Die vollständig Ausgereifte.
Isabella Sophie Tweddle, die sich den Künstlernamen Billie Marten zugelegt hat, ist anscheinend für ein öffentliches Dasein geboren worden. Schon mit neun Jahren unterhielt sie einen YouTube-Kanal und nun, mit 26, veröffentlicht die Musikerin aus North Yorkshire am 18. Juli 2025 bereits ihr fünftes Album. Von gequälter Einfallslosigkeit oder gelangweilter Routine zeigt es keine Spuren - ganz im Gegenteil, es strotzt nur so vor Ideen, einer leidenschaftlichen Überzeugung vom eigenen Talent und vor hochklassigen Songs. Billie Marten geht bei der Realisierung souverän und empathisch zugleich vor. Sie zeigt sich kreativ und ist offen für jede Form von originellen Vorhaben. Ihre Ausstrahlung wirkt ausgeglichen, wie in einer perfekten Work-Life-Balance, die den Geist befreit und beflügelt, was durch die anregend-angenehme Musik unterstrichen wird. Das Ergebnis ist vollendet ausgereifter Art-Pop auf hohem Niveau!
Alle Aktionen scheinen gut durchdacht zu sein, denn sie sind sinnvoll. Das fängt schon beim gewählten Albumtitel an: Wenn Billie Marten ein gutes Buch liest, dann versieht sie es mit Bemerkungen, unterstreicht wichtige Sätze und markiert markante Seiten mit einem "Eselsohr" (= "Dog Ear"). So wird es zu einem Teil von ihr und erzeugt eine heimliche Verbindung mit den Autoren.
Der eröffnende Gitarren-Part ist außerirdisch schön und hört sich gleichzeitig entzückend und aufregend an. Dieses Intro-Detail hört sich flirrend, sirrend und weich-metallisch an. Die Quelle dieser Schwingungen ist schwer zu identifizieren. Man kann nicht klar erkennen, ob die Töne elektronisch oder akustisch erzeugt wurden. Zuständig für diesen Effekt ist Núria Graham, eine katalanische Musikerin aus Barcelona. Daneben hüpfen die Keyboard-Akkorde und Rhythmus-Erfindungen von "Feeling" - dem ersten von zehn Tracks - vor Vergnügen. Billie Marten zeigt sich hingegen verschlossen, gesanglich gelassen, nachdenklich und zurückhaltend. Kann ein Song denn attraktiver aufgebaut sein als mit solch knisternden Kontrasten? Eine Pedal-Steel-Gitarre übt sich im Verbreiten von sphärischen Country-Schwingungen, das Piano sprudelt und tropft glasklare Noten heraus und die Percussion erzeugt lateinamerikanische Komplexität. Verblüffende Tempo- und Dynamikwechsel sorgen dann noch für eine aufsehenerregende Würze. Vortrefflich! Das Stück entstand aus der Erkenntnis heraus, dass sich Billie weit in ihre Vergangenheit hinein zurückerinnern kann. So kamen Erinnerungen an einen gemusterten Teppich ihrer Großmutter hervor, der ihr in Kindertagen als Straßenvorlage für Spielzeugautos diente. Außerdem erinnert sie sich an das wohltuende Gefühl, welches von großen, warmen Händen ausging. Dies wiederum löst bei ihr eine Vorstellung daran aus, dass "das Alter zwar noch weit weg ist, aber man weiß, dass es unausweichlich kommt und dass man sich unaufhaltsam auf dem Weg dorthin befindet."
Sie sind Schwestern im Geiste: Billie Marten und Laura Marling. Jedenfalls klingt "Crown" so, als könnte das Lied aus einer Zusammenarbeit der beiden Ausnahme-Musikerinnen resultieren. Zumindest ähneln sie sich (nicht nur) hier gesanglich. Diese Konstellation einer swingend-perkussiven Basis, welche von leichten, entspannten Gesangslinien verwirrt und verwöhnt wird, mögen beide jedenfalls auch gerne anwenden. "Das Lied handelt von Sehnsucht und davon, zu akzeptieren, wer man ist und was man darstellt", meinte Isabella Sophie Tweddle gegenüber dem CLASH-Magazine.
Nichts auf "Dog Eared" ist gewöhnlich oder hört sich abgedroschen an. Die Ballade "Clover" verarbeitet langsame Polyrhythmen, merkwürdig verzerrte E-Gitarrentöne und glockenhelle, gläserne, künstlich erzeugte Tondichtungen. Die anspruchsvoll gestaltete Melodie scheint sich zwischen Halbschlaf und Erwachen abzuspielen. In dem Stück geht es darum, wie es ist, "sich klein zu fühlen, aber trotzdem groß wirken zu müssen. Es ist eine Anspielung auf Macht und Ungleichheit."
Der zunächst langsam dahinrollende, entfernte Rhythm & Blues-Verwandte, der "No Sudden Changes" heißt, verbreitet die Gemütlichkeit eines Walzers, die lieblich rauschende Sinnlichkeit des Southern-Soul und die Klarheit, die vom Folk-Jazz ausgeht. Zum Ende hin wird es kurz ein wenig energischer und flotter, das Lied bleibt aber galant-übersichtlich und vermittelt weiterhin eine überlegene, warmherzige Präzision. Ein brillanter Genuss!
Elegant, filigran, verträumt und sinnlich-einfühlsam macht sich "The Glass" breit, um die Sinne sanft zu kitzeln und zu betören. Der Track schließt in seiner Beschaffenheit eine eindeutige Kategorisierung komplett aus. Je nach Auffassung und Erfahrungsstand kann er dem Folk-Jazz, dem Art-Pop oder dem Ambient-Country zugeordnet werden. Er wirkt sehr verführerisch, liebenswert und ist von einem vielfältigen Arrangement-Reichtum geprägt, was einen Vergleich mit der Qualität von Aimee-Mann-Songs nicht zu scheuen braucht!
Die Traurigkeit in der Stimme von Billie rührt bei "Leap Year" zu Tränen. Aber geteiltes Leid ist halbes Leid, denn die seufzende E-Gitarre, das tröstende E-Piano und das bedächtige Schlagzeug teilen mit ihrer einfühlsamen Hingabe den Schmerz: "Es geht um zwei Menschen, die nur jedes Schaltjahr wieder zusammenkommen können; sie haben alle vier Jahre einen Tag. Es ist ein Lied über flüchtige Liebe und den Schmerz, den sie mit sich bringen kann", wurde dem CLASH-Magazine verraten.
Nur schleppend, als würden schwere Gewichte an den Noten hängen, kommt der Rhythmus bei "Goodnight Moon" voran. In der zweiten Hälfte schält sich ein Saxophon durch nervöses Hintergrund-Staccato-Tröten, beruhigendes Zischen und sich anschmiegende Sequenzen heraus, bevor das Stück nach einer Weile unerwartet aufhört. Marten erzeugt dadurch ein Loch, in das die Erwartungen an einen sich weiter durch mystische Gebiete schlängelnden Soundtrack plötzlich hineinfallen. Und plötzlich ist man wieder ganz auf sich allein gestellt.
Schwungvoll galoppiert "Planets" durchs All und hinterlässt dabei einen selbstbewussten, auf die Vermittlung von positiver Stimmung konzentrierten Eindruck. Sanfter Gesang, eine lebensbejahende Instrumentierung und eine optimistische Stimmung zeichnen dieses Lied aus. Gute Laune vermitteln geht auch, ohne in Belanglosigkeit zu verfallen.
"You And I Both" spielt sich in entspannten Country-Rock-Gefilden ab. Es wird locker und spielerisch-mühelos, aber durch eine verzerrte E-Gitarre werden auch schroffe Elemente transportiert, die in diesem Zusammenhang die Unvereinbarkeiten des Lebens symbolisieren.
"Swing" hat am Irish-Folk geleckt und vermittelt seine ausgelassene Energie bei dem vergebens um Beherrschung und Ausgewogenheit bemühten Song. "Ich wollte, dass es klingt wie eine Mischung aus den Meat Puppets und den Breeders", lässt Marten "The Line Of Best Fit" wissen. Das ist nicht ganz nachvollziehbar, da die Komposition im Gegensatz zu ihren Paten ganz ohne Aggressionen auskommt.
Für "Dog Eared" kamen ein paar spezifische Entscheidungen zusammen, welche den delikaten Sound hervorrufen und erklären. Die Kompositionen wurden live im Studio eingespielt, wobei die Musiker keine Kopfhörer trugen. Da die zehn Mitspieler die Rohfassungen vorher nicht kannten, entstanden die Instrumenten- und Stimmenanordnungen intuitiv bei den Aufnahme-Sessions. Was dabei herauskam, wurde danach kaum nachbearbeitet.
"Auf dem Album geht es vor allem um Alter, Erfahrung und Relevanz - etwas, das mich seit Beginn meiner Musik beschäftigt. Ich trage viele voreilige Sorgen mit mir herum [...] Ich habe mir die Angewohnheit zugelegt, mir Dinge und Abläufe vorzustellen, bevor sie geschehen. Dadurch habe ich eine Vielzahl von Ängsten aufgebaut." Diese Selbsteinschätzung mag man bei der Musik, die voller Harmonie, Überzeugungskraft und Weisheit steckt, gar nicht glauben. Als Fazit bleibt: Die Klänge auf "Dog Eared" offenbaren eine vollendet ausgereifte Persönlichkeit mit überragendem, anschaulichem, herzergreifendem Talent und das Album ist ein Meisterwerk.