Historisch? Leidenschaftlich!
Fast 70 Jahre nach der Aufnahme dieser ersten Matthäus-Passion mit Karl Richter, der bei der Archiv-Produktion Ende der 1960er und 1977 noch zwei weitere Einspielungen folgen sollten, mag der Zahn der Zeit und die Epoche der landauf, landab etablierten historischen Aufführungspraxis dieser Aufnahmen den Stempel eines nurmehr historischen Interesses aufdrücken. Nun, über Geschmack lässt sich bekanntlich nicht streiten. Und wie all die Interpreten der Musikgeschichte letztlich bewertet werden, muss die Geschichte entscheiden. Für mich ist Richter noch immer in vielen Dingen eine vitale Quelle, der eine im Innersten packen kann. Ich bin süchtig nach dem vollmundigen Sound seiner Bach-Kantaten, den wuchtig vollen Chören, den unvergleichlichen Instrumental- und Sängersolisten, dem drahtigen Klang des Münchener Bachorchesters. Und hier? Hier sind mit Haefliger, dem jungen Fischer-Dieskau und dem kraftvollen Kieth Engen, aber auch der formidablen Hertha Töpper Sänger am Werk, die jenseits aller musikhistorischen Phrasierungsästhetik einfach ALLES in ihren Ausdruck legen, perfekt eingebettet in Richters Bekenntnis-Klang. Aber, Warnung, das ist heute nicht mehr jedermanns Sache. Für nicht wenige, die immer wieder über seinen Neupert-Klang am Cembalo und die Colla-Parte-Orgel in den Chorälen, die große Besetzung in Chor und Orchester nachsichtig lächeln, ist so eine Einspielung ein Kuriosum. Für alle, die ein historisches Gesamtbewusstsein pflegen und darum wissen, was die Menschen durch Krieg und Zerstörung im Rücken gehabt haben müssen, als endlich wieder die Friedensbotschaften Bachs in den halbmaroden Kirchengebäuden erklingen durften, ist eine solche Aufnahme immer wieder berührend in ihrem glühenden Verlangen nach dem Guten. Und in diesem Sinne sollte man es auch hören.