Eckpfeiler der Bruckner-Rezeption
Mittlerweile gibt es ja einige Zyklen der Sinfonien Anton Bruckners: Andreae, 2x Jochum, Haitink, Wand, Inbal, Karajan, Masur, 2x Barenboim, Solti, Tintner, Gielen, Maazel, Paternostro, Young, Venzago, Blomstedt, Janowski und andere - auch annähend vollständige Zyklen z.B. von Rögner und Celibidache. jeder der Einspielungen hat ihre Meriten und ihre "Tendenz" in der Verwendung von Fassungen, Tempi, der Sicht auf Bruckner als Mystiker, Sinfoniker, Erneuerer, den „Österreicher“ usw.
Skrowaczewski ist mit seinem Bruckner-Zyklus in mancher Hinsicht vorbildlich:
1. Es sind alle Sinfonien Bruckners eingespielt – auf die Studiensinfonie f-moll und die Annullierte d-moll. Samt der wunderbaren g-moll Ouverture einem Arrangement des Adagios aus dem Streichquintett für Streichorchester.
2. Bruckners Kompositionen werden überzeugend und ohne belastende Überfrachtung gespielt. Die Tempi sind zumeist eher "unauffällig" - also weder extrem langsam oder sehr schnell. Ebenso werden agogische Mätzchen vermieden, der Partitur nichts (z.B. an Spielvorschriften) hinzugefügt oder weggenommen. Der Dirigent hat eine genaue Vorstellung von Gestalt, Form und der inneren Gesetzmäßigkeit jeder Sinfonie. Zudem ist er auch in der "Tradition" sattelfest, wobei er kaum unreflektiert etwas aus der Bruckner-Rezeption Tradiertes übernimmt.
3. Und da wäre noch überhauot die Leistung des Dirigenten und des doch etwas weniger bekannten Rundfunkorchesters, eine solch hochqualitative Gesamteinspielung hinbekommen zu haben.
4. Nicht zuletzt übterstützt das ganze die Aufnahmetechnik, die eine gute Balance zwischen Räumlichkeit und Detailgenauigkeit hält und das RSO Saarbrücken in einem vorteilhaften Licht erscheinen lässt.
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Musik und Interpretation lässt sich schwer in Worte fassen. Ein vager Versuch: Die Zweite nimmt Skrowaczewski im Kopfsatz als ein sehr lyrisches Werk. Er „erlebt“ die Pausen und deshalb haben sie bei ihm Spannung. Dennoch betont er auch das auseinander heraus Wachsende der Themen. Es liegt trotz der „Weichheit“ etwas stark Sehnsüchtiges und sogar Tragisches über dem ganzen Satz. Dieser findet seine ganz natürliche Entsprechung im sehr kontemplativen zweiten Satz. Dieses Andante tendiert eher zum Adagio, behält aber trotzdem die Klangrede eine Quasi-Gebets mit einer offenen Frage oder Bitte (Solo-Horn, Pizzicati) des Seitenthemas bei. Im Scherzo und Finale entwickelt die Musik mehr Dramatik, ist auch rhythmischer mit Drive nach vorne. Das nützt der Dirigent bewusst und wirkt so der Gefahr entgegen, dass der lange Finalsatz im Spannungsbogen energetisch wieder zum Beginn der Sinfonie, sondern mehr zu einer Entladung des lange Zurückgehaltenen führt. So macht auch der Rückblick auf den Anfang einen wahrhaftigen und zwingenden Eindruck. Dieser große Bogen über das ganze immer noch weit unterschätzte Werk ist grandios gelungen. Da können es Skrowaczewski nur ganz wenige gleichtun.
Das gleiche gilt jeweils auf seine Art für alle Werke. Ob einem nun alles gleich gut gefällt oder nicht: jedenfalls lässt sich überall ganz tiefes Verständnis für die Musik und die lebenslange Auseinandersetzung mit den Besonderheiten der Brucknerschen Sinfonik erspüren. Für mich eröffnen diese Einspielung der Sinfonien sozusagen einen erkenntnisreichen Dialog mit meiner eigenen langen Auseinandersetzung mit dem Komponisten. Das kommt nur ganz selten vor, da offensichtliche „Fehler“ in Architektur und Verlauf, die ich ansonsten in vielen (auch hochberühmten) Einspielungen immer wieder entdecke, es oft gar nicht so weit kommen lassen … natürlich ist diese Wahrnehmung durchaus subjektiv.
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Editorisch ist bei der OEHMS-Box mit 12 CDs leider zu bemängeln, dass die verwendeten Fassungen der Sinfonien nicht angeführt sind. Deshalb führe ist diese Informationen hier samt Aufnahmedaten an:
Sinfonie f-moll „Studiensinfonie“ WAB 99 (einzige Fassung 1863, Ed.: L.Nowak 1973) (Ed.: Alkor Kassel) (6-10.3.2001 Saarbrücken)
Sinfonie Nr. 1 c-moll WAB 101 („Linzer“ Fassung, überarbeitet 1877, Ed.: L.Nowak 1953) (13-18.6.1995 Saarbrücken)
Sinfonie d-moll „Annullierte“ WAB 100 (1869, Ed.: L.Nowak 1968) (Naxos / 23-25.9.1996 Saarbrücken)
Sinfonie Nr. 2 c-moll WAB 102 (revidierte Fassung 1877, zweiter Druck: L.Novak 1965) (23-26.10.1999 Saarbrücken)
Sinfonie Nr. 3 d-moll WAB 103 (Fassung 1889 <1888/89>, Ed.: L.Nowak 1959) (Okt.1996 Saarbrücken)
Sinfonie Nr. 4 Es-Dur „Romantische“ WAB 104 (1886 <1878/80>, Ed.: L.Nowak 1953) (25-28.10.1998 Saarbrücken)
Sinfonie Nr. 5 B-Dur WAB 105 (Fassung 1878, Ed.: L.Nowak 1951) (Okt.1996 Saarbrücken)
Sinfonie Nr. 6 A-Dur WAB 106 (Fassung 1881, Ed.: L.Nowak 1952) (3+4.3.1997 Saarbrücken)
Sinfonie Nr. 7 E-Dur WAB 107 (Fassung 1885, Ed.: L.Nowak 1954) (27+29.9.1991 Saarbrücken)
Sinfonie Nr. 8 c-moll WAB 108 (Fassung 1890, Ed.: L.Nowak 1955) (8+9.10.1993 Saarbrücken)
Sinfonie Nr. 9 d-moll WAB 109 (Originalfassung 1894, Ed.: L.Nowak 1951) (12-18.1.2001 Saarbrücken)
Die CDs der ausreichend stabilen Pappbox stecken alle in Papphüllen, die nur die Gesamtspielzeit der CD anzeigen.
Die Spielzeiten der einzelnen Sätze finden sich im 18-seitigen deutschen Booklet. Alle Sinfonien sind je komplett auf einer CD – nur die 8te ist auf zwei CDs verteilt.
Fazit:
Eine äußerst preisgünstige Gesamtausgabe wirklich aller Sinfonien Bruckners (natürlich nur jeweils in einer Fassung), die jeden Euro wert ist! Eine klare Kaufempfehlung!