Von der Selbstabschaffung
Thomas Melle greift in seinem aktuellen Werk erneut sein Lebens- und Leidensthema auf: Das Leben – bzw. in diesem Fall das Sterben – mit bipolarer Störung. Beginnt der Roman noch mit sicherlich vielen autobiografischen Anteilen, wenn es um das erneute Aufflammen von Manie und darauffolgender Depression nach einer langen Lebensphase eines scheinbar „normalen“, scheinbar neurotypischen Autoren geht, der zuletzt ein hoch gelobtes Werk über seine bipolare Störung geschrieben hat und nun, vier Jahre nach den ersten manischen Symptomen der aktuellen Episode am absoluten Ende steht. Nicht nur psychisch am Ende, sondern auch finanziell, sozial, gesellschaftlich. Mit der Erkenntnis, dass diese Erkrankung wirklich und unumkehrbar chronisch ist und ihn bis ans Ende seines Lebens nicht nur begleiten sondern auch immer wieder zerstören wird, entschließt er sich (erneut) zu Sterben. Selbstmordversuche gab es in der Vergangenheit bereits, doch nun entdeckt er im Wartezimmer des Arbeitsamtes einen Flyer für das „Haus zur Sonne“, welches ein „Pilotprojekt zur Lebensverbesserung, Traumverwirklichung, Selbstabschaffung“ verspricht. Er bewirbt sich und darf in diese Klinik der etwas anderen Art einziehen. Aber nur, bis zu seinem assistierten Suizid.
Der Autor stellt in seinem Roman authentisch und glaubhaft dar, wie stark die Erkrankung der bipolaren Störung an einem Menschen zehren kann bis zu dem Punkt der absoluten Verzweiflung, dass ein Suizid als einziger Ausweg erscheint. Und er straft die neurotypischen Menschen Lügen, die selbstbewusst und lebensfroh an der Behauptung festhalten, der oder die Betroffene müsse nur noch mehr Therapien, Medikationen, Lebensveränderungen durchführen, sodass es sich doch immer lohne weiterzuleben. Nein, in manchen Fällen fällt die Bilanz stets negativ aus und hier muss offen darüber gesprochen werden, ob diesen Menschen nicht ein würdevoller Abgang ermöglicht werden sollte. Das „Haus zur Sonne“ bietet hier nun den fiktionalen Anteil des Werkes von Melle. Denn hier sind sogenannte „Simulationen“ möglich. Diese gelingen durch eine (bisher noch nicht existierende) Technik, die absolute Immersion ermöglicht und die Klienten der Klinik alle nur vorstellbaren Situationen mit allen Sinnen und Emotionen durchspielen lassen kann. Am Ende steht aber für jede:n Teilnehmer:in der Tod.
Melle legt vollkommen unverblümt das Abwägen zwischen Leben und selbstgewähltem Tod offen. Er verwirklicht etwas, was der Ich-Erzähler im Roman wie folgt zusammenfasst:
„Die, die da draußen erzählen und veröffentlichen, sind eh die Überlebenden. Sie waren stark genug. Wo sind all die anderen, die nicht erzählen konnten, die untergingen? Und wie wäre es also mit einer Geschichte, in der keiner gerettet würde? Die eben nicht von einer Rettung handelte, sondern im Gegenteil von einem langsamen Untergang eines Unrettbaren oder vieler Unrettbarer? Die vielleicht nicht einmal eine Botschaft mit sich brächte? Und die dennoch aus ihrer Warte erzählt wäre, nicht auktorial, nicht von einem Checkerautor zusammengehalten, der am Ende meist doch gar nicht weiß, was es heißt, wirklich unrettbar verloren zu sein?“
Nach dieser Passage sollte sich jede und jeder ein eigenes Bild davon machen, ob er oder sie diesem Buch gewachsen ist. Eins ist klar: Man wächst mit dem Buch, egal von welcher Warte aus man das Lesen beginnt!
Dass dieses Buch sich alle Zeit der Welt nimmt, um in Ruhe die Argumente für und wider des assistierten Suizids am Beispiel dieses geplagten Autors herauszuschälen und genau das einlöst, was in dem Zitat oben auf der Metaebene den Lesenden vermittelt wird, macht für mich den Roman, neben seinen sprachlichen Stärken und seiner Authentizität, zu einem sehr wichtigen und vor allem lesenswerten Werk. Es geht um „einen andere, einen menschenfreundlicheren, würdigeren Umgang und Zugang“ mit und zum Thema. Vor allem macht der Roman eins deutlich: Bei einem Menschen, der seit Jahren Selbstmordgedanken hat, geht es nie um eine sogenannte „Kurzschlussreaktion“, die einfach verhindert werden könnte. Es ist ein langwieriger, kräftezehrender Prozess bis dies als der einzige Ausweg erscheint. So muss man sich auch zeitweise durch diesen Roman kräftezehrend hindurchkämpfen. Aber genau das ist meiner Vermutung nach auch so gewollt, um klarzumachen: Nehmt die Gedanken von jemandem, der diese Gedanken hat, niemals auf die leichte Schulter, denkt niemals, es wäre einfach an diesen Punkt zu kommen geschweige denn einfach wieder von diesem Punkt wegzukommen.
Eine klare Leseempfehlung von meiner Seite für diese Mischung aus autobiografischem Roman und Fiktion, um ein Thema im wahrsten Sinne des Worte zu Ende zu denken.
4,5/5 Sterne