurigen Ton. Das melancholisch geprägte Klima verrät, dass er die Hoffnung eigentlich aufgegeben hat, wobei der Break-Beat-Rhythmus das Unwohlsein akustisch unterwandert und verlockend aufbereitet.

    "That Life" und "Nadja" sind im Prinzip positiv-optimistisch unterwegs, was schon alleine durch einen stumpfen, stoisch stampfenden Beat angezeigt wird. Eine weitere wichtige gestalterische Rolle spielt die E-Gitarre, die sowohl die Rhythmen durch zündende Akkorde effektiv bestärkt, wie auch die Melodien durch fantasievolle Verzierungen bereichert.

    Der gelöste Reggae-Pop von "Layla" verbreitet ein heiteres Gefühl der Gelassenheit, wehrt sich aber zum Glück gegen jede Form der Belanglosigkeit.

    "Shin Ramyun" kommt ohne Worte aus, ist aber zu nahe an berieselnder, pausenfüllender Feuilleton-Musik angesiedelt, um wirklich einen bedeutsamen Spannungsbogen aufbauen zu können.

    Der harmonisch perfekte Soft-Rock-Satzgesang von "Weekend Run" bringt Sonne in die Komposition, die dennoch nicht glattgebürstet, sondern ziemlich verschachtelt daherkommt.

    "Keaukaha" ist ein Ortsteil der Stadt Hilo auf Hawaii. Dort ist die Mutter von Ruban aufgewachsen und als bei einer Jam-Session vor Ort dieses Instrumental-Stück entstand, kamen Erinnerungen hoch, die zu dem Titel führten. Echo-artige Space-Sounds bilden nun die Grundlage dieser zweiminütigen Improvisation.
    ""I Killed Captain Cook" wird aus der Perspektive von Kalaimanokahoʻowaha gesungen, dem hawaiianischen Häuptling, der den kolonialistischen Kartographen James Cook am 14. Februar 1779 in der Kealakekua Bay tötete", berichtet Ruban über den Inhalt des Liedes. In seiner puren Darbietung klingt der Track wie eine unfertige Demo-Aufnahme, was in starkem Kontrast zu den sonstigen Einspielungen steht.

    "Es war ein wirklich schöner Tag und wir haben festgehalten, wie sich der Nachmittag angefühlt hat", erzählt Ruban über die Entstehung des abschließenden "Drag". Abgesehen von einem wortlosen Summen gibt es bei diesem Zufallsprodukt keinen Gesang. Der Zustand des Stücks suggeriert aber, dass es einen Text geben könnte.

    Das Unknown Mortal Orchestra sucht nach Wegen, um Psychedelic-Rock, Easy Listening und Art-Pop geistreich und stimmig miteinander zu kombinieren. Die gute alte Tradition des kurzen Gitarren-Solos zur Stimulation einer Situation findet dabei eine gerne benutzte Anwendung. Das bringt Feuer, Schwung und eine schelmische Prägung in die drogenschwangeren und lebhaften Arrangements ein, die dem exklusiven, einfallsreichen und griffigen Sound gut zu Gesichte stehen. Ruban Nielson erfindet die Popmusik zwar nicht neu, er ist aber sehr talentiert darin, attraktive Bestandteile zu destillieren und diese einfallsreich zu kombinieren. Heraus kommen dann häufig hervorragende Patchwork-Arbeiten.
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    Fossils Kjellvandertonbruket
    Fossils (CD)
    10.04.2023
    Klang:
    4 von 5
    Musik:
    5 von 5

    Die Kunst der Langsamkeit, die Dehnung der Zeit und eine schwermütige Last begleiten die Musik von KJELLVANDERTONBRUKET.

    "Doom Country" war ein passender Name für das Erstlings-Werk des schwedischen Projektes KJELLVANDERTONBRUKET: Weitläufige Ambient-Sounds, dunkler Country-Folk, sehnsuchtsvolle Melodien und ein hingebungsvoller Gesang sind die Markenzeichen dieser Produktion, bei der sechs besorgniserregend beklemmende Psycho-Dramen entstanden sind. Die Tristesse der Tindersticks, die visionäre Alternative-Country-Sicht von Gene Clark, die Dramatik eines Nick Cave, die schmerzhafte Leidenschaft, welche Chris Isaak so immens wehmütig erscheinen lässt und die stoische Geruhsamkeit von Souled American sind dabei nur ein paar Eckpfeiler der Inspirationen, die die Künstler geleitet haben könnten.

    KJELLVANDERTONBRUKET sind der Singer-Songwriter Christian Kjellvander (Gesang, Gitarre) in Fusion mit dem Avantgarde-Quartett Tonbruket. Zu dieser Verbindung gehört auch Martin Hederos (Keyboards, Viola), der durch die Zusammenarbeit mit Mattias Hellberg als Hederos & Hellberg und seiner Beteiligung an The Soundtrack Of Our Lives bekannt geworden ist. Daneben spielen noch der ex-Esbjörn Svensson Trio-Bassist Dan Berglund, sowie Johan Lindström (Gitarren), und Andreas Werliin (Schlagzeug, Percussion) gewichtige Rollen.

    Nach drei Jahren Wartezeit liegt nun mit "Fossils" die Fortsetzung von "Doom Country" vor. Fünf Tracks mit 42 Minuten Laufzeit eröffnen monumentale, fesselnde Slow-Motion-Sound-Orgien für genießerische Melancholiker oder neugierige Entdecker.

    "September Weather" beschreibt ein langes Familien-Wochenende in den Bergen. Hat anschließend etwa ein Mord stattgefunden? Oder handelt es sich nur um ein bizarres Gedankenspiel? Egal, ob der Song nun eine Mörder-Ballade ist oder nicht, die Musik taugt jedenfalls bestens zur Untermalung geheimnisumwitterter Umstände: Statische Töne steigern die Erwartung, Kjellvander singt, als wäre er emotional angeschlagen. Bass und Schlagzeug unterlegen die unheilschwangere Atmosphäre indessen mit einem lässigen Jazz-Groove. Die E-Gitarre sendet Signale aus, die wie brechendes Eis klingen. Der Gesang bekommt zwischendurch immaterielle Auswüchse und der Sound wogt wie widerspenstige Nordsee-Wellen, während die Pedal-Steel-Gitarre ab und zu Tränen aus Stahl weint.

    "Yellow Painted Feather Tip" ist ein Liebeslied, das sich nach einer Mischung aus The Velvet Underground und Richard Buckner klingt. Dieses Konstrukt hört sich wie ein trockener, lieblicher, völlig gelassen fließender Folk-Rock an, der hypnotisch-leise auf die Betörung der Sinne ausgerichtet ist. So erobert man Herz, Seele und Verstand, nämlich hinreißend, gutmütig und intim.

    Der Instrumental-Titel "Hans" ist womöglich dem Inhaber des Hans Dansstudios in Bottna (Schweden) gewidmet, wo "Fossils" aufgenommen wurde. Nur langsam gewinnt das Stück über ein Rauschen allmählich an Konturen, ohne wirklich sein Ziel zu offenbaren. Nach etwas Bass-Brummen und -quietschen sowie mächtigem Gong-Scheppern verlieren sich die Spuren dieses Fragments nach knapp 3 Minuten wieder.

    Das beinahe 16minütige "The Last Thing (Thief)" ist das Kernstück des Albums. Der kryptische Text dreht sich um einen Einbrecher, der real sein kann oder nur in der Vorstellung vorkommt. Wie ein schlechtes Gewissen, dass nicht abgelegt werden kann und immer wieder auftaucht, peinigt er den Protagonisten. Das wortreiche Lied wird von einem monoton pulsierenden Takt in einem rastlosen Zustand gehalten, während die weitere instrumentale Begleitung von lyrisch bis aufwühlend variiert. So als wäre man Zeuge einer ausgewogenen Reinkarnation von "Celebration Of The Wizard" der Doors, beschwören die Worte auf eine inständig-respektvolle Weise erbarmungslos, genau wie die des besessenen Schamanen Jim Morrison.

    Der psychedelische Folk-Jazz von "Seahorse Inn" ist ein tongewordener milder Rausch. Gutmütig-unbekümmert, ergriffen und enthusiastisch umschmeichelt er das Innenohr und betört fantasievoll-narkotisierend wunderbar die Empfindungen.

    KJELLVANDERTONBRUKET ist ein Projekt, das durch, Intensität, Intimität und Sinnlichkeit genauso besticht wie durch einen schöpferischen, wagemutigen Geist. Die Ton-Gebilde von "Fossils" verfügen über eine fesselnde Ausdruckskraft und bringen berauschende Sensibilität und kreative Melancholie zusammen. Diese Anordnung kitzelt kenntnisreich das Gehirn und fordert beharrlich die Vorstellungskraft der Hörerschaft heraus.
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    Simple Things The Band Of Heathens
    Simple Things (CD)
    10.04.2023
    Klang:
    4 von 5
    Musik:
    4 von 5

    Es sind die einfachen Dinge im Leben, die Gewicht haben: The Band Of Heathens besinnen sich auf das Wesentliche.

    The Band Of Heathens aus Austin (Texas) zieht Bilanz. Ihr neuntes Studio-Album "Simple Things", bei dem nach etlichen Umbesetzungen von der Ur-Formation nur noch die Sänger, Gitarristen und Song-Schreiber Gordy Quist und Ed Juri dabei sind, streift viele Einflüsse und Strömungen der seit 2006 andauernden Karriere. Ihr Americana-Sound wird in harmonische Gruppen-Arrangements eingebettet und reicht von geschmeidigem Soft- bis hin zu deftigem Blues-Rock.

    Los geht es mit "Don't Let The Darkness": Jede Menge leckere Sunshine-Pop-Zutaten lassen hier einen entspannten Soul-Groove entstehen und den Song von innen heraus strahlen.

    Wenn der erdige The Band-Sound auf den unschuldig-intimen Country-Rock von Jackson Browne trifft, dann kann daraus ein überzeugender, gut abgehangener, zu Herzen gehender Americana-Cocktail werden. Dieses Kunststück ist bei "Heartless Year" hübsch und reizvoll gelungen.

    Etwas Glam-Rock und ein wenig Boogie-Blues reichen nicht unbedingt aus, um einen überzeugenden Song zu kreieren. "I Got The Time" ist unterm Strich trotz der attraktiven Zutaten zu zahm geraten. Prickelnd-raue Blues-Zitate a la The Black Keys hätten den Song noch aus der Mittelmäßigkeit retten können. The Band Of Heathens haben schließlich schon mal bei "Sugar Queen" auf "Duende" (2017) bewiesen, dass sie solch eine erdige Aufwertung überzeugend zu Stande bringen.

    Der Song "Simple Things" bewegt sich am Rande zum süßlichen Kitsch. Sein Sentimentalitätsfaktor ist hoch und die Instrumentierung kann oder will den Trend zur Mainstream-Ballade auch nicht bremsen, zumal wehende Geigen ergänzend zum wehleidigen Stimmungsbild beitragen.

    Es folgt "Long Lost Son". Das Lied wurde als sehnsuchtsvolle Country-Hymne konzipiert und erfüllt diesen Zweck auch aufgrund eines eingängig-ergriffenen, oft wiederholten Refrains.

    "Stormy Weather" hat viel von den überragenden Little Feat um Lowell George aus der "Dixie Chicken" und "Feats Don`t Fail Me Now"-Phase (um 1973/74) gelernt. Latein-Amerikanische Percussion, eine gleißende Slide-Gitarre, perfekt abgestimmter Harmonie-Gesang und eine raffinierte Melodieführung lassen den Song prächtig gedeihen. Auf "Remote Transmissions, Vol. 1" coverten The Band of Heathens übrigens "Rock & Roll Doctor" von Little Feat und zeigten so 2022 bereits öffentlich ihre Verbundenheit.

    "Single In The Same Summer" ist eine sensible Roots-Rock-Ballade mit Betonung des mehrstimmigen Gesangs, der den Track transparent, seriös und liebenswürdig unter seine Fittiche nimmt.

    Eine Orgel, die faucht und rauscht, eine Slide-Gitarre, die die Klaviatur der berührenden Gefühle perfekt beherrscht, ein stimmungsvolles Spelunken-Piano, ein Rhythmus-Gespann, das federnd jede Gefühlsregung intensiviert und ein Lead-Gesang, der Vertrauen schafft, machen die Hauptzutaten des Southern-Soul-Rockers "Damaged Goods" aus.

    So wie der Opener "Don't Let The Darkness" hat auch "The Good Doctor" jede Menge Ohrwurm-Potential. Zwischen Roots-Rock und Pop ist anscheinend noch viel Platz für niveauvolle Eingängigkeit.

    Das Thema "glanzvoll schwelgende Ballade" wird mit "All That Remains" wesentlich überzeugender umgesetzt als beim Song "Simple Things". Die Streicher sind zum Beispiel nicht einlullend unterwegs, sondern setzen sich sanft gegen den Strich gebürstet in Szene. Der monotone Rhythmus sorgt in Verbindung mit psychedelischen Elementen sowohl für Spannungen wie auch für einen sauberen Untergrund, auf dem sich die Solisten und Sänger kreativ auslassen können.

    "Simple Things" ist ein angenehmes Album geworden, das sich Fans der Band Of Heathens gerne ins Regal stellen werden. Die Gruppe ist nämlich generell in der Lage, durch Einfühlungsvermögen und Konsequenz unverfälschte Tonlagen zwischen Mainstream und Anspruch zu erkunden. Was sie auch auf "Simple Things" wieder beweisen - wenn auch nicht durchgängig. Denn zwei Lieder sind durch die ansonsten engmaschige, strenge Qualitätskontrolle gerutscht, da sie offensichtlich den Mainstream bedienen sollten und nicht - wie sonst üblich - mit Leidenschaft starke Emotionen, hervorragendes Handwerk und pfiffige Arrangements zusammenbringen.
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    Portuguesa Carminho
    Portuguesa (CD)
    02.04.2023
    Klang:
    4 von 5
    Musik:
    4 von 5

    Vermächtnis und Fortschritt: Carminho überführt den traditionellen Fado in eine neue Darstellungs-Epoche.

    Die traditionelle Folklore Portugals, der Fado, liegt Carminho im Blut. Kein Wunder, denn auch ihre Mutter Teresa Siqueira ist eine Fado-Künstlerin, die dieses klangliche Gewirr aus Melancholie und Leidenschaft zum Strahlen bringen kann. Und so geschah es, dass Carminho, die als Maria do Carmo de Carvalho Rebelo de Andrade am 20. August 1984 in Lissabon geboren wurde, schon mit 12 Jahren ihren ersten öffentlichen Auftritt hatte. 2009 erschien dann das erste Album ("Fado"), gefolgt von "Alma" (2012), "Canto" (2014), "Carminho Canta Tom Jobim" (2016) und "Maria" (2018).

    Mit "Portoguesa" ist die portugiesische Identität gemeint, die seit der wirtschaftlichen Rezession im Jahr 2008 wieder an Bedeutung gewonnen hat. Und damit auch der klassische Fado, der von der jüngeren Generation als Sprachrohr ihrer Bedürfnisse wiederentdeckt wurde.

    Carminho verwendet für "Portuguesa" eine Kombination aus Fremd- und Eigenkompositionen, die in akustische, elektrische und elektronische Töne gekleidet werden. Auf dieser Veröffentlichung wird die Fadista von André Dias an der portugiesischen Gitarre, der Fado-Gitarre von Flávio César Cardoso, von Tiago Maia am akustischen Stand-Bass, der E-Gitarre von Pedro Geraldes und dem Mellotron von João Pimenta Gomes begleitet. Wobei die landestypischen Gitarren, die nach Mandoline oder Zither klingen, ein starkes Gewicht erhalten.

    Der Eröffnungs-Track "O Quarto (Fado Pagem)" ist ein portugiesischer Blues - zumindest was die Gefühlslage angeht. Leidend-dramatischer, emotional packender Gesang und eine volkstümliche Begleitung mit einem atmosphärisch dichten Flair, welches an manche von Ry Cooders Soundtrack-Kompositionen (z.B. für "Paris, Texas") erinnert.

    Bei ähnlicher Gefühlslage wird das folkloristische Klangspektrum von "As Flores (Fado Flores)" noch zum Schluss durch eine schroffe E-Gitarre und sphärische Synthesizer-Töne erweitert. Für "As Fontes (Fado Sophia)" bleibt der Gesang ernsthaft-bedrückt, während der munter hüpfende Rhythmus Anlass zur Hoffnung gibt. "Praias Desertas" verbreitet eine liebliche, aber gleichzeitig geheimnisvolle Atmosphäre und nutzt dabei die konstruktive Reibung zwischen beherzt-kräftigen akustischen und sinnlich-schwebenden elektronischen Klängen.

    "Marcha De Alcântara De 1969" bezieht sich auf die Tradition der Volksmärsche in Lissabon, die bis ins Jahr 1932 zurück reichen. Die begleitende Musik soll schwungvoll die Massen in Solidaritäts-Taumel versetzen und zur Demonstration anregen. Eine Aufbruchs-Stimmung, die auch dieses Lied vermittelt. Die Gitarren laden sogar zum Tanzen ein und Carminho legt Entschlossenheit und Schwung in ihren selbstbewussten Gesang.

    Flehend, aber auch beschwörend und umwerbend bieten die Schwingungen des lebhaften "Fado É Amor" eine ganze Palette an Verführungskünsten auf, die allesamt nachdrücklich und intensiv vermittelt werden. Die Ballade "Palma" verzeichnet eine Ähnlichkeit zwischen portugiesischer und griechischer Folklore, die durch dunkle Kontrabass-Töne in eine universelle, wehmütige Musik-Sprache transferiert wird.

    "Simplesmente Ser" ist ein kurzes A cappella-Stimmen-Experiment, das im Original von der portugiesischen Sängerin Rita Vian stammt. Das Stück belegt, dass die Stimme von Carminho den Raum füllen und die Herzen öffnen kann. "É Preciso Saber Porque Se É Triste (Fado Soneto)" bringt Kummer und Ermunterung akustisch unter eine Decke. Eine Fähigkeit, die ansonsten auch die Bossa Nova aufbringen kann. Und tatsächlich scheint die Musik mit brasilianischen Klängen verwandt zu sein, weil sie auch gleichzeitig lebensfroh und diszipliniert ist.

    Die Saiteninstrumente und Keyboard-Töne erzeugen für "Sentas-Te A Meu Lado" - einer Komposition der portugiesischen Sängerin und Komponistin Luísa Sobral - ein fein verästeltes Gespinst filigraner Noten, die sich gegenseitig Respekt zollen und das Ohr mit aufrichtiger, warmherziger Harmonie füllen. Carminho gebärdet sich indessen als Drama-Queen mit mächtigem Stimmumfang, was einen heftigen Kontrast zur sensibel agierenden Instrumentierung bildet.

    "Ficar" ist eine sentimentale Country-Folk-Ballade, deren unauffällig aufspielende E-Gitarre stützend wirkt und wo rauschende Space-Sound-Synthesizer-Klänge eine mystische Verwirbelung möglich machen. Es liegt die Leichtigkeit italienischer Schlager in der Luft, wenn "Pedra Solta" ertönt. Wäre da nicht die strenge Stimme von Carminho, die den Song von jeglichem Kitsch-Klischee-Verdacht befreit und zu einem ernst zu nehmenden Folk-Chanson umwandelt.

    "Levo O Meu Barco No Mar" bedeutet "Ich fahre mit meinem Boot aufs Meer". Das ist ein Abenteuer, das aufbauend oder bedrohlich ausgehen kann. Beide Aspekte finden sich stimmungsvoll in dem Song wieder: Zunächst deuten grummelnde Saiten-Klänge Unheil an, dann wird die kritische Situation aber durch befreiend-luftige Töne aufgelöst. Carminho spielt gerne mit kontrastreichen Gefühlslagen, wobei sie stets gesanglich die Hüterin der Ausgeglichenheit bleibt.

    Als Abschluss gibt es mit "Meu Amor Marinheiro" eine weitere dunkle, temperamentvoll vorgetragene Ballade, die Carminhos Talent für das zur Schau stellen von überschäumenden Gefühlen nochmal eindrucksvoll demonstriert. Ihre Stimme erhebt sich zeitweise furchtlos über die E-Gitarre, lässt ihr aber genügend Platz, um sich kreativ entfalten zu können. Gemeinsam erfinden sie einen Spannungsbogen, der die Luft zum Knistern bringt: Die E-Gitarre lotet die Finsternis aus und Carminho lässt ihren aufgestauten Emotionen dazu freien Lauf. Ambient-Sound trifft auf Stimmband-Overkill.

    Carminho ist eine wichtige Erneuerin des Fado. Ihre durchdringend-intensive Stimme trägt eine Menge dazu bei, dass man sich der Musik nicht entziehen kann. Sie schlägt die Hörerschaft in den Bann, hält die Menschen emotional fest, holt die Willigen auf einer Schwingungs-Ebene ab, auf der es kein Entrinnen gibt. Auch wenn man kein Wort portugiesisch spricht, treffen die impulsiv vorgetragenen Gesänge direkt ins limbische System, wo Emotionen verarbeitet werden, so klar und überzeugend sind sie.

    Für von Pop verwöhnte Ohren klingt traditionelle Folklore meistens gewöhnungsbedürftig, auch wenn sie aus dem benachbarten Europa stammt. Carminho nähert sich mit ihren Arrangements den Hörgewohnheiten von Art-Pop-Fans an, ohne die Ursprünge des Fado zu verleugnen. Das macht sie interessant für Musik-Interessierte mit offenen Ohren, die spezielle, nicht abgedroschene Sounds suchen.

    "Portuguesa" hat eine lange Entstehungsgeschichte hinter sich. Schon 2019 beschäftigte sich Carminho mit der Songauswahl und der inhaltlichen Ausgestaltung. Dieser lange Weg hat dazu geführt, dass sich die Portugiesin beinahe spirituell mit dem Einklang zwischen ihrer Persönlichkeit und ihrer Kunst befassen konnte. Daraus resultiert die besessene Sinnlichkeit, in die Carminho die Songs taucht und sie so durch ihre wuchtige Präsenz zu prächtigen Hymnen werden lässt.
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    Layers Of Life Layers Of Life (CD)
    02.04.2023
    Klang:
    4 von 5
    Musik:
    4 von 5

    Neues vom Emil Brandqvist Trio ist auch immer Bewährtes vom Emil Brandqvist Trio.

    "Layers Of Life", das sechste Album des skandinavischen Emil Brandqvist Trios, setzt das sensibel abgestimmte und mild improvisierende Konzept der Musiker Emil Brandqvist (Schlagzeug, Percussion, Keyboards), Tuomas A. Turunen (Piano, Keyboards) und Max Thornberg (Bass) fort, wobei diese Trio-Besetzung verschiedentlich durch Gastbeiträge erweitert wird, was zur Erzeugung von attraktiven Klangfarben jenseits der Norm führt.

    Das romantisch fantasierende "Still Awake" wird von diskreten Streichern und Bläsern begleitet, die dem Stück nicht nur einen barocken Anstrich, sondern auch ein heiteres Antlitz zugestehen. "Everflowing" ist pures Trio-Handwerk, das sich aufgrund des verständlichen, schillernd-spritzigen Improvisations-Potentials des Pianos und des intellektuell geprägten Jazz-Rhythmus-Gespanns sowohl Klassik-, wie auch Jazz-Strukturen harmonisch einverleibt.

    Das ruhige, mit herausgestellter melodischer Betonung versehene "Lullaby In Green" stützt sich auf die entspannende Wirkung tonaler, einfallsreicher Klaviermusik, bei der Bass und Schlagzeug den Hintergrund dezent ausschmücken, ohne eine Führungsrolle zu beanspruchen.

    Bei "In Between" spielen rhythmische und hymnisch schwirrende Synthesizer-Klänge dem Modern-Classic-Konzept in die Karten: Es wird ein Ton-Geflecht erzeugt, bei dem sowohl das Kopfkino Purzelbäume schlägt wie auch die Elegie zu Besinnung führt. Mit Minimal-Art-Mustern, meditativem Einschlag und auch wirbelnden Akkorden schafft das Piano für "A Year" einen abwechslungsreichen Klang-Reigen in diesem etablierten Piano-Trio-Kontext.

    "Solitude" fängt balladesk geographische Weite ein. Verbunden mit einem unbefangen ausschmückenden Piano-Part wird so ein Gefühl von Freiheit ausgedrückt, was dem Stück Aufwind verschafft. Der Synthesizer imitiert danach ein exotisches Blasinstrument und setzt sich damit prominent und auffallend selbstbewusst in Szene.

    Der Bass sendet für "Above The Stars" stoische, alarmierende Signale aus, das Schlagzeug wird mehr gestreichelt als geschlagen und das Piano lässt die Sterne glitzern.
    Der Schlagzeug-Besen sorgt dann bei "In This Moment" für ein knisterndes Rauschen. Die Becken und Trommeln sind kaum wahrzunehmen, der Bass gibt Sicherheit und das Piano spielt eine ergriffene Melodie, die durch Improvisations-Schübe schon mal aufgemischt und aus der Fassung gebracht wird.

    Der Track "Layers Of Life" simuliert einen Herzschlag-Takt, symbolisiert das Leben als spritzige und vergnügte Angelegenheit, lässt aber auch die Melancholie nicht außen vor. Es werden also wieder einmal verschiedene Schichten des Daseins akustisch nachempfunden.

    Der Flug der Hummel mag schwerfällig und manchmal ungelenk aussehen, dennoch gehört das Tier zu den fleißigen Bestäubern und hat als Vorteil gegenüber den Bienen einen längeren Rüssel, so dass es auch an Pollen herankommt, die von Bienen nicht erreicht werden können. Es gibt also keinen Grund, die Hummel aufgrund ihres plumpen Bewegungsablaufes gering zu schätzen. "Follow The Bumblebee" zeichnet dann auch einen durchaus agilen Weg des Insekts nach, der weniger behäbig als eher wohl überlegt erscheint. Das Sjöströmska String Quartet fungiert zum Ende hin sogar noch als Motivations-Katalysator, was dem Stück zusätzlicher Lebendigkeit zukommen lässt.

    Tagträume können die Seele reinigen, auch wenn sie von nachdenklicher Natur sind. "Daydreaming In Blue" greift diese Idee auf und präsentiert sich als traurig gestimmtes Stück, das auf der Suche nach dem Licht zu sein scheint. Die Zeitreise "Passage Through Time" erfolgt ausgeglichen-liebevoll, von Dankbarkeit und Demut erfüllt. Piano, Bass und Schlagzeug liebkosen und umgarnen sich vorsichtig. Behutsam gesetzte Bläser-Töne verwöhnen mit warm-dunklen Akzenten und der Moog-Synthesizer jubiliert wie eine Lerche im Frühling.

    Die Dämmerung, auch "Blue Hour" genannt, ist die Zeitspanne zwischen Dunkelheit und Licht oder umgekehrt. Wenn die Sonne ihre Macht verliert oder im Begriff ist, ihre Kraft zu entfalten. Das sind jeweils Zustände, in denen die Natur ihre Erhabenheit auf stille Weise demonstriert. Entsprechend ehrfürchtig und in sich gekehrt kommt der Track daher. Auch wenn das Piano als Melodie-bestimmender Bestandteil ein führendes Instrument ist, lässt es genügend Raum für das zischende und klirrende Schlagzeug und den schüchternen, als erdige Grundierung wichtigen Bass.

    Wer den schöngeistigen Jazz aus dem Hause ECM mag oder wem die Vorgängeralben von "Layers Of Love", wie zum Beispiel "Falling Crystals" von 2016, schon gefallen haben, der wird auch mit der sechsten Veröffentlichung des Emil Brandqvist Trios hochzufrieden sein. Die Skandinavier liefern verlässlich eine gelungene musikalische Virtuosität im Rahmen des poetischen "Nordic-Jazz" ab und bleiben hinsichtlich der vorsichtigen Erweiterung ihres Klangspektrums bedachtsam innovativ. Kontinuität und Qualität stehen hoch im Kurs bei "Layers Of Live", ganz zum Nutzen und zur Freude der Gefolgschaft der geschmackvoll agierenden Künstler.
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    World Wide We OY
    World Wide We (CD)
    30.03.2023
    Klang:
    4 von 5
    Musik:
    4 von 5

    Toleranz, Mitgefühl und Solidarität: OY stehen für das gleichberechtigte Miteinander ein.

    Da sich die Wiege der Menschheit in Afrika befunden hat, ist es sehr wahrscheinlich, dass sich dort auch die ersten musikalischen Aktivitäten herausgebildet haben. Diese Klänge waren sicher sehr körperbetont, denn noch heute finden sich ausgeprägt rhythmische oder polyrhythmische Tonfolgen in den ethnischen Überlieferungen. Solche Schwingungen werden auch in die zeitgenössische Pop-Musik übernommen. Sie werden nicht nur von schwarzen Musikern adaptiert, sondern auch von Weißen sehr geschätzt. Als populäre Beispiele dafür seien besonders "Graceland" von Paul Simon und "Remain In Light" der Talking Heads erwähnt und hervorgehoben.

    Das in Berlin lebende Duo OY, welches aus der Sängerin und Keyboarderin Joy Frempong, die ghanaische Wurzeln vorweisen kann und dem Schweizer Schlagzeuger, Komponisten, Gelegenheits-Sänger und Produzenten Marcel Blatti besteht, atmet, lebt und liebt den Sound Afrikas, was aus jeder Note der Kompositionen für ihr viertes Album "World Wide We" leidenschaftlich und herzlich hervorquillt.

    "World Wide We" ist kein gewöhnliches Song-orientiertes Album geworden, sondern bedient sich darüber hinaus den Möglichkeiten eines Hörspiels, eines Musicals oder einer vertonten Theater-Vorstellung. Das Werk wird nämlich mit Spoken-Word-Reportagen, Umwelt-Geräusch-Samples und fremdartigen Effekten gespeist, so dass es einen spielerisch-fantasievollen Charakter mit einem erzählerischen Hauptgewicht erhält.

    Die einzige Konstante im Leben ist der Wandel. Klingt merkwürdig, ist aber so, auch wenn wir uns das manchmal anders wünschen. Dennoch gibt es etliche Bereiche, in denen der notwendige Wandel nicht schnell genug geht oder der Wandel in eine falsche, Menschen verachtende Richtung führt. "Alchemisten suchten nach Langlebigkeit und erfanden versehentlich Schießpulver", heißt es dazu in "Have We Changed", einem Track, bei dem der Veränderungsprozess aus unterschiedlichen Positionen heraus beleuchtet, in Prosa-Form vorgetragen und dramatisch pulsierend in orchestraler Weise dargestellt wird.

    Jeder ist seines eigenen Glückes Schmied. Das ist im Grunde genommen eine der Aussagen von "Now Be The Time". Joy Frempong bedient den frühlingsfrischen Pop-Song mit positiven Gesangs-Einlagen, so dass gar keine Gedanken daran aufkommen, dass die Zukunft anders als blendend aussehen könnte.

    Es gibt viele vermeintliche Tatsachen, die kritisch hinterfragt werden sollten: Warum ist das eigentlich so, wie es ist? Genau das macht "How Many" und fragt zum Beispiel: "Wie viele Lügen kann ein Volk ertragen? Wie viele Ungeheuer werden wir krönen?" Und ernüchternd folgt das Resümee: "Nun, vor nicht allzu langer Zeit schauten wir Menschen in den Himmel und dachten, wie schön es wäre, zu fliegen wie die Vögel. Und jetzt, einen historischen Wimpernschlag später, schauen wir in diesen Himmel und es ist nichts mehr da. Außer Flugzeugen, Kränen und verschmutzten Wolken. Ich denke, man kann sagen, wir haben es ziemlich versaut." Aber auch bei diesem von Problemen behafteten Text taucht musikalisch keine Wut oder Trauer auf. Die Töne sind sonnig, der Refrain ist eingängig und die Melodie klingt eher nach Kinderlied als nach Protest-Song.

    Der textliche Inhalt von "Interlude - Africa Is Rich" macht zu Recht darauf aufmerksam, dass Afrika grundsätzlich ein reicher Kontinent ist. Das ist sowohl als Fluch wie auch als Segen zu betrachten. Das Dilemma besteht darin, dass die heutigen humanitären Katastrophen auf diesem Reichtum beruhen, denn durch Kolonialisierung und Ausbeutung wurden viele Länder ins Elend getrieben. Aber es gibt auch eine Chance für die Zukunft, wenn sich die Völker des schwarzen Kontinents zu einer Wirtschaftsgemeinschaft zusammenschließen würden, um ein Gegengewicht zu den anderen Wirtschaftsmächten zu bilden. Das Potential des Kontinents hat aktuell leider auch die chinesische Regierung erkannt und für sich genutzt. Sie hat sich durch Käufe und Beteiligungen einen großen Einfluss verschafft, was die Autonomie der afrikanischen Staaten weiter stark einschränkt. "Die Ressourcen müssen verantwortungsvoll und rechenschaftspflichtig verwaltet werden. Sie müssen gerechter verteilt werden", heißt es deshalb auch in dem durch klagende Stimmen umsäumten Statements des Spoken-Word-Zwischenspiels "Interlude - Africa Is Rich".

    Die Leichtigkeit und die rhythmische Herausforderung des folkloristischen Afrikas und die melodische Feinfühligkeit des Pop treffen danach für "Common Ground" aufeinander. Es geht also darum, kulturelle Gemeinsamkeiten zum Nutzen einer künstlerischen Entwicklung zu finden oder zu bilden.
    "Interlude - Born In Translation" ist ein weiterer Wortbeitrag, der zum Nachdenken anregt: "Die Art, wie du mich ansiehst, sagt mehr über dich selbst aus, als es über mich erzählen könnte". So definiert OY die Psychologie der zwischenmenschlichen Begegnungen.

    Es kommt nicht von ungefähr, dass "Place Des Clichés" in Französisch und nicht in Englisch gesungen wird. Das von elektronischen, fiepend-sirrenden Tönen begleitete Lied lebt schließlich von der attraktiven Melodik des Chansons und verknüpft diese mit einem optimistisch gestimmten Rhythmus-Teppich, so dass das Stück sowohl seriös wie auch beflügelnd wirkt. Es werden wiederum Schubladendenken und verfestigte Vorurteile angeklagt ("Ich kenne von jedem seine Rolle. Die Dicke, der Schwarze und die Verrückte.") und es wird Toleranz eingefordert ("Ich will, dass du mich ansiehst. Als ein verantwortungsvolles Wesen.").

    Nur wenn Codierung und Dekodierung funktionieren, können sich Menschen inhaltlich und emotional verständigen. Diese Schwierigkeit bildet die Grundlage der Thematik von "Gougle Translate". Die Gedanken werden von der ausgeglichenen, geschmeidig fließenden Stimme von Joy Frempong ohne Aggressionen im Unterton in einen freundlich-unkomplizierten Afro-Pop transferiert. Das ist ein gelungenes De-Eskalations-Verfahren.
    Unfasslich, dass solch ein Verhalten immer noch in den USA an der Tagesordnung ist: "Sie schießen ihm 'ne Kugel in den Rücken. Sie schießen ihm dreifach in den Kopf". Polizeigewalt auf offener Straße, häufig gegenüber der schwarzen Gesellschaft. "One On The Row - BLM" macht nochmal darauf aufmerksam, dass sich dieses Vergehen nicht geändert hat: "Nun stellt das Feuer ein, stellt das Feuer ein. Black Lives Matter, Black Lives Matter". Im Gesang schwingt Melancholie mit, aber auch trotzige Empörung. Das passt zum Gesamtbild des Songs: Was als Ballade beginnt, entwickelt sich im Laufe der Zeit zu einer hymnischen Auflehnung mit einem kämpferischen Anspruch.
    Da gehen die Ansichten auseinander: Quantic meinen, "Time Is The Enemy", OY behaupten, "Time Is Your Best Friend". Gemeint ist, dass manche Menschen durch die tägliche Hektik keine Zeit mehr für die wichtigen Dinge des Lebens aufbringen, weil sie nur noch funktionieren, statt zu genießen oder Situationen konstruktiv zu verarbeiten. Damit die Zeit der beste Freund wird, haben OY einen Tipp: Umarme und pflege die Zeit, ganz oft, jeden Tag wieder. Verbringe also viel Zeit mit der Zeit. "Time Is Your Best Friend" wird entsprechend als milder, beruhigender Sinnspruch und als Kraft spendendes, ins immaterielle gleitende Lied aufgebaut.

    "Life Cars Phones" ermittelt, dass es zwei "Lieblingskinder" der Menschen gibt, um die sich einiges im Alltag dreht und die anscheinend unverzichtbar geworden sind: Das Auto und das Smartphone. Die Musik dazu hat etwas Albernes, macht sich quasi lustig über diese Abhängigkeiten und hilft dabei, den Tatbestand ins Lächerliche zu ziehen.

    Und schon kommt mit "Interlude - Global History" der nächste Gedankenanstoß: "Im Grunde genommen wird uns die Geschichte unserer jeweiligen Nationalstaaten beigebracht, und vielleicht bestenfalls die der Regionen oder Kontinente, zu denen unsere Länder gehören. Das bedeutet, dass wir größtenteils nicht wissen, was in den verschiedenen Teilen der Welt passiert ist und wie die verschiedenen Völker der Welt die moderne Geschichte erlebt haben. Das ist also ein Problem, das überwunden werden muss, und eine Möglichkeit, es zu überwinden, ist das Schreiben einer globalen Geschichte."
    "Pool" ist ein von Verdruss durchzogener Art-Pop-Jazz mit Tiefgang. Filigran gesetzte E-Piano-Töne und eine mysteriös klingende Stimme erzeugen eine unergründliche Atmosphäre, die zum Schluss durch nervös klopfende Keyboard-Sequenzen eine Furcht einflößende Wendung vollzieht. "Siehst du den Pool, der für den Westen reserviert ist? Wo ist die Chance für den Rest", fragt Joy Frempong eindringlich und besorgt.

    Jetzt kippt die Stimmung beinahe endgültig von hoffnungsfroh in hoffnungslos. "Hopeless Paradise" findet keine Zuversicht: "Du siehst, wie die Spannungen zunehmen. Und sie werden an ihren Lügen festhalten", lautet eine Zeile, bei der die Resignation jeglichen Mut vertreibt. Passend dazu gibt es eine mit taktvollen, unaufdringlichen, nebulös-dunklen Effekten aufgeladene, schleppende Piano-Ballade. Das letzte Wort in diesem Trauer-Reigen ist dann zum Glück aber doch "Hoffnung".

    "Wir sind aufgerufen, der Erde zu helfen, ihre Wunden zu heilen und dabei unsere eigenen zu heilen - ja, die ganze Schöpfung in all ihrer Vielfalt, Schönheit und Wunder zu umarmen". Das ist eines der letzten Statements, welches mit "Interlude - American Astronauts" vermittelt wird.

    "World Wide We" ist ein Konzeptalbum, das den Zustand der Welt aus Sicht der unterprivilegierten Bevölkerung im Sinne eines gesamtgesellschaftlichen humanitären Ansatzes darstellt. Musikalisch verschmelzen afrikanische Einflüsse mit westlicher Pop-Musik zu einer universellen Darstellung, die "Randgebiete" wie Jazz, Art-Pop und Chanson mit einbezieht. Joy Frempong und Marcel Blatti interagieren dabei auf einer Ebene, die stilistische Einordnungen überflüssig macht. Denn durch ihre nachsichtige Haltung und den unverkrampften Umgang mit kulturellen Errungenschaften entsteht eine Selbstverständlichkeit, die für eine unangreifbar ehrliche Qualität bürgt.

    OY ist ein jiddischer Ausruf, der verwendet wird, wenn jemand verärgert, schockiert, enttäuscht oder besorgt ist. OY betätigen sich in diesem Sinne mit "World Wide We" als weltoffene Kulturbotschafter und musikalische Freigeister mit einer zukunftsweisenden Vision.
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    Food For Worms Shame
    Food For Worms (CD)
    24.02.2023
    Klang:
    4 von 5
    Musik:
    4 von 5

    Nichts für Weicheier: shame rütteln mit "Food For Worms" tüchtig auf.

    In London und Umgebung bildet sich seit geraumer Zeit eine neue Post-Punk-Szene heraus, die durch blutende Seelen oder ein kämpferisches politisches Bewusstsein und einen schmerzend-draufgängerischen Umgang mit den zur Verfügung stehenden musikalischen Mitteln auffällt. Zu den Vertretern dieser Bewegung gehören unter anderem Black Country, New Road, Porridge Radio und Squid. shame klinken sich nach drei Jahren Pause nahtlos mit "Food For Worms" in diesen frisch-wilden Schauplatz mit ein.

    shame ist ein Quintett aus Süd-London, das 2014 von den gemeinsam aufgewachsenen Teenagern Charlie Steen (Gesang), Charlie Forbes (Schlagzeug), Eddie Green (Gitarre), Josh Finerty (Bass) und Sean Coyle-Smith (Gitarre) gegründet wurde. Die Gruppe orientiert sich stilistisch unter anderem an Punk- und New Wave-Helden wie The Fall, Wire, Gang Of Four und Talking Heads, findet zwischen diesen Inspirationen aber einen eigenen Ausdruck, um Wut, Zynismus und politische, aber auch private Ansichten zu übermitteln.

    Im Januar 2018 erschien das erste rumplig-sperrige Werk mit Namen "Songs Of Praise", das bis auf Platz 32 der britischen Album-Charts gelangte. Genau drei Jahre später kam "Drunk Tank Pink" raus, das den aufrührerisch-zornigen Weg der Band fortsetzte und sogar bis auf Platz acht der deutschen Albumcharts stieg.

    Im Vorfeld zur Veröffentlichung von "Food For Worms" wurden shame schon durch ein Punk-Urgesein geadelt. Iggy Pop stellte nämlich den Opener "Fingers Of Steel" am 5. Februar 2023 in seinem Radioprogramm "Iggy Confidential" auf BBC Radio 6 vor. Der Spezialist für rohe, brachiale Töne wird Freude an der Kraft, der Aggression und der krachenden, schräg-herben Unbekümmertheit der Band gefunden haben. Das Hauptaugenmerk der Kompositionen liegt nämlich nicht auf geschliffenen Pop-Melodien, sauberem Gesang und zündenden, Hit-tauglichen Refrains. Hinsichtlich des Unterhaltungswertes wird eher auf authentisch impulsive Gefühlsausbrüche, brachiale Energie sowie unkonventionelle Tempo- und Dynamik-Sprünge Wert gelegt.

    Ein Piano, das aus der Ferne konstante, glockenartige Akkorde aussendet, leitet "Fingers Of Steel" ein. Es folgen Stakkato-Gitarren, die die Monotonie übernehmen und verstärkt wieder abgeben. Dann geschieht ein Bruch, bei dem sich die Gitarren im Hintergrund neu orientieren, die Härte zurückfahren, sogar zeitweise psychedelisch-suchend klingen. Der Bass pumpt dazu unablässig und das Schlagzeug schäumt. Der Gesang passt sich der jeweiligen Gegebenheit an und klingt sowohl angeregt, wie auch versöhnlich, aber auch kämpferisch. Der Song wühlt auf, beschwichtigt dann wieder, bricht mit Rock & Roll-Konventionen, beherbergt aber trotzdem dessen rebellische Komponente, bildet jedoch einen eigenwilligen Gegenentwurf zum Classic-Rock.

    "Six-Pack" macht noch mehr Radau, fährt hinsichtlich des Tempos auf der Überholspur, bringt durch hitzige WahWah-Gitarren einen wüsten New Wave-Funk-Touch ein und steht so unter Dampf wie ein Schnellkochtopf kurz vor dem explodieren.

    "Yankees" ertönt zunächst wesentlich differenzierter. Das Intro besteht aus zwei sich vorsichtig abtastenden E-Gitarren, deren sensible Menüführung jedoch durch einen wuchtigen, schnellen Bass abgelöst wird, der die Gitarren sofort ins Schlepptau nimmt und das Tempo rasant und teils hektisch-überdreht werden lässt. Charlie Steen lässt sich von dem Wirbel anstecken und singt betont flegelhaft, am Rande der Respektlosigkeit.

    Eckig-kantiger Punk-Funk in Kombination mit schrillem Heavy-Metal-Dröhnen verleiht "Alibis" sein anarchisches Antlitz. Das heftige Aufbegehren ist ratzfatz nach zweieinhalb Minuten vorbei und hinterlässt vor Erregung einen hochroten Kopf und dann ein Vakuum.

    "Adderall" bringt zunächst etwas Ruhe ins Geschehen, wobei die Stimme von Charlie Steen stark nach Lou Reed klingt. Dieser Spuk wird nach einer Minute durch einen voluminös wehenden Chor-Refrain zunächst aufgelöst, um wenig später wieder aufzuleben. Das Stück gestaltet sich - wie viele andere auf "Food For Worms" auch - als Wechselbad der Gefühle, bei dem sich laut und leise sowie langsam und schnell ständig ablösen. ""Adderall" ist die Beobachtung einer Person, die von verschreibungspflichtigen Medikamenten abhängig ist. Diese Pillen verändern den geistigen und körperlichen Zustand und das Verhalten... Es ist ein Lied über Mitgefühl, Frustration und die Akzeptanz von Veränderung. Es geht darum, sich mit der Tatsache abzufinden, dass deine Hilfe und Liebe die Menschen um dich herum manchmal nicht heilen kann", heißt es zum Inhalt des Songs von Seiten der Band.

    Aber es geht auch ganz anders: "Orchid" überrascht als schwungvolles, gediegenes Country-Folk-Stück, das mit seinem raffinierten Timing an die australischen Go-Betweens um Robert Forster erinnert. Sehr gelungen und von spezieller Güte. Mehr davon!

    "The Fall Of Paul" macht keine Gefangenen. Unbarmherzig wühlt der Bass in den Därmen und der Schlagzeuger vollbringt Schwerstarbeit. Es scheint, als wolle er den Track als erster in einem Rennen, bei dem es um Leben und Tod geht, über die Ziellinie bringen zu wollen. Die Gitarristen verlieren völlig die Nerven und kollabieren in einem berauschenden Stahlgewitter-Orgasmus. Danach kann es keine weitere Intensitäts-Steigerung geben...

    Deshalb lässt es "Burning By Design" wohl erst einmal gemächlich angehen. Aber es handelt sich um eine trügerische Ruhe, denn Chaos und Gewalt lauern an jeder Ecke. Entsprechend bricht die Aggressivität immer wieder durch und versetzt den Song sogar noch in einen Hochgeschwindigkeits-Wahnsinns-Rausch.

    Um den kompletten Irrsinn zu verhindern, helfen nur noch schamanische Kräfte. Und so kommt es nicht von ungefähr, dass Charlie Steen bei "Different Person" an Jim Morrison von The Doors erinnert. Das Stück lässt unter Einsatz von Minimal-Art-Strukturen an Beschwörungsrituale denken, um unmittelbar danach seine Mainstream-Qualitäten unter Beweis zu stellen, die als Satire entlarvt werden und in einem Schwall von Auflehnung und Krach untergehen. Ein Overkill an Eindrücken, was erst einmal verdaut werden muss.

    Dabei hilft "All The People", das den Underground-Folk von The Velvet Underground aufleben lässt, wobei sich Charlie Steen wie eine angetrunkene Version des jungen Leonard Cohen gebärdet. Allerdings mit Schrägläge in der Instrumentierung und im Gesang.

    Irgendwann sind wir alle "Futter für die Würmer". Bis dahin heißt es, das maximale aus seinem Leben rauszuholen, Rückgrat zu beweisen, Spaß zu haben. shame leben das Leben ungeniert, lassen keine Provokation aus, verzichten auf Regeln und haben dabei sogar ein Muster gefunden, das ihnen kommerziellen Erfolg verschafft. Erstaunlich, bei diesem Brüskierungs-Potenzial. Wer Rock-Musik sucht, die leicht ins Ohr geht und sich da schnell festsetzt, liegt hier wahrscheinlich falsch. Wer es aber provokant, unerwartet, dreckig und schrill mag, der ist bei "Food For Worms" gut aufgehoben.
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    In Flux Anna B. Savage
    In Flux (CD)
    24.02.2023
    Klang:
    4 von 5
    Musik:
    4 von 5

    Veränderte Lebensumstände, gleiche Intensität: Anna B Savage bewahrt sich für "in|FLUX" ihre Sensibilität zur Schaffung anspruchsvoller Pop-Songs.

    "A Common Turn" von Anna B Savage war eines der spannendsten Art-Pop-Alben des Jahres 2021. Die zweite ausführliche Vorstellung der Künstlerin aus London folgt nun am 17. Februar 2023 und trägt den Titel "in|FLUX" - was so viel wie "in Bewegung sein" oder "sich entwickeln" bedeutet. Es geht also um das Gegenteil von Stillstand im Zusammenhang mit persönlichem oder kreativem Fortschritt.

    Als Anna im Studio zu den Aufnahmen erschien, war keiner der Songs fertig. Die Entstehung befand sich in einem fließenden Zustand und war der Interaktion mit dem Produzenten Mike Lindsay (Tuung, Lump) unterworfen. Wurde "A Common Turn" noch deutlich durch die Nachwirkungen einer toxischen Beziehung geprägt, so profitiert "in|FLUX" von einem inzwischen gewachsenen Selbstbewusstsein und der Auffassung, dass "Ungereimtheiten und Heucheleien Teil der menschlichen Natur sind." Wir haben es also mit Musik zu tun, die aus einer "neu gefundenen Einstellung zum Leben, zur Kreativität und zum Songwriting...[also] einer Erkenntnis, dass alles gut werden wird", entstanden ist.

    Annas Lebensart ist achtsamer geworden, der Gesang der Vögel kann wieder ohne störende Gedanken-Kreisel wahrgenommen werden, wie im Song "I Can Hear The Birds Now" verkündet wird. Trotzdem ist dadurch kein unschuldiges Sunshine-Pop-Lied entstanden, sondern ein Moll-lastiger Folk-Jazz mit traurig wallender Klarinette, einer ängstlichen Stimme und einer unerschütterlich und zuverlässig begleitenden akustischen Gitarre. Der neu erlangten, vorsichtig-optimistischen Gemütslage wird anscheinend noch nicht ausreichend Stabilität zugetraut. Wohl wissend, dass die Geister der Vergangenheit der Psyche jederzeit wieder heftig zusetzen könnten.

    "Hör auf mich zu verfolgen, bitte lass mich einfach in Ruhe, bitte", lautet das Flehen in "The Ghost". Mögen die Gedanken an die Tyrannei des ex-Partners endlich nicht mehr quälend sein. Mit dumpfen, aufgewühlten künstlichen Herzschlag-Tönen, die bis zum Hals zu schlagen scheinen, wird das Stück eingeleitet. Diese Klänge gehen in Stakkato-Trommel-Schläge über und treiben das mit dramatischer Inbrunst gesungene und wellenartig anschwellende Lied tatkräftig an. Die hypnotische Komponente des Tracks wird übrigens in einer Überarbeitung von W.H. Lung noch deutlicher herausgestellt.

    Der russische Physiologe Iwan Petrowitsch Pawlov beschäftigte sich um 1900 herum mit der Wirkung der klassischen Konditionierung. Er setzte seinen Hunden Futter vor und ließ dazu eine Glocke läuten. Die Hunde verbanden bald das Füttern mit dem Klang der Glocke, so dass die Glockentöne alleine schon den Speichelfluss in Erwartung einer Mahlzeit in Gang setzten. Pawlov bewies damit, dass sich Verhaltensweisen mit Ereignissen verknüpfen lassen, was auch für Menschen gilt. Im Song "Pavlov‘s Dog" geht es um das erfüllende Ausleben von Sexualität (das unter Umständen auch auf eingefahrene Verhaltens- und Erwartungs-Muster aufgebaut sein kann), was in diesem Fall jedoch nicht als Basis für eine längerfristige Beziehung ausreicht. Die erregte Rhythmik und ein erhitztes Hecheln bilden unter anderem die akustische Untermalung zur Abbildung einer erotischen Situation, die voller Verlangen und Wünsche steckt. "Touch Me" verarbeitet das gleiche Thema musikalisch abgeklärter und ungezwungener, in einem delikat-flüssigen Dark-Folk-Rahmen.

    "Du kommst in meinen Träumen vor. Im Moment furchtbar oft. Es bedeutet, dass dieser Tanz für uns vorbei ist", lautet die nüchterne Bilanzierung eines Verhältnisses in "Crown Shyness". Ein unbarmherziger Maschinen-Beat unterstreicht durch seine druckvolle Konsequenz den belastenden Zustand des Zerwürfnisses. Die nebenher ablaufende Piano-Ballade baut parallel Wehmut auf, ein Raubtier-Knurren symbolisiert aufsteigende Wut - der ganze Gefühls-Cocktail einer zerbrochenen Beziehung findet akustisch Berücksichtigung und fügt sich anschaulich zu einer schonungslos offenen Partnerschafts-Studie zusammen. In dem Song geht es darum, "Zwei widersprüchliche Dinge gleichzeitig zu fühlen: Ein Ziehen hin und ein Wegstoßen von. Für mich fühlt sich der Song aber nicht explizit traurig an. Für mich fühlt es sich wie ein Bekenntnis zu Zärtlichkeit und Verbindung an, aber es zeigt auch Wege auf, bei denen das nicht möglich ist", sagt Anna.

    Die pure Angst steht "Say My Name" durch den gebrochenen, erschütterten Gesang bei dieser unheimlichen Beziehungs-Geschichte ins Gesicht geschrieben (""Lass mich raus", versuchte ich zu schreien. Bitte bitte bitte."). Dabei fängt das Lied als gelassen-unschuldiger Country-Folk an, wird aber allmählich zu einem sich wüst benehmendem Jazz-Rock-Monster umgewandelt.

    Ist es Zweckoptimismus oder gelebte Überzeugung, wenn Anna im Song "in|Flux" behauptet: "Ich will allein sein, ich bin allein glücklich." Eigentlich möchte sie aber zunächst einmal das unglückliche Verhältnis beenden, um den Druck loszuwerden. Durch ein behutsam angeblasenes Saxophon wird ein Schwebezustand inmitten von bedächtigem Gesang erzeugt, was emotional auch als Verletzlichkeit oder Ratlosigkeit gedeutet werden kann. Nach etwa einer Minute stoppt diese Overtüre und halluzinogene, wie auch dumpf rumpelnde Synthesizer-Töne übernehmen das Ruder. Die Stimmung wird hektischer und der bisher kontrolliert ablaufende Gesang bekommt sogar hysterische Eigenarten verpasst.
    In "Hungry" gibt es dann eine textliche Bestätigung für die Erlangung von mehr Kontrolle im Leben ("Ich dachte, ich würde mich einsam fühlen, aber es ist nicht wahr"). Der dazu entwickelte, lässig-entspannte Country-Folk unterstützt diese befreite, vertrauensvolle Sicht der Dinge auf luftig-elegante Weise.

    Aufkommende Zweifel an einer Beziehung beschreibt "Feet Of Clay". Gemischte Gefühle machen sich breit und bringen das Liebes-Gefüge zum Wanken. Die wechselhafte, unstimmige Lage wird akustisch angemessen und nachvollziehbar abgebildet: Der Synthesizer kann sich nicht entscheiden, ob er optimistisch abgestimmte oder unsicher springende Töne favorisieren soll, der Gesang und das Saxophon beschwichtigen, die Keyboards wiegeln auf. Kontroversen sind das Salz in der Suppe dieses Liedes.

    "The Orange" lässt die Grenzen zwischen edlem Hippie-Folk und spirituellem Trance-Jazz verschwimmen. Das Lied besteht also aus Sequenzen, die den Geist berauschen und Komponenten, die ihn aufgrund der filigranen Komposition wohlig erschaudern lassen. Das Stück endet mit den Worten: "Ich denke, es wird mir gut gehen." Das ist ein hoffnungsvolles Zitat als Schlusspunkt unter einem Album, das als Manifest für eine positive persönliche Entwicklung unter schwierigen Bedingungen verstanden werden kann.

    Die Zeit zwischen "A Common Turn" und "in|FLUX" war für Anna B Savage von Psychotherapien und Selbsthilfe-Erfahrungen geprägt, was zur emotionalen Erholung beitrug und damit das Selbstwertgefühl stärkte. Dadurch konnte "in|FLUX" wahrscheinlich solch ein anspruchsvolles, kraftvolles Werk werden. Ungeachtet eines zum großen Teil düsteren Sounds, Problem-basierter Texte und raffinierter Wendungen reifte eine eigenwillige Kost heran, die appetitlich und stimulierend zugleich mundet. Anna B Savage bleibt trotz aller neuen privaten Einflüsse ihrer individuellen musikalischen Linie treu, lässt sich nicht verbiegen und strebt nach kreativer Selbstständigkeit. Diesen Zustand hat sie mit "in|FLUX" allerdings schon jetzt eindrucksvoll untermauert.
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      A Common Turn (CD)
    Forever Yours Rhonda
    Forever Yours (CD)
    24.02.2023
    Klang:
    4 von 5
    Musik:
    4 von 5

    "Forever Yours" gibt eine aktuelle, reizvolle Zustandsbeschreibung der Band Rhonda ab.

    Mit 12 Jahren begeisterte der Film "Sister Act", in dem Whoopi Goldberg unfreiwillig eine Nonne wird, Milo Milone so sehr, dass sie ihren Gesang fortan an Gospels schulte. Das hat sich ausgezahlt, denn ihre Stimmkraft und -farbe sowie ihre Wandlungsfähigkeit brachten ihr später als professionelle Musikerin sogar Vergleiche mit Amy Winehouse ein. Mit der Band Rhonda entwirft die Sängerin aus Bremen, die aktuell in Los Angeles lebt, eine bunte Stil-Mischung, die unter anderem aus Pop, Rock, Rhythm & Blues, Reggae, Soul und Funk besteht.

    Dieses authentische Retro-Sound-Abenteuer wurde 2014 mit dem transparent und vollmundig produzierten Album "Raw Love" öffentlich gemacht und es folgten noch die voluminösen Werke "Wire" (2017) und "You Could Be Home Now" (2019). Die musikalische Entwicklung der Gruppe zeigt auf jeden Fall, dass sie stilistisch nicht auf der Stelle tritt, sondern um Wandlung ihres Sounds bemüht ist. Und deshalb steht "Forever Yours" auch für eine weitere Entfaltungs-Facette des stetig gedeihenden Ensembles und wartet entsprechend mit ein paar Überraschungen auf.

    So vermittelt der liebevolle Gesang der Ballade "The One For You" Country-Gospel-Feeling, während die Instrumentierung nach Folk-Jazz klingt. Ähnlich andächtig geht es mit "Light In Everything" weiter, wobei hier ein jaulend-wimmernder Synthesizer neben der gefühlvollen Stimme von Milo Milone für Betroffenheit sorgt.

    "Modelo" ist ein Hybrid, der laut und leise, bedrohlich und betörend, lieblich und laut in sich vereint. Möglich ist das durch straffe, dominante, hartnäckig rockende Bass- und Gitarren-Riffs im Italo-Western-Speed-Modus, die von Milos sehnsüchtigen Stimmband-Schwingungen und einer rauschenden Orgel abgelöst werden. Indes umkreisen sich diese Phasen immer wieder gegenseitig und werden von strammen, entschlossenen Reggae-Rhythmen und einer knurrend-unruhigen E-Gitarre ergänzt. Erregung und Beruhigung raufen miteinander, beeinflussen sich gegenseitig und brauchen sich als Lebenselixier wie Ying das Yang.

    "Golden Days" groovt intensiv, bleibt aber trotz einer erhöhten Geschwindigkeit gelassen. So entsteht eine lebendige Dynamik, die das Stück zu einem Ohrwurm macht. Der Instrumental-Titel "Partner In Crime" bietet cineastische Qualitäten auf und eignet sich hervorragend zur Vertonung eines mysteriösen Thrillers.

    Die heilige Barbara ist unter anderem die Schutzheilige der Bergleute, Feuerwehrleute und Totengräber. Außerdem ist eine Stadt in Kalifornien nach ihr benannt, die zu den schönsten im Lande gehören soll. Ein Bezug zur Schutzheiligen oder zur US-amerikanischen Region wird im Text allerdings nicht herausgestellt. Es geht hier vielmehr um zwei Personen, die nicht zueinander finden können: Die eine hat einen schmerzlichen Verlust zu verarbeiten, die andere fühlt sich, als sei sie in einem Käfig gefangen. Erst im offiziellen Video wird eine Verbindung zu einer Landschaft hergestellt, bei der es sich womöglich um den Distrikt Santa Barbara handelt. Der Song "Santa Barbara" wurde bereits 2020 als Single veröffentlicht
    und erfuhr ein Jahr später eine Überarbeitung, bei der zunächst bescheiden-intime, dann rhythmisch klopfende und klatschende Töne vorherrschen, die stellenweise von Geigen-umweht werden.

    Für "Forever Yours" wurde die gradlinigere Soft-Rock-Ursprungs-Version berücksichtigt, die eine gewisse Ähnlichkeit zu "Wicked Game" von Chris Isaac aufweist, was zum Beispiel die vorherrschende, hemmungslos schmachtende Sentimentalität angeht. Der Song "Forever Yours" sucht sein Heil im psychedelisch groovenden Blues-Rock-Himmel, wobei Milo Milone stets die Chefin im Ring bleibt und mit Coolness und Übersicht die Fäden dieses heißen Gebräus in der Hand behält.

    Ganz ruhig und langsam, idyllisch, wie im Halbschlaf, wenn Realität und Traum noch nicht richtig auseinandergehalten werden können, läuft "Good Things Fall Apart" ab. Auch "Strange You Never Knew" zieht unaufgeregt seine Bahnen, verliert seine Leidenschaft aber in den Untiefen von angenehmem Pop, dem Ecken und Kanten, aber auch verrückte Arrangement-Ideen fehlen. "Not The Ghost" beginnt zurückhaltend-filigran - mit luftiger Jazz-Orientierung - schlägt dann aber nach 2 Minuten und 39 Sekunden (von 3 Minuten und 48 Sekunden) in ein bösartig dröhnendes Progressiv-Rock-Spektakel um.

    Milo Milone ist wahrscheinlich die aufregendste und selbstbewussteste Soul-Stimme, die die norddeutsche Tiefebene je hervorgebracht hat. Ihre Begleiter Ben Schadow (Gitarre), Offer Stock (Keyboards), Tom Wagner (Bass) und Gunnar Riedel (Schlagzeug) erzeugen für das differenzierte Gesamtbild einen kompakten Sound, der alle stilistischen Hürden souverän meistert und die Gegensätze miteinander verbindet.

    "Forever Yours" ist das vierte Studio-Album von Rhonda und enthält bewährte Tugenden der Band, wie ein flüssig groovender Sound, kann aber auch mit frischen Ideen aufwarten. Es ist ein richtungsweisendes Werk geworden, denn es trägt auch die Erfahrungen von Milo Milones lasziv-lieblicher Soul-Pop-Solo-6 Track-EP aus 2020 weiter, offenbart aber gleichzeitig reizvolle Kontraste aus Sinnlichkeit (die mit Samt überzogene Stimme) und Härte (der herzhafte Rockabilly-Surf-Twang).

    Und genau diese Kombinationen ermöglicht zum Beispiel bei "Modelo", "Not The Ghost" oder dem Track "Forever Yours" die Entstehung von attraktiven Reibepunkten, so dass man sich für die Zukunft weitere solcher Verbindungen vorstellen kann. Die emotionale Mischung macht unter anderem den hohen Unterhaltungswert des Werkes aus, das (fast) durchgängig ein konstant hohes Niveau aufweist.
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