5 von 5
ille
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Alter:
45 bis 54
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Geschlecht:
Männlich:
19. September 2011
Gesamteindruck:
5,0 von 5
Künstlerische Qualität:
5,0 von 5
Repertoirewert:
5,0 von 5
Zum Abheben
Gilles Binchois (1400 – 1460) gilt neben Guillaume Dufay als Hauptmeister der franko-flämischen Schule des 15.Jahrhunderts und verantwortlich für die Herausbildung eines neuen, englisch inspirierten höfischen Musizierstiles. Ich kannte manche der hier aufgenommenen mehrstimmigen Chansons der „burgundischen Epoche“ aus einer Produktion von 1998 unter Dominique Vellard, schätzte diese Aufnahme als handwerklich sehr gute Umsetzung von ansprechender lyrisch-kultivierter Musik.
Björn Schmelzer, der junge Musikwissenschaftler und Dirigent der Gruppe Graindelavoix, sieht Gilles Binchois als „the first real songwriter“. Lese ich eine solche Aussage im Booklet, erschrecke ich erst einmal. Und beim Einlegen der CD erschrecke ich erneut: Doch diesmal vor ungläubiger Überraschung. Das Ensemble Graindelavoix macht nämlich etwas völlig Neues und Erstaunliches. Wer die Gruppe kennt (und das sollte man unbedingt!), der weiß, dass Björn Schmelzer kein Freund des gewohnten harmonisch englischen Mischklanges ist. Er besetzt vielmehr mit jungen Sängern, die sich in ihrem Timbre sehr stark unterscheiden. Bei manchen Chansons werden die Begleitstimmen teilweise oder ganz instrumental ausgeführt, von Fidel, Harfe oder Laute, und hier hört man äußerst abwechslungsreiche Improvisationen. Verzierungen sind geschmackvoll und raffiniert das Ausdrucksspektrum bereichernd eingesetzt. Mit einer überraschenden Ausdruckskraft und Stringenz der Einzelstimmen zieht diese Musik uns hier in ihren Bann, gewinnt die schlichte Liebeslyrik an sinnlichem Sog, spricht individuell an, gewinnt eine überzeitliche Magie. Kompositionen, die ich als geschmackvolle, mit kleinen flüchtigen Dissonanzen den Textausdruck bereichernde Miniaturen-Kunst kannte, werden durch die so unterschiedlich schillernden Kolorierungen der einzelnen Musiker, durch die mutige Eigenwilligkeit der so gar nicht „klassisch“ sondern authentisch klingenden Sänger hier zu einem aufregenden Gebirge, einem Panorama von ungemein ausdrucksvollen eigenen Gefühlswelten.
Und zum Abschluß der CD: Eine Totenklage auf Binchois, von Johannes Ockeghem komponiert, der vermutlich sein Schüler war. Sie überlagert ein lateinisches Miserere in den drei Begleitstimmen mit einem individuellen französischen Würdigungsgedicht auf den verstorbenen Meister im Diskant. Eine Totenklage von hinreißender Schönheit. Zum Abheben.