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gemi:re
Top 25 Rezensent
22. Mai 2020
Gesamteindruck:
5,0 von 5
Künstlerische Qualität:
5,0 von 5
Repertoirewert:
4,0 von 5
Primär unorthodoxe Beethoven-Einsichten
Der Ur-Berliner Hermann Scherchen, musikalisch als Violinist und Bratschist an der Berliner Musikhochschule ausgebildet, der dann bei div. Berliner Orchestern, u.a. den Philharmonikern und der Kroll-Oper reüssierte, nach 1911 sich dann um den Schönberg-Kreis als Assistent und Lehrer, dirigentischer Autodidakt und Pionier der Moderne etablierte, danach auch als Lehrer von u.a. Musiker- Grössen wie Hartmann, Bour, Maderna und Nono anerkannt, der bringt Beethoven als 2020er-Jubilar zum Klingen.
Scherchen war allzeit auch ein Stachel im Fleisch eines orthodoxen Kulturgewerbes der 50-60er Jahre, zumal nach seiner freiwilligen 1933er Demission aus der inhumanen NS-Reichs-Kultur, erst nach Belgien und später ins Schweizer Exil.
Scherchen war ein aufrechter Linker und eine Instanz der Moderne.
Erste Westminster-LPs, in den 1960ern ergattert, empfand mein Musiklehrer immerhin als hörenswert eindrucksvoll sowie auch fragwürdig und wenig konform zur altdeutsch-pathetischen Furtwängler-Orthodoxie oder zur neudeutschen und aktuelleren Toscanini-Karajan-Stringenz, und alles wurde auch stereophon-technisch arg relativiert.
So spürt und hört man Scherchens unorthodoxen Stachel eben hier in den frühen 1950er Westminster-Einspielungen aller Sinfonien Beethovens - lang vor den 'aufklärerischen' Londoner Leibowitz-Aufnahmen der 60er - mit den Philharmonikern der Wiener Staatsoper und dem Royal Philharmonic Londen, die dankenswert nun die DGG zum B-2020er Jubiläum revitalisiert hat.
Kein modern konformer mainstream-Durchlauf oder auf Rasanz geprobter streamline-Perfektionismus, sondern eine Werk für Werk differenziert ausgehörte Gestaltung der musikalischen Vorgaben - da rauscht nichts so mal durch und am Ohr vorbei, sondern klingt durchweg penibel und eigenwillig artikuliert, bewusst musikalisch an Beethovens Tempi nah ausgespielt und nie einfach nur rasant durchgespielt. Beethoven erarbeitet z.T. an den Grenzen physischer und instrumentaler Virtuosität, fern schnöd-schöner Klanglichkeit.
Die Zugaben der früher schon separat veröffentlichten Sinfonien Nr.3 und 6 bei Universal-'Millenium', auch von der DGG, stammen aus frühester Westminster-Stereozeit, Sommer 1956, und offenbaren Scherchens erneuten, berühmt-revolutionären Zugriff auf die 'Eroica'- und Pastoral-Sinfonien, sein radikal phrasiertes timing, das alle Hörgewohnheiten damals ins Wanken brachte und sogar heute noch vergleichslos elektrisiert -
auch ein Adorno hätte sich damals über die Leibowitz 'Pastorale' wohl nicht so positiv verlautbart, wenn er zuvor Scherchens gehört gehabt hätte.
Wie auch immer, hier steht erneuert ein wirklich profundes Scherchen-Beethoven-Korrektiv aus der Westminster Nachkriegszeit zur Diskussion, klanglich a la "living mono" durchweg akzeptabel remastered, das allen streamline-Ohren von heute durchaus als ein aufmerkender Gehörputzer dienen könnte, sofern der konsumtiv medial verwöhnte Geist noch offen ist für musikalisch profunde, alte Erfahrungen ...