Endlich
Eine Gesamteinspielung der Sinfonien der eigenwilligen Petersburger Komponistin war schon lange überfällig. Aufnahmen der Sinfonien Nr. 2 bis 5 waren im Jahr 2000 beim Label Megadisc erschienen (Dmitri Liss, Klavier; Oleg Malov, The Ural Philharmonic Orchestra, The St.Petersburg Soloists) - eine verdienstvolle Produktion, die aber von der neuen BIS-Produktion in jeder Hinsicht übertroffen wird. Was man bei der älteren Einspielung an noch unausgeschöpften musikalischen Potentialen erahnen konnte - hier wird es verwirklicht!
Der extreme Stil von Ustvolskayas Musik mag einer Gesamtdarstellung ihrer Sinfonien ebenso entgegen gestanden haben wie die Strenge, mit der Ustvolkaya Aufnahmen ihrer Musik in der Vergangenheit bewertet hat. Sie legte Wert darauf, dass ihre Werke partiturgenau und mit der richtigen Intensität gespielt werden: klar, präzise, kompromisslos ausdrucksgeladen. Als die Komponistin 2006 verstarb, war ihr Lieblingsinterpret der Dirigent Reinbert de Leeuw, der mit ihr bei der Erarbeitung ihrer Werke eng zusammen gearbeitet hat.
Christian Karlsen ist ein Schüler von Leeuw und hat von diesem das richtige Verständnis für Ustvolskaya originelle und grenzgängerische Musik übernommen. Besser hätte wohl auch de Leuuw die Kantigkeit und Härte, die massigen Dissonanzen, aber auch die Feinheiten dieser Werke nicht umgesetzt. Karlsen liest die Partituren auch genauer als Liss. Und er hat ein Gespür für die rituelle Kargheit und innere Spannung von Ustvolkayas Klangblöcken, die extremen Register und Dynamiken.
Er wird durch das LPO und die Solist:innen kongenial unterstützt. Ergreifend ist der Gesang der Knabensolisten Oliver Barlow und Arlo Murray in der äußerlich wohl noch konventionellsten Sinfonie Nr. 1. Erschütternd rezitiert Sergej Merkusjev die Worte des mittelalterlichen Mönchs Hermann von Reichenau in der 2. und 3. Sinfonie, die wie die 4. und 5. auf eine zunehmende Verdichtung und Verknappung der Mittel setzten. Auch hört man hier jene heftigen Clusterballungen und trocken-perkussiven Schläge, die typisch für den reifen Stil der Komponistin sind. Barbara Kozelj prägt mit ihrem dunklen, emphatischen Alt die kurze 4. Sinfonie. Diese sei stellvertretend für die eindrucksvolle Klangqualität der gesamten Produktion herausgegriffen: Die eröffnenden Tamtamschläge und Klaviercluster sind schier überwältigend eingefangen.
Auch sonst reizt die Produktion die Frequenzextreme und dynamischen Kontraste voll aus. Dies aber nie als Zurschaustellung hifitechnischer Möglichkeiten, sondern weil es essentiell ist für das Erlebnis von Ustvolksayas Musik. Auch der vielgeforderte Pianist Joonas Ahonen fügt sich da nahtlos ein.
Die alttestamentliche Strenge dieser Werke und ihr oft tiefdüsterer Charakter mögen herausfordernd sein. Man erahnt, was der Mystiker Johannes vom Kreuz mit der "dunklen Nacht der Seele" gemeint hat: einen Prozess der Reinigung und Läuterung auf dem Weg zu Gott.
Als "Predigt" zur aktuellen Weltlage sind die Werke freilich auch unabhängig von ihrem geistigen Gehalt auf der Höhe der Zeit. Dass die Musik der russischen Komponisten gerade jetzt auf diesem Niveau neu zu Gehör gebracht wird, ist auch kulturpolitisch höchst bemerkenswert.