Noch eine "Best Of"-Zusammenstellung von Everything But The Girl. Ist das wirklich notwendig?
Tracey Thorn und Ben Watt kamen 1982 aufgrund einer Anfrage zusammen, die Watt ans "Schwarze Brett" der Universität in Hull (England) hing, weil er eine Band gründen wollte. Als sich Tracey Thorn daraufhin meldete, wurde schnell klar, dass sie bezüglich ihrer musikalischen Vorstellungen und auch menschlich gut zusammenpassten. Die beiden waren vorher schon durch musikalische Aktivitäten aufgefallen: Tracey Thorn hauptsächlich als Mitglied der Marine Girls und Ben Watt durch Solo-Singles. Und nun suchten sie nach einer gemeinsamen Identität. Dazu musste ein origineller Name her. Im Fenster eines Möbelgeschäftes sahen sie eine Tafel, auf der der Slogan "Für ihre Schlafzimmerbedürfnisse verkaufen wir ihnen alles, außer das passende Mädchen" stand. Von diesem Spruch wurde die Bezeichnung "Everything But The Girl" abgeleitet.
Zwischen ihrer ersten Single "Night And Day" von 1982 und dem neuen "Best Of..."-Album liegen bereits 43 Jahre, in denen ihre Popularität ständig zunahm. Neben der Veröffentlichung von elf Studio-Alben heimsten sie etliche Auszeichnungen ein, bestritten einige Gastauftritte, schrieben in dieser Zeit auch Bücher und nahmen Solo-Platten auf. Inzwischen gibt es diverse Song-Zusammenstellungen aus dem reichhaltigen Repertoire. Darunter sind welche, die aus beliebten oder wichtigen, Label-übergreifenden Tracks bestehen. Darüber hinaus gibt es Auflistungen von Singles, Akustik-Versionen, Remix-Aufträgen oder Konzertmitschnitten.
Bei der am 14. November 2025 erscheinenden Ausgabe handelt es sich um sechzehn Stücke, die alle Hits des Duos aus den letzten 40 Jahren präsentieren. Die Lieder wurden nicht chronologisch angeordnet, sondern folgen einem von dem Paar gewünschten Flow: "Wir mochten immer Alben, die eine schnelle Seite und eine langsame Seite hatten, also dachten wir, wir würden mit den Knallern beginnen und uns mit den Balladen entspannen", meint Tracey Thorn. Und Ben Watt ergänzt: "Es lässt das Album auch in der Zeit rückwärts laufen. Es vermittelt ein Gefühl vom Club zurück zum Bett, eine Reise, die sich für uns sehr real anfühlt. Und am Ende kombinieren wir die moderne Variante ("Run A Red Light") mit dem Sound, mit dem wir begonnen haben ("Night And Day")."
Die 2025er-Aufbereitung der Karriere beginnt mit dem weltweiten Hit "Missing", im Original vom Album "Amplified Heart" aus 1994. Die Entstehung des Songs hatte einen ernsten Hintergrund, denn Ben Watt litt ab 1991 an den lebensbedrohlichen Folgen einer Autoimmunerkrankung. Der Song ist ein Ausdruck für das Gefühl des möglichen Verlustes eines liebgewordenen Menschen ("Und ich vermisse Dich. Wie die Wüsten den Regen vermissen.") Zunächst erlangte der Track keine besondere Aufmerksamkeit. Erst, als der New Yorker DJ Todd Terry im Auftrag von Ben Watt 1995 einen tanzbaren Remix erstellte, kam der kommerzielle Erfolg ins Rollen. Diese Version ist Bestandteil der vorliegenden Compilation.
Fünf Jahre später zog sich das Ehepaar aus dem Rampenlicht zurück, um gemeinsam die Kinder großzuziehen. Die Single "Nothing Left To Lose" aus "Fuse" von 2023 war dann ein unerwartetes, willkommenes Lebenszeichen. "Lost & Found: Musik ohne Grenzen" schrieb damals über "Nothing Left To Lose": "Pulsierende, hektische, mächtige, kantige TripHop-Takte scheinen den Track fest im Griff zu haben. Tracey Thorn vermag es jedoch, mit ihrem entschlossenen, Respekt fordernden Gesang - der allerdings nicht frei von zweifelnden Schwingungen ist - die Kraft der Bässe im Zaum zu halten. Pumpende und gegenläufig flirrend-zischende Töne zeigen einen Verlust an Sicherheit und Selbstbeherrschung deutlich an: "Ich brauche eine dickere Haut. Dieser Schmerz dringt immer wieder ein", lautet eine Momentaufnahme voller nüchterner, bedrückender Selbsterkenntnis. Menschliche Emotionen triumphieren aber am Ende dennoch über harsche Maschinen-Klänge."
Der durch monotone, Sound-bestimmende Rhythmus-Takte auffallende Electronic-Dance-Music-Track "Tracey In My Room (Lazy Dog Bootleg Vocal Mix)" stammt ursprünglich von der 1996er-Song-Kollektion "Like The Deserts Miss The Rain". Er ist fast fünfeinhalb Minuten lang, hat jedoch zu wenig Substanz, um über die gesamte Laufzeit hinweg beständig die Spannung aufrechtzuerhalten. Die Einbindung von hypnotischen, ständig wiederholten Minimal-Art-Sequenzen kann in einem Groove-Umfeld zu tranceartigen Zuständen oder einer akustischen Sog-Wirkung führen. Wie zum Beispiel bei "Razor" von Fat Freddy`s Drop. Das ist bei "Tracey In My Room", einem Mash-Up von "Wrong" aus dem Album "Walking Wounded" und "Come Into My Room" von Soul Vision, nicht gelungen.
"Walking Wounded" wurde vom gleichnamigen Album aus 1996 übernommen und besteht im Wesentlichen aus drei Komponenten: nervöse, schnarrende, klopfende elektronische Percussion-Parts, flirrend schwebende Töne aus dem Synthesizer, die nach Geigen klingen, und einem nach Fassung ringenden Gesang von Tracey Thorn. Sie bemüht sich um Beherrschung, aber quälende Gedanken lassen sich nicht auf Dauer unterdrücken. Die Sound-Erfahrungen, die Tracey 1994 bei ihrer Zusammenarbeit mit Massive Attack unter anderem für "Protection" sammeln durfte, kamen ihr für "Walking Wounded" zugute, da das Stück den melancholischen Gesang mit zappeligen TripHop-Rhythmus-Anleihen verbindet.
"Single" stammt auch vom Album "Walking Wounded" und verfolgt ein ähnliches Konzept wie der Titel-Track. Wobei die Taktfrequenz hier nicht so hoch ist und Tracey sowohl liebliche Verletzlichkeit als auch kühle Eleganz zum Ausdruck bringt. Der Song erhält dadurch eine hintersinnig-balladeske Ausprägung, die perfekt zum Thema "schwierige Beziehungslage" passt ("Magst Du es, Single zu sein? Willst Du mich zurück? Mag ich es, Single zu sein, komme ich zurück?").
"Corcovado", das 1960 von Antônio Carlos Jobim geschrieben wurde, läutet die Bossa Nova-Verehrung des Paares - die schon auf ihren Frühwerken zu erkennen war - ein. Und wie es oft bei diesem brasilianischen Musikstil üblich ist, konkurriert auch hier die Verbindung von traurigem Gesang mit einem munter wirbelnden Rhythmus um die Gunst der Hörerschaft. Der Titel wurde bisher auf der AIDS-Hilfe-Compilation "Red Hot + Rio" im Jahr 1996, auf dem 2002er-Sampler "Like The Deserts Miss The Rain" und der Deluxe-Edition von "Walking Wounded" im Jahr 2015 untergebracht.
"Before Today", der Opener von "Walking Wounded", setzt auch auf die herausfordernde Wirkung von Kontrasten: Sehnsüchtiger Gesang und geheimnisvoll wallende Keyboard-Akkorde werden mit einem elektronischen Drum & Bass-Gewitter gepaart und lassen bizarr-abwegige Klangmuster entstehen.
"No Difference" vom 2015er-Werk "Temperamental" ist dann der erste Track dieses Karriereüberblicks, bei dem der Beat nicht ein hervorstechendes Element eines Songs ist. Stattdessen sorgt die im Hintergrund eingesetzte, gestopfte Trompete neben Traceys Stimme für innige, beseelte Schwingungen.
Für "Driving", das auf "The Language Of Life" aus 1990 zu finden ist, wurden einige Stars der US-Fusion-Jazz-Szene engagiert. Wie zum Beispiel Michael Brecker am Tenorsaxophon, der Schlagzeuger Omar Hakim, Larry Williams an den Keyboards und der Gitarrist Michael Landau. Die Produktion übernahm Tommy LiPuma, der für seine makellosen Produkte bekannt ist. Er war unter anderem auch für Randy Newman, Miles Davis und Paul McCartney tätig. "Driving" betätigt sich als Sammelstelle für Erinnerungen an markante Sounds aus den 1980er Jahren. So lässt ein vokales Hecheln an "O Superman" von Laurie Anderson denken und die geschmeidigen, federnden Rhythmen sowie die zarte Blue-Eyed-Soul-Melodie hören sich nach Scritti Politti an.
Das am raumfüllend-akzentuierten Orchestersound von Gil Evans und der bezaubernden, verführerisch beweglichen Bossa Nova geschulte "Each And Every One" befindet sich auf der Platte "Eden" aus 1984. Der Song ist ein Traum an Eleganz, Sinnlichkeit und intelligenter Melodieführung. Warum er allerdings nach unter drei Minuten ausgeblendet wird, bleibt ein Rätsel und ist eine Schande. Was sich textlich oberflächlich betrachtet nach einer Liebeskrise anhört, beinhaltet in Wirklichkeit scharfe Kritik am Musikjournalismus: ""Each And Every One" war als wütende Lyrik darüber gedacht, eine Musikerin zu sein, die von männlichen Musikkritikern bevormundet und übersehen wurde," macht Tracey Thorn klar.
Mit "Rollercoaster" vom achten Studioalbum "Amplified Heart" aus 1994 bleiben Tracey und Ben dem locker-sonnigen karibischen Soundbereich verbunden, obwohl es inhaltlich um Gefühls-Konfusion geht ("Und mein Leben ist sowieso nur ein Abbild einer Achterbahn"). Thorn & Watt stützen sich als Gegengewicht zur "gespielten" Leichtigkeit auf ernsthafte Folk-Traditionen und lassen durch einen grummelnden Kontrabass noch trüb-verwaschen swingendes Jazz-Feeling einfließen. Folk-Jazz der Extraklasse!
Leider hat Danny Whitten, der erste Gitarrist von Neil Youngs Crazy Horse, die Beliebtheit seiner Komposition "I Don't Want To Talk About It" nicht mehr erlebt. Die gefühlvolle Ballade wurde nämlich nicht nur 1988 von Rod Stewart, sondern im selben Jahr auch von Everything But The Girl interpretiert. Die Single erreichte Platz 3 der UK-Charts. Aufgrund seiner sehnsüchtig-intimen Beschaffenheit kann die Übersetzung der Komposition leicht in einen rührselig-schmalzigen Bereich abgleiten, worauf sowohl Stewart als auch Thorn & Watt eingestiegen sind. Die Referenz-Version bleibt aus diesem Grund das intim-dunkle Original von Crazy Horse.
Bei der Übernahme von "The Only Living Boy In New York" von Simon & Garfunkel haben Everything But The Girl 1993 auf einer EP ein glücklicheres und belastbareres Händchen bewiesen. Diese Variante ist zwar nicht weit weg vom Ursprung, verzichtet aber darauf, mit krampfhafter Übertreibung jedem gefallen zu wollen und deshalb austauschbar, zahnlos und beliebig zu werden. Dies ist der einzige Song auf dem vorliegenden Tonträger, bei dem der Gesang von Ben Watt gewichtiger als der von Tracey Thorn ist.
"Cross My Heart" ist dem vierten Studio-Werk "Baby, The Stars Shine Bright" entnommen. Die Ballade beginnt damit, es sich auf einem schönen, zart gesponnenen Untergrund bequem zu machen. Diese zunächst wohltuende Sensibilität wird aber im Verlauf von weichgespülten Streichertönen erstickt.
"Run A Red Light" gleicht dieses emotionale Ungleichgewicht dann durch Raffinesse, kunstvolle Arrangements und Eigenständigkeit wieder aus. "Diesen Song habe ich für den Typen am Ende der Nacht geschrieben, der davon träumt, dass sein großer Moment nur noch einen Augenblick entfernt ist. All die Vorsätze und Prahlereien verschleiern seine Verletzlichkeit", ergänzt Ben Watt. Das Stück ist ein Highlight dieser Liedersammlung!
Cole Porters "Night And Day" von 1934 war in dieser sparsam instrumentierten Bossa-Nova-Variante 1982 der Beginn des öffentlichen Tonträgerauftritts von Everything But The Girl und hat aufgrund seiner luftig-prickelnden Färbung über die Jahre nichts von seinem Charme eingebüßt.
Tracey Thorn wurde 1962 in dem Dorf Brookmans Park in der Grafschaft Hertfordshire im Osten Englands als jüngstes von drei Kindern geboren. Erste musikalische Erfahrungen sammelte sie von 1979 bis 1980 in der Punk-Pop-Band Stern Bops als Gitarristin und Sängerin. Anschließend gründete sie die Post-Punk-Girl-Formation Marine Girls, die bis zu ihrer Auflösung im Jahr 1983 zwei Alben und drei Singles veröffentlichte. Ab 1982 kamen bis 2018 noch fünf Solo-Alben und natürlich die gemeinsamen Aktivitäten mit Ben Watt hinzu. Parallel zur Musik studierte sie nacheinander Englisch und Kunst und schloss beide Studiengänge erfolgreich ab. Auf literarischem Gebiet veröffentlichte sie vier Bücher und schrieb für das politische Kultur-Magazin "New Statesman" von 2014 bis 2025 (mit Unterbrechungen) die Kolumne "Off The Record". Traceys oft unaufgeregter Gesang zeichnet sich durch Klarheit und Ausdruckskraft aus. Sie protzt nicht mit der Beherrschung von vielen Oktaven, sondern überzeugt durch authentische Emotionalität.
Ben Watt stammt aus London, wo er 1962 in ein künstlerisch veranlagtes Elternhaus hineingeboren wurde. Sein Vater war der schottische Jazz-Bandleader und Arrangeur Tommy Watt und seine Mutter Romany Bain war als Journalistin tätig. Am Beginn seiner musikalischen Laufbahn hatte Ben prominente Unterstützung: Seine Debüt-Single "Chant" aus 1981 wurde vom Folk-Rock-Rebellen Kevin Coyne produziert und bei der EP "Summer Into Winter", die 1982 erschien, war Robert Wyatt beim Hintergrundgesang und am Piano zu hören. 1983 folgte sein Solo-Album "North Marine Drive", bevor Everything But The Girl sein Hauptbetätigungsfeld wurde. Weitere Standbeine waren ab 1998 seine Aktivitäten als Deep-House-DJ und seine Remix-Jobs für unter anderem Sade oder Meshell Ndegeocello. 2003 gründete er das House- und Techno-Label "Buzzin` Fly Records". 2007 folgte "Strange Feeling Records", das sich um alternative Pop-Musik aus aller Welt kümmerte und auch Tracey Thorns Werke ab 2010 (wie z.B. "Record" von 2018) beherbergte. Ergänzend dazu gibt es seit 2014 "Unmade Road", unter dessen Schirm Ben Watt seine eigenen Werke "Hendra" (2014), "Fever Dream" (2016), "Storm Damage" (2020) und dessen Begleit-6-Track-EP "Storm Shelter" (2021) herausbrachte. Beschäftigungen als Radio-Moderator und Autor zweier Bücher umrahmen den Umfang seiner Interessen. Er hat es außerdem geschafft, sein Engagement für elektronische Tanzmusik und seine Folk-Jazz-Singer-Songwriter-Fähigkeiten so zu bündeln, dass attraktive Songs dabei herauskamen, welche beide Fan-Lager zufriedenstellen können. Es ist beeindruckend, wie viele kreative, qualitativ hochwertige Aktivitäten Tracey & Ben zwischen und neben ihren Partner- und Elternpflichten realisieren konnten.
Die "Best of"-Platten "Home Movies" (1993) und "The Platinum Collection" (2006) haben genau wie der aktuelle Schaffens-Überblick jeweils 16 Stücke im Köcher und sind hinsichtlich der Vermittlung des Talentes von Tracey & Ben nicht besser oder schlechter als der neueste Überblick, der allerdings aufgrund der größeren Auswahlmöglichkeiten stilistisch breiter gefächert ist. Wer also schon eine Werkschau des Duos besitzt oder als Fan die regulären Studio-Alben sein Eigen nennt, braucht die 2025er "Best Of"-Ausgabe nicht unbedingt. Wer Everything But The Girl allerdings nicht kennt, bekommt hiermit einen sinnvollen Einstieg. Denn die Musik von Tracey Thorn & Ben Watt hat - egal wie man es dreht - ob als Duo oder Solo - etliche bezaubernde Momente zu bieten und sollte in keiner Plattensammlung fehlen.