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    agravain

    Aktiv seit: 25. August 2010
    "Hilfreich"-Bewertungen: 458
    50 Rezensionen
    Symphonie Nr.1 Symphonie Nr.1 (CD)
    25.04.2015
    Booklet:
    4 von 5
    Gesamteindruck:
    3 von 5
    Klang:
    4 von 5
    Künstlerische Qualität:
    3 von 5
    Repertoirewert:
    4 von 5

    Ohne Tiefgang

    Petrenko (2009) – Royal Liverpool Philharmonic Orchestra: 18:41 / 06:55 / 11:48 / 11:28

    Vasily Petrenko wird allenthalben als hervorragener Interpret Shostakowischs gefeiert und das ohne Zweifel zu recht. Seine Einspielungen der Symphonien mit dem Royal Liverpool Philharmonic Orchestra werden hoch gelobt, auch sein Rachmaninow gilt als ausgesprochen gut. Kürzlich ist nun auch seine erste Aufnahme eines Werkes Edward Elgars veröffentlicht worden.

    Doch überzeugend ist das, was Petrenko hier vorlegt nur, wenn man sich einen möglichst rasanten, leidenschaftlichen, knackigen Elgar mit viel Rambozambo wünscht. Man darf nicht auf der Suche nach einer sonderlich „Elgar’schen“ Lesart des Werkes sein, auch wenn es Momente gibt, in denen Petrenko auch diese anpeilt. Doch alles in allem scheint es ihm hier um eine möglichst sportlich-glanzvolle Interpretation zu gehen, wobei sich der Reiz dieses Ansatzes spätestens nach dem zweiten oder dritten Hördurchgang verbraucht und deutlich wird, dass es dieser Interpretation vornehmlich an einem fehlt: an Tiefgang.

    Der Einstieg ins Werk gelingt Petrenko gut. Das Motto wird dezent vorgetragen, ganz „espressivo“ – so wie es Elgar wollte. Die Wiederholung im Fortissimo (Ziffer 3) ist feierlich, klingt aber etwas lärmend. Die Emphase, die Sir Colin Davis mit der Staatskapelle Dresden diesen Takten entlockt, stellt sich nicht ein. Mit sehr viel Schwung stürzt sich Petrenko in das Allegro, immer den Blick auf Rasanz, nach vorne strebender Bewegung und Dramatik gerichtet. Doch letztere kann sich nicht entwickeln, da Petrenko sich nicht auf die immer wiederkehrenden geheimnisvoll abschattierten Passagen, die plötzlich auftauchenden dunklen Momente einlassen kann, die Elgar hier und auch im Finale immer und immer wieder einbaut. Da gelingt nicht nur die Vorstellung des zweiten Themas nicht, sondern auch viele andere Stellen, die Petrenko zwar in der Dynamik zurücknimmt, aber nicht im Tempo. Vergleicht man diesen schon fast mechanisch durchgeschlagenen Puls mit Elgars eigener Aufnahme von 1930, so fällt unmittelbar auf, dass diese Musik auf einen Interpreten angewiesen ist, der Meister des Rubato ist. Petrenko erweist sich hier nicht als ein solcher. Und so mangelt es diesem und auch allen anderen Sätzen an einem: an Farbe. Auch wenn es sich paradox anhört, so kann man sagen, dass es sich um eine monochrome Lesart handelt, die auf Glanz aus ist. Hinzu kommt, dass es im ersten Satz immer wieder Momente gibt, bei denen das Gefühl aufkommt, Petrenko könne nichts mit der Musik anfangen, so beispielsweise ab Ziffer 44 (bis zur Coda): Was für ein Ausbruch – und wie statisch gespielt. Desgleichen der gesamte Schluss des Satzes: kein Atem, kein Zusammenhang. Stattdessen eine Aneinanderreihung von „Stellen“.

    Das Scherzo kommt in Höchstgeschwindigkeit daher und dieser Satz darf das – streckenweise – natürlich auch. Petrenko peitscht das fulminant aufspielende Royal Liverpool Philharmonic Orchestra durch diesen mahleresken Marsch, dem er ohne mit der Wimper zu zucken eine an Schostakowitsch gemahnende Grelle anpinselt. Das kann man durchaus so machen und gut anzuhören ist das auch. Dann aber das Trio. Wieder zeigt Petrenko wenig Sinn für die breite Palette der Elgar’schen Klangfarben, Stimmungen und Stimmungswechsel. Da wird stramm durchmusiziert, wieder kein Geheimnis, kein magischer Moment, kein Kontrast zum so schön herausgearbeiteten plakativen Moment dieses Satzes.

    Von Petrenkos Darstellung des Adagios, einem der schönsten Sätze, die Elgar komponiert hat, kann man enttäuscht sein. Nicht, dass man ernstlich davon sprechen könnte, dass die Wiedergabe misslungen wäre oder das Orchester schlecht spiele. Petrenko gelingt es aber nicht, aus der so herrlich reichhaltigen und gehaltvollen Textur dieses Satzes zu schöpfen, die Musik singen zu lassen (Elgar notiert ja immer wieder: cantabile). Wie einfallslos kommt beispielsweise das zweite Thema (und nicht nur das) daher - ohne einen Hauch von jener Nostalgie und Melancholie, die integraler Bestandteil jeder Musik Elgars sind. Vergeblich sucht man Momente besonderer Intensität (wie sie bspw. um die Ziffern 98, 101 oder 106 zu finden wären), es gibt keine „Ear-opener“, nichts Neues. Tatsächlich kann man den Eindruck gewinnen, dass man diesen Satz beiläufiger kaum musizieren kann.

    Das Finale schließlich bringt keine Überraschungen mehr. Der zwielichtige Beginn kommt ziemlich spannungslos daher, das Allegro ist erneut ganz offenkundig auf wirksames Glanz und Gloria angelegt und Petrenko arbeitet sich mit einem Furor durch die eine von ihm erschlossene Dimension des Satzes, der einem Svetlanov alle Ehre gemacht hätte.

    Wieder fehlt jedoch die Abschattierung, den Sinn für das stetige Spiel mit dem Chiaroschuro, das es auch in diesem Satz gibt. Sonderlich spannend ist das alles nicht, auch nicht am Ende des Satzes, wo Petrenko das „Grandioso poco largamente“ im Tempo noch anzieht, sodass man sich des Gefühls letztendlich nicht so recht erwehren kann, dass es dem Dirigenten weniger um eine ausgereifte Interpretation, eine durchdachte Auseinandersetzung mit Elgar, sondern um das Spektakel ging.

    Dieser Veröffentlichung sollen noch weitere Elgar-Aufnahmen folgen. Man darf gespannt sein.
    The Dream of Gerontius op.38 The Dream of Gerontius op.38 (CD)
    01.04.2015
    Booklet:
    3 von 5
    Gesamteindruck:
    4 von 5
    Klang:
    4 von 5
    Künstlerische Qualität:
    4 von 5
    Repertoirewert:
    4 von 5

    Glühende Interpretation

    Nicht selten hängt die Bewertung einer Aufnahme oder Aufführung eines bedeutenden Werkes klassischer Musik weniger an deren tatsächlicher Qualität, sondern an den Hörgewohnheiten des Bewertenden. Je bekannter das Werk und je gewachsener die Aufführungstradition, desto beschränkter wird bisweilen der Blick auf das vermeintlich Ungewöhnliche. Seit ihrem Erscheinen in den frühen 80er Jahren des 20. Jahrhunderts kann man zu der vorliegenden Aufnahme von Edward Elgar 'The Dream of Gerontius' immer wieder lesen, sie sei 'berühmt-berüchtigt', 'idiosynkratisch', in Teilen geradezu exzentrisch, alles in allem eine Kuriosität. Diese Sicht spiegelt, es wird den Leser nicht verwundern, vornehmlich die britische Kritik an dieser Aufnahme wider, gab es andernorts in jenen Jahren ja kaum etwas, das man eine 'Aufführungstradition' des Werkes nennen könnte. Sargent, Barbirolli und Boult hatten bis dato der Welt gezeigt, wie der 'Gerontius' zu spielen sei. Diese Interpretationen waren die Benchmark, so wollte man das Werk hören. No experiments. In dieser Haltung liegt eine mir immer wieder begegnende problematische Beschränkung britischer Musikkritik, wenn es um Musik von der eigenen Scholle geht. Es muss immer alles so sein, wie man es "on the home turf" seit Olims Zeiten gemacht hat. Hörgewohnheiten wollen und müssen bedient werden, Abweichendes kann nicht überzeugend sein. Je mehr Mainstream, desto besser. Versucht man sich aber von dem Ballast des Vorurteils zu lösen und Svetlanovs Einspielung des Werkes so unvoreingenommen wie möglich zu begegnen, dann mag man eventuell konstatieren, dass seine Lesart a) gar nicht so exzentrisch ist und dass es sich b) um eine enorm packende, intensive, leidenschaftliche, ja: glühende Interpretation handelt, die manch eine andere, die ganz traditionell daherkommt ' ich denke da an beispielsweise an Gibson (1976) Rattle (1987) oder Hickox (1988) ' an Ausdrucksstärke weit hinter sich lässt. Das liegt unter anderem daran, dass Svetlanov mit einem anderen Ansatz an das Stück herangeht, es ' ähnlich wie es Sinopoli in seiner kaum fassbaren Interpretation der zweiten Symphonie Elgars tut ' nicht als spezifisch britisches, sondern als Werk der europäischen Spätromantik ausleuchtet und dabei dessen Bezüge zu Wagner, zur Tradition der Grande Opéra, zu Strauss und zur symphonischen Sprache der europäischen Romantik überhaupt offen legt. Das macht die Aufnahme im positivsten Sinne außergewöhnlich, nicht dass hier und da ein Tempo schneller oder langsamer ist als man es üblicherweise kennt.

    Tatsächlich finde ich gerade die oft kritisierten Orchesterpassagen (Preludes zu den beiden Teilen) ausgesprochen gelungen. Zudem empfinde ich die gestalterische Leistung des USSR State Symphony Orchestra, das ja mit diesem Idiom nur wenig Erfahrung hatte, rundum hervorragend. Das Prelude zu Part I, für dessen Gestaltung sich Svetlanov 11:09 Minuten Zeit lässt, finde ich auf seine Weise hervorragend. Sicher, Svetlanov blickt zielsicher an der Notation Viertel = 60 vorbei, aber was für eine Atmosphäre! 'Mistico' - das ist es, was Svetlanov hier liest, und das ist es, was er zum Klingen bringt. Sehr schön gelingt zudem das langsame Wogen des Più mosso ' auch hier hört man am ehesten das von Elgar notierte 'con molto espressione'. Immer wieder sind es die auf den Affekt zielenden Vortragsbezeichnungen, die Svetlanov wichtig zu sein scheinen, das 'Appassionato' oder das mit herrlich großer Geste realisierte 'Con grandezza' bei Ziffer 14. Auch das Vorspiel zu Part II nimmt Svetlanov ' wenn man Erbsen zählt ' 'zu langsam'. Aber auch hier geht es ihm offensichtlich um die Verinnerlichung, um das notierte 'Tranquillo', weniger um das 'Andantino'. Voller Intensität und atmosphärischer Dichte gelingen Svetlanov auch die kurze Orchesterüberleitung zum Haus des Gerichtes (Ziffer 72 'Larghetto'), die in ihrer zwielichtig-uneindeutigen Stimmung enorm spannungsvollen Takte vor der Ankündigung des Urteils (Ziffern 101-102) und der in seiner Unerbittlichkeit und gleißenden Härte erschütternde Moment, in dem die Seele Gerontius' Gott schaut (Ziffern 118-120). Wie man sich an diesem Ausdruck intensivster Auseinandersetzung mit Komposition und Thematik stoßen kann, will sich mir nicht erschließen. Rundum erlebe ich Svetlanovs Arbeit an der Partitur auf ihre Weise als höchst überzeugend.

    Zu den Solisten.

    Arthur Davies, den ich bei Hickox (1988) einigermaßen gesichtslos finde, gefällt mir hier zwar insgesamt besser, aber dennoch spielt er nach meinem Empfinden eher im Mittelfeld der auf Tonträger verfügbaren Interpreten dieser bedeutendsten britischen Tenorpartie vor Peter Grimes. Auf der Haben-Seite ist sicher Davies Stimmmaterial zu verbuchen. Kraftvoll, klar und ohne störende Enge in der Höhe, glänzend im Timbre. Es gibt aber auch eine Downside. Davies ist nicht eben ein subtiler Gestalter. Es stört mich noch nicht einmal so sehr, dass er bis auf ganz wenige Ausnahmen keines der notierten Piani oder Pianissimi singt (beim herrlich gesetzten 'Novissima hora est' klappt's immerhin), sondern einen im Prinzip sehr virilen Sterbenden präsentiert. Es sind auch nicht die zahlreichen Schluchzer und 'coups de glotte'. Es ist die Facettenlosigkeit seiner Textausdeutung, das Fade seiner Interpretation besonders im zweiten Teil, die seine Gesamtdarstellung nach meinem Dafürhalten nicht über das Mittelmaß hinauswachsen lässt. Die Vielfalt der Gemütsregungen des Gerontius bzw. der Seele desselben, die ja seinen gesamten langen Dialog mit dem Engel durchzieht, wird von Davies kaum zum Ausdruck gebracht. Seine Stärke liegt eher im Bereich des Zupackenden, wie seine Wiedergabe der leidenschaftlichen Paradearie 'Sanctus fortis' zeigt. Hier notiert Elgar immer wieder Vortragsbezeichnungen, die zeigen, dass ihm durchaus eine extrovertierte Darstellung vorgeschwebt haben dürfte. So heißt es da immer wieder 'con molto esaltazione', 'agitato', 'risoluto a stringendo molto' oder auch 'disparato'. Es ist jenes Stück im Gesamtzusammenhang, das am unmittelbarsten Elgars Bemerkung, er hätte den Part des Gerontius absichtsvoll mit 'vollblutiger, romantischer ['] Weltlichkeit' gefüllt, in Erinnerung ruft und das am ehesten Bühnenqualität hat. Und hier ist Davies hervorragend. Es ist die Extraversion, die ihm liegt. Die Innenschau liegt ihm nicht. Doch ist es eben die Fähigkeit zu beidem, was einen ausgezeichneten Interpreten dieser Rolle auszeichnet. Davies bringt sie hier (und auch bei Hickox) nicht mit.

    Ganz anders Felicity Palmer, die ich für eine ideale Interpretin Elgar'scher Mezzo-Partien halte (speziell ihre Interpretation der 'Sea Pictures' beispielsweise ist in meinen Augen unerreicht). Nicht nur, dass mich auch hier ihre warme, volle, aber nicht dicke, in der Höhe strahlende und im tiefen Register dunkle Stimme sofort für sich einnimmt. Es sind speziell ihre enorm am Text orientierte Darstellung, die geradezu exzeptionelle Arbeit am Text und die Fähigkeit kleinste Ausdrucksnuancen und 'schattierungen vollkommen schlüssig und ungezwungen umzusetzen, die mich immer wieder aufs Neue begeistern. Selten habe ich solche Stellen wie 'A presage falls upon thee as a ray' lichter, die die Dämonen beschreibenden Worte 'Hungry and wild to claim their property' gruseliger, die Ankündigung 'Yes, for one moment thou shalt see thy Lord' ehrfurchtsvoller, 'Thy judgement is near' düsterer oder den Beschluss des Werkes ('Softly and gently') wärmer, gütiger, ja im besten Sinne mütterlicher gehört. Anders ja, überzeugender nicht.

    Norman Bailey präsentiert einen würdigen Priester, wobei er sich bei dem 'Profiscere, anima Christiana' zunächst doch etwas zu sehr auf die wotaneske Größe seiner Stimme baut. Da erlebt der Hörer zunächst ein Fortissimo am Rand des Brüllens. Doch schaltet Bailey schnell etwas herunter und versucht diese kleine Partie zumindest etwas zu gestalten. Besser gefällt sein Angel of the Agony, den er mit großer Intensität als schon fast verzweifelt Flehenden präsentiert.

    Der London Symphony Chorus wurde von Richard Hickox tadellos einstudiert. Sicher, bisweilen klingen die Chöre etwas mulmig, dies scheint aber im Wesentlichen den Aufnahmebedingungen geschuldet zu sein. Insgesamt wird tadellos gestaltet. Das 'Kyrie/'Holy Mary, pray for him' klingt wunderbar entrückt, die 'Be merciful'-Passage voll zurückhaltender Ehrfurcht. Dem Bittgesang 'Noe from the waters' indes fehlt vielleicht etwas das Ätherische. Packend und voller Klangkraft gelingt das 'Finale' des ersten Teiles 'Go, in the name of Angels and Archangels'. Hier offenbart sich erstmals die gesamte enorme dynamische Bandbreite des großen Ensembles, die wirklich beeindruckend ist. Hat man zunächst das Gefühl von einem regelrechten Sturm der Festlichkeit hinweggefegt zu werden, so säuseln die letzten verklärenden Takte ('May thy dwelling be the Holy Mount of Sion') ätherisch-licht an der Grenze des Unhörbaren. Wie eindrucksvoll mag das wohl dereinst live im Großen Saal des Moskauer Konservatoriums geklungen haben? Enorm ausdrucksstark gelingt auch der von Svetlanov mit maximalem Biss genommene, ja beinahe gewalttätig daherkommende Dämonenchor. Schlicht exemplarisch gelingt dem LSC die Gestaltung. Nachgerade ätzend werden die Textzeilen 'Each forfeit crown / To psalmdroners, / And canting groaners, / To ev'ry slave, / And pious cheat, /And crawling knave' heraus- und dem Hörer geradezu ins Gesicht gespuckt. Grässlicher kann man das wilde Gelächter der höllischen Kreaturen kaum herausschreien, sinnvoller einer Überzeichnung nicht einsetzen. Der Chorsatz 'Praise to the Holiest', bei dessen Einsatz sich Chor und Orchester schon am Rande des Bombastes bewegen, gelingt in seiner Gänze ebenso wie der sanft-melancholische Schluss.

    Insgesamt eine Aufnahme, an der man, wenn man sich für das Werk interessiert, nicht vorbeigehen sollte.

    Das Booklet bietet einen lesenswerten Einführungstext von Elena Kuznetsova in russischer, englischer und französischer Sprache. Das Libretto ist nicht enthalten.
    Symphonie Nr.1 Symphonie Nr.1 (SACD)
    25.08.2014
    Booklet:
    5 von 5
    Gesamteindruck:
    2 von 5
    Klang:
    5 von 5
    Künstlerische Qualität:
    2 von 5
    Repertoirewert:
    5 von 5

    Vertane Chance

    Oramo (2012) – Royal Stockholm Philharmonic Orchestra: 19:24 / 08:15 / 11:55 / 12:24

    Nachdem Sakari Oramo und das Royal Stockholm Philharmonic Orchestra im vergangenen Jahr eine zwar hörenswerte, mir persönlich insgesamt etwas zu glatte Einspielung von Elgars zweiter Symphonie vorgelegt haben, so folgte nun die Veröffentlichung der ersten Symphonie, die im Mai 2012 aufgezeichnet wurde.

    Das interpretatorische Konzept, das Oramo für die zweite Symphonie entwickelt hat, wird hier weitgehend übernommen. Der Hörer begegnet einem höchst agil musizierten Elgar, einer Lesart, die versucht, der Unmenge an Artikulationsvorgaben Elgars gerecht zu werden, die sehr rhythmusbetont daherkommt und sich klanglich nicht selten an Norringtons schlackenfreier Herangehensweise zu orientieren scheint. Und doch will sie mir nicht so recht gefallen.

    Bereits der Anfang, also die Vorstellung des „Mottos“, zieht mich nicht – wie etwa bei Colin Davis – in seinen Bann. Das „ideale Thema“ wird vollkommen glatt, ohne ein Fünkchen Vibrato, im Piano vorgestellt. Das kann man mögen, besonders wenn die Wiederholung im Fortefortissimo einen deutlichen Kontrast dazu darstellt. Dazu kommt es aber nicht. Sicher, das Thema erklingt nun laut, aber es ist nur eine Wiederholung, die eigentliche Stimmung, die Atmosphäre verändert sich nicht, zumal dem Fortefortissimo etwas die Emphase fehlt. Nach meinem Dafürhalten geht es in diesem Moment um eine Überwältigung durch Klang, die sich hier nicht so recht einstellt. Schwungvoll und sehr federnd geht es in die Exposition. Hier und dann auch in der Durchführung fehlt mir die Leidenschaftlichkeit des Musizierens und die Leidenschaftlichkeit des Gestaltens. Oramo brennt nicht für Elgar, er liefert eine wohldurchdachte Analyse, sodass das Ganze auf mich einen sehr kopflastigen Eindruck macht. Hinzu kommt, dass sich Oramo ziemlich stramm durch den Satz arbeitet und es dabei übersieht, das Changieren zwischen Hell und Dunkel, das diese Musik durchzieht, prägnant herauszustellen. Man kann ja bisweilen lesen, Elgars Musik sei nichts als ein großes „Pomp and Circumstance“. Sieht man von der Eindimensionalität solcher Aussagen ab, so kann man hier begreifen, wie es überhaupt zu einer solch abwegigen Bewertung kommen kann. Oramo schafft es nicht, den Farbenreichtum dieser Musik, der durchaus vorhanden ist, aus ihr herauszulocken. Wo ist das Geheimnisvolle, das Gefährliche, das Träumerische, das den Satz durchzieht, wo die von anderen Dirigenten und Elgar selbst so hervorragend gestalteten atmosphärischen Übergänge und Veränderungen? Oramo sieht nur das nach vorn drängende Element, den Biss, das Virtuose. Zudem gibt es sowohl in der Durchführung als auch insbesondere in Reprise und Coda Momente, denen vollkommen der Bogen abgeht, wo es nach Stückwerk klingt. Ich bin der Meinung, das man das Mosaikartige der Elgar’schen Kompositionstechnik natürlich herausarbeiten muss. Doch bleibt diese Musik immer irgendwie sanglich. Und das darf nicht – wie hier – verloren gehen.

    Den Beginn des zweiten Satzes finde ich gelungen. Oramo ist hier in seinem Element und lässt entsprechend knackig aufspielen. Der Marsch kommt mit ordentlicher Wucht daher, die Mahler-Nähe dieser Takte ist schön herausgestellt. Das erste Trio („wie etwas, das man unten am Fluss hört“) klingt sehr nach Mendelssohn’schen Elflein, es ist wie ein Lichtstrahl aus der deutschen Frühromantik, der plötzlich hier hineinfällt. Das zweite Trio bremst Oramo dann aus mir unerfindlichen Gründen aus. Da klingt es auf einmal recht schwerfällig und besonders gegen Ende recht erdenschwer. Der Wechsel der Atmosphäre (ab Ziffer 87) gelingt dann wieder nicht so recht, der dunkel-unklare Ton der zum Adagio überleitenden Takte stellt sich nicht wirklich ein.

    Plötzlich befindet sich der Hörer nun im Adagio, ohne dass er weiß, warum. Eigentlich geht dieser Satz unmittelbar aus dem an sich immensen Spannungsaufbau der ersten Sätze hervor und dient als Moment des (nicht unangefochtenen) Innehaltens vor dem erneut kämpferischen Finale. Da aber Oramo bis zu diesem Moment nur wenig Gesamtspannung aufgebaut hat, kann der Satz seine Wirkung nach meinem Dafürhalten nicht so recht entfalten. Hinzu kommt eine einigermaßen nüchterne Herangehensweise an den Satz. Ich wünsche mir das anders. So fehlt mir durchweg – gleich bei Ziffer 93 (Aufbau zum ersten Forte) kann man das gut hören – Sinn für Linie, Bogen, große Geste. „Cantabile“, „espressivo“, „molto espressivo“ soll es immer wieder sein. Doch ein so recht süffiges Aufblühen dieser herrlichen Musik erlebe ich hier nicht. Auch die Vorstellung des so emotionalen zweiten Themas bleibt trocken. Erst die letzten Takte, so etwa ab Ziffer 104 (Molto espressivo e sostenuto), klingen nach Elgar.

    Das Finale beginnt einigermaßen langsam. Besonders die Staccati der Fagotte und Celli sind ziemlich schwer genommen. Und doch wirkt dieser Anfang, der besonders Elgar selbst so ausgesprochen gut und atmosphärisch dicht gelingt, einigermaßen nichtssagend. Doch kaum steht ein „risoluto“ in der Partitur (Beginn der Exposition), schon legt Oramo los. Da wird ein enorm flottes Tempo angeschlagen und rein ins Getümmel. Doch auch im Verlauf dieses ohnehin nicht einfach zu meisternden Satzes gelingt die Gegenüberstellung der unterschiedlichen Stimmungen nicht. Der Satz wird flott, glanzvoll und somit vornehmlich eintönig durchgespielt. Hinzu kommt ein Hang zu einem (gefühlten) Dauerfortissimo, der schlussendlich dazu führt, dass die eigentlich Apotheose des Satzes und der gesamten Symphonie (Wiederauftreten des „idealen Themas“) als solche kaum noch auffällt. Das Pulver ist schon verschossen.

    Zusammenfassend kann ich für mich festhalten, dass Oramos Interpretation der ersten Symphonie keine ist, die mich für das Werk begeistern könnte. Im Gegensatz zur seiner nicht uninteressant musizierten Zweiten, wirkt diese Darstellung auf mich eher eindimensional, desinteressiert, streckenweise schon fast lieblos – gerade so, als hätte man die Erste einspielen müssen, weil man die Zweite schon im Kasten hatte. Eine meiner Meinung nach vertane Chance.
    Symphonie Nr.2 Symphonie Nr.2 (CD)
    10.05.2014
    Booklet:
    2 von 5
    Gesamteindruck:
    2 von 5
    Klang:
    5 von 5
    Künstlerische Qualität:
    2 von 5
    Repertoirewert:
    5 von 5

    Mehr Barenboim als Elgar

    Warum dirigiert Barenboim Elgar? Welches Bild vom Komponisten und seinem Werk will er dem Publikum nahebringen? Vor 40 Jahren hat Barenboim schon einmal Elgar 2 aufgenommen. Schon die ältere Aufnahme lässt mich ratlos zurück. Bei der soeben erschienenen Neuaufnahme ist es nicht anders. Elgars Musik klingt unter seiner Leitung immer irgendwie so, als könne er im Grunde wenig mit ihr anfangen. Hat er im London der 70er Jahre einen Elgar im weichgewaschenen Kitschmodus dirigiert, der bestens als Untermalung zu einer David Hamilton-Schmonzette gespasst hätte, so wird nun stramm durchmusiziert, wobei die mosaikartige Struktur des Elgar'schen Idioms in weiten Teilen ignoriert wird. Nun wieder - wie schon vor 40 Jahren - eine höchst idiosynkratische Herangehensweise an das Werk. Idiosynkrasien schrecken mich nicht zwingend ab, wenn sie etwas erhellen. Doch hier erlebe ich lediglich den starken Wunsch, etwas neu und anders zu machen, dem Werk einen ganz individuellen Stempel aufzudrücken, ohne dass Barenboim es schafft, diesen seinen Elgar aus seinem Inneren nach außen zu transportieren.

    Bereits die Lesart des ersten Satzes will sich mir nicht erschließen. So wird der erste Takt nicht als leicht verzögerter Auftakt, als schwebender Moment vor dem Sprung ins "Allegro vivace" genommen, sondern es geht vom Einsatz an enorm flott los. Das erinnert mich im ersten Moment an Elgars eigene Einspielung aus dem Jahre 1927, die ja ungeheuer schwungvoll daherkommt. Doch bei Barenboim erlebe ich in Folge keinen Schwung, sondern eine Eile, die weniger Lebendigkeit (vivace!) vermittelt als Hektik. Entsprechend musiziert Barenboim scheinbar sorglos über die reichhaltigen Hinweise Elgars zur Artikulation, zur Dynamik und zum Tempo hinweg. Ist Elgar 1927 trotz des hohen Tempos vollkommen Herr der Lage, so entwickelt sich dieser Eindruck in Bezug auf Barenboim nicht so recht. Elgars hohe Kunst ist es ja, seine eigene Musik vollkommen natürlich fließen zu lassen. Er ist ein Meister des Rubato und der schlüssigen Entwicklung eines Gesamtbildes. Barenboim - zumindest hier - nicht. Auf der einen Seite neigt er zum Zuviel, auf der anderen findet sich immer wieder ein Zuwenig. So drosselt Barenboim zwar gegelgentlich das Tempo, dann aber so stark, dass der Fluss der Musik vollkommen zum Erliegen kommt. Das lässt sich schon gut zu Beginn der Durchführung hören (Ziffer 24), die sich kaum zu bewegen scheint, und dann immer wieder, besonders deutlich aber gegen Schluss (und die Ziffer 63 und 64 herum), wo ich das Gefühl habe, Barenboim sei gerade einmal vor die Tür gegangen und das Orchester warte darauf, weiterspielen zu dürfen.
    Zwischendurch – also in der Durchführung selbst - im Wesentlichen nach meinem Dafürhalten Scheiterndes. Die Durchführung lebt doch vom Auftauchen des „malign influence“, vom dezidiert Unheimlichen, das da auf die sprudelnd-leidenschaftliche Musik der Exposition folgt. Doch das Unheimliche stellt sich nicht ein. Statt eine Atmosphäre latenter Bedrohung herauszuarbeiten, lässt Barenboim die Celli das besagte böse Thema lediglich voll des hohlen Pathos schluchzen. Anschließend scheint er sich auf die Gestaltung einzelner Takte zu konzentrieren. Das ist ja an sich auch eine Möglichkeit, könnte man auf diese Weise doch die mosaikartige Kompositionsweise Elgars, wie sie Diana McVeagh beschrieben hat, erhellen. Aber das, was im Kompositionsprozess einzelne Mosaiksteine waren, muss im fertigen Satz wieder zu einem Gesamtbild amalgamiert werden. Und das gelingt Barenboim meines Erachtens nicht. Selten haben ich eine Wiedergabe dieses Satzes gehört, die mir so durch und durch leer vorgekommen ist.

    Im Larghetto geht es im Prinzip so weiter. Nach einem schönen Einstieg und 18 wirklich intensiven Takten scheint der Gestaltungswille verpufft zu sein. Das herrliche Streichermotiv ab 5 nach Ziffer 68 gestaltet Barenboim ohne jeglichen Aufschwung, das anschließende Posaunen-Motiv, das manch ein anderer Interpret wie einen düsteren Ruf zum letzten Tag spielen lässt, hier erscheint es ohne jegliches Gewicht. Der Satz ist bei Barenboim durchweg ohne jene Tragik, von der geradezu existenziellen Hoffnungslosigkeit, die beispielsweise Sinopoli hier herausschält, gar nicht zu reden. Es geht so weiter. Bei der Vorstellung des zweiten Themas spielen Violinen und Bratschen scheinbar unbeteiligt nebeneinander her, die große Steigerung ab Ziffer 74, die Boult mit so ungeheurer Sicherheit aufbauen kann und der Sargent einen geradezu unwiderstehlichen Sog verleiht, wirkt auf mich ohne jegliche Motivation, ohne den Blick auf ein Ziel hin. Es überrascht insofern nicht, dass sich bei Ziffer 76 ff ein "Nobilmente" nur mit viel Liebe hören lässt und dass auch die eigentliche Klimax des Satzes bei 86, dort, wo die hohen Streicher gemeinsam im Fortefortissimo, mit Vibrato und eben „molto espressivo“ den letzten glanzvollen Moment des Satzes herausjubeln sollen, bevor der Satz in endgültige Dunkelheit versinkt, verpufft.

    Das Rondo beginnt Barenboim erneut in einem furiosen Tempo. Von dieser Idee abgesehen, kommt dann nicht mehr viel, was mich mit dem bislang Gehörten versöhnen könnte. Denke ich an Solti, an die lärmende Brillanz, die dieser Satz haben kann, an Sargents grandios böse Brachialität in der „Maud“-Passage, an den Furor Swetlanows und an die elegante Agilität Ormaos, so drängt sich mir die Frage auf: Kann man da nicht mehr daraus machen, als den Satz eben schnell zu spielen? Ich meine: Elgar notiert ja Presto. Aber wo ist der packende Zugriff? Wo ist die Spielfreude? Warum klingt das so schwerfällig? Wo ist das Koboldhafte? Wo der spontane Wechsel im Tonfall (z.B. bei 106, Holzbläser)? Wo das „Gehämmer“ (Elgar), das in der besagten Tennyson-Passage alle Musik totschlagen soll? Ich zumindest höre davon nichts.

    Das Finale beginnt Barenboim mit einer schönen, heiter-gelassenen Vorstellung des ersten Themas. Gut klingt das. Doch es ist wie im Larghetto: Nach wenigen Takten fehlt der Biss. Das zweite Thema wird in einer eigentümlich eilig-verschmierten Art eingeführt, dem Richter gewidmeten „Hans himself“-Thema fehlt vollkommen die große Geste, die kraftvolle Größe. Ich will es kurz machen. Der ohnehin nicht ganz leicht zu gestaltende Satz gelingt nach meinem Dafürhalten - aus ähnlichen Gründen wie der erste - nicht. Kein Blick für das große Ganze, eine gewisse Ziellosigkeit des Musizierens, eine streckenweise enorm zählzeitenlastige Artikulation, viel Vertikale, wenig Horizontale, der an sich hymnische Höhepunkt (nach 165) ohne Biss, eine im Tempo enorm zähe überdehnte Coda.

    Mein Fazit? Ich freue mich natürlich über Barenboims Einsatz für Elgar hier in Deutschland. Aber – ich kann es nicht anders sagen – sein Elgar sagt mir nichts. Gar nichts.
    2 Kommentare
    Orgel11
    25.07.2014

    Gekaufte CD edward Elgar (1857 - 1934 )

    Sehr geehrte Damen und Herren,
    diese CD kann ich jeden Kunden empfehlen, welcher gerne Klassik hört. auch das monatliche gelieferte JPC Kurier ist hervorragend wenn
    man etwas über Musik sucht..Geschäftsleitung und Mitarbeiter möchte ich meinen herzlichen dank dafür aussprechen.
    Mit freundlichen Grüßen Werner Matthes
    Klassikfreak
    02.08.2016

    Sehr gut charakterisiert

    Der Rezensent formuliert sehr verständlich und spricht genau das aus, was ich selber über Barenboim als Dirigent denke. Barenboim ist sicher ein besserer Zuhörer als ein Interpret, sicher versteht er die Musik, kann aber als Interpret weder die Details noch das große Ganze adäquat vermitteln.
    Israel in Ägypten (Fassung von Mendelssohn 1833) Israel in Ägypten (Fassung von Mendelssohn 1833) (CD)
    07.04.2014
    Klang:
    3 von 5
    Musik:
    3 von 5

    Leidenschaftslos

    Max (live: 26.09.2011), Rekonstruktion der Aufführung Felix Mendelssohn Bartholdys 1833 in Düsseldorf – Monika Frimmer, Veronika Winter, Heike Grötzinger, Hans Jörg Mammel, Ekkehard Abele, Gregor Finke, Rheinische Kantorei, Das Kleine Konzert [83:00]

    Felix Mendelssohn Bartholdy hat sich viel mit Händel beschäftigt, besonders oft jedoch mit dessen Oratorium „Israel in Egypt“, das er so oft in Deutschland zur Aufführung brachte wie keines der anderen. Der ausführliche Booklet-Text informiert den Hörer ausführlich über die Umstände und Bemühungen, die zur ersten Aufführung des Werkes durch Mendelssohn beim 15. Niederrheinischen Musikfest im Jahre 1833 führten, und ist damit das erfreulichste, was diese Box zu bieten hat. Sicher, es ist durchaus interessant, Bachs „Matthäus-Passion“ oder Händels „Acis and Galatea“ einmal in Mendelssohns Bearbeitung zu hören. Dennoch ist die hier vorliegende sogenannte „Rekonstruktion“ eine am Ende halbherzige, denn sie berücksichtigt in keiner Weise die originalen Aufführungsumstände. Die Aufführung des Werkes war eine Massenveranstaltung mit 275 Choristen und einem 134 Mannen zählendem Orchester. In der vorliegenden Aufnahme begegnen wir einem 30 Sänger und Sängerinnen starken (oder doch eher „schwachen“) Ensemble und einem ebenso kleinen Orchester. Dazu wird aus enorm hippen Geist heraus musiziert, es ist auch nicht ein Fünkchen romantischen Gestus’ zu erleben, höchstens in der von Mendelssohn vor das Werk gesetzten „Trompeten-Ouvertüre“. Doch das Moment der Überwältigung durch Masse, das bei dieser Wiederentdeckung ja durchaus eine Rolle spielen sollte und dann auch gespielt hat – hier wird es schlicht ignoriert. Warum aber dann Mendelssohns Version aufführen?

    Wenig für sich einnehmend ist auch die Bearbeitung, bei der Mendelssohn allerhand Konzessionen machen musste. Es fehlen allerlei Chorsätze, Arien wurden verändert, gestrichen, dafür wurden andere hinzugefügt und Rezitative eingefügt, von denen man glaubte, sie seien zu einem späteren Zeitpunkt von Händel hinzugefügt wurden. Heute weiß man: sie stammen von seinem Amenuensis Smith.

    Herausgekommen ist eine aus meiner Perspektive einigermaßen unorganisch wirkende Version des Werkes, von der für mich keinerlei Faszination ausgeht – von einer etwas staubigen akademischen vielleicht abgesehen.

    Allerdings hätte die Aufführung vielleicht einiges retten können. Dazu hätte sie aber nicht so sein dürfen, wie sie auf mich wirkt: enorm kultiviert und vollkommen leidenschaftslos - „blutleer“ wäre das von mir am liebsten genutzte böse Wort. Hermann Max und seine Ensembles haben ja unbestreitbar viel für die Wiederentdeckung vieler barocker Werke und Meister getan, Händel scheint ihm aber – so mein Eindruck – nicht zu liegen. In diesem Werk, in dem ein Chor kraftvoll, farbig und differenziert im Ausdruck sein muss, um die breite Palette der von der Oper her gedachten Szenen überzeugend gestalten zu könne, präsentiert Max einen Chor, der sich anhört, als sänge er eine Passionsmusik. Die Rheinische Kantorei beglückt mit weichem Klang, Ausgewogenheit, Kontrolle, Textverständlichkeit und ihr Leiter Hermann Max macht all dies zum Zentrum des Vortrags. Ich habe beim Hören durchweg das Gefühl, dass der elegante Chorklang des Ensembles vorgeführt werden soll. Dass das vollkommen an Händels vom Text ausgehender Musik vorbeigeht, die ein riesenhaftes alttestamentarisches Tableau höchst dramatisch illustirieren will, scheint nicht aufgefallen zu sein. Sicher, manches gelingt – besonders im letzten Teil – recht schön, in „Moses und die Kinder Israels“ blitzt auf einmal der nötige Pomp auf, auch die anschließende Fuge „Ich will singen meinem Gott“ hat Pep. Aber sonst? „Hagel statt Regen fiel herab“, „Er schlug alle Erstgeburt Ägyptens“ brennen auf halber Flamme, „Er sprach das Wort“ klingt dürr, „Deine Rechte, o Herr“ klingt wenig machtvoll, „Und von dem Hauch Deines Mundes“ würde sich in diesem Falle kaum das rote Meer teilen.

    Ähnlich nichtssagend die Solisten. Hans Jörg Mammels leicht geführter Tenor klingt gut, seine Darstellung des Textes in den hinzugefügten – und im Übrigen einigermaßen deutlich den musikalischen Fluss unterbrechenden – Rezitativen bleibt jedoch blass. Ekkehard Abeles ganz leichter Bass ist kultiviert und klangschön, er singt aber ebenfalls am Affekt der ursprünglich für Alt komponierten Arie „Und Frösche ohne Zahl“ ziemlich vorbei. Nur andeutungsweise werden „Seuchen“ und „Blattern“ hörbar gemacht. Lediglich Monika Frimmer, Veronika Winter und Heike Grötzinger halten in ihren Arien („Der Herr ist mein Heil und mein Lied“, „Hoffnung lindert unsre Schmerzen“ und „Bringe sie hinein und pflanze sie“) das Fähnchen der textnahen Gestaltung hoch.

    Das Kleine Konzert spielt durchaus zupackend und farbig – um ein Vielfaches farbiger als der Chor singt. Da haben beispielsweise die Orchestersätze der Plagen-Chöre rechtes Feuer und ich frage mich, warum dieser hier geschlagene Funken nicht übergesprungen ist.

    Würde ich gefragt werden, so müsste ich gestehen, dass dies keine Aufnahme ist, die man nach meinem Dafürhalten gehört haben muss.
    Johannes-Passion BWV 245 Johannes-Passion BWV 245 (CD)
    07.03.2014
    Booklet:
    1 von 5
    Gesamteindruck:
    3 von 5
    Klang:
    2 von 5
    Künstlerische Qualität:
    3 von 5
    Repertoirewert:
    5 von 5

    Erster Mitschnitt der "Johannes-Passion" - ein Dokument

    Kleiber, Erich (live: 22.09.1938, Buenos Aires) – Koloman von Pataky, Herbert Janssen, Margherita Perras (fälschlich als Margarita Perkas), Karin Maria Branzel, Emanuel List, Coro e Orquestra des Teatro Colón [127:31]

    Eine Passion mitten im September? Man mag sich fragen, warum Erich Kleiber die Bach’sche Johannes-Passion 1938 weitab der Passionszeit im Teatro Colón in Buenos Aires aufführte. War es ein Kommentar zur Sudetenkrise, zum drohenden Krieg Deutschlands mit der Tschechoslowakei, in der Kleiber seine Kindheit und Jugend verbracht hatte? Leidensgeschichte?

    Wie man diese Aufführung auch verstehen mag: der Mitschnitt dieser Aufführung der Johannes-Passion ist der älteste, der uns gegenwärtig vorliegt.

    Insgesamt ist es keine Aufnahme, die ich jenem Klassikfreund empfehlen würde, der nur eine oder auch nur zwei Einspielungen des Werkes in seinem heimischen CD-Regal unterbringen will. Dafür ist allein schon die Tonqualität verantwortlich, die zwar streckenweise erstaunlich gut, im Großen und Ganzen jedoch so schlecht ist, dass sie den Kern des Begriffes „Passion“ für den heutigen Hörer ganz intensiv nachvollziehbar macht. Da rauscht und knackt es nicht nur, es gibt nicht bloß ständige massive Schwankungen in der Lautstärke: das Band leiert streckenweise dermaßen, dass die Tonarten in den Stücken selbst verzerrt werden und deren Verhältnisse von Satz zu Satz bisweilen dermaßen verschwimmen, dass es dem wenig Wackeren kalt den Rücken hinunterlaufen muss.

    Erschwert wird der Hörgenuss auch dadurch, dass der Mitschnitt zwar ziemlich, aber doch nicht vollkommen komplett ist. Es fehlen an den überraschendsten Stellen immer wieder ganze Takte, was bisweilen schon sehr irritieren kann. Komplett fehlt das Bass-Arioso „Betrachte, meine Seel’“, wobei ich nicht glaube, dass nun gerade dieses als einziges gestrichen wurde. Ich mutmaße einfach einmal, dass es nicht mehr vorliegt. Hier eine kleine Übersicht über die Lücken:

    Nr. 1: Takt 55, 3. Zählzeit fehlt; beim Da capo fehlt das Orchestervorspiel, der Chor setzt direkt ein
    Nr. 5: Takt 4, 4. Zählzeit – Takt 5, 3. Zählzeit fehlt
    Nr. 15: Takte 13-15 fehlen
    Nr. 17: 2. Strophe fehlt
    Nr. 19: fehlt
    Nr. 20: Takt 1 fehlt; Takt 11, 2. Zählzeit bis Takt 18 fehlen; nur die Orchestereinleitung wird wiederholt
    Nr. 27a: Takt 1 fehlt
    Nr. 28: Takte 15 und 16 fehlen
    Nr. 29: Takte 1 und 2 fehlen
    Nr. 39 Takte 1-12, Zählzeit 2 (Orchestervorspiel) fehlen


    Darüber hinaus ist die Herangehensweise Kleibers an das Werk in Teilen für mich kaum noch zu ertragen. Ich sage bewusst „in Teilen“, denn hier und dort zeigt die Aufnahme auch, wie gut Bach auch in den 30er Jahren klingen konnte.

    Allen voran zu loben ist Koloman von Pataky als Evangelist. Pataky bringt alles mit, was ich mir auch heute wünsche, wenn es um diese Partie geht: eine leicht geführte Stimme mit klarem Timbre, kraftvoll, aber immer ganz frei und ohne Anstrengung. Daneben: ein ganz unverkrampfter, gewissermaßen „natürlicher“ Umgang mit dem Text, nicht zuviel Schnickschnack in der Ausdeutung – wenn man natürlich von dem einen oder anderen Moment absieht, der mir dem Zeitgeschmack geschuldet zu sein scheint (z.B. das Weinen Petri). In „Ach, mein Sinn“ oder bei der Darstellung der Geißelung hingegen hat er es nicht leicht. Kleibers Dirigat ist hier dermaßen zäh, so wenig bewegt, dass ich das Gefühl habe, es ginge überhaupt nicht voran. Was soll der Solist da noch retten? Technische Schwierigkeiten bereitet Pataky dennoch nichts. Überzeugen kann das aber dennoch nicht. Überhaupt sind die Arien (und die beiden großen Chorsätze) die Schwachpunke dieser Deutung. Dass man Wucht und langsames Tempo auch in jenen Jahren als angemessenen Ausdruck der „Größe“ des Werkes sah, kann ich ja noch nachvollziehen. Aber die Arien? Die sind oft so breit, dass auch ein so hervorragender Dirigent wie Kleiber das, was er da macht, nicht mehr zusammenhalten kann. Die guten Solisten helfen ein wenig darüber hinweg, weil sie dennoch so gut singen, wie es eben geht.

    Sopranistin Margherita Perras hat es da noch verhältnismäßig gut, da Kleiber für „Ich folge Dir gleichfalls“ ein einigermaßen fließendes Tempo wählt. Sie gefällt mir nicht nur aufgrund ihrer schönen, hell gefärbten, aber dennoch sehr körpervollen Stimme, sondern speziell wegen ihrer vollkommen allürenfreien Darstellung und der Tatsache, dass sie sehr gut artikuliert, selbst wenn Kleiber die ohnehin schon heiklen Arie „Zerfließe, mein Herze“, in der manch eine Sopranistin mehr oder weniger zur Vokalise neigt, im Schneckentempo musizieren lässt.

    Karin Maria Branzel ist ein echter Alt mit voluminöser, aber nicht dicker Stimme, warmem Ton und hervorragender Artikulation. Auch sie kommt mit Kleibers Tempovorstellungen zurecht, wenngleich auch sie es nicht verhindern kann, dass „Von den Stricken meiner Sünden“ aufgrund des gewählten Tempos vollkommen auseinanderbricht. Da betreibt sie eher Schadensbegrenzung als hohe Gestaltungskunst. Anders jedoch „Es ist vollbracht!“, das ja ohnehin langsam gespielt und von Kleiber auch nicht in extra slow motion gespielt wird. Hier kann man hören, wie überzeugend Branzel unter normalen Zuständen Bach interpretieren konnte.

    Ähnlich geht es Emanuel List, der die Bass-Partie(n) übernimmt. Er bringt einen starken, aber nicht aufdringlichen Bass mit und ein untrügliches Gefühl für die szenische Gestaltung der Rezitative. Macht es Spaß ihm dort zuzuhören, so kämpft er in seinen Arien ziemlich mit Kleibers Trägheit. Schade ist, dass er sich in „Eilt ihr angefochtnen Seelen“ offensichtlich verzählt und dermaßen herauskommt, dass es die halbe Arie braucht, bis er wieder hineingefunden hat. „Mein teurer Heiland, lass dich fragen“ klingt dann wieder, als verstreiche man ganz wenig Butter auf zuviel Brot.

    Lediglich Herbert Jenssen Darstellung der Christus-Partie erreicht mich nicht. Nicht nur, dass mir sein etwas kartoffeliger Bariton nicht gefällt (dem das tiefe Register vollkommen abgeht). Auch die Charakterisierung der Figur ist in meinen Ohren nicht stimmig. Zuerst sehr sanft, etwas salbadernd, dann vor den Hohepriestern mit erstaunlich viel Biss, vor Pilatus erstaunlich blass, auf Golgatha unerfreulich larmoyant.

    Ist das jetzt zur Genüge benannte Problem wahrhaftig ein solches, so möchte ich doch nicht verschweigen, dass dieser erste aller Mitschnitte auch seine Meriten hat. Angedeutet habe ich es schon: die Rezitative, die Vorwärtsbewegung der Handlung gelingt gut. Da klingt es nach durchweg geistlicher Bühne, nach Drama - nicht nach Epos. Hier fügen sich auch die Turbae glänzend ein, sind sie doch – bis auf das kurze, aber heikle „Bist du nicht seiner Jünger einer“ – so packend und griffig musiziert, dass sich so manche spätere Aufnahme hier ein Scheibchen abschneiden könnte. Sicher, der Chor des Teatro Colón ist ein Massenensemble, wie es auch Beechams „Messiah“ gut zu Gesicht gestanden hätte, aber sie singen – wenn auch nicht immer schön – so doch mit Einsatz, Leidenschaft und Überzeugungskraft.

    Hingegen werden der Eingangschor („Herr, unser Herrscher“) und der große Schlusschor („Ruhet wohl“) als das Geschehen umrahmende Monumente musiziert: groß, laut, langsamst. Auch heute nimmt nicht jeder Dirigent diese Chöre eilig. Aber bei Kleiber klingt diese Musik nicht – wie bei Herrweghe, Koopman oder Brüggen - wie mystische Versenkung oder Meditation. Hier klingt sie fast wie tot. Ähnliches gilt - auch dies ein Zeichen der Zeit - für die im breiten Einheitstempo musizierten Choräle, die lediglich dynamisch gegeneinander abegrenzt werden.

    Kleibers Lesart der Johannes-Passion empfinde ich aus heutiger Perspektive als einigermaßen unausgewogen. Damals mag sie beeindruckt, ja im Bereich der Rezitative und Turbae sogar erstaunlich modern geklungen haben. Für den an der Rezeptionsgeschichte des Bach'schen Vokalschaffens ist dies in jedem Fall ein interessantes Dokument.
    Hercules Hercules (CD)
    04.01.2014
    Booklet:
    5 von 5
    Gesamteindruck:
    4 von 5
    Klang:
    5 von 5
    Künstlerische Qualität:
    4 von 5
    Repertoirewert:
    5 von 5

    Gardiners "Hercules" - einst als überinterpretiert gescholten, aus gegenwärtiger Perspektive streckenweise zu zahm

    John Eliot Gardiners Einspielung von Händels „unbekanntem Meisterwerk“ (Dorothea Schröder) war sehr lange die einzige in englischer Sprache erhältliche und steht darum im Regal vieler Hörer. Erst 20 Jahre nach ihrer Entstehung legte die Archiv Produktion mit Minkowskis Aufnahme aus Poissy eine weitere Aufnahme vor. Danach folgten bislang nur noch Christies DVD-Mitschnitt und Martinis Konzertmitschnitt bei Naxos. Kurzum: Gardiners Einspielung ist der Klassiker. Allerdings hat dieser Klassiker einen häufig bemängelten Makel, und zwar die deutlichen Kürzungen, die Gardiner vornimmt. Tatsächlich empfinde ich das als nicht allzu problematisch, Händel selbst hat seine Werke ständig verändert, hat überarbeitet, gekürzt, verlängert, immer ganz nach den jeweiligen Aufführungsbedingungen, denen er sich gegenüber sah. Einen dramaturgisch fatalen Verlust empfinde ich jedenfalls beim Hören dieser Aufnahme nicht.

    Mein Kritikpunkt ist ein anderer, und zwar einer, den man zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung der Einspielung wohl einigermaßen kurios gefunden hätte, warf man Gardiner damals doch vor, er zeige einen Hang zur Überinterpretation. Tatsächlich finde ich als Hörer des Jahres 2013 diesen „Hercules“ in vielem deutlich zu zahm.

    Wenn das Werk eines ist, dann ist es doch ein Drama der Affekte, und zwar nicht der sich im Bereich des Normalen sich bewegenden, sondern der heillos übersteigerten. Dass es an genau dem ist, verraten Händel und Broughton ja schon vorsichtig nach etwa 5 Minuten Spielzeit, wenn über die zentrale Figur des Werkes – es ist nicht Hercules, sondern dessen Gattin Dejanira – gesagt wird, sie trauere um Hercules (dessen Tod ja zu diesem Zeitpunkt überhaupt nicht feststeht und der in Wahrheit ja am Leben ist) folgendermaßen: „She weeps from morning’s dawn to shades of night, / From gloom of night to reddening blush of morn“. Weinen, klagen, sorgen, zagen – und das 24 Stunden am Tag? Das sprengt den Rahmen des Durchschnittlichen doch bei Weitem. Doch weder die Übersteigerung der Affekte, noch der andauernde Verlust der Affektkontrolle der Hauptfigur, die schon fast in den Bereich der Affektinkontinenz reicht, werden von Gardiner und Sarah Walker, die diese Ausnahmepartie gestaltet, dem Hörer – will sagen: mir – deutlich genug vor Augen bzw. Ohren geführt.

    Schon vom ersten Rezitativ an zeugt Walkers Darstellung der Dejenira von einem Tuck zuviel an Kultiviertheit, da fehlt es an Expressivität, an dem nötigen Maß an innerer Beteiligung, an der Fähigkeit so zu gestalten, als sei man außer sich. Gelingt ihr noch eine einigermaßen glaubwürdige Darstellung der trauernden Gattin („There in myrtle shades reclined“), so fehlt der Freude über die unversehrte Wiederkehr des Hercules („Begone, my fears, fly hence, away“) schon die nötige Begeisterung. Die ätzende Giftigkeit in der „Eifersuchts-Scene“ (Chrysander) liegt der Walker dann ebenso wenig wie die Darstellung ihrer Raserei darüber, dass sie erkennen musste, dass das Nessoshemd nicht wirklich das war, was der hinterlistige Zentaur einst vorgegeben hatte. Zur Darstellung dieser Ausnahmeszene, die eine der größten ist, die Händel vielleicht überhaupt komponiert hat, ist wohl eine Ausnahmeinterpretin nötig. Dass mir Walkers etwas gemütlich-dickliches Timbre nicht gefällt, die der Dejanira den Klang einer Mutter Beimer verleiht, macht es mir nicht leichter.

    John Tomlinsons wuchtiges Organ höre ich bei Händel ausgesprochen gern – nicht nur in Pinnocks herrlicher „Messiah“-Aufnahme, sondern auch hier. Ich kann mir kaum eine bessere Stimme vor den Hercules vorstellen, der hier ganz als Held und Halbgott in Erscheinung tritt. Auch die etwas tumbe Naivität und das unbeschwert-geradlinige, das aus seinen Arien spricht („The god of battle quits the bloody field“), liegt Tomlinson sehr. Dass er auch sehr plastisch und intensiv gestalten kann, zeigt Tomlinson zum Schluss. Hier, in der Szene, in der Hercules vom Nessoshemd vergiftet wird, um schließlich zu sterben, läuft Tomlinson zu Höchstform auf und präsentiert wirklich große Oper.

    Ausgesprochen ausdrucksstark aus Anthony Rolfe Johnson in der Rolle des Hyllus. Wie so oft in seinen Händel-Aufnahmen begeistert mich Rolfe Johnson durch seine am einzelnen Begriff ausgerichtete Gestaltung. Da wirkt jedes Wort durchdacht und auf seinen affektiven Gehalt überprüft, der dann vorbildlich umgesetzt wird. Und dennoch wirkt das Ganze vollkommen natürlich, gerade so, als müsse es so sein. Gerade in den Rezitativen, aber auch in den Arien (z.B. „Where congealed the northern streams“), ist das Händel-Gesang der Spitzenklasse, sodass auch diese Aufnahme mich darin bestärkt zu sagen, dass in diesen Rollen Rolfe Johnson (auch heute) so schnell niemand etwas vormacht.

    Überzeugend finde ich auch Jennifer Smith in der Rolle der Iole. Nicht nur, dass ich ihre helle, jugendliche Stimme mag und für diesen Part ausgesprochen geeignet finde. Smith singt darüber hinaus ähnlich ausdruckstark wie Rolfe Johnson. Besonders zu Beginn, wenn die Iole um den Tod ihres Vaters klagt („My father! Ah methinks I see“ – wie herrlich in dieser Arie auch der Wechsel von c-moll nach Es-Dur in der zweiten Strophe), ist sie ausgesprochen stark.

    Wenig ansprechend finde ich die Art, wie Catherine Denley den Lichas gestaltet. Auch ihr Mezzo kommt ziemlich matronig daher, hinzu tritt ein deutliches Vibrato. Ihre Gestaltung der Partie bleibt blass und einigermaßen eintönig. Die Affekte, das Mitfühlen mit der Dejanira, das Händel mehr als einmal in dieser Partie auskomponiert hat (bspw. gleichzu Beginn: „See with what dejection in her looks“): wenig ist in Catherine Denleys Zeichnung der Figur davon zu hören.

    Den Monteverdi Choir ist hervorragend – wie eigentlich immer. Tatsächlich ist der „Hercules“ kein wirkliches Chororatorium, dafür steht der Chor zu sehr am Rand. Dennoch gibt es eine Reihe herausragender Chorsätze, in der das Ensemble – wie gewöhnlich – zu Bestform aufläuft und eine Lehrstunde in Chorgesang nach der anderen abliefert. Als Beispiel verweise ich auf den herrlichen Chor „Crown with festal pomp the day“, in dem das Ensemble unter Gardiners Leitung den an einen ländlichen Reigen erinnernden Tonfall bestens herausschält. Enorm eindrucksvoll gelingt ihnen auch der flackernde Liebeschor „Wanton god of amorous fire“ und – natürlich der große Eifersuchts-Chor „Jealousy! infernal Pest!“ Das mag man anders singen können, aber besser wohl kaum.

    In allem stehen die English Baroque Soloists Gardiner, dem Chor und den Solisten als gleichrangige und in jedem Detail mitgestaltender Klangkörper zur Seite.
    Sir Adrian Boult Sir Adrian Boult (CD)
    02.09.2013
    Booklet:
    3 von 5
    Gesamteindruck:
    3 von 5
    Klang:
    3 von 5
    Künstlerische Qualität:
    3 von 5
    Repertoirewert:
    3 von 5

    Die Letzte

    Boult (1977) – BBC Symphony Orchestra: 16:25 / 12:07 / 08:12 / 13:27

    Bei der vorliegenden Aufnahme handelt es sich um einen Konzertmitschnitt von den Londoner Proms vom 24. Juli 1977. Er ist insofern besonders, als dass es sich bei ihm um den Mitschnitt der letzten Aufführung des greisen Sir Adrian Boult (er war zu diesem Zeitpunkt bereits 88 Jahre alt) von Elgars zweiter Symphonie handelt. Dieses Werk ist mit Boults Namen so verbunden wie kaum ein anderes, hat er es doch 1920 – nachdem es nach seiner mehr oder minder unglücklichen Uraufführung kaum wahrgenommen wurde – wieder aus der Versenkung gehoben und es Zeit seines Lebens immer wieder aufgeführt. Insofern muss es in jedem Konzert in der Royal Albert Hall fast so gewirkt haben, als dirigiere hier Elgar selbst.

    Entsprechend positiv äußert sich Martin Cotton im Beiheft zu dieser frisch erschienenen CD über die Aufnahme, vergleicht sie mit der legendären 49er-Aufnahme und spricht ihr ähnliche Qualitäten zu. Tatsächlich empfinde ich den Text – nachdem ich die Aufnahme nun mehrmals gehört habe – vornehmlich als Hommage, denn ganz so packend, wie es hier dargestellt wird, ist diese Aufnahme mE nicht. Es ist sicher keine schlechte Aufnahme – dafür bewegte sich Boult zu sicher in Elgars Musik. Aber sie geht mich dennoch nicht wirklich an.

    Tatsächlich werde ich aus dieser Aufnahme nicht so recht schlau. Wo will Boult mit mir als Zuhörer hin? Der Beginn des ersten Satzes ist sehr mächtig, bei weitem nicht so forsch und bissig wie die 49er Aufnahme. Der Zug nach vorn ist bei weitem nicht so stark, es wird bei weitem nicht so knackig artikuliert, die Dynamik scheinet mir nicht so präzise umgesetzt (oft spielt das BBC Symphony Orchestra ein ziemlich lautes Piano) und sowohl Dirigent als auch Orchester scheinen mir nicht so involviert wie 28 Jahre zuvor. Ich habe nicht mehr den Eindruck, dass Boult ein bis in die Haarspitzen engagierter Teil der Musik ist, sondern sie (zu?) souverän beherrscht, also bewusst außerhalb von ihr agiert. Die Leidenschaftlichkeit, die beispielsweise bei Ziffer 17 (brillante) durchaus zu hören ist, sie wirkt nicht mehr unmittelbar und mitreißend, sondern kontrolliert und wohldosiert. Dafür schüttelt Boult Momente aus dem Ärmel, die kaum jemandem sonst so gelingen: der geheimnisvolle Beginn der Durchführung, der erste Auftritt des „malign influence“, seine sehr dunkle und lastende Wiederholung, die Übergänge, die Rubati. Das konnte mE nur Elgar besser. Dafür gibt es dann auch überraschend behäbige und uninspirierte Momente („strepitoso“), in denen Boult plötzlich die Spannung, die Agilität abgeht. Dass um Ziffer 51 herum plötzlich der Alarm einer Digitalarmbanduhr (?) losgeht, irritiert nur kurz.

    Die Herangehensweise Boults an den zweiten Satz überrascht mich. Was in den ersten Takten so wirkt, als wolle ein tief empfundener Fluss anheben, entwickelt sich bald zu einem unruhigen, nervösen und bald fahrig wirkenden Geschehen. Der Satz wird sehr schnell musiziert, die Schwere von 1949 höre ich hier nicht. Trauer und Pathos suche ich vergebens. Stattdessen haben die Themen, allen voran das ab Ziffer 71 zu hörende, einen ungewöhnlichen, sich aufbäumenden Charakter und vermitteln mir eine Anstrengung, die den gesamten Satz über ins Nichts läuft, denn Boult verweigert konsequent jeden kathartischen Moment, schließlich lässt er die Höhepunkte (Ziffern 76 und dann wieder 86) konsequent nicht als emotionale Entladung spielen. Es ist wie ein beständiges nervöses Suchen ohne Hoffnung auf ein Finden.

    Das Rondo fällt mir durch seinen wenig organischen Spannungsaufbau auf. Zunächst beginnt der Satz einigermaßen behäbig, spielerisch, fast pastoral, steckenweise gemütlich. Das große Unisono (Ziffer 93) wirkt erfreulich rustikal, dann flaut die Spannung schnell wieder ab und wird nicht konsequent durchgehalten oder weiterverfolgt. Die Musik plätschert etwas vor sich hin, bis es Boult in der „Maud“-Passage so recht krachen lässt. Elgar hätte seine Freude daran gehabt, wie das Schlagwerk hier alles verschwinden lässt. Aber ist das alles?

    Das Finale beginnt nun ausgesprochen nobel, fast ein wenig weichgezeichnet, Ecken und Kanten tauchen hier nicht auf. Das ist sehr „con dignita“, aber nur wenig „maestoso“. Abrupt ändert sich die Stimmung. Ab Ziffer 138 lässt Boult indes schön kraftvoll musizieren, die Durchführung beginnt ausgesprochen erregt, streckenweise prescht er geradezu vehement vorwärts. Dann aber wieder das Phänomen, das mir schon im Larghetto aufgefallen ist: die Höhepunkte (bei 143 und um 165 herum) lässt Boult „implodieren“, die Spannung, die Elgar auf diese beiden Stellen hin ausrichtet, sie kann / darf sich bei Boult nicht in einer leidenschaftlich-orgiastischen Geste entladen. Stattdessen sinkt der Satz in sich zurück und seine Energie verpufft im Äther.

    Mein Fazit? Nun, die Aufnahme lässt mich (gegenwärtig) etwas ratlos zurück. Das Werk geht mich hier nur wenig an, auf allerlei kann ich mir keinen mich zufriedenstellenden Reim machen. Für den Elgar-Sammler handelt es sich aber in jedem Fall um ein interessantes Dokument.
    Saul Saul (CD)
    08.07.2013
    Booklet:
    5 von 5
    Gesamteindruck:
    5 von 5
    Klang:
    5 von 5
    Künstlerische Qualität:
    5 von 5
    Repertoirewert:
    5 von 5

    Höchst differenzierte Interpretation

    Die jüngste in der der langen Reihe der „Saul“-Einspielungen wurde im Januar 2012 in der Londoner St. Augustine’s Church unter der Leitung von Harry Christophers aufgezeichnet. Sie basiert, so berichtet Christophers im Beiheft zur Aufnahme, nicht nur auf der von Anthony Hicks herausgegebenen Ausgabe des "Saul", sie setzt auch eine der zentralen Thesen Hicks’ zum „Saul“ um: Hier ist die Rolle des David nicht mit einem Countertenor, sondern mit einem Mezzosopran besetzt.
    Dazu Christophers:

    „Eines der Rätsel des ‚Saul’, das er (= Hicks) löste, betrifft die Rolle des David, von der man üblicherweise meint, sie sei für einen Countertenor komponiert worden. Doch Anthony war sicher, dass sie für die Mezzosopranistin Marchesini geschrieben wurde, wobei es so scheint, als sei sie am Tag der Erstaufführung indisponiert gewesen. Anthony schrieb: ‚Ihr Name ist als Solistin im Autograph an der Stelle von ‚O fatal day’ notiert, wo die Melodie das Fis erreicht. Die Behauptung, dass der männliche Sänger, der die Rolle übernahm, ein Countertenor war, basiert lediglich auf der Annahme, dass er die Rolle in dieser Lage sang; doch gibt es kein Zeugnis zu seiner Singstimme und die Tatsache, dass er als singender Schauspieler in Ballad Operas auftrat, macht es eher wahrscheinlich, dass er ein Tenor war, der die Partie eine Oktave tiefer sang. In Wiederaufnahmen kehrte Händel zur Besetzung mit einem Mezzosopran zurück.’“ (Christophers im Begleitheft zu seiner Aufnahme. S. 3 f. Übers. der Verf.)

    Tatsächlich klingt mir die Argumentation durchaus plausibel, insofern freue ich mich, dass sich Christophers und seine „Sixteen“ – der Begriff bezeichnet seit einiger Zeit sowohl den Chor als auch das Orchester – daran gemacht haben, eine Einspielung mit Mezzosopran vorzulegen.

    Die Aufnahme ist ihrem Charakter nach ein typischer Christophers. Wer auf der Suche nach einem – wie ich persönlich finde: eindimensionalen - „High-Voltage-Händel“ à la Jacobs ist, der ist bei Christophers mE falsch und wird seine Lesart vermutlich eher „langweilig“ finden. Christophers geht es nicht darum, in rasenden Tempi durch diese Partitur zu brettern. Er legt seine Interpretation epischer an, der Innendruck ist nicht so hoch wie bei Jacobs oder Rademann. Christophers Interpretation hat zwar die Dramatik des Werkes vollkommen im Blick, will aber die Vielfalt der Händel’schen Musik darstellen und der Musik mehr Zeit zum Atmen, zum Klingen geben. Dabei heißt es nicht, dass er beispielsweise grundsätzlich ruhige Tempi wählen würde. Da kann es durchaus rasant zugehen, aber es gibt eben auch immer wieder Ruhepole, beispielsweise zu den Aktschlüssen der ersten beiden Akte. Mich persönlich spricht das an.

    Die Solopartien sind nach meinem Dafürhalten fast durch die Bank weg hervorragend besetzt.

    Christopher Purves ist ein ganz hervorragender, die Rolle sehr differenziert angehender Saul. Fasziniert bin ich von seiner psychologische Durchleuchtung jedes einzelnen Satzes, ja bald jedes einzelnen Wortes. Da eröffnen sich Facetten, die anderen auf Tonträger gebannten Interpreten dieser Rolle vollkommen entgangen sind. Wie überzeugend gelingt ihm beispielsweise die Darstellung der sich kontinuierlich steigernden Wut in „With rage I shall burst“. In „A serpent in my bosom warm’d“ entfacht er nicht das übliche Toben, sondern schält auch die in jenen Worten mitschwingende Enttäuschung des Monarchen über den vermeintlichen Verdrängungsversuch Davids heraus. Da höre ich nicht nur ein offensichtliches Rasen vor Wut, sondern auch eine große Portion Selbstmitleid. Respekt. Gerade in die Accompagnati ist Purves’ Darstellung kaum zu toppen. Insgesamt eine ganz außergewöhnlich gut gelungene Charakterstudie.

    Nun zu Sarah Connolly, die in dieser Aufnahme die Rolle des David übernimmt. Sie hat ohne Zweifel eine ausgesprochen schöne Stimme und ist ganz eindeutig im Vollbesitz ihrer technischen und interpretatorischen Kräfte. Der Connaisseur kann hier also voll und ganz auf seine Kosten kommen: warmes Timbre, hervorragende Führung, vollkommen selbstsicheres, freies Singen. Wie schön klingt da alles! Die üblichen Hürden, über die die meisten Counter schlecht hinwegkommen, existieren für sie nicht, was solchen Arien wie „Your words, o King“ oder „Impious wretch“ natürlich ganz wunderbar bekommt. Ihre pastoralen Arien, allen voran „O Lord, whose mercies numberless“, habe ich balsamischer bisher nicht gehört. Aber - und das möchte ich nicht verschweigen – ein Bild der Figur David ergibt sich für mich nicht so recht. Connolly hat etwas Weiches, ja Mütterliches, das hier meiner Meinung nach nicht hingehört.

    Die Rolle des Jonathan wird von Robert Murray gestaltet. Mir gefällt seine jugendliche, helle und dennoch gut unterfütterte Stimme samt seiner lockeren und dennoch körpervollen Höhe hervorragend, die vor meinem inneren Auge das Bild eines jungen, idealistischen Helden unmittelbar entstehen lässt. Das einzige, was mich ein wenig stört, ist sein Hang dazu, die Eleganz seines Gesangs vor die Zeichnung der Rolle zu setzen. Da ist in Ansätzen zwar allerhand zu hören, über die Ansätze geht es indes nicht hinaus. Da scheint mir etwas der Mut zu fehlen.

    Joélle Harvey gibt eine mich rundum überzeugenden Michal. Ihre an sich schöne Stimme könnte für mich zwar noch etwas mädchenhafter klingen, aber ihre Phrasierung und ihre Verzierungen sind so delikat, dass ich diesen kleinen Einwand schnell und umfassend vergessen kann. Zudem hat sie einen ausgeprägten Sinn für die glaubwürdige und textnahe Darstellung der Figur. Schlicht herrlich gelingt ihr die Beschwörung der heilsamen Kraft der Musik: „Fell rage and black despair“.

    Elizabeth Atherton ist als Merab ideal besetzt. Ihre Stimme bringt eine gewisse, aber nicht unangenehme Schärfe mit, die ganz hervorragend zur Rolle der blasiert-zickigen Schwester passt. Hinzu kommt, dass sie sehr expressiv an die Partie heran geht und ein sehr plastisches Bild der Merab zeichnet. Wie schäumt ihr „My soul rejects the thought with scorn“ vor Wut, wie stechen ihre Hiebe auf Saul und David in „Capricious man, in humor lost“. Das ist schon eine ganz fulminante Leistung.

    Mark Dobell liefert mit seiner sehr freien, klangschönen Tenorstimme eine verinnerlichte, aber nie frömmelnde Darstellung des High Priest (sehr schön: „While yet thy tide of blood“), Stuart Youngs Ghost of Samuel vermittelt nicht nur Autorität, sondern vermittelt trefflich die Härte des ungnädigen Gottes.

    Sehr erfreulich finde ich Jeremy Budds vollkommen durch die Musik sprechende Zeichnung der Witch of Endor. Weder er noch Christophers bedienen den anscheinend herrschenden Wunsch danach, diese Szene als überzogenes Spektakel zu gestalten. Hier erscheint – und das macht Budds wirklich gut – die Witch nicht als Karikatur im disneyesken „Hänsel-und-Gretel“-Style, sondern als eine ernstzunehmende Figur, die mit Macht über die Welt der Toten ausgestattet ist.

    Zu „The Sixteen“ muss ich eigentlich nicht viel sagen. Sowohl das Orchester als auch der Chor gehören zu den besten englischen Ensembles für Alte Musik überhaupt und die vorliegende Aufnahme ist in meinen Augen ein weiterer Beleg für ihre exzeptionelle Qualität. Der Chor klingt immer schlank, verfügt aber spielend über die Kraftreserven, die beispielsweise für die Eckchöre des Epinicions, die Preisgesänge auf Saul und David, den Envy-Chor oder das finale „Gird on thy sword“ nötig sind. Die Präzision im technischen und interpretatorischen Bereich ist meiner Meinung nach wirklich bewundernswert. Gleiches gilt für das Orchester, das die vielen Farben und dieser Partitur innewohnenden Stimmungen vollkommen mühelos herauszuarbeiten versteht. Es wird im besten Sinne selbstverständlich musiziert, gerade so als wäre das die natürlichste Sache der Welt. Vielleicht mag der ein oder andere – mit Recht – finden, dass es pfeffrigere Einspielungen gibt. Mir gefällt Christophers interpretatorisch breiterer Ansatz dennoch ausgesprochen gut.
    Saul Saul (SACD)
    04.07.2013
    Booklet:
    4 von 5
    Gesamteindruck:
    5 von 5
    Klang:
    5 von 5
    Künstlerische Qualität:
    5 von 5
    Repertoirewert:
    5 von 5

    Hervorragender "Saul" aus Dresden

    „Vielseitigkeit und international beliebte Musiker prägen das glanzvolle Musikprogramm der Dresdner Frauenkirche […] Ein besonderer Akzent in der Frauenkirchenmusik liegt auf den Werken von Georg Friedrich Händel.“ So bewirbt die Stiftung Frauenkirche Dresden die bei Carus erschienenen Händel-Aufnahmen. Doch sei mir der Hinweis gestattet: Ganz so rundum glanzvoll, wie es sich hier anhört, ist die Reihe nicht. Unter der Kuppel der Frauenkirche trifft sich in Sachen Händel Solides mit Mäßigem und durchaus auch sehr Gutem. Der unter der Leitung von Hans-Christoph Rademann entstandene „Saul“ gehört nach meiner unmaßgeblichen Meinung zur letzten Kategorie.

    Die Gründe für diese meine Bewertung liegen auf der Hand. Rademann macht einfach einen guten Händel. Da wohnt man als Hörer einem sich mit druckvollem Impetus vorwärts bewegenden Drama bei; der Reichtum der Affekte, den diese Partitur bietet, wird mit einem fast ungetrübten Blick für psychologische und musikalische Details umgesetzt; da wird reichhaltig, aber vollkommen stimmig verziert und und und. Keinen Moment habe ich das Gefühl, dass unterkühlt musiziert würde; nie wirkt das Musizieren aufgesetzt oder affektiert; immer höre ich Farbenreichtum und selten habe ich den Eindruck, dass Rademann dieses Werk als seine persönliche Spielwiese nutzt. Hinzu kommt, dass Rademann hervorragende Sänger und Ensembles um sich herum versammelt hat, von denen keiner heraussticht und auch keiner herausfällt. Alle bewegen sich – meine ich - auf einem ganz ähnlichen, recht hohen Niveau, sodass sich beim Hören dieser Aufnahme in meinen Ohren der Eindruck einer ausgesprochen schönen Stimmigkeit und Geschlossenheit, ein rundum überzeugendes Gesamtbild entwickelt.

    Zu den Solisten.

    Yorck Felix Speers Stimme hat für meinen Geschmack genau die richtige Farbe für die Titelrolle des „Saul“. Das ist eine tiefschwarze Stimme, mit machtvollem, durchaus an McIntyre erinnernden Klang, wobei sie um ein vielfaches beweglicher ist. Seine Darstellung des Saul ist durchweg erfreulich und gut durchdacht. Da gibt es auf der einen Seite keinerlei Overacting (wie bei Saks), aber dennoch ist da immer ein gewisser Raum, der Speers Interpretation beispielsweise von der eines Davies oder eines Christopher Purves (bei Christophers) trennt. Diese kleine Einschränkung zeigt sich besonders in den Arien. Da höre ich „With rage I shall burst“ oder „A serpent in my bosom warm’d“ und denke mir: Tolle Stimme, schöner Sitz, technisch alles top. - Aber da ist doch noch Luft nach oben, ein wenig intensiver dürfte das schon sein, ein wenig deutlicher kann man den Riss, der sich durch die Persönlichkeit Sauls zieht schon zeigen. Was hier an Mut zum I-Tüpfelchen fehlt, macht Speer dann aber in den ausgezeichnet gezeichneten Rezitativen und Accompagnati wett und zeigt, dass er durchaus darstellen kann, was Saul im Innersten umtreibt.

    David, „the lovely youth“, wird von Tim Mead gesungen, der mir schon in der Rolle des Solomon (bei Nicholas McGegan) ausgesprochen gut gefallen hat. Sein klangschöner Counter, der zwar einen jugendlichen, aber mitnichten einen femininen Ton hat, eignet sich für den David vielleicht nicht so gut wie Zazzos „Helden-Counter“, überzeugt mich aber insgesamt doch sehr. Mich stört es auch nicht, dass er in den Randbereichen der Tessitur und immer, wenn er Kraft entwickelt, deutlich zu vibrieren beginnt. Gut gefällt mir auch der dunkle Klang seines tiefen Registers, weil die Stimme hier noch voll ausklingt und überhaupt nicht gepresst wird. Mead arbeitet sehr schön die unterschiedlichen Affekte heraus, ist in seiner Gestaltung immer ganz nah am Text und entwirft so ein schlüssiges Portrait der Figur. Lediglich in „O Lord, whose mercies numberless“ schießt er mit der schieren Menge seiner Verzierungen mE etwas über das Ziel hinaus.

    Sehr angetan bin ich auch von Maximilian Schmitt in der Rolle des Jonathan. Das ist doch einmal ein Tenor mit einer Stimme, wie ich sie mir für diese Partie wünsche: jung, zupackend, dennoch ganz leicht geführt, mit einem körpervollen hohen Register und jenem gewissen „Metall“, dass man als Held durchaus haben darf. Das ist ein wirklicher Königssohn, ein Erbe des Saul, wie ich ihn mir vorstelle, und kein windelweiches Söhnlein. Hier wird auch immer wieder hörbar gegen den Vater rebelliert: im Rezitativ „Hast thou obey’d my orders“/ „Alas, my father! He your enemy?“ knistert es sogar einmal richtig.

    Auch die Damen können – von wenigen Kleinigkeiten abgesehen – punkten. So gefällt mir Ditte Andersen in der Rolle der Michal insgesamt gut, wenngleich sie darstellerisch vielleicht nicht das Niveau von Lynne Dawson (bei Gardiner) oder Vasiljka Jesovšek (beim Neumann) erreicht. Tatsächlich hat man bei ihrer ersten Arie („O God-like youth!“) den Eindruck, sie sei noch nicht ganz in der Rolle. Schön gesungen ist das ja – aber die Beziehung zwischen Text und Musik wird nicht so recht deutlich, sodass das alles zunächst einigermaßen unbeteiligt wirkt. Auch das „See with what a scornful air“ dürfte etwas peppiger sein (wobei ihr Rademann, der hier ausnahmsweise einmal ein mE unschlüssiges Tempo wählt, dabei nicht unbedingt hilft). Aber das ist Gejammer auf hohem Niveau. Im Verlauf des Werkes wird das alles besser und ihre Darstellung der Mitleidsarie „Fell rage and black despair“ gelingt schon sehr, sehr gut. Der ein oder andere mag sich vielleicht an ihrem sirrenden Virbrato stören – ich nicht.

    Anna Prohaska kämpft mit dem gleichen Problem wie Ditte Andersen. Sie singt ausgesprochen schön, ihr voller, nicht ganz hell gefärbter Sopran passt gut zur Rolle; doch wird zunächst nicht ganz deutlich, was für eine Rolle, was für eine Figur das eigentlich ist. Schöne Töne, wenig Gesicht. Auch hier ist es so, dass dieser Umstand im Wesentlichen die ersten Auftritte der Merab betrifft. Das wackelt zunächst die Schlüssigkeit der Affektdarstellung („What abjects thoughts a prince can have!“): Worte und Gestaltung wollen nicht zueinander passen. Dies verbessert sich im Verlauf erheblich und die Kontur der Merab schält sich dann doch deutlich heraus.

    Eric Stokloßa ist mit der Darstellung des High Priest und der Witch of Endor betraut. Als High Priest gefällt er mir recht gut, obwohl er eine eher flache Stimme mitbringt, die aber dennoch nicht schlecht klingt. Hier und da nimmt er die Vokale und Diphthonge recht breit, was einigermaßen unidiomatisch wirkt. Derlei kann ich aber ohne Schmerzen ignorieren, da er insgesamt sehr schön gestaltet („While yet the tide of blood“). Als Hexe von Endor indes gefällt er mir nicht. Hier orientiert er sich (und mit ihm Rademann) für meinen Geschmack zu sehr an der Jacobs’schen Extrem-Auslegung dieser Szene. Problem: Diese Art der Überzeichnung, die sich sowohl in Stockloßas karikatur- und fratzenhaften als auch in Rademanns Gestaltung des Orchesterparts äußert, wirkt hier noch fremdartiger als bei Jacobs, weil diese Art der Darstellung vollkommen aus dem bislang präsentierten Gesamtkonzept fällt. Schade.

    Clemens Heidrich ist als Geist Samuels keine sonderlich herausragende Besetzung. Seine wackelige, hell timbrierte Stimme verfügt über keine Autoriät, das Sprachrohr Gottes stelle ich mir anders vor.

    Sowohl das Dresdner Barockorchester als auch der Dresdner Kammerchor gefallen mir durchweg gut. Das Orchester musiziert nicht nur hochgespannt, sondern auch – so wirkt es auf mich – mit ausgesprochen viel Freude an dieser Musik. Mir gefällt hier – ähnlich wie beim FOG oder dem Concerto Köln – der ausgesprochen griffige Zugriff, das immens differenzierte, agile, flexible und in jedem Moment leidenschaftliche Spiel. Ganz besonders gefällt mir Petra Burmann, die an der Theorbe echte Kunststücke vollbringt.
    Der Chor klingt nicht so ganz so knackig wie die Ensembles, die Gardiner oder McCreesh zur Verfügung stehen. Dennoch sagt mir der etwas mildere Gesamtklang und die schöne Mischung der Stimmen rundum zu, zumal die Sängerinnen und Sänger durchaus über überraschende Kraftreserven verfügen, die sie bei Bedarf in die Waagschale werfen können („Gird on thy sword“).

    Eine mich mehr als zufriedenstellende Einspielung.
    St Matthew's Passion St Matthew's Passion (CD)
    29.03.2013
    Booklet:
    3 von 5
    Gesamteindruck:
    4 von 5
    Klang:
    4 von 5
    Künstlerische Qualität:
    4 von 5
    Repertoirewert:
    4 von 5

    Ausdrucksstarke EInspielung der Matthäus-Passion in englischer Sprache

    Bernstein (1962) – David Lloyd (Evangelist), William Wildermann (Jesus); Adele Addison, Betty Allen, Charles Bressler, Donald Bell, Boys’ Choir of The Church of the Transfiguration, The Collegiate Chorale, New York Philharmonic – in englischer Sprache, gekürzt [153:16]

    Die 60er Jahre des 20.Jahrhundert brachte mehrere Verfilmungen des Lebens Jesu hervor. Noch bevor George Stevens 1965 „The Greatest Story Ever Told“ in die Kinos brachte, lief 1961 Nicholas Rays „King of Kings“ an. Ganz wie ich diese Filme in Erinnerung habe, so klingt in meinen Ohren auch Leonard Bernsteins Einspielung der „Matthäus-Passion“ – oder der „St Matthew Passion“, wie ich korrekterweise sagen sollte, handelt es sich doch um eine Aufnahme in englischer Sprache. Es mag uns seltsam vorkommen, aber ein großer Teil der englischsprachigen Welt hat Bach „in the vernacular“ kennengelernt (im Falle von Händels „Der Messias“ war es ja mehr oder minder andersherum), sodass ich Interpretationen wie diese nicht zwangsläufig aufgrund der Sprachbarriere ignorieren möchte.

    Wenn ich oben sage, dass mich diese Aufnahme an die Monumentalfilme der 60er erinnert, so muss ich das ein wenig relativieren, denn Bernsteins Aufnahme hat mE nicht das Ziel, durch ihre Gewaltigkeit zu erschüttern. Dazu wird hier über weite Strecken – man mag es kaum glauben – zu bescheiden und ohne die ganz große, die ganz expressive Geste musiziert - die ich übrigens vorurteilsbehaftet durchaus von Bernstein erwartet hatte. Jedoch ist es eher die ehrfürchtige Haltung der Geschichte gegenüber, die mE beides verbindet. Bernstein schlägt – bisweilen nutzen Filme dieser Zeit ja durchaus solche Bilder – den in Leder gebundenen Folianten auf und erzählt dem Zuhörer die Geschichte vom Leiden Jesu.

    Schon der Eingangschor „Come, ye daughters, share my mourning“ klingt bei Bernstein nicht kontemplativ, sondern durch und durch narrativ. Es ist die Ouvertüre zur „Größten Geschichte aller Zeiten“, die hier angestimmt wird. Das klingt stark ahnungsvoll, drängend, brodelnd. The Collegiate Choir ist zwar ein großes Ensemble und – wenn es sein muss – auch klangmächtig, doch bleibt der Klang weitgehend schlank, das Ensemble gibt kein andauerndes Vollgas, sondern gestaltet höchst differenziert und farbenreich. Das gilt die Turbae, die - ganz Bernsteins dramatischer Konzeption folgend – ausgesprochen packend, zackig, aber nie grölend (auch nicht bei „Barrabas!“) daherkommen; das gilt aber ebenso für die Choräle, die Bernstein insgesamt sehr langsam nimmt, um dabei seine ausdruckszentrierte Lesart ihrer Texte voll auskosten zu können („When I too am departing“ – „Wenn ich einmal soll scheiden“).
    Insgesamt wird – dieses Eindruckes kann ich mich nicht erwehren – von allen Kräften vollkommen überzeugt an einem Strang gezogen - auch im Schlusschor, der schon beinahe unglaubliche 09:13 währt und auf mich wirkt, als würden sich hinter der Handlung die ehernen Bronzetüren der New Yorker Cathedral o St John the Divine machtvoll schließen.

    Der Part des Evangelisten wird von David Lloyd gesungen, einem der führenden amerikanischen Tenöre der 50er Jahre. Lloyd, der übrigens erst im Februar 2013 im Alter von 92 Jahren verstorben ist, hat nach meinem Dafürhalten keine besonders anziehende Stimme. Ihr fehlt bisweilen die Geschmeidigkeit, er benötigt in hohen Lagen häufig eine ganze Menge Kraft, insgesamt klingt die Stimme etwas eng und das sehr deutliche und sehr schnell Vibrato strengt mich nach einiger Zeit doch an. Auf der anderen Seite identifiziert er sich – so wirkt es zumindest auf mich – vollkommen mit der Rolle, gestaltet ausgesprochen nachdrücklich und mit viel Ausdruck.

    William Windermann, dem die Rolle des Jesus anvertraut ist, hat eine ganz eigentümliche Stimme, die zwar dunkel getönt, aber gleichzeitig – und das scheint mir recht ungewöhnlich - eher hart als weich klingt. Auch er vibriert deutlich. Seine Gestaltung der Rolle aber ist ähnlich emotional wie die Lloyds, wobei mich besonders die vollkommen unaufgeregt musiziert, würdig und schlicht gesungene Abendmahlsszene stark beeindruckt hat.

    Die Stimmen der beiden afroamerikanischen Solistinnen haben mich beide überrascht, hatte ich doch eher typische (amerikanische) Frauenstimmen ihrer Zeit erwartet.

    Doch der lyrische Sopran von Adele Addison ist schon fast untypisch für jene Jahre. Mit einem ganz weichen Ton und ganz leichter Führung der Stimme ist sie weit entfernt von manch einer Bach-Darstellung dieser Zeit, die auf Portamenti, Saft und Kraft und dramatischen Wobble setzt. Da gefällt mir nicht nur das vollkommen abgeklärte „Lord, to Thee my heart I proffer“ („Ich will Dir mein Herze schenken“), sondern auch das glasklare, ganz schwebend, zurückhaltend und fast virbratolos gesungene „In love my Saviour now is dying“ („Aus Liebe will mein Heiland sterben“).

    Ähnlich bezaubert bin ich von der Mezzosopranistin Betty Allen. Auch sie hat eine eher elegante Stimme, leicht vibrierend, ohne jegliche matronenhafte Dicklichkeit, sehr ausdrucksstark, sowohl in den – von Bernstein zum teil sehr langsam genommenen – Accompagnati („O gracious Lord“ – „Erbarm es Gott“) als auch in den Arien, wobei ihr „Have pity, Lord, on me“ („Erbarme Dich“), das Bernstein ausgesprochen schwingend (06:37) spielen lässt, von einem ganz berührenden zarten, ja: schwebenden Charakter ist.

    Tenor Charles Bressler hat aufgrund der von Bernstein vorgenommenen Kürzung (s.u.) nicht sehr viel zu tun. Seine helle, etwas flache Stimme ist leicht geführt und nicht ohne Ausdruck, wie es sich beispielsweise in dem enorm langsamen Accompagnato „O grief, how throbs this heavy laden breast!“ („O Schmerz! Wie zittert das gequälte Herz“) deutlich zeigt.

    Die Bass-Arien, -Accompagnati und kleineren Rollen werden vom dem kanadischen Bassbariton Donald Bell gestaltet. Seine insgesamt baritonal gefärbte, samtweiche Stimme bekommt der Partie ausgesprochen gut – vielleicht mag dem ein oder anderen sein deutliches Vibrato nicht so sehr zusagen. Und doch: Mir gefällt außerordentlich, wie direkt und ohne Manierismen an seine Arien und Accompagnati herangeht. Besonders gelungen finde ich seine völlige innere Ruhe ausstrahlende Darbietung von „At evening, hour of calm and peace“ und „Make thee clean, my heart, from sin“ („Am Abend, da es kühle war“ – „Mache Dich, mein Herze, rein“).

    Als ausgesprochen klangschön empfinde ich das zurückhaltende Spiel des New York Philharmonic. Das ist kein „symphonic Bach“, sondern der Klang eines verhältnismäßig klein und exquisit besetzten Orchesters, das den intimen Ton des Werkes bestens trifft und zudem über hervorragende Solisten (Violine Flöten, Oboen) verfügt.

    Zu Bernsteins Herangehensweise an das Werk, das er in einem sich an die Passionsvertonung anschließenden Vortag zu den 10 bedeutendsten Werken der Musikgeschichte zählt, habe ich oben schon etwas gesagt. Leider gehört auch dazu, dass Bernstein stark gekürzt hat, was unter anderem auch darauf zurückgeführt werden kann, dass die Aufnahme im Anschluss an eine Reihe von Abonnementskonzerte der Carnegie Hall entstand, für die das Werk verkürzt wurde.

    Hier abschließend ein Überblick über die Kürzungen:

    Nr. 4c – 8
    Da nun Jesus war zu Bethanien / Wozu dienet dieser Unrat / Da das Jesus merkete / Du lieber Heiland, du / Buß und Reu / Da ging hin der Zwölfen einer / Blute nur, du liebes Herz

    Nr. 31 – 37
    Die aber Jesum gegriffen hatten / Mir hat die Welt trüglich gericht’ / Und wiewohl viel falsche Zeugen / Mein Jesus schweig zu falschen Lüge stille / Geduld / Und der Hohepriester antwortete / Er ist des Todes schuldig / Da speieten sie aus / Weissage, weissage uns Christe / Wer hat dich so geschlagen
    Nr. 40 – 43
    Bin ich gleich von dir gewichen / Des Morgens aber / Gebt mir meinen Jesum / Sie hielten aber einen Rat

    Nr. 45b (teilweise) – 46
    Jesus aber stand vor dem Landpfleger / Wie wunderbarlich ist doch diese Strafe

    Nr. 50c – 50e
    Da aber Pilatus sahe, dass er nichts schaffete / Ich bin unschuldig an dem Blut dieses Gerechten / Sein Blut komme über uns und unsere Kinder

    Nr. 52
    Können Tränen meiner Wangen

    Nr. 56 – 58e
    Und indem sie hinausgingen / Ja freilich will in uns / Komm, süßes Kreuz / Und da sie kamen an die Stätte

    63c
    Und es waren viel Weiber da

    66a – 66c
    Und Joseph nahm den Leib / Herr, wir haben gedacht / Pilatus sprach zu ihnen
    Matthäus-Passion BWV 244 Matthäus-Passion BWV 244 (CD)
    21.03.2013
    Booklet:
    4 von 5
    Gesamteindruck:
    4 von 5
    Klang:
    3 von 5
    Künstlerische Qualität:
    4 von 5
    Repertoirewert:
    4 von 5

    Dokument des Übergangs

    Am 31. März 1947 dirigierte Eduard Van Beinum seine erste Matthäus-Passion im Amsterdamer Concertgebouw. Er setzte damit jene Tradition fort, die am 08. April 1899 mit Willem Mengelberg begonnen hatte, von dessen Aufführung aus dem April jenen Jahres, in dem Hitler Polen überfiel, ein Mitschnitt erhalten ist, der HIER besprochen wird. Von den Aufführungen, die Van Beinum zwischen 1947 und 1958 geleitet hat, gab es nur einen Torso. Erst kürzlich wurde ein kompletter Mitschnitt aus dem Jahre 1958 entdeckt, der zeigt, warum die Rezensenten schon 11 Jahre zuvor von Van Beinums Aufführungen begeistert waren.

    Der Kritiker Gaffel drückt seinen Eindruck in der niederländischen Zeitung „Trouw“ folgendermaßen 1947 aus: „Bach tauchte endlich – gereinigt wie Rembrandts ‚Nachtwache’ – für jene die ihn noch nicht in Naarden getroffen hatten, in Amsterdam auf.“ In Naarden gab es bereits seit 1937 die Tradition, Bachs Passion ungekürzt und deutlich verinnerlichter, authentischer und aufzuführen als in Amsterdam.

    Leo Hanekroot von der heute nicht mehr existierenden „De Tijd“ holt etwas weiter aus: „Nüchternheit, Transparenz, Intimität und sinnvolle Zurückhaltung bei gleichzeitiger Berücksichtigung des Ausdruckes: dies sind die Elemente, die Van Beinums Ansatz auszeichnen. Er hat jener individualistischen Haltung abgeschworen, die die Solisten in den Vordergrund stellt, und stieß das Tor zu den Tiefen des Werkes und das Fenster auf, das das Werk zur Ewigkeit hin eröffnet. Darüber hinaus respektiert er die von Bach geforderte Orchesterbesetzung und behält die Trennung des Doppelchors durchgehend bei.“

    Tatsächlich wirkte Beinums Bach in seiner Abkehr von Mengelbergs Ausführungsprinzipien auf die Zeitgenossen ausgesprochen modern. Für heutige Ohren, die bisweilen (nur) an einen minimale Besetzung a là McCreesh oder Kuijken kennen, ist das wahrscheinlich kaum nachvollziehbar - es sei denn, man hört direkt nacheinander Mengelbergs Einspielung und dann diese. Aus gegenwärtiger Perspektive klingt diese Aufnahme der Passion, die im Übrigen im gleichen Jahre entstand wie Karl Richters herausragende erste Einspielung des Werkes, groß, erhaben, „romantisch“ - aber auch ungekünstelt, im besten Sinne schlicht und eben ohne die Extravaganzen, die Mengelberg sich geleistet hatte.

    Die Solisten, die Van Beinum bei dieser Aufführung zur Verfügung standen, gehörten - neben den beiden Schweizern Haefliger und Rehfuss (der gebürtiger Frankfurter war) – zum Besten, was die Niederlande in jenen Jahren zu bieten hatten. Doch zunächst zu Haefliger und Rehfuss.

    Ernst Haefliger gestaltet die Rolle des Evangelisten würdig, in erzählendem Gestus, im Ganzen eher dezent als hochemotional gestaltend. Es ist ein Evangelist, der vom Affekt nicht allzu stark beeinflusst wird, sondern das Stimme gewordene Evangelium, meist über den Dingen stehend. Umso eindrucksvoller ist es, wenn er Akzente setzt – beispielsweise bei Jesu Gefangennahme, vor Pilatus („…aber Jesus schwieg stille.“), bei der Darstellung des Weinen Petri oder der Kreuzigungsszene. Stimmlich ist Haefliger vollkommen auf der Höhe.

    Heinz Rehfuss wurde als Sänger zu seiner Zeit stark mit Rollen wie Don Giovanni, Golaud oder – ganz besonders – Boris Godunow assoziiert. So ist es kein Wunder, dass wir hier einem großen Jesus begegnen. Rehfuss’ Stimme ist groß, aber nicht polternd (wie Engen bei Richter), nicht mehr ganz jung und große Würde ausstrahlend. Er passt hervorragend zu Haefligers Evangelisten, weil er keinen Mensch gewordenen Gottessohn zeichnet, sondern einen auch in den schwersten Momenten seines Leidens kaum anfechtbaren Sohn Gottes. Die über ihn kommenden Zweifel im Garten Gethsemane nehme ich ihm nicht so recht ab. Hier ist einer, der um seine Herkunft und um seine Auferstehung weiß.

    Erna Spoorenbergs Darstellung der Sopranpartie spricht mich unmittelbar an. Ihr Vortrag ist ausgesprochen nuancenreich, nie wirkt sie aufgesetzt (man höre die ehrliche Empörung im B-Teil der Arie „Blute nur“), ist immer intensiv (wie wunderbar gelingt ihr beispielsweise das von Van Beinum sehr langsam genommene „Wiewohl mein Herz in Tränen schwimmt“). Die zentrale Arie „Aus Liebe will mein Heiland sterben“ geht mir geradezu ins Mark.

    Annie Hermes, die die Matthäus-Passion schon bei Mengelberg, aber auch in Naarden schon häufig gesungen hatte, war eine der gefragtesten Oratoriensängerinnen ihrer Zeit. Ihre voller, warmer, echter Alt hat einen mütterlichen jedoch nie matronenhaften Ton, den sie (auch in hoher Lage) ganz ohne Druck und Anstrengung führt. Wunderbar gelingt ihr das „Ach wo ist mein Jesus hin“, ihre Wiedergabe des „Erbarme dich“ und des „Ach, Golgatha!“ ist im Affekt leicht zurückgenommen, sie drückt nicht auf die Tränendrüse, sondern singt ganz natürlich und darin ausgesprochen berührend.

    Die Rezitative und Arien für Tenor sind Simon van der Geest anvertraut, der in den Niederlanden auch ein gefragter Evangelist war (Naarden). Seine helle, lyrisch und ganz klare Tenorstimme, die dennoch über einen starken Kern verfügt, finde ich ausdrucksstark und für diese Partie bestens geeignet. Das zeigt sich auch in seiner technisch und gestalterisch vollkommen sicheren Wiedergabe der nicht unproblematischen Geduld-Arie.

    Der zu seiner Zeit renommierte niederländische Chorleiter und Bassbariton David Hollestelle übernimmt die Gestaltung der Bassarien – und Accompagnati. Auch er hat eine große Stimme mit wotanesker Klangfarbe, die er jedoch durchweg leicht zu führen versteht und die auch in der hohen Tessitur immer geschmeidig klingt. Lediglich für die etwas virtuosere Arie „Gebt mir meinen Jesum wieder“ ist die Stimme einen Tuck zu schwer.

    Hans Willbrink gestaltet die kleineren Bass-Partien (Petrus, Judas, Pilatus) plastisch, mit gutem Gespür für die „Szene“.

    Der Amsterdamer Tonkunstkoor ist seit Mengelberg im Concertgebouw für die Gestaltung der Chöre der Matthäus-Passion zuständig. Bei Van Beinum sind es sicher keine 450 Sängerinnen und Sänger mehr, es ist aber immer noch ein großer Chor. Doch letztendlich wird nicht versucht, durch die schiere Klangmasse zu überwältigen. Sicher, der Chor kann in den Turbae sehr schön zupacken. Es ist schon eindrucksvoll, wenn das „Ja nicht auf das Fest“ im Piano beginnt und sich dann in Tempo und Lautstärke so machtvoll steigert wie hier. Auch das Keifen des „Weissage, weissage“, die „Kreuzige-Chöre“ ist in dieser Besetzung überwältigend, aber das ist nicht alles. Der Chor hat auch ein herrliches Piano, kann ganz zurückgehen, ist recht flexibel und meist sehr präzise. Es gehört zu den Realitäten von Live-Aufführungen, dass es Momente gibt, in denen sich ein Wackler einschleicht und hier ist es bspw. In „Ach! nun ist mein Jesus hin“ / „Wo ist denn dein Freund hingegangen“ soweit. Aber wer wollte dies bekritteln?

    Mir gefällt Van Beinums Ansatz gut, er deutet in seinem insgesamt zurückgenommenen Gestus schon auf die verinnerlichte niederländischen Interpretationslinie hin, die sich in den folgenden Jahrzehnten entwickelte und die mich persönlich wohl am meisten anspricht. Die von den Zeitgenossen wahrgenommene Modernität steckt mE in der Haltung dem Werk gegenüber, nicht so sehr in der musikalischen Ausführung. Da gibt es schon eine Verwurzelung in der romantisierenden Tradition, beispielsweise in den sehr moderaten (aber insgesamt dennoch immer fließenden) Tempi, in der mehr oder minder identischen Herangehensweise an die unterschiedlichen Choräle, die Van Beinum durchweg als Momente der Ruhe, als ein Atemholen inszeniert. Schließlich sind die wenigen Takte des "Wahrlich, dieser ist Gottes Sohn gewesen" kurz große Oper.

    Meines Erachtens ein wichtiges Dokument.
    Symphonie Nr.2 Symphonie Nr.2 (CD)
    02.08.2012
    Klang:
    5 von 5
    Musik:
    5 von 5

    Under pressure - Venzago dirigiert Bruckner 2

    Die von mir kürzlich angschaffte Einspielung der zweiten Symphonie mit der Northern Sinfonia (Gateshead) unter Leitung von Mario ist zugleich die außergewöhnlichste in meinem kleinen Bruckner-Regal. Ich hatte im Vorfeld bereits etwas zu Venzagos gegenwärtig entstehenden Brucknerzyklus gelesen, war aber bisher noch nicht versucht, etwas davon anzuschaffen. Dieser Zustand ist nun Vergangenheit, der Zyklus wird peu à peu gekauft.

    Venzago Motivation für die Einspielung seines Bruckner-Zyklus' ist es, einen "anderen Bruckner" zu präsentieren, einen Bruckner, der von seiner Aufführungstradition befreit wird:

    "Wie man beobachten kann, hat sich bei Bruckner eine Tradition des Massigen etabliert, die sich von Generation zu Generation weiter vererbt. Das Lärmige, Dicke, das Pathetische, das protzige, die sich aufrecht an den Taktstrichen entlang hangelnde Behäbigkeit, eine neoklassizistische Motorik, das alles hat sich erhalten und gilt als Bruckners Stil. [...] Auch wird 'aufgerüstet'. Mit 20 Ersten Violinen kommen die großen Sinfonieorchester daher, wenn es um den Linzer Meister geht. Aber Bruckner hatte für die frühen seiner Sinfonien gerade mal 8 Erste Violinen (für die Linzer gar nur 6) zur Verfügung, die Hörner klangen ungleich leiser als die heutigen Instrumente, Posaunen und Trompeten spielten farbiger, sanft und gesanglich, Fortefortissimi sind relative Werte und meinen nicht brachiale Gewalt, [...]." (Venzago im Booklet zur gezeigten Aufnahme, S. 5 f.)

    Aus den Ausführungen Venzagos - die das gesamte, höchst interessante, weil Einblick in die Dirigentenwerkstatt gewährende Booklet füllen - wird schon vor dem Hören deutlich, was auf den Hörer zukommen wird. Und Venzago scheint ein Mann seines Wortes zu sein, denn er setzt seinen Blick auf Bruckner mit absoluter Konsequenz um.

    Schon der erste Einsatz macht das deutlich. Wir hören einen deutlich verschlankten Streicherapparat, die Celli setzen vollkommen virbratolos, mit einem fast barocken Ton ein. Das Tempo ist hoch, der Gesamtklang ausgesprochen durchsichtig, vielleicht sollte man sogar eher sagen: licht. Die Trompetenfanfaren werden nicht herausgeschmettert, sondern sind in den Gesamtklang integriert. Auch bei kompletten Blecheinsätzen im Forte werden die anderen Instrumentengruppen klanglich nie überlagert. Das zweite Thema nimmt Venzago leicht und tänzerisch. Im Verlauf des Satzes wird deutlich, dass sich Venzago sehr genau an die agogischen und dynamischen Vorgaben Bruckners hält. Jeder Abschnitts- und jeder Tempowechel wird hörbar gemacht, oft nutzt Venzago hier ein klares Rubato, wobei das immer höcht organisch und wenig gewollt wirkt. Mit diesen Mitteln formt Venzago ein höchst dramatisches Geschehen.

    Im Andante kann Venzago das hohe Niveau halten. Die lichte, kammermusikalische Qualität seines Musizierens kommt dem hochromantischen Chakater dieses Satzes, der hier fast wie ein Notturno gespielt wird, sehr entgegen. Lediglich bei der mE ungeheuer wichtigen und höchst atmosphärischen 12/8-Stelle hätte ich mich dann doch über eine etwas größere Geste, einen Moment des etwas volleren Klanges, einen etwas goldeneren Sonnenaufgang gefreut.

    Das Scherzo ist auf den Punkt hin musiziert, endlich einmal horizontal, nicht klobiges Gestampfe, sondern als unter Hochdruck nach vorn strebende Bewegung. Das Trio ist eher langsam und klingt weniger lyrisch, sondern eher gehemnisvoll. In der Coda dann erstmals in der ganzen Aufnahme mit sehr starker Pauke. Eindrucksvoller Effekt.

    Das Finale ist dann in der Tat "ziemlich schnell". Es geht sozusagen die Post ab. Man überlege sich, dass Venzago sieben Minuten schneller ist als beispielsweise der behäbige Maazel. Dabei ist nicht einfach alles ratzfatz heruntergefiedelt. Venzago ist in den schnellen Passagen einfach nur sehr flott. Das zweite Thema wird - wie es mE sein sollte - angenehm lieblich, ja geradezu sanft angegangen. Dann bricht wieder der Sturm los bis zu der großen drei Takte währenden Pause, auf die Venzago einen ganz herrlich mystisch präsentierten, die Musik der Renaissance evozierenden Choral folgen lässt. Eine wilde Coda beendet diesen Satz und eine Aufnahme, die man mE gehört haben sollte.
    The Great Service In The Chapel Royal The Great Service In The Chapel Royal (CD)
    01.08.2012
    Booklet:
    5 von 5
    Gesamteindruck:
    5 von 5
    Klang:
    5 von 5
    Künstlerische Qualität:
    5 von 5
    Repertoirewert:
    5 von 5

    Eindrucksvolle Aufnahme von Byrds "Great Service"

    Es ist immer schwer, eine gute Kritik zu schreiben, variiert die Beschreibung doch immer wieder ein "Das gefällt mir gut". Im Grunde könnte ich also einfach sagen: Ich bin sehr angetan. Warum also?
    Nun, die konkurrierende Aufnahme von William Byrds "Great Service" mit den Tallis-Scholars ist aufgrund des speziellen, glänzenden Tones des Ensembles und der herrlich halligen Akustik etwas besonderes, diese ist es aber - auf ihre Weise - auch. Denn während die Tallis Scholars den "Great Service" a capella musizieren, treten zu den Sängerinnen und Sängern des Ensembles Musica Contexta die Zinken und Sackbutten des English Cornett and Sackbut Ensemble colla parte spielend hinzu. Für diese Klangkonzeption bin ich sehr empfänglich, zumal sie - der lesenswerte Einführungxtext von Ensembleleiter Simon Ravens weist darauf hin - für Aufführungen in der Londoner Chapel Royal durchaus belegt werden kann.
    Die Choristen der Musica Contexta klingen insgesamter weicher und weniger brillant als Phillips' Sängerinnen und Sänger, was dem Byrdschen Klangzauber aber keinen Abbruch tut. Klingen die Tallis Scholars schon fast überirdisch, so hört man hier einen Byrd von dieser Welt. Hinzu kommt, dass die Musica Contexta für ihre Aufnahme nicht an die moderne, sondern die elisabethanische Aussprache des Englischen wählt. Ein für mich vollkommen aufgehendes Gesamtkonzept.
    La Resurrezione La Resurrezione (CD)
    29.04.2012
    Booklet:
    3 von 5
    Gesamteindruck:
    4 von 5
    Klang:
    4 von 5
    Künstlerische Qualität:
    4 von 5
    Repertoirewert:
    4 von 5

    Kultivierte Darstellung

    Ich kannte bislang McGegans Einspielung bei HMF und fand diese recht schön, obwohl sie streckenweise etwas Aseptisches hat. Kürzlich habe ich dann die Originalbox der Koopman’schen via zweite Hand für quasi nichts erstehen können, sodass ich davon abgesehen habe, die Neuauflage (von der ich nicht weiß, ob sie das Textbuch enthält) anzuschaffen.

    Auch Koopmans Einspielung ist in allen Aspekten höchst kultiviert und ausgesprochen klangschön. Der Effekt ist allerdings ähnlich wie bei McGegan: Das klingt streckenweise ausgesprochen glatt, wobei mich das zunächst einmal nicht über Gebühr stört.

    Da gibt es nämlich ganz wundervolle, ich möchte durchaus sagen perfekt musizierte Momente, beispielsweise die wunderbare Arie der Maddalena „Ferma, l’ali, e sui miei lumi“, die Nancy Argenta ganz berückend singt, der von Guillemette Laurens und dem Amsterdamer Orchester geradezu erschütternd gut gemachte B-Teil der Arie „Naufrangando va per l’ondo“ (Cleofe) oder San Giovannis große Arie „Ecco il sol, ch’ese dal mare“, die Guy de Mey wirklich herrlich singt.

    Allerdings will die von Koopman und seinem Ensemble umgesetzte Klangkultur immer dann nicht so recht passen, wenn der Lucifero erscheint. Klaus Mertens, den ich in Koopmans Bach-Einspielung an sich gerne höre (besonders in seiner ersten Einspielung der Matthäus-Passion), scheint mir hier nicht die ideale Besetzung zu sein. Das ist zwar alles tadellos gesungen, gleichzeitig aber auch etwas blutleer, zu vorsichtig und ohne wirklichen Sinn für die Rolle des Höllenfürsten. Koopmans Kultiviertheit ist da auch keine Hilfe. Ich hätte mir hier mehr Mut zu einer etwas ruppigeren Darstellung Luzifers gewünscht.

    Insgesamt eine solide Einspielung.
    Athalia Athalia (CD)
    29.04.2012
    Booklet:
    5 von 5
    Gesamteindruck:
    5 von 5
    Klang:
    4 von 5
    Künstlerische Qualität:
    5 von 5
    Repertoirewert:
    5 von 5

    Zu unrecht ungespielt - Händels "Athalia"

    Es gibt vier erhältliche Aufnahmen des von Händel für Oxford komponierten Oratoriums "Athalia". Von diesen möchte ich besonders Peter Neumanns Einspielung empfehlen, da sie mir – von Goodwin abgesehen, der allerdings die Londoner Fassung von 1735 spielt – als ausgesprochen gelungen erscheint, gelungener wenigstens als Hogwoods Aufnahme mit der fehlbesetzten Dame Joan Sutherland und Martinis Frankfurter Aufnahme, die einen wenig durchschlagkräftigen Chor und mit englischer Diktion überforderte Solisten präsentiert.

    Neumanns Aufnahme entstand im November 2003 in der Kölner Trinitatiskirche und gefällt mir besonders aufgrund ihrer sehr direkten, zupackenden und höchst dramatischen Herangehensweise. Das Drama um Athalia drängt bei Neumann mit hohem Druck nach vorne. Da geht es dann im Dienst der Sache auch schon einmal mit dem Dirigenten durch und er wählt sehr flotte Tempi, die den ein oder anderen Solisten an seine Grenzen führen. Dennoch macht das in sich Sinn und wirkt nicht aufgesetzt, sondern durchaus organisch.
    Die Partien sind ordentlich besetzt. Simone Kermes gestaltet die Titelpartie höchst eindrucksvoll und zeichnet ein facettenreiches Bild von der von finsteren Vorahnungen gequälten („What scenes of horror round me rise!“), listigen („Tis my intention, lovely youth“) und schließlich irrsinnig rasenden („To darkness eternal / And horros infernal / Undaunted I’ll hasten away.“) Königin. Olga Pasichnyks sphärisch leichter Sopran gefällt mir für Rolle der Josabeth ebenso gut wie Trine Wilsberg Lunds knabenhafte Stimme für den jungen Joacs/Eliakim. Die Partie des zu Athalia und den Anhängern Baals übergelaufenen Methan ist bei Thomas Cooley in guten Händen und Matrin Oró in der Rolle des Joad ist ein interpretatorisch sicherer und stimmlich nicht unattraktiver Altus. Lediglich Wolf Matthias Friedrich in der Rolle des Abner will mir nicht so recht behagen. Sicher, er hat am meisten mit Neumanns sehr flotten Tempi zu kämpfen; was mir aber viel weniger gefällt ist sein baritonales Timbre und sein schwaches tiefes Register. Ich bevorzuge eher macht- und kraftvolle Händel-Bässe. Aber das ist Geschmackssache.
    Der Kölner Kammerchor singt sehr diszipliniert, kultiviert und klangschön, wenngleich manchmal etwas weniger Klangkultur und etwas mehr Biss schön wäre. Das mag aber auch an der MDG-Aufnahme liegen. Das Collegium Cartusianum spielt glänzend.
    A Colour Symphony A Colour Symphony (CD)
    06.04.2012
    Booklet:
    5 von 5
    Gesamteindruck:
    5 von 5
    Klang:
    5 von 5
    Künstlerische Qualität:
    5 von 5
    Repertoirewert:
    5 von 5

    Unbekannter Bliss schlägt bekannten Bliss

    Bliss’ Spiel mit den Farben in der "Colour Symphony" ist von solch einem eindrucksvollen Einfalls- und Facettenreichtum und man kann Sir Edward Elgar nur danken, dass er Bliss anregte, etwas für das Gloucester-Festival zu schreiben (wenngleich er das Werk hinterher als zu modern empfand), woraufhin dann dieses eindruckvolle Opus entstand.
    Nicht alle Sätze des Werkes ziehen (in dieser Einspielung?) in den Bann.
    Besonders der zweite Satz Red – the Colour of Rubies, Wine, Revelry, Furnaces, Courage and Magic hat es mir angetan. Wie Sven Precht im Einführungstext zur Naxos-Aufnahme allerdings auf die Idee kommt, der Satz klinge wie „ein Hexensabbat“ ist mir einigermaßen schleierhaft. Das Finale der Symphonie fantastique klingt nach Hexensabbat, es ist quasi der Musik gewordene Hexensabbat – aber das Bliss’sche Red? Das ist doch ein Satz voller Energie, Drive, Lebenslust, orgiastischem Vorwärtsdrängen. Aber Hexensabbat? Kaum.
    Auch der dritte Satz Blue – the Colour of Sapphires, Deep Water, Skies, Loyalty and Melancholy spricht mich sehr an – vielleicht, weil er mich von seiner Sprache her sehr an Holst, aber auch an Delius erinnert. Pastoral, weich, voller Schönheit aber – wie Blau nunmal so ist – auch kühl, etwa so wie eine marmorne Venus-Statue.

    Die Meditations hingegen empfinde ich als ein Werk von durchgehend ganz außergewöhnlicher klanglicher und charakterlicher Noblesse. Bliss äußert sich in seiner Autobiographie ja dahingehend, dass es sich bei dem Werk um eines der aus seiner Perspektive zentralen seines Schaffens handelt. Ich empfinde schon den Beginn als ausgesprochen gelungen – wie wundervoll stellt die Oboe das erste Bruchstück des Blow’schen Themas vor. In seinem ausgesprochen interessanten Einführungstext charakterisiert Giles Easterbrook das Werk wie folgt:

    „It is both personal odysee and private tribute to a generation cut down in its youth, including his own brother, expressed with warmth, humanity and an objectivity of distance to give it power and durability.“

    Schön gesagt, finde ich. Tatsächlich empfinde ich das Werk, das hier wie wohl auch im allgemeinen in Bezug zum Sterben der in den Schützengräben an der Marne, an der Somme und bei Verdun verlorenen Generation gesetzt wird, bei allen bisweilen Klang gewinnenden dunklen Momenten (etwa in I will fear no evil oder in Through the valley of the shadow of death) als von Beginn an pastoral, tröstlich, Heilung verheißend (z.B. im der höchst klangintensiven Meditation V: In green pastures). Nicht umsonst gipfelt das Werk, nun das volle Thema Blows im besten Sinne festlich-affirmativ präsentierend, in einem Satz der mit In the House of the Lord überschrieben ist, den Vers des Psalms selbst zwar abkürzend, seine Kenntnis doch aber als bekannt voraussetzend: „And I will dwell in the House of the Lord.“ Die Gewissheit, dass die Toten des Ersten Weltkriegs bei Gott wohnen, ist wohl eine der ganz persönlichen Positionen des Komponisten.
    Il Trionfo del Tempo e del Disinganno Il Trionfo del Tempo e del Disinganno (CD)
    06.04.2012
    Booklet:
    4 von 5
    Gesamteindruck:
    5 von 5
    Klang:
    5 von 5
    Künstlerische Qualität:
    5 von 5
    Repertoirewert:
    5 von 5

    Bestmögliche Darstellung des jungen Händel

    Tim Ashely vom Londoner “The Guardian” bringt es auf den Punkt, wenn er schreibt: „One of the great Handel interpretations of our time.” (11.05.2007) Viel stimmiger kann man den jungen Händel kaum musizieren. Die vier Solisten sind bestens aufeinander abgestimmt, singen ohne Fehl und Tadel und zeigen in jedem Takt, was man mit einer locker sitzenden Stimme alles so machen kann. Dabei wird an keiner Stelle wirklich übertrieben - auch wenn Haïms schnelle Tempi bisweilen an der Grenze des Machbaren liegen. Es ist aber eben (nur) die Grenze und die Solisten beherrschen diesen Grenzgang einschränkungslos. Mich begeistern aber noch nicht einmal die ausschließlich virtuosen Arien übermäßig, sondern die ruhigen, kontemplativen (die bisweilen in ihrem B-Teil dann auch vor Virtuosität nur so sprühen), wie beispielsweise „Urne voi, che racchiudete“ (Tempo) oder die bereits an die große Arie des Jephtha („Waft her angels through the skies“) erinnernde Arie Disingannos „Crede l’uom ch’egli riposi. Dass das Oratorium schließlich nicht – wie man es vielleicht zunächst erwarten würde – mit einem Ensemble endet, sondern mit der wunderschönen Arie der Bellezza „Tu del Ciel ministro eletto“ (in der Corelli wohl das ätherische Violinsolo spielte), ist nur logisch. Es ist, wenn man so will, eine Bilanzarie, die das Ergebnis des Diskurses, der ja auf Anregung von Bellezzas Eingangsarie anhebt, zusammenfasst.
    Judas Maccabaeus Judas Maccabaeus (CD)
    20.09.2011
    Booklet:
    4 von 5
    Gesamteindruck:
    4 von 5
    Klang:
    4 von 5
    Künstlerische Qualität:
    4 von 5
    Repertoirewert:
    4 von 5

    Mackerras goes Händel

    Bisweilen ist es durchaus schön, Händel in historisierender Interpretation zu hören - man denke beispielsweise an den großartigen "Messiah" unter der Leitung von Trevor Pinnock.

    Wenn man Musik nicht dogmatisch hört, so ist es bisweilen aber ebenso schön, Händel in "klassischer" Interpretation zu erleben. Die vorliegende Aufnahme des herrlichen, in Deutschland leider viel zu selten live zu hörenden Oratoriums "Judas Maccabaeus" ist für letztere Behauptung der beste Beleg.

    Grund dafür ist zum einen die vorbildliche, sich organisch entwickelnde und in allen Teilen ausgesprochen ausgewogene Interpretation des australischen Altmeisters Sir Charles Mackerras. Zum anderen sind es die exquisit musizierenden Ausführenden, allen voran, die glänzende Dame Janet Baker. Klangvoller und intelligenter gestaltet habe ich die Alt-Arien des Oratoriums (besonders das "Wise men flatt'ring") bisher selten gehört. Aber auch Ryland Davis Judas überzeugt durch klaren metallischen Klang und die notwendige Kampfeslust ("Sound an alarm") in der Darstellung. Stimmig fügt sich der wuchtige Bass John Shirley-Quirks als Simon ein, dessen Darstellung der Bass-Arien ("The Lord worketh wonders") Maßstäbe setzt. Abschließend rundet Sopranistin Felicity Palmer die exzellente Solistengruppe ab.

    Der Wandsworth School Choir meistert die dramatischen bis volkstümlichen Chorsätze ("See the conqu'ring hero comes") von wenigen Ausnahmen abgesehen sehr ordentlich und das glänzend disponierte English Chamber Orchestra besticht sowohl durch seine schöne Klangfarbe und seine Fähigkeit zur detailreichen Gestaltung.

    Insgesamt eine klassische Aufnahme, die mich trotz ihres Alters immer noch und immer wieder überzeugt.
    Symphonien Nr.4 & 7 Symphonien Nr.4 & 7 (CD)
    17.09.2011
    Booklet:
    5 von 5
    Gesamteindruck:
    5 von 5
    Klang:
    5 von 5
    Künstlerische Qualität:
    5 von 5
    Repertoirewert:
    5 von 5

    Elegantes aus Viktorias Zeiten

    Schön ist die Musik Stanfords. Sicher, sie ist nicht das, was man erst einmal erwartet, wenn man an englische Musik denkt, steht sie zeitlich doch vor der eigentlichen musikalischen Renaissance in England.

    Stanford, der in Deutschland das Kompositionshandwerk erlernte, ist stark von der deutschen Tradition, von Schumann, von Brahms geprägt. Sein Personalstil, der sich durch eine glanzvolle spätromantische Sprache auszeichnet, ist sehr gut zu hören, wenn man keine stilistischen Neuerungen erwartet. Diese Musik ist in ihrer Grundhaltung rückwärtsgewandt, aber nicht sentimental. Sie beweint nicht die "Tempi passati", sondern ist durchweg von sich selbst überzeugt und in ihrer Grundhaltung positiv, was sie auch sein kann, denn sie ist handwerklich ohne jeden Fehl und Tadel.

    Die hier gekopppelten Werke überzeugen in ihrer Darstellung völlig. David Lloyd-Jones und das Bournemouth Symphony Orchestra widmen sich dieser lange vernachlässigten Musik mit viel Inbrunst. So gelingt schon der erste Satz der Vierten, die sich ebenso frank und frei irischer Motivik bedient wie die den Beinamen "Irish" führende Dritte, sehr gut. Es wird beschwingt musiziert, man hört Musik wie für einen fröhlichen Weekend-Nachmittag "in the countryside". Doch bleibt es nicht dabei. Der dritte Satz ist einer der grüblerischen, ja schon bald tragischen Sätze Stanfords und Lloyd-Jones und das Bournemouth Symphony Orchestra gelingt es bestens umzuschalten und den Satz mit der nötigen Gravitas zu spielen. Hier hört man denn nun auch, wie sehr Stanford Brahms verpflichtet ist, dessen dunkler Ton hier Pate gestanden hat.

    Ein ähnlicher Ton herrscht in der Siebten vor, die - die kürzeste der Symphonien - ausgesprochen konzentriert daher kommt. Stanfords Musik galt zum Zeitpunkt der Komposition (1912) als Schnee von gestern. und doch zeigt das Werk noch einmal die Qualitätetn, die seine Musik ausmachen: glänzende Instrumentierung, elegenate Motivik und vollkommende Beherrschung der Form. Dabei brechen hier durch den "schönen Schein" dieser Musik nun häufiger Elemente, die es vormals nicht gab: Nervosität, plötzliche Trübungen, heraufziehende Wolken vor der britischen Sonne.

    Insgesamt sehr zu empfehlen!
    Kantaten BWV 51,82,84,199,202,209 Kantaten BWV 51,82,84,199,202,209 (CD)
    13.09.2011
    Booklet:
    3 von 5
    Gesamteindruck:
    5 von 5
    Klang:
    5 von 5
    Künstlerische Qualität:
    5 von 5
    Repertoirewert:
    5 von 5

    Lehrstunde in barockem Musizieren

    Es ist schon eine Freude, wenn man eine Aufnahme erwirbt wie diese. Sicher, bei der Besetzung glaubt man auch nicht viel falsch machen zu können, sind hier doch offenkundig Spezialistinnen im Feld der Barockmusik am Werk. Nancy Argenta, eine der favorisierten Sängerinnen Gardiners, seit Jahrzehnten höcht erfolgreich, gestaltet den Vokalpart der Kantaten und Monica Huggett, selbst Barockviolinistin, die mit allen großen HIP-Ensembles musiziert hat, leitet das Ensemble Sonnerie, das wiederum ein hochspezialisiertes britisches Ensemble für Alte Musik ist.
    Doch allein das macht's ja nicht, denn bei aller Perfektion fehlt manchen ebenso hochkarätig besetzten Produktionen gerade aufgrund ihrer Perfektion bisweilen der zündende Funke. Da klingt es gerne einmal zu professionell, zu routiniert, kühl und leidenschaftlos. Nicht so hier. Aus dieser Aufnahme strömt nicht nur die Kenntnis der Materie, sondern auch eine Begeisterung für diese, die sich in einer durchweg gehaltenen Intensität des Musizierens ausdrückt, ein Musizieren, das nicht nur den Geist befriedigt, sondern auch das Herz ergreift. So bspw. in BWV 82a, der Sopranversion der Kantate "Ich habe genug", die eine schlicht meisterliche Interpretation erfährt. Gleiches gilt für den gesamten Rest, ob es nun BWV 84 ("Ich bin vergnügt mit meinem Glücke") oder die berühmte BWV 51 "Jauchzet Gott in allen Landen" ist. Möchte man die für Sopran gesetzten Kantaten Bachs im Schrank stehen haben, so bietet sich diese Aufnahme vorbehaltlos an - und dies zu einem höchst attraktiven Preis.
    Rigoletto Rigoletto (CD)
    18.08.2011
    Booklet:
    2 von 5
    Gesamteindruck:
    4 von 5
    Klang:
    3 von 5
    Künstlerische Qualität:
    4 von 5
    Repertoirewert:
    4 von 5

    Gute Ensembleleistung, schwache Tontrechnik

    Nun, die beste aller Rigoletto-Einspielungen mag diese aus dem Jahre 1994 vielleicht nicht sein. Gut ist sie allemal, obwohl sie keinen audiophilen Genuss darstellt. Ich frage mich, wie Sony das überhaupt hinbekommen hat. Die Aufnahme klingt (und nochmals sei darauf verwiesen, dass wir von einem modernen Mitschnitt sprechen) selbst für eine Bühnenmitschnitt dumpf, streckenweise sogar muffig, die Sänger scheinen ausgesprochen weit weg, das Orchester ist enorm weit vorne, sodass man, dreht man am Lautstärkeregler, um die Sänger gut hören zu können, bei Orchesterausbrüchen darauf gefasst sein muss, dass auch noch der Nachbar zwei Häuser weiter aus dem Schlummer spontan in die Vertikale getrieben wird.

    Ignoriert man das und sieht stattdessen das Gute im Schlechten (schließlich lernt man so ja auch einmal den Orchesterpart sehr intim kennen), so kann man schön gemachten Verdi hören.

    Renato Brusons Darstellung des buckligen Narren Rigoletto ist bestens durchdacht. Die komplizierte Psychologie dieser Figur, die hier widernatürlich seine Frau zur Gattin machen und darum unter allen Umständen ihr Erwachen zur eigenständigen Weiblichkeit unterbinden will, ist durchaus Brusons Sache. Sei es Boshaftigkeit ("Allora la testa...)", seien es zärtliche Töne ("Ah! veglia, o donna, questo fiore"), sei es die schiere Verzweiflung ("Cortigiani, vil razza dannata"): Bruson findet stets den rechten Ton, die schlüssigste Phrasierung. Auch ist er trotz seiner zum Aufnahmezeitpunkt 58 Lenze noch gut bei Stimme, lediglich in tiefer Lage fehlt seiner Stimme der Biss, die Tragfähigkeit und zu Beginn des "Sì, vendetta" schwimmt er kurz. Aber das ist halt auch live.

    Ganz ausgesprochen gut gefällt mir Andrea Rost als Gilda und es wundert mich nicht, dass diese Mailänder Aufführung(en) ihr Durchbruch waren. Wie herrlich naiv ist sie doch, dabei jedoch gleichzeitig kein Dummchen und kein schnell zu habendes Mädel. Sie ist in der Tat der Engel, den ihr Vater permanent besingt, ein leuchtendes Wesen in dieser von Männern und deren dunklen Gelüsten dominierten Welt. Ihr "Caro nome" ist ein kleines, helles Wunderwerk, ihre Aufopferung für die Liebe glaubwürdig, ihr Tod berührend.

    Schließlich passt auch Roberto Alagna in die Rolle des Triebgesteuerten Libertins. Er bringt eine frische Jugendlichkeit in die Partie, eine flatterhafte Verantwortungslosigkeit, einen schamlosen und reizvollen Hang zum schnellen Sex. Das macht ihn zwar nicht sympathisch, aber auch nicht durchweg abstoßend. Im Grunde zeichnet er den Duca wie einen hormongesteuerten Siebzehnjährigen, der die Frauen feiert, wie sie fallen. Das ist moralisch zwar sicher nicht astrein, aber - seien wir ehrlich - nicht ganz unrealistisch. Zupass kommt Alagna dabei seine leicht geführte, dennoch aber kernige und glänzende Stimme, die mit der Tessitura dieser Partie keinerlei Probleme hat.

    Nicht ganz überzeugen mich die Nebenrollen. Dimitri Kavrakos' Sparafucile fehlt nach meinem Dafürhalten die Dämonie, das Nachtschwarze der Stimme. Sicher, er legt den serviceorientierten Mörder anders an. Er gibt eher den Dienstleister, den Geschäftsmann, für den es ebenso natürlich wie unaufregend ist, jemanden für zwanzig Scudi um die Ecke zu bringen. Andere Leute belegen Pizza, dieser legt Leute um. Kann man so machen, ist auch nicht weit her geholt, gefällt mir aber trotzdem nicht so recht. Seine Schwester Maddalena ist mit Mariana Pentcheva nicht sonderlich reizvoll besetzt. Man hört eine dicke Stimme, die etwas Matronenhaft-Waberndes hat. Dass der Duce auf diese Maddalena anspringt kann so nur zwei Gründe haben. Entweder nimmt er alles, was nicht bei Drei auf dem Baum ist, oder er hat ein Mutterproblem.

    Dass man den Orchestersatz gegenüber den Sängern stets sehr präsent erlebt, habe ich ja oben schon gesagt. Sieht man von der so entstehenden Missbalance einmal ab, so hört man, wie glänzend Muti Verdis Musik durchleuchtet. Da wird sehr detailreich gearbeitet, die hier wirklich wichtigen Holzbläser kommen gut zur Geltung, die Übergänge und das Timing sind perfekt, das Ganze steht unter hohem Innendruck, ohne dass man den Eindruck hätte, das Werk würde gewaltsam durchgeprügelt.

    Für mich - von der Tontechnik abgesehen - eine recht runde Sache.
    Violinkonzert Violinkonzert (CD)
    02.07.2011
    Booklet:
    1 von 5
    Gesamteindruck:
    5 von 5
    Klang:
    5 von 5
    Künstlerische Qualität:
    5 von 5
    Repertoirewert:
    5 von 5

    Elgat at his best

    Mit dem Violinkonzert Elgars haben es viele Hörer nicht leicht. Es ist von außergewöhnlichen Dimensionen, nicht so leicht zugänglich wie so vieles anderes von dem Komponisten, sehr virtuos, eine Herausforderung für den Hörer und auch für den Solisten.
    Gerade letztes führt dazu, dass das Werk immer wieder neu eingespielt wird, denn wer das spielen und überzeugend gestalten kann kann, der ist wahrhaftig auf dem Gipfel seiner Zunft angekommen. Gleichzeitig bedeutet dies, dass man auf eine immens lange Interpretenreihe zurückblicken kann, an der man sich, will man eine weitere Lesart präsentieren, messen lassen muss. Da ist die bis heute vielleicht in ihrer Intensität unerreichte Aufnahme mit Albert Sammions, da ist der junge Menuhin, der sich unter Sir Edwards Leitung die Seele aus dem Leib spielt, da ist der noble Heifetz und in Folge wirklich alles, was Rang und Namen hat bis hin zum Star der Gegenwart: Hilary Hahn.

    Die ursprünglich aus den frühen 90ern stammende Aufnahme Salvatore Accardos ist nun bei Briliant erschienen und somit ein Schnäppchen für jeden, den dieses Werk interessiert. Dabei ist nicht nur der läppische Preis ein Grund, die Aufnahme ins heimische CD-Regal zu stellen. Nein, die Aufnahme ist einfach ausgprochen gut, Accardo beherrscht die Partie ohne Fehl und Tadel, sein Ton ist brillant, die Herangehensweise sehr gesanglich, die Gestaltung der virtuosen Ausbrüche ist packend, die ruhigen Momente sanft, emotional und introspektiv. Dabei achten sowohl der Solist auch der das London Symphony Orchestra glänzend führende Richard Hickox darauf, dass das Werk nicht zu einem bloßen Virtuosenkonzert verkommt, sondern dass hier Elgar musiziert wird. Es geht nicht um Accardo, es geht um Elgar. Kein Wunder, war doch Hickox sein ganzes - viel zu kurzes - Leben lang, ein Spezialist in Sachen Elgar. Und so dienten Solist, Orchester und Dirigent in schöner Harmonie dem Werk und es entstand Aufnahme, die man sich nicht entgehen lassen sollte, zumal auch der Walton nicht nur eine Dreingabe, sondern eine ausgesprochen solide Aufnahme des deutlich seltener zu hörenden Werkes ist (wenn vielleicht nicht ganz so inspiriert wie diejenige Heifetz').
    Aida Aida (CD)
    03.06.2011
    Booklet:
    3 von 5
    Gesamteindruck:
    5 von 5
    Klang:
    5 von 5
    Künstlerische Qualität:
    5 von 5
    Repertoirewert:
    5 von 5

    Luxusaufnahme der Aida

    Eine luxuriösere Besetzung kann man sich wohl kaum vorstellen, auch wenn der ein oder andere Zweifler glauben mag, Montserrat Caballé als Aida sei eine eher problematische Angelegenheit. Und dann auch noch das Aufnahmedatum: 1974. Das ist in etwa die Zeit, in der sie sehr viele Aufnahmen völlig unterschiedlicher Qualität abgeliefert hat. Diese hier ist allerdings eine von denen, die man getrost auf der „Haben“-Seite verbuchen kann. Die Caballé präsentiert eine glaubwürdige, jugendliche Aida, ohne technische Manierismen, klar, gestaltungsmächtig und – man muss schon fast sagen: natürlich mit einigen ihrer schönsten Pianissimi, die so einfach niemand sonst kann (Schluss ihrer großen Nil-Szene). Das verschwindet der Ton fast bis an die Grenze des Hörbaren und dennoch bleibt er ganz präsent und ohne Wackelei im Ohr. Daneben bringt sie auch genug Kraft mit, um auch in den wuchtigsten Ensembles nicht unterzugehen, allerdings ohne dass das in bloßes Geschrei ausartete.

    Plácido Domingo gibt einen jugendlich frischen Radamès, jeder Zoll ein Held. Da stört es mich schon fast nicht, dass er das von Verdi leise gewünschte „Celeste Aida“ durchweg zu laut singt (besonders den Schluss). Seine Gestaltungskraft schafft insgesamt jedoch ein überzeugendes Rollenportrait. So gehört seine große Dialogszene mit Amneris für mich zu den stärksten Momenten dieser Aufnahme.

    Zu einem starken Dialog gehören ja nun aber altbekanntlich zwei und Fiorenza Cossotto als Amneris lässt sich hier von den beiden anderen „Stars“ nicht die Butter vom Brot nehmen. Die rasend eifersüchtige, hasserfüllte und dann wieder reuige Pharaonentochter immer stimmig darzustellen fordert eine große stimmliche und auch schauspielerische Flexibilität, die sie wie wenige mitbringt. (Großartig: der "Zickenalarm" zu Beginn des zweiten Aktes!)

    Nicolai Ghiaurovs Ramfis ist klangmächtig, sich seiner institutionellen und gesellschaftlichen Bedeutung bewusst. Selten laufen mir einmal Schauer über den Rücken, aber seine Befragung des Radamès im vierten Akt („Radamès, Radamès, Radamès“) klingt so dunkel, düster und schon fast aus den Schächten der ägyptischen Unterwelt tönend, dass es mich förmlich gruselt.

    An Piero Cappuccillis Darstellung des Amonasro ist bisweilen herumgemäkelt worden. Ich kann das insoweit nachvollziehen, als dass sein erster Auftritt keinen besonderen Eindruck hinterlässt. Aber seine Auseinandersetzung mit seiner Tochter empfinde ich als hochdramatisch und sehr plastisch gezeichnet.

    Einen sehr royalen Eindruck hinterlässt auch Luigi Ronos König von Ägypten. Sonor im Ton und mit der nötigen Autoriät: So soll ein Regent klingen.

    Der viel geforderte Chor des Royal Opera House, Covent Garden gehört zu den besten seiner Zunft und wird seinen reichhaltigen Aufgaben mehr als gerecht. Besonders erfreulich finde ich die hier dezidiert eingesetzt Klangregie, die einen dreidimensionales, bühnengerechtes Hörerlebnis gewährleistet (Chor im Tempel, vor dem Tempel, bei Festlichkeiten etc.).

    Besonders gefällt mir jedoch Riccardo Mutis Zugriff. Wie auch die anderen Verdi-Produktionen, die aus seiner Londoner Zeit stammen (allen voran der fantastische Macbeth, dann sein Maskenball und auch Nabucco), fällt auch hier sein straffer Zugriff auf. Zügige Tempi, gezielt eingesetzte, im Ton am ehesten als hart zu beschreibende, recht vehemente Fortissimi auf der einen Seite, auf der anderen dann ein sicheres Gefühl für zartes, schillerndes Spiel (der Beginn des Nil-Aktes klingt hier schon fast ein wenig impressionistisch), für dramatischen Sopannungsaufbau, für Melodie und Bogen. Das New Philharmonia Orchestra setzt dies exzellent um und ist damit der tragende Pfeiler des unverwechselbaren Londoner "Muti-Sounds". So darf Verdi für mich klingen.
    Mefistofele Mefistofele (CD)
    31.05.2011
    Booklet:
    5 von 5
    Gesamteindruck:
    5 von 5
    Klang:
    5 von 5
    Künstlerische Qualität:
    5 von 5
    Repertoirewert:
    5 von 5

    Unrerreichter "Mefistofeles"

    Wenn man sich vier, ach was sage ich: fünf vokale Mercedes’ in die heimatliche CD-Garage stellen möchte, so kaufe man diese Aufnahme. Da hätte man in einem Paket das glänzende Quartett Ghiaurov, Pavarotti, Freni und Caballé und dann als fünften Boliden den ganz exquisiten Chor. Mehr geht kaum, zumal bei dieser Produktion, die 1982 unter der umsichtigen, sängerfreundlichen und höchst sinnlichen Leitung des greisen Oliviero de Fabritiis entstand, wirklich alle genannten Damen und Herren fabelhaft singen. Ich weiß im Grunde überhaupt nicht, wo ich mit dem Lobgesang beginnen soll. Vielleicht am besten beim Teufel selbst.

    Nicolai Ghiaurov präsentiert uns einen kraftvollen Mefistofeles, der aber auch so überhaupt nichts für das menschliche Geschlecht über hat. Das ist nicht der listige und elegante Verführer, sondern ein geradezu Kraftpaket, kein Unterteufel, sondern ein saftiger Kraftmeier, der sich nicht nur nicht vor dem Herrn fürchtet, sondern sich in seiner Position als Gegenspieler als vollkommen gleichberechtigt sieht. Trotz seiner ja eher schweren Stimme hat Ghiaurov keine Schwierigkeiten mit der streckenweise bewusst fratzenhaft-karikierenden Stimmführung der Partie, vielmehr kostet er diese weidlich aus und macht das damit, was auch der Mefistofeles tut: Er pfeift sich eins.

    Luciano Pavarotti legt den Faust – und das ist vielleicht für den ein oder anderen eine interpretatorische Schwäche – nicht als Grübler an, sondern als unbefriedigten Renaissancemenschen. Sein Faust klingt entschlossen das Unergründliche zu ergründen und er bereut am Ende nichts. Stimmlich ist Pavarotti voll auf der Höhe. Strahlend im Forte, lieblich in den Duetten, bisweilen vollkommen zurückgenommen (besonders sein Resümee "Giunto sul passo estremo").

    Und: Ein so herrliches „Lontano, lontano, lontano“ wie hier habe ich noch überhaupt nicht gehört. Was Pavarotti gemeinsam mit der als Margarete schlicht berückenden Mirella Freni aus der (nicht ganz ungetrübten) Naivität dieses Duettes herausholt ist atemberaubend. Doch glänzt die Freni nicht nur hier. Insgesamt trifft sie durchweg den richtigen Ton für das Gretchen und ihre Wahnsinnsarie („L’altra notte in fondo al mare“) ist ein interpretatorisches Meisterstück, ebenso wie ihr endgültiger Abschied von Faust, bis hin zum schaurigen "Enrico...mi fai ribrezzo!"

    Und dann Montserrat Caballé als Helena. Obwohl sie in den Achtzigern nicht mehr immer gut war und bisweilen eher gruselige Scheiben eingespielt hat, so ist diese doch auf der Haben-Seite zu verbuchen. Die üppige Sinnlichkeit der Helena ist genau ihre Sache. Allein schon der Beginn des viertes Aktes („La luna immobile“ und dann vorallem „L’aura serena“) klingt so delikat, dass man die Szene vor sich sieht, nein förmlich fühlt (man bedenke, dass Helena mit Panthalis in einer Barke aus Silber und Perlmutt hereinschweben). Und dann die Klangrausch des großen Duetts „O incantesimo! parla! parla!“. Das ist, als wollten sich die Caballé und Pavarotti einen Wettstreit im Schöngesang liefern („Ah! Amore! mistero! celeste, profondo“), wobei zur Freude des Höres lediglich ein Remis dabei herauskommt.

    Makellos ist auch der vielfältig zum Einsatz kommende London Opera Chorus, wobei er natürlich gleich den Prolog quasi allein bestreitet. So einen Einstieg in eine Oper hatte ihn Italien bis zu diesem Zeitpunkt noch nicht gehört und hier wird mir ganz deutlich, wie sich der Zuhörer ehedem gefühlt haben muss. Mir treibt die güldene Archaik dieses Hymnus noch heute Schauer über den Rücken.

    Diese Aufnahme gehört in jedes CD-Regal.
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