Zwei Abschnitte, ein Konzept: Justin Vernon komprimiert die aussagekräftigen Klänge von "SABLE, fABLE" zu einem Abbild seines Umbruchs vom Schatten zum Licht.
Justin Vernon aus Wisconsin, der sein künstlerisches Vehikel Bon Iver nennt, konnte sich zu einem Synonym für introvertiertes Liedgut etablieren, das meistens karg instrumentiert, seltsam arrangiert und/oder elektronisch verändert dargeboten wird. Angefangen hat alles im Jahr 2008 mit "For Emma, Forever Ago", einem Werk, das in gerader Linie von Nick Drake oder Elliott Smith hinsichtlich seiner verletzlichen Intimität abstammen könnte. Es wurde jahreszeitlich dem Winter zugeordnet. Das nächste ganze Album, das schlicht "Bon Iver" betitelt wurde, kam aufgeräumt-optimistischer daher. Es sollte den Frühling symbolisieren und Vernon ließ sich drei Jahre Zeit für die Realisierung. Danach gab es weiterhin längere Veröffentlichungspausen zwischen den Alben: "22, A Million" (steht für den Sommer) aus 2016 und "I,I" aus 2019, das den Jahreszyklus mit der Zuordnung zum Herbst vollendet, waren dann wesentlich sperriger und gewagter in der Auffassung, was die teilweise Auflösung von klassischen Songstrukturen anging. "SABLE, fABLE" ist dahingehend wieder versöhnlicher und eingängiger, bleibt aber trotzdem herausfordernd, wenn es um den Umgang mit der Konsumierbarkeit geht.
Die beiden Abschnitte des Albums werden durch die Farbgestaltung und Anordnung der Cover-Motive symbolisiert: "SABLE" markiert eine dunkle, schmerzhaft empfundene Einsamkeit im Leben des Musikers. Diese Phase nimmt den kleineren Teil der Songs ein, was durch ein kleines schwarzes Quadrat in der Mitte dargestellt wird. "fAble" steht für den Zustand des verliebt seins, des Neubeginns und der Freude. Als Zeichen dafür umschließt ein größeres lachsfarbenes Viereck das schwarze Quadrat. Die Liebe überwindet und eliminiert sozusagen die Melancholie.
Ein sirenenartiger Dauerton erklingt zwölf Sekunden lang zu Beginn des "SABLE"-Abschnitts. Direkt darauf folgen glitzernde, nach akustischem Edelmetall klingende Gitarren-Töne und entrückte Ambient-Country-Schallwellen, die allesamt zu "THINGS BEHIND THINGS BEHIND THINGS" gehören. Das Lied wird von einem stoisch klopfenden Rhythmus, der an altertümliches Eisenbahn-Schwellen-Geklapper erinnert, in der Spur gehalten. Diese Stütze fällt später weg, wenn eine akustische Gitarre und die wimmernde Pedal-Steel-Gitarre von Greg Leisz das tröstend-zuversichtliche Outro übernehmen. Vernon betätigt sich gesanglich hier als selbstbewusster, aber dennoch undogmatischer Prediger mit tiefergelegter, warmer Stimme voller suggestiver Ausstrahlung. Das hört sich wie aufmunternder Psycho-Folk an, auch wenn das lyrische Ich voller Zweifel steckt: "Ich habe Angst vor Veränderungen."
Die brillante, räumlich erscheinende Produktion der aktuellen Bon-Iver-Stücke trägt dazu bei, dass sich die Lieder durchlässig, klar und kraftvoll anhören. Das gilt insbesondere für den delikaten, versonnen-ausgeglichenen Country-Folk von SPEYSIDE, dessen bittere Süße leicht perlt, wie Bläschen im Schaumwein. So köstlich und verführerisch können leise gespielte Noten sein, wenn sie virtuos interpretiert und mit Herz und Hirn umgesetzt werden!
Der dritte Titel, "AWARDS SEASON", stellte den Abschluss der schon am 18. Oktober 2024 veröffentlichten EP "SABLE" dar. Der Song hinterlässt über weite Strecken einen kargen Eindruck, denn der im Vordergrund stehende Sprechgesang bekommt über einen längeren Zeitraum nur eine mit intimen Tönen ausgestattete Begleitung verordnet. Diese Konstellation vermittelt den Eindruck einer sakralen Andacht. Wenn dann kurzzeitig eine Stimmung erzeugt wird, die an einen New-Orleans-Jazz-Trauermarsch erinnert, nimmt ein ohnmächtiges Gefühl der Endlichkeit den ganzen Raum ein.
Nach "SABLE" folgen die neun Stücke von "fABLE". Los geht es mit der zweiminütigen "Short Story". Ganz sanft, vorsichtig und schüchtern begeben sich Gospel-Folk-Klänge, die von einem Falsett-Gesang aus natürlichen und manipulierten Klängen begleitet werden, in die Gehörgänge. Es folgen sphärische Töne, die eine himmlische Verheißung anzukündigen scheinen und danach endet der Track mit tuckernden Beats aus dem Computer.
Und diese werden von "Everything Is Peaceful Love" aufgegriffen, weitergeführt und zu belebenden Afro-Folk-Elementen ausgebaut. Elektronische Spielereien bringen dann noch einen futuristischen Schwung mit und die Melodie saugt Southern-Soul und Pop-Facetten auf, was sie strukturell veredelt und erdet. Wenn dann noch eine Pedal-Steel-Gitarre weint, hat das stufenlose Crossover-Experiment endgültig eine einzigartige, vielschichtige und erfüllende Dimension erreicht. Das Lied fängt das übermächtige Gefühl ein, das entsteht, wenn eine überschwängliche Liebe die Welt hell erstrahlen lässt. Oder wie es Vernon ausdrückt: "Die Idee, dass Glück und Freude die höchste Form des Seins sind, dass sie das wahre Fundament des Überlebens bilden."
Es folgt mit "Walk Home" ein Slow-Motion-Soul mit verzögertem Trip-Hop-Rhythmus, der mit elektronischen Stimm-Effekten und klassischen Country-Elementen gespickt ist. Diese hat man sentimental verpackt und sie bilden als Konfrontations-Mix eine sonderbar verdrehte, laszive Paarung ab. "Walk Home" ist "ein leidenschaftlicher Song über den Moment, in dem man sich nicht schnell genug ausziehen kann, um mit der geliebten Person ins Bett zu springen."
"Day One" klingt wie ein Ableger von "Walk Home", bei dem die Rezeptur aus natürlichen und künstlichen Tönen in eine Piano-Ballade transformiert wurde. Das Stück muss sich mit allerlei merkwürdigen Effekten, Sound-Gestaltungen und lebhaft wirbelnden Einspielungen auseinandersetzen und erhält dadurch eine skurrile Ausstrahlung. James Blake lässt grüßen.
"From" hört sich an, als hätten Bruce Springsteen und Isaac Hayes gemeinsam ein Liebeslied geschrieben. Eine erdige Singer-Songwriter-Handschrift trifft sozusagen auf einen mit sehnsüchtigen Stimmen ausgestatteten, unter die Haut kriechenden Smooth-Soul.
"I'll Be There" beinhaltet eine ähnliche Ausrichtung, übermittelt aber darüber hinaus eine verdichtete Südstaaten-Soul-Schwüle, ist also noch lieblich-schmachtender. Oder anders ausgedrückt: Das ist der begehrenswerteste Prince-Song, der nicht von Prince geschrieben wurde.
"If Only I Could Wait" strahlt Zufriedenheit und Freude aus und schickt sonnige, schwärmerische Echos in den Äther. Der Song, der einen sowohl gleichberechtigten als auch markant wahrnehmbaren, stimulierenden Gesang von Danielle Haim enthält, beinhaltet eine von Unsicherheit und Zweifeln erfüllte Kernfrage, die in fast jeder Partnerschaft auftaucht: "Wie lange können wir uns noch aneinander festhalten?" Bon Iver hat sich bis hierher mit den "fABLE"-Songs zu einem ernstzunehmenden, alternativen, Genregrenzen überschreitenden Soul-Act entwickelt.
Mit "There's A Rhythmn" beweist Justin Vernon hervorragende Adult-Pop-Qualitäten. Er inszeniert sich weise und versöhnlich, stellt seine natürliche, freundliche Stimmlage in den Vordergrund, groovt entschleunigt und könnte Wunden heilen, so beruhigend, positiv ablenkend und Sorgen lindernd funktioniert diese Seelen-Balsam-Musik. In dieser beinahe meditativen Stimmung wird über die Frage nachgedacht, inwieweit man sich unvoreingenommen auf eine neue Beziehung einlassen kann.
Bon Iver verabschiedet sich mit "Au Revoir", einer zweiminütigen instrumentalen Space-Sound-Improvisation, die niemandem wehtun möchte und nur auf die Darstellung von spirituell motiviertem Seelenfrieden bedacht ist. Ist dieses Stück "nur" ein stimmiger Abschluss-Track eines im zweiten Abschnitt nach Harmonie strebenden Albums oder die Ankündigung des Endes vom Projekt "Bon Iver" oder eventuell sogar schon der Abschied von der neuen Liebe?
"SABLE, fABLE" zeigt Justin Vernons Weg von der Einsamkeit zur Zweisamkeit auf. Das zweigliedrige Werk ist ein gekonntes Comeback, bei dem der schon an Alben von Kanye West und Taylor Swift beteiligte Musiker einen Überraschungseffekt erzeugen kann, da seine Gospel-Pop-Seite eine hohe Präsenz und Attraktivität erlebt. Obendrein hat er mit "S P E Y S I D E", "Everything Is Peaceful Love", "I`ll Be There", "If Only I Can Wait" und "There's A Rhythmn" einige der schönsten Songs seiner bisherigen Karriere verfasst und aufgenommen.
Justin Vernon setzt seine Stimme mit einem würzigen Ton als Erzähler oder als ein sich in die Höhe schraubendes, vor Leidenschaft berstendes Instrument ein. Oder er lässt sie elektronisch fiepsend ablaufen. Letzteres wirkt überflüssig, denn diese Aktion bringt keinen kompositorischen Mehrwert und dadurch auch keine zusätzlichen Sympathiepunkte ein.
Bon Iver verwendet konkurrierende, sich jedoch schließlich ausgleichende, sich gegenseitig in ihrer subversiven Haltung eliminierende Elemente. Dazu gehören die Paarungen Traurigkeit und beherzte Rhythmik, introvertierter Gesang und kühle Synthesizer-Klänge sowie eine entrückt-reduzierte und eine vollmundig-ausgereifte Instrumentierung. Vernon hat eine große Schar an Gästen zusammengetrommelt, die allerdings nur jeweils punktuell eingesetzt werden, sodass die Arrangements nie überladen, sondern stets organisch gewachsen klingen.
"SABLE, fABLE" hinterlässt trotz des demonstrativ zur Schau gestellten Glücksgefühls einer intensiven Liebesbeziehung dennoch ein widersprüchliches Stimmungsbild eines zerbrechlich wirkenden Menschen. Aber so ist das Leben, wer funktioniert denn schon berechenbar wie ein Uhrwerk?