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Van den Budenmeyer
25. November 2021
Old spice still good
Morrissey neues Album I AM NOT A DOG ON A CHAIN ist allen Unkenrufen und schlechten Kritiken zum Trotz eine gute Scheibe! Die Platte ist insgesamt elektronischer als man es von Morrissey erwartet, reiht sich aber gut in sein Gesamtwerk ein. Alle Songs würden klassischer arrangiert auch auf die alten Scheiben passen. Und aufgrund dieser immer noch wunderbaren Stimme klingt alles nach Morrissey. Es ist ein Phänomen, egal wer für seine Texte die Musik komponiert, am Ende klingt immer alles nach Morrissey.
Mit "Jim Jim Falls" geht es los, ein pulsierender, an New Order erinnernder Beat, eine Morrissey-Refrainmelodie, "...if you 're gonna live then live, don't go on about it, if you're gonna kill yourself, then, for God's sake - just kill yourself. " "Bobby, Don't You Think They Know", der überraschendste Song. Morrissey im Duett mit Thelma Houston, eine Soulpop-Nummer und es funktioniert. "What Kind Of People Live In These Houses ", mit countryesker Gitarre und 80er-Reminiszenzen, es fallen einem tatsächlich VIVA HATE und seine alte Band ein. Auch der Titelsong erinnert zu Beginn etwas an Songs wie "Frankly Mr. Shankly ".
In "Once I Saw The River Clean " geht Morrissey mit seiner Grandma spazieren. Der Song klingt für mich irgendwie nach französischem Elektropop, später kommt dann noch eine irische Geige"... a Dublin dancer free and young." hinzu. Lädt zum Tanzen an lauen Sommernächten ein. Im ungewöhnlichen "The Secret Of Music " reimt sich das schöne deutsche Wort Glockenspiel auf "could ever feel." Elf Songs sind auf dem Album, darunter für meinen Geschmack nicht ein schlechter. So mancher Künstler aus Morrisseys Generation könnte sich glücklich schätzen, in den letzten 10 oder 20 Jahren ein solch gutes Werk geschaffen zu haben.
Letztlich ist Musik Geschmackssache, natürlich kann die Musik auf I AM NOT A DOG ON A CHAIN missfallen. Ich habe auch einige negative Rezensionen von Musikjournalisten oder zumindest solchen, die sich vermutlich dafür halten, gelesen. Meist ging es hier nicht um I AM NOT A DOG ON A CHAIN, sondern um die Figur Morrissey oder die dahinter vermutete Privatperson Stephen Patrick Morrissey. Er gehört ja mittlerweile für viele nicht mehr zu den Guten, der Paria vom Dienst. Was von ihm stammt kann ja nur schlecht sein.
Selbstredend kann man seine Äußerungen zu bestimmten Themen kritisieren und Morrissey ablehnen. Wenn man dies im Sinn hat, sollte man aber im Feuilleton einen Artikel über seine Äußerungen schreiben, ihn dann von der Liste der relevanten Personen streichen und ihn fortan mit Missachtung strafen, aber nicht vorgeben, eine Rezension über Morrisseys neues Werk vorzulegen. Und letztlich nach meinem Eindruck vor allem seine eigene Enttäuschung über den Verlust des Helden offenbaren. An Morrisseys ebenfalls kontroverser Kritik am Hause Windsor, Margaret Thatcher, Tony Blair oder seinem militanten Vegetarismus haben sich die Musikjournalisten nach meiner Erinnerung jedenfalls weniger bis gar nicht gestört. Und grundsätzlich stellt sich bei Morrissey ähnlich wie bei Houellebecq immer schon die Frage, was wirklich Meinung ist und was der Provokation dient. Was es im Einzelfall aber auch nicht immer leichter macht.
Wenn eine Rezension wie bspw. im Musikexpress damit anfängt, dass man sich gar nicht mehr über den alten weißen Mann und seine Alter-weißer-Mann-Musik aufregen mag, ist klar, wohin die Reise geht. Eine ernsthafte Bewertung des Albums ist nicht zu erwarten. Was soll Alter-weißer-Mann-Musik überhaupt sein außer einer abgedroschenen Platitude, und wie klingen eigentlich Junge-schwarze-Frauen-Musik, Mittelalter-Camembert-Sinfonien oder Gut-abgehangene-Serrano-Konzeptalben? Too much monkey business.
Wer den Dichter und Musiker Morrissey als Künstler grundsätzlich schätzt und auch offen für Soundveränderungen ist, sollte sich I AM NOT A DOG ON A CHAIN kaufen, es lohnt sich! Ein für mich auf jeden Fall überzeugendes Album.