Liebe, Freundschaft, Zuverlässigkeit: Die Verbündeten von Lucius feiern ihre 18 Jahre lange Zuneigung zueinander.
Nein, sie wollen nicht beißen - wie das Cover-Motiv andeutet -, sondern nur spielen. Ein Gerücht besagt, dass man auf dem Cover-Foto das schiefe Gebiss von Lucius, der englischen Bulldogge von Jess Wolfe sieht. Das unangepasste Aussehen und das unbeholfene Verhalten des Hundes sollen zur Namensgebung inspiriert haben. Auch wenn aus der Symbolik der gefletschten Zähne eigentlich Aggressivität oder Wut abgeleitet werden könnte, so hat der Name Lucius lateinische Wurzeln und bedeutet "Licht". Das ist eine Umschreibung, die schon eher mit dem Sound des Quartetts Lucius in Verbindung gebracht werden kann. Denn auch die dunkleren Klangfarben und Texte beinhalten die Aussicht auf ein wegweisendes Licht am Ende des Tunnels.
Es gibt eine enge Verbindung zwischen den handelnden Personen bei Lucius: Die Sängerinnen Holly Laessig und Jess Wolfe sehen aus wie Zwillinge. Sie sind aber "nur" langjährige Freundinnen, deren Duett-Gesang so verbunden, optimal abgestimmt und harmonisch ineinander verschlungen ist, als wären sie seelenverwandte Verbündete. Ihnen zur Seite stehen die Multiinstrumentalisten Dan Molad (hauptsächlich zuständig für Schlagzeug und Produktion) und Pete Lalish (hauptsächlich als Gitarrist tätig), mit denen sie freundschaftlich und/oder partnerschaftlich verbunden sind oder waren. Sie bilden eine Patchwork-Beziehungsebene, die bisher alle Wechselfälle des Lebens überstanden hat.
Lucius wurde 2007 in Brooklyn (New York) gegründet und hat sich im Laufe der Jahre einen hervorragenden Ruf als interessanter Konzert-Act und als Gesangsverstärkung für etliche Künstler erspielt. Mit "Lucius" erscheint am 2. Mai 2025 ihr fünftes Album, auf dem trotz der positiven musikalischen Grundstimmung einige Schicksalsschläge verarbeitet werden.
So könnte "Final Days" eine Hommage an die Mutter von Pete Lalish sein, die an Parkinson starb: "Ich hoffe, du hörst den Ruf des Himmels. Ich hoffe, sie lassen dich herein." Diese Gedankenwelt wird jedoch von einem parallelen Ereignis, dem Fällen eines alten Baumes im Garten von Holly Laessig begleitet: "Wir lieben es immer, mit Dualität und Doppelbedeutungen zu spielen und einfache oder scheinbar naive Dinge, wie den Abschied von einem Baum, zu nehmen und im gleichen Atemzug die Tiefe und Kraft von Liebe und Verlust zu spüren." Der Song ist anfangs entspannt, warmherzig und zuvorkommend gestimmt. Das sind Empfindungen, welche als Assoziationen für die Mutter-Sohn- oder Mensch-Baum-Beziehung herangezogen werden können. Kaum merklich wird die Vehemenz, die Lautstärke und das Verdichtungspotenzial der Instrumente bis zum reißerischen Höhepunkt gesteigert. Daran spiegelt sich womöglich die Angst, Wut und Hilflosigkeit, die der jeweilige Verlust mit sich gebracht hat. Im Anschluss beginnt die Aufbauarbeit, die von einer melancholischen Ballade zu einem heftig lärmenden Power-Pop reicht. Hinsichtlich der Dynamikverschiebungen nutzt das Stück dadurch eine enorme Bandbreite aus. Das Lied ist also bestens zur Unterstützung von Tätigkeiten geeignet, die eine besonnene Einkehr und einen zusätzlichen Adrenalinschub vertragen. Wer jemals tiefe Reue empfunden hat, weiß, wie anhaltend und heftig sie schmerzen kann. Das ist auch ein inhaltlicher Aspekt der Trauer, der die gemischten Gefühle, die musikalisch glaubhaft ausgedrückt werden, erklärt: "Ich hoffe, ich habe dich nicht im Stich gelassen, denn es ist zu spät, etwas zu ändern."
"Gold Rush" rockt und groovt so leidenschaftlich, dass es eine wahre Freude ist, dabei zuzuhören. Auch wenn sich textlich einiges um nicht miteinander zu vereinbarende Gegensätze dreht, so gibt es musikalisch keine Zweifel: Dieser Song ist ein Hit, der eigentlich ständig im Radio laufen sollte, um den Menschen Energie zu spenden.
"Rumours" von Fleetwood Mac und "Bryndle" von Bryndle sind schillernde, intim-harmonische, über jeden Zweifel erhabene Pop-Platten. Das auf einem knackigen Rhythmus basierende und mit aufmunternd-spritzigen Gitarren-Akkorden aufgeladene, bedingungslose Liebe propagierende "Do It All For You", das innig-religiös inszenierte "Mad Love", und das melodisch ausladende sowie das über weite Strecken in sich gekehrte Trennungs-Drama "Borderline" hätten sich auf beiden Alben bestens in die entsprechenden Konzepte eingefügt, weil sie klug durchdacht und gleichzeitig eingängig umgesetzt sind.
Bei "Stranger Danger" werden Effekte eingebaut, die scheinbar elektronisch erzeugt wurden, auch wenn die Besetzungsliste diese These nicht bestätigt. Auf jeden Fall hinterlassen diese fremdartigen Töne einen organisch angepassten Eindruck. Der Track scheint dadurch zu atmen oder sich kurz aufzublähen. Dieses Phänomen spielt sich im ersten Teil des Stückes ab, das balladeske Seiten anstimmt, nach entspanntem Country-Folk klingt und zusätzlich noch eine sphärische, nach innen gekehrte Spur legt. Im zweiten, überraschend angepflanzten Teil, erhöht sich das Tempo und die Hintergrundgeräusche werden aufwühlender. Auch der Duett-Gesang agiert fordernder und wirkt ungeduldig. Aber der Song endet dann doch ohne krachenden, explosiven Höhepunkt in einem kurzen, versöhnlich-abwartenden Fade-Out. Durch den Track fliegen Anklagen wegen der korrumpierenden Macht des Geldes, dem fehlenden Mitgefühl gegenüber Schwächeren, der Zerstörung der Natur und dem Wertewandel in der Gesellschaft - große Themen, wichtige Denkanstöße.
Schwerelos, pastoral und wortreich versucht das hypnotische "Hallways" aus seinem unspektakulären Vorgehen eine Kunstform zu generieren. Das gelingt und vermittelt eine in sich ruhende Stimmung, die durch gelegentliche "Weckrufe" aufgepeppt wird. Hier dreht sich das Liebeskarussell und die Welt steht kopf: "Du beherrschst meine Welt, du bringst sie zum Schmelzen" und "Ich versuche immer noch herauszufinden, ob ich Unkraut oder eine Blume bin", sind Aussagen, die für einen ruhelosen Geist sprechen.
Gäste können nicht nur im Privaten die Stimmung bereichern, sondern auch als musikalische "Zutaten" eine Komposition. So geschehen bei "Stranger Danger" durch die Mitarbeit von Taylor Goldsmith (Dawes) an Piano und Gitarre und ebenfalls bei "Old Tape", für das sich der befreundete Adam Granduciel von The War On Drugs an der Gitarre und an den Stimmbändern die Ehre gibt ("Wir wollten etwas machen, das sowohl treibend als auch erhebend ist, und niemand macht das besser als The War On Drugs".) Der psychedelische Pop-Disco-Sound geht in die Beine und erfreut das Gemüt. Und die Stimmen jubilieren hell im verzückten Überschwang.
Für "Impressions" konnte die junge Singer-Songwriterin Madison Cunningham als Gitarren- und Gesangs-Verstärkung und Ethan Gruska von The Belle Brigade fürs Sampling gewonnen werden, die dem Song zwar nicht konsequent ihren Stempel aufdrücken, aber zum geschlossenen, vollen Klangbild beitragen. Der Sound transportiert exotische Elemente, groovt gelassen und einladend und stützt sich auf die seriös-getragene Melodie. Die Beweggründe für die Entstehung des Liedes fassen die Sängerinnen so zusammen: "Gemeinsam mit Madi tauschten wir uns über die Veränderungen in unserem Leben und den Umgang damit aus. Es ging auch um die Entscheidung, was man behält und was man loslässt, während man wächst und sich weiterentwickelt."
Die schmerzhaften, melancholisch-spirituellen Eindrücke von "Orange Blossoms" laufen beinahe in Zeitlupe ab. Sphärische, bombastische und romantische Muster reihen sich aneinander oder überlagern sich. Diese emotionale Wucht wird mächtig dick aufgetragen und lässt die lockeren Momente der Platte vermissen. Häufig hindern uns unsere Egos daran, ein vernünftiges Leben zu führen - eventuell ist das eine Erkenntnis aus der "Orange Blossoms"-Poesie, die zum gedankenvollen Text geführt hat.
Das sentimentale "At The End Of The Day" fängt die Zeit ein, wenn es abends ruhig im Haus wird, die Hektik des Tages abfällt und man seine Empfindungen ungestört schweifen lassen und über seine Beziehung sinnieren kann.
"Lucius" kann polarisieren. Manche Leute werden finden, dass viele Stücke den Mainstream-Pop neu definieren, andere werden meinen, dass sie den Zustand einer kommerziellen Tauglichkeit und Verwertbarkeit verwalten. Diese Diskrepanz lässt sich auch an anderen Wahrnehmungen festmachen: Die Produktion von "Lucius" kann wohlwollend als klar und durchlässig bezeichnet werden, kritisch betrachtet kann sie aber auch als zu sauber und glatt durchgehen.
Dan Molad geht allerdings sorgsam und vorsichtig mit seinen Arrangement-Ideen um, sodass nie der Eindruck von billiger Effekthascherei entsteht. Und noch ein Punkt, der eine unterschiedliche Bewertung zulässt: Wenn die Sängerinnen ihre Stimmbänder in Schwingungen versetzen, kann man sich an dem perfekten Gesang berauschen, man kann ihn aber auch für zu poliert halten.
Wer sich von der Perfektion des Sounds abschrecken lässt, verpasst allerdings eindeutig die authentischen Bemühungen von Lucius, die Sinne angenehm und kompetent zu betören: Die Musik ist eine Wohltat für angespannte Nerven in gestressten Situationen. Die Songs besitzen etliche clevere Haken und Ösen, sind oft radiotauglich und verströmen meistens innige Wärme und/oder knisternde Leidenschaft. Genau das erwartet man doch von beständiger, anmutiger Pop-Musik!