Where no man has gone before ...
Dieses bekannte Zitat aus Star Trek kommt mir im Nachspüren mancher Hörerlebnisse dieser hier rezensierten CPO-Aufnahme (2CDs) der h-moll Sinfonie von Wilhelm Furtwängler mit der Württembergischen Philharmonie Reutlingen unter Fawzi Haimor. Übrigens wurde diese erste der drei gezählten Sinfonien vom überaus selbstkritischen Komponisten zurückgezogen.
Mit dem Zitat (in etwa: "wo noch kein Mensch zuvor gewesen ist") meine ich hier Empfindungen des Staunens, der Ergriffenheit im hörenden Erleben und einer quasi inneren Reinigung durch diese neuen inneren Erlebnisräume. Das vielleicht edelste Kriterium von "musikalischen Höhlenforschern" (Schönberg) ist und war in allen Zeiten die erweiternde Erschließung des klingenden Kosmos von Musik (und somit der Seele) durch "unerhört" neue Kompositionen - z.B. manche Madrigale Gesualdos, Bachs Johannes- und Matthäus-Passion, Beethovens Eroica, Schuberts Winterreise, Wagners Tristan, Bruckners Neunte, Mahlers Naturlaut und seine Synthese von Musikstilen, Schönbergs Pierrot Lunaire ...
Unerhörtes bei Furtwängler?
Provokanter weise erwähnte ich diese wichtigen Beispiele der Musikgeschichte, um auf die besonderen Momente in Werken Wilhelm Furtwänglers aufmerksam zu machen - z.B. in der hier besprochenen h-moll Sinfonie den verhauchenden Schluss des Kopfsatzes (Kontrabässe) oder den Höhepunkt der dritten letzten Steigerungswelle des Adagios mit Abbruch (ca. 2 Takte vor Ziffer 19 bis Ziffer 21, besonders Takt 209 und 210 - in dieser Aufnahme ca.14:25 bis 17:10). Solch einmalig magische Stellen (meist des Verklingens und inneren "Fern-Nachhörens") gibt es auch in der Zweiten am Ende des Kopfsatzes oder im Trio des Scherzos der Zweiten, oder besonders ergreifend auch in der Dritten am Schluss des Kopfsatzes. Ungehörtes und "ferner Planetenduft" ist ebenso im zweiten Satz der ersten Violinsonate oder bei einigen Stellen in allen Sätzen des Konzerts für Klavier und Orchester zu hören. Der emotional energetische Eindruck von Furtwänglers Musik "riecht" vielleicht nicht nach "Aufbruch" wie die Eroica oder die Mahler Erste, aber das tun m.E. auch Tristan oder die Bruckner Neunte nicht …
Das Wesen von Furtwänglers Musik
Furtwänglers Musik gehört zu der spät- bzw postromantischen Werken mit tragischen Inhalten wie Verlust, Scheitern, Untergang, Rückzug und Abschied oder zumindest eskapistische Herbstimmungen zuzurechnen - wie z.B. Brahms Klarinettenquintett oder Mahlers Lied von der Erde und Neunte oder Zemlinskys Lyrische Sinfonie oder Bergs Drei Orchesterstücke, die Altenberglieder oder Wozzeck oder Schostakowitschs Achte.
Ich erwähne all diese berühmten Kompositionen der Musikgeschichte um neugierig zu machen und die konstante Qualität der Kompositionen Furtwänglers zu betonen, denn dieses Gefühlte und Gesagte tritt immer wieder in seinen Werken hervor - und auf diese Weise NUR in SEINEN Werken. Furtwängler hat seine Kompositionen und sein Komponieren ausdrücklich als "tragisch" bezeichnet. Zugespitzt gesagt: Er hat quasi den Inhalt seines Komponierens auch GELEBT. Dieser Seitengedanke führt noch weiter, worüber ich im nächsten Abschnitt mehr ausführe. Übrigens:
Die Wirkung dieser von mir erwähnten Stellen in Furtwänglers Kompositionen erschließt sich aber nur durch den "Akt der Anstrengung und Zuwendung" des Komplett-Hörens durch den Zuhörer. Diese besonderen Stellen isoliert zu hören verfehlt völlig die Wirkung, welche über rein Musikalisches hinausgeht. Zu den letzten Punkten in den nächsten beiden Abschnitten einige "weiter" führende Gedanken:
"Das ist gar keine Musik"
Im (m.E. großartigen) Textheft von Eckardt van den Haagen erfährt man, dass der große Geiger und auch Komponist Joseph Joachim über ein frühes Streichquartett, das der jugendliche Furtwängler ihm (wohl am Klavier) vorspielte, gesagt haben soll "das ist ja Unsinn, gar keine Musik". In gewisser Weise ist diese Aussage - bezogen auf alle (zumindest reifen) Kompositionen Furtwänglers - gar nicht so abwegig, wenn wohl auch auf andere Weise überlegenswert als von Joachim gemeint. Analog dazu kann man auch das Textheft der CPO-Produktion von van Haagen lesen ohne die Musik zu hören (oder zu kennen) und ebenso berechtigt sagen, dass das ja gar kein Text zu dem Werk ist und dass man in den Ausführungen (fast) nichts über die Musik erfährt. Furtwänglers Musik und van Haagens Gedanken zu Furtwängler handeln beide von LIEBE - bei Furtwängler im Prozess des Komponierens und der Interaktion des Annehmens der Musik durch den Zuhörer (zu dem prinzipiellen Thema werden auch Worte von Furtwängler zitiert) und bezüglich des Texthefts ist das nicht Sagbare explizit "angesprochen".
Absolute Musik - und absolute Einheit?
Musik hat schon immer darauf abgezielt, den Menschen, sich selbst als Ganzes zu be- und ergreifen, Verbindung zu erfahren. Das war wohl das Ziel vom ersten gesungenen Ton ... Wirklich konkret und bewusst ist das z.B. in Beethovens Eroica erlebbar, die schon im Mahlerschen Sinne ein "tönendes Universum" ist. Komponierte Assoziationen (der Trauermarsch per se und dort das Erleben der Gemeinschaft und des einzelnen Menschen, im Finale die Prometheus-Variationen) - Musik unter Verwendung von Außermusikalischem und zum Nachdenken / Nachspüren über sich selbst. Zudem eine zutiefst politische, weil Ethik reflektierende Sinfonie. Bei Mahler ist es die Gebrochenheit der menschlichen Existenz in der Welt, inneren abgetrennt-sein-Gefühls und das Begreifen des Daseins, der Natur und somit die Sinnsuche mit den Mitteln von diversesten assoziativen und gedanklich literarisch reflektierten Versatzstücken.
Eindeutig Musik des 20ten Jahrhunderts ...
Bei Furtwängler ist es vielleicht von vorne herein (wie eine Fortführung des Liedes von der Erde und der Neunten, oder der "tragischen" Sechsten von Mahler) auskomponierte tragische Akzeptanz des Scheiterns. Die Mittel sind die AUSSAGEN der Bausteine der vorausgegangenen Komponisten (Bach, Beethoven, Brahms, Wagner, Bruckner, Mahler), welche durch die Verpflanzung in einen anderen Kontext - ähnlich wie bei Mahler und doch ganz anders - eine völlig andere und oft tragisch isolierte Bedeutung bekommen: Der (Bachsche) Choral tröstet nicht mehr wirklich, die (Beethovensche) formale Strenge gibt keinen Halt mehr, die (Wagnersche) Meistersinger-Beschaulichkeit ist zur eskapistischen Resignation geworden, die (Brahmssche) organische Entwicklung ufert aus, die (Brucknersche) große Vision ist fraglich (ein Sehnsuchtsgefühl, mit dem das NS-Regime so perfide spielte), die (Mahlersche) Sinnsuche hat ihre Unschuld verloren.
Verlorene Unschuld - so wie Furtwängler sie wohl immer wieder erlebt hat: im Fall Hindemith mit Göbbels, in seinen innen Zerrissenheiten und Zwängen (Komponist oder Dirigent, Stand im NS-Regime), nach dem Krieg mit der Entnazifizierung ... Somit ist Furtwänglers Musik eindeutig zutiefst im 20ten Jahrhundert verwurzelt - und zwar in den schwärzesten und schmerzlichsten Aspekten.
... und somit eine visionäre Anregung ...
Furtwänglers Musik und auch seine Person sind wohl auch deshalb so umstritten und rufen beim "kritischen" Hörer, Rezensenten und Bildungsbürger schnell heftige Resonanzen hervor, weil Furtwängler sowohl als Mensch als auch als Komponist stark das menschlich Unvollkommene, Gespaltene, in der Endlichkeit Unerlöste und Widersprüchliche verkörpert und somit auch beim Menschen gegenüber (Hörer) diese Aspekte anspricht - und DAS ist eine Tragik, Belastung und immer noch zeitnahe Hypothek, die für jeden Menschen schwer zu (er)tragen ist. Bei sich selbst und im Spiegel durch die mittels Musik (wahrlich "peinlich") ausgebreitete Seele eines anderen …
Eckardt van den Hoogen spricht (als anscheinend Furtwänglers Musik Liebender!) im Begleitheft offen das Thema Liebe an und zitiert auch Furtwängler selbst: "Auf das Kunstwerk (und ich sage erweiternd: auch auf jeden Menschen!) muss man sich einstellen, d.h. es ist eine geschlossene Welt, eine Welt für sich. Dies Sicheinstellen heißt Liebe. Sie ist das Gegenteil von Abschätzen und Vergleichen. Sie sieht das Unvergleichbare, Einzigartige ... "
Das ist das, was Jesus uns vorgelebt hat. Vielleicht können wir es immer wieder versuchen und doch das tragische Scheitern daran ebenfalls immer wieder liebend und somit in Frieden bei uns selbst mit uns selbst und bei dem anderen Menschen gegenüber an-erkennen … "An-erkennen, was ist" (Bert Hellinger) …
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Die zwei Vorläufer-Aufnahmen der h-moll Sinfonie
Die h-moll Sinfonie ist meines Wissens bis jetzt dreimal aufgenommen worden: Die Ersteinspielung (1989) von Alfred Walter ist als Pioniertat und Ausrufezeichen zu sehen. Die Quellenlage ist leider nicht erwähnt, das Dirigat bei allem Herzblut teilweise etwas fahrig, das Orchester - vielleicht wegen des sperrigem unbekannten Stück und geringer Probenzeit - stellenweise überfordert und die Aufnahmetechnik erscheint pauschal etwas hallig mit verwischten Details im Forte. Im Adagio tiefer empfunden umgesetzt als bei Albrecht.
In der zweiten Aufnahme (2000) mit George Alexander Albrecht präsentierte dieser seine eigene sorgsam edierte Partiturausgabe und wirkt insgesamt deutlich schlüssiger als die Walter-Aufnahme. Aber auch in dieser zweiten Einspielung kommt das Orchester deutlich an seine Grenzen (z.B. tiefes Blech), klingt etwas schmalbrüstig (bzw. klein) und der Aufnahmeklang ist nicht optimal: Ein bei gutem Detailreichtum eher weißer, enger und topfiger Klang lässt das sehr gut und warm orchestrierte Werk immer noch spröde klingen. Wirklich "angekommen" ist der sinfonische Koloss erst jetzt in der dritten Einspielung!
Der Dirgent, das Orchester und die Aufnahmequalität
Die Württembergischen Philharmonie Reutlingen unter Fawzi Haimor und auch das Aufnahmeteam von CPO haben nun 2019 eine eindeutige Referenzaufnahme (nicht nur im Vergleich mit den suboptimalen Vorgängereinspielungen) zustande gebracht.
Der Dirigent führt das in allen Registern glänzend disponierte Orchester ohne aufgesetzte Balance- oder Tempoeffekte, aufmerksam und mit untrüglichem Gespür für Furtwänglers "Ton" und Aussage durch diese äußerst anspruchsvolle Sinfonie, welche er auch in allen Einzelheiten völlig verinnerlicht hat. So werden die zum Teil haarsträubenden Melodielinien, Querständen und Modulationen (z.B. in der Coda des Finales) klar, überzeugend, ohne Hektik und klanglich edel und mächtig (besonders Lob dem ganzen und im Besonderen dem tiefen Blech!) ausgeführt. Die Streicher wissen um den wichtigen Schmelz und das Holz klingt nie unedel oder scharf und dort solistisch, wo es sein soll. Eine Fülle an sinnvollen harmonischen, rhythmischen und figurativen Details ist wirklich zu hören - und nicht nur als unsauberes ungelenkes Beiwerk ... Das Orchester gelingt in einer dem gigantischen Werk angemessenen "Größe" des Klangs (auch und besonders durch die genaue Ausführung der angegebenen Dynamik!), es gibt nichts über das man "hinweghören" muss. Bei aller instrumentaler Stärke und Raffinesse des Klangkörpers: Ohne das Ohr, die Probenarbeit und das tiefe Verständnis von Fawzi Haimor wäre wohl dieses Ergebnis nicht zustande gekommen!
Die Tontechnik von CPO schafft ein - für dieses Label bei großen Orchesteraufnahmen typisches - leicht verhangenes Klangbild (etwas matt, der typisch "CPO-Nebel") bei mittlerer Entfernung (terminus technicus). Die instrumentale Balance (mit kleinen Ausnahmen, z.B. einer generell etwas zu dominanten große Trommel, besonders im piano im Adagio von Takt 180 bis 187 - hier um Min.14) ist gut gelungen, der Detailreichtum ausreichend und die Farbigkeit der Instrumente gut. Für meine Ohren haben die CPO Aufnahmen (wahrscheinlich durch Zurücknahme bzw. Modifikationen von Anteilen von höheren Frequenzen) zumeist eine gewisse akustische Enge oder "Eingesperrtheit", worauf man sich aber einhören kann.
Zur Edition
Die Aufnahme scheint sich - nach einem ersten flüchtigen Mitlesen beurteilt - sehr genau an die von George Alexander Albrecht herausgegebene Partitur zu halten. Bei Furtwängler ist übrigens das häufige Mitlesen und Notizenmachen in den Partituren unglaublich fördernd für das Verständnis der überaus komplexen Kompositionen, welche dennoch thematisch sehr konzentriert, dicht und ähnlich wie bei Brahms "organisch" aufeinander bezogen gebaut sind.
Ich hoffe sehr, dass von den reifen Werken auch die beiden anderen Sinfonien Furtwänglers (e-moll und cis-moll) und vielleicht auch das Symphonische Konzert für Klavier und Orchester (h-moll) in dieser Besetzung produziert werden. Da in der Kammermusik ja die beiden Violinsonaten bei CPO schon erschienen sind, fehlte dann noch das Klavierquintett C-Dur.
Fazit: Ein unbedingte Kaufempfehlung für alle Musikfreunde, die ihre "Liebensfähigkeit" anregen möchten :-)
Ach ja: Diese Rezensionen wird vielen Lesern wohl nicht gefallen. Das ist mir schon klar ;-)