rundum gelungene Veröffentlichung
Ferenc Fricsay ist - wenn auch heute nicht mehr stark im musikalischen Bewusstsein der meisten Klassikhörer präsent - sicherlich einer der Dirigenten und Künstler, die den guten Ruf des Labels Deutsche Grammophon mit begründet und gefestigt haben. Vielleicht haben ihn die Ästhetik Karajans, die Stereotechnik (von der Fricsay nicht mehr sehr oft profitieren konnte) und das Bewusstsein für eine andere (ich sage bewusst ANDERE!) orchestrale Qualität in England und USA so bald nach seinem Tod "vom Markt" verdrängt...
Wenn ich heute seine Aufnahmen höre, dann spüre ich durchaus etwas von dem Feuer und Willen des "Aufbau-Deutschlands", vorwärts zu kommen, aber auch die "Löcher", welche der Krieg in die Musiklandschaft gerissen hat. Manche Platten-Produktionen erfüllen vielleicht nicht mehr den heutigen übersteigerten Perfektionsanspruch. Nichts desto trotz ist immer alles da, was nötig ist, um die Musik in ihrer Fülle erleben und sich stark berühren lassen zu können. Zudem ist die damalige "Sänger-Riege" heute unerreichbar ...
Aufnahmetechnisch ist nicht alles so ganz genau unter die Lupe zu nehmen, aber für meine Ohren ist der DG-Klang damals wesentlich "ehrlicher" und natürlicher als in der Karajan-Zeit der Endsechziger, Siebziger und Achtziger. Das spricht (mich zumindest) schon mal sympathisch an. Angenehm ist, dass alle Einspielungen den Klang des Raums mit einbeziehen. Die detaillierte Abbildung des Klanggeschehens reicht von gut bis sehr gut. Meines Erachtens können die meisten Aufnahmen diesbezüglich mit vielen heutigen Einspielungen mithalten ' egal ob in Mono oder Stereo. Das mag natürlich nicht jeder so hören / empfinden.
NICHT NUR OPER
Die engagierte und fundierte Rezension von alanmichael1 sagt eigentlich genug über die Opernproduktionen, welchen ich nichts mehr hinzufügen möchte. Aber es gibt hier mehr als Oper. Ein Drittel der CDs enthält sinfonische Musik (mit Chor oder Gesangs-Solisten).
Ich möchte nicht detailliert auf Interpretationen eingehen, denn meine Überlegung ist dabei:
Wer Fricsays Kunst kennt, der Bedarf meiner Gedanken nicht. Wer Fricsay gar nicht kennt, der wird wohl nicht gleich auf Verdacht 100 Euro ausgeben ' Für den, der neugierig ist, nur so viel:
Fricsay empfand alles, was er dirigierte, sehr stark, aber es wirkt nichts bei ihm aufgesetzt. Immer herrscht ein starker rhythmischer Impuls, etwas Urvitales und er motivierte die Orchester sehr natürlich und 'gesund' zu spielen. Das oft für Kubelik bemühte Wort 'musikantisch' trifft auch einen wesentlichen Aspekt von Fricsay. Ein anderer ist der, dass Musik auch der Ausdruck von inneren Bildern und Szenen sein kann. Fricsays (leider zumindest vor der Kamera extrem wortreiche - siehe DVD. Orchestermusiker mögen das gar nicht!) Proben zeugen von seiner überbordenden Phantasie. Musik war für ihn anscheinend das Leben selbst ' Ein weiterer Punkt ist sein untrügliches Gefühl für Gestalt, Form und Proportionen - ebenso Orchesterbalance. Er war somit auch ein ausgezeichneter Begleiter für Sänger. Wunderbar lebendig ist das z.B. in Mozarts 'Entführung' zu hören.
VERGLEICHSMÖGLICHKEITEN
Das ganz Besondere dieser Box ist die Gegenüberstellung einiger Werke in zwei Einspielungen bzw. Aufführungen aus der 'mittlerem' und 'späten' Zeit (Rundfunkmitschnitte) Ferenc Fricsays. Seine Sicht auf die Musik hat sich zum Teil stark entwickelt / verändert, was sich schon in deutlich abweichenden Spielzeiten der Werke festmacht:
Haydns 'Die Jahreszeiten', Kodalys 'Psalmus Hungaricus', Mozarts 'Exultate, jubilate' und Verdis 'Requiem ... Immer wieder weicht in den späteren Tondokumenten der visionäre Drang einer mehr retardierenden inneren Sicht oder auch eigentümlichen "Maniriertheit" (Zitat des oben genannten Rezensenten). Am ohrenfälligsten ist das aber im Vol.1 bei der Tchaikowksy 6ten zu hören.
DIE WERKE DER FRICSAY-BOX - VOL.2
Bartok: Cantata Profana - 1951 mono (Krebs, Fischer-Dieskau) (in Deutsch)
Brahms: Alto-Rhapsodie - 1957 mono (M. Forrester)
Haydn:
- Die Jahreszeiten - 1952 mono (Trotschel, W.Ludwig, Greindl)
- Die Jahreszeiten - 1961 Mitschnitt in mono, "Winter" erste VÖ in Stereo! (Stader, Haefliger, Greindl)
- Te Deum C-Dur - 1961 stereo
Kodaly:
Psalmus Hungaricus - 1954 mono (E. Haefliger) (in Deutsch)
Psalmus Hungaricus - 1959 Mitschnitt in Stereo (E. Haefliger) (in Deutsch)
Mahler: Rückert-Lieder - 1958 stereo (M. Forrester)
Mendelssohn: "Sommernachtstraum" Overture + Bühnenmusik (Auszüge) - 1950 mono (Streich, Eustrati) (in Deutsch)
Mozart:
- Messe c-moll K.427 "Grosse Messe" - 1959 stereo (Stader, Grummer, Haefliger, Sardi)
- Requiem K.626 - 1951 Mitschnitt in mono (Grummer, Pitzinger, Krebs, Hotter)
- Exsultate, jubilate K.165 - 1954 mono (M. Stader)
- Exsultate, jubilate K.165 - 1960 stereo (M. Stader)
- Vesperae K.339: Laudate Dominum omnes gentes - 1960 stereo (M. Stader)
Orff: Carmina Burana (Auszüge) - 1949 mono (Schlemm, Fischer-Dieskau)
Rossini: Stabat Mater - 1954 mono (Stader, Radev, Haefliger, Borg)
Johann Strauss: Fruhlingsstimmen Waltzer ' 1952 mono (Wilma Lipp)
Stravinsky:
- Oedipus Rex - 1960 Mitschnitt in mono (E. Haefliger, H. Töpper, I. Sardi, K. Engen, P. Kuen, Sprecher: E. Deutsch)
- Psalmensinfonie - 1951 mono
Verdi:
- Messa da Requiem - 1953 mono (Stader, Radev, Krebs, Borg)
- Messa da Requiem - 1960 Mitschnitt in mono (Stader, Dominguez, Carelli, Sardi)
- Quattro Pezzi Sacri - 1952 mono
OPERAS:
Bartok: Blaubarts Burg - 1958 stereo (Topper, Fischer-Dieskau) (in Deutsch)
Beethoven: Fidelio - 1957 stereo (Rysanek, Haefliger, Fischer-Dieskau)
Bizet: Carmen (Querschnitt) - 1958 stereo (Dominguez, Simandy, Metternich) (in Deutsch)
Gluck: Orfeo ed Euridice - 1956 mono (Fischer-Dieskau, Stader) (in Deutsch)
Mozart:
- Don Giovanni - 1958 stereo (Fischer-Dieskau, Jurinac, Stader)
- Le nozze di Figaro - 1960 stereo (Capecchi, Stader, Fischer-Dieskau)
- Idomeneo, re di Creta - 1961 Mitschnitt in mono (Kmentt, Grummer, Haefliger)
- Die Entführung aus dem Serail - 1954 mono (Stader, Streich, Haefliger)
- Die Zauberflöte - 1955 mono (Streich, Stader, Haefliger, Fischer-Dieskau)
Johann Strauss: Die Fledermaus - 1949 mono (Schlemm, Anders)
Verdi: Falstaff: "Brav, alter Hans" (Act 2) - 1951 mono (Metternich, Fischer-Dieskau, van Dijk) (in Deutsch)
Wagner: Der fliegende Holländer - 1952 mono (Metternich, Kupper, Greindl)
OPERN-ARIEN:
- Maria Stader: 3 Arien von Mozart - 1957 mono (in Deutsch)
- Hertha Töpper: 2 Arien von Verdi - 1957 mono (in Deutsch)
- Ernst Kozub: 2 Arien von Puccini - 1957 mono (in Deutsch)
- Josef Metternich: 2 Arien von Bizet und Rossini - 1957 mono (in Deutsch)
- Dietrich Fischer-Dieskau: 8 Arien von Bizet, Gounod, Rossini, Verdi, Giordano, Leoncavallo - 1961 stereo, in Französisch und Italienisch
CD-DOKUMENTATION: "Erzahltes Leben"
Eine Stunde Radiodokumentation, in der Fricsay aus seinem Leben erzählt (Monolog).
DVD - FERENC FRICSAY IN PROBE UND AUFFÜHRUNG:
- Dukas: Zauberlehrling
- Kodály: Háry János Suite
Gefilmt 1961, region-free NTSC format, 113 min, s/w
DIGITALTRANSFERS
Diesen Abschnitt kann ich hier kurz halten. Die Überspielungen sind vorbildlich gut gelungen. Eine kleine (ketzerische) Anmerkung möchte ich dazu aber machen: Es ist viel schwieriger, Aufnahmen wie die Besten der Produktionen von RCA oder EMI zu remastern, da das Besondere derer sich meist in ganz heiklen feinen Bereichen bewegt (z.B. dem Nachklang des Raums, der ja schnell im Bandrauschen untergehen kann, dem Obertonspektum und dem richtigen Frequenzgang - richtig deshalb, weil es den von LP bekannten Klang mit dem gewohnten einer CD abzuwägen gilt). Diesbezüglich erscheinen mir die DG-Aufnahmen nicht ganz so fein differenziert und sind deshalb möglicherweise etwas einfacher zu Händeln. Wie dem auch sein: Die DG hat hier hervorragende Arbeit geleistet, an der es nichts auszusetzen gibt!
EDITORISCHES
Wie schon die musikalische Aufbereitung, so ist auch die Gestaltung der Box und das Booklet hervorragend gelungen: Der blaue Schuber mit den S/W-Fotos und den blauen Markierungen und Schrift ist optisch sehr ansprechend (und gefällt mir diesbezüglich besser als die erste Box), sehr stabil und lässt sich leicht öffnen. Auch der Innenteil, der die CDs birgt, ist gestaltet. Alles erinnert ein wenig an die 50ziger Jahre, was ja hervorragend zu den originalen LP-Covers passt.
Die Hüllen lassen sich leicht aus der Box nehmen, sind aus eher dünnerem Pappe (ist grade noch so ok) und auch die CDs lassen sich ohne allzu große Probleme entnehmen. Käufer solchen Boxen sind es mittlerweile wohl gewöhnt, dass man besonders bei Doppel-CDs (von denen es hier ja einige gibt) ein paar Tricks anwenden müssen, um nicht die Hüllen zu beschädigen oder die CD selbst mit Fingerabrücken zu übersäen.
Das Beiheft ist sehr großzügig im Platz, was die Angaben bei den Tracks betrifft. Der Text zur Box ist nicht zu sehr üppig: viereinhalb Seiten von Gottfried Kraus und zweieinhalb Seiten von Dietrich Fischer-Dieskau (von 1964). Alle wichtigen Produktionsangaben sind am Ende jeder CD bzw des mehrere CDs umfassenden Werks vorhanden.
FAZIT
Wer einen Blick (oder besser: Ohr) auf die Musiklandschaft des Nachkriegs-Deutschland werfen möchte, der kommt um Fricsay nicht herum. Aber auch derjenige, der einen Sinn für erzählendes, bildhaftes und äußerst vitales Musizieren hat wird sehr viel Freude mit dieser Box haben. Zudem gibt es manch große deutschen Sänger in ein paar zu Recht legendären Opernproduktionen wiederzuhören . . .
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