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    2. Alle Rezensionen von Jack Crabb bei jpc.de

    Jack Crabb

    Aktiv seit: 15. Februar 2025
    "Hilfreich"-Bewertungen: 5
    26 Rezensionen
    Glutton For Punishment Heartworms
    Glutton For Punishment (CD)
    30.04.2025
    Klang:
    5 von 5
    Musik:
    5 von 5

    Masochistische Ader

    Als „gothic“, „military“ und „fairy“ beschrieb Josephine Orme aka Heartworms schon ihre Musik. Dieser nicht ganz ernst gemeinte, aber selbstbewusst klingende Erklärungsversuch umreißt die Unberechenbarkeit der jungen Engländerin schon ganz gut. „Glutton For „Punishment“ bringt Alles mit, um aus Heartworms den nächsten Indie-Star werden zu lassen: düstere Lyrics, Genre-Frische und eine Prise Wahnsinn.

    Wer sich von eben jenem Wahnsinn auf visueller Ebene überzeugen will, sollte sich die Videoclips von Heartworms ansehen. In den durchgehend schwarz-weiß gehaltenen Mini-Filmen sehen wir Orme häufiger in Soldatenuniformen, auf der Flucht vor mysteriösen Männern, mit Kuscheltieren sprechend oder mit bizarren Tanzeinlagen. Das hat mitunter einen hohen Unterhaltungswert und ist sogar witzig, auch weil Orme eine richtig hemmungslose Schauspielerin sein kann. Und man erwischt sich dabei, wie man die nebenher laufende Musik, nämlich ihre, fast ausblendet. Mit ihrer EP „A Comforting Notion“ erregte sie 2023 zum ersten Mal Aufmerksamkeit und setzte bereits da den Grundton ihrer Songs. Postpunk und Darkwave sollte es sein, weniger rockig, eher artifiziell und mit so einschüchternden Titeln wie „Retributions Of An Awful Life“ oder „Consistent Dedication“, die von albtraumhaften Kriegsszenarien handeln oder menschliche Abgründe thematisieren. Als ein sonniges Gemüt will sich die in Cheltenham, West-England, aufgewachsene Orme nicht präsentieren. Sie mag es eher auf die martialische Tour. Angriffslustig gibt sie sich auch auf „Glutton For „Punishment“, auch wenn sich die Oberfläche ihres Debüts deutlich geschliffener anfühlt.

    „Just To Ask A Dance“ ist einerseits ein starker, andererseits auch ein irritierender Einstieg. Es beginnt mit Stakatto-Gitarren und Marschrhythmen, ehe der Opener in hymnischen Indierock aufgeht. Ein wahres Wechselbad der Gefühle. Orme schildert hier eine Szene über einen desaströsen Tanzflächen-Flirt. Zum militanten Image ihrer vorherigen Songs will der schon fast niedliche Text eigentlich nicht passen. Ein weiteres Highlight ist auch „Jacked“. Treibende Synthesizer treffen auf No Wave-Gitarren. Orme kann richtigen Lärm fabrizieren, wenn sie nur will. Das tut sie auf „Glutton For „Punishment“ allerdings nur selten. Die kontrastreichsten sind auch kraftvollsten Momente dieses Albums. Das herausragende „Warplane“ pendelt zwischen zackigem Dancepunk und raumgreifendem Pop-Melodien. Orme reizt die Spannung bis zum Gehtnichtmehr aus, ehe sie zum kriegerischem Refrain ansetzt. Der klaustrophobische Inhalt beißt sich auf sehr intelligente Art mit der musikalischen Begleitung, weil man zu diesem Song tanzen will, es sich sich aber eigentlich verbietet. Und wenn Orme von Kampfflugzeugen zertrümmerte Landschaften als „Jenga for the lost and a wonderland for art“ bezeichnet klingt das makaber, aber irgendwie auch kunstvoll. Auch „Extraordinary Wings“ behandelt die Thematik des Militärfliegers, hier aus der Sicht des britischen Piloten William Gibson Gordon, der im zweiten Weltkrieg fiel. Eingebettet ist der Song in warmen, melancholischen Softrock. Es sind wahrlich ungemütlich Zeiten, in denen wir leben. Und Musik, wie die von Heartworms, mag daher etwas ambivalent anmuten. Aber vielleicht passt sie gerade deswegen so gut in unsere Gegenwart.
    Pinball Wanderer Andy Bell
    Pinball Wanderer (CD)
    14.04.2025
    Klang:
    5 von 5
    Musik:
    5 von 5

    Wanderlust

    Andy Bell hat in seiner Karriere bereits mit vielen Leuten und in unterschiedlichsten Konstellationen Musik gemacht. Nach dem zwischenzeitigen Ende von Ride gründete er erst die mittlerweile wieder zurückgekehrte Britpop-Eintagsfliege Hurrican No.1, ehe er später bei Oasis einstieg und für zehn Jahre deren Bassist blieb. Als auch dieses Kapitel ein jähes Ende fand, stand er bei Liam Gallaghers Neuanfang mit Beady Eye Pate. Erst spät begann Bell sich auch als Solokünstler zu präsentieren. Auf „Pinball Wanderer“, seinem dritten Album, legt er seine Einflüsse offen und wechselt in knapp 40 Minuten so oft die Richtung, wie ein Chamäleon seine Farbe an nur einem Tag. Seine bisherigen Veröffentlichungen übertrifft das ewige Multitalent dabei mit Leichtigkeit.

    Eine Erklärung, ob es eine Leidenschaft für bunt blinkende Flipperautomaten war, die hier als Metapher für seine musikalische Wanderlust herhalten soll- und ihn für den Namen seines dritten Albums inspirierte, bleibt uns Bell noch schuldig. Das vergisst man aber auch schnell wieder, denn „Pinball Wanderer“ ist ein auf ganzer Linie mitreißendes Hörerlebnis. „Apple Green Ufo“ zähmt den Monster-Groove von Cans „Halleluwah“ und dampft ihn auf gut acht Minuten zusammen. Der Zwillingsbruder hiervon hört auf den Namen „Music Concrete“ und animiert in ähnlicher Manier zum Kopfnicken. Nur das hier anstelle von Gesang verspielte Elektronik die Melodie vorgibt. Bells Liebe für musikalische Freigeister „Made in Germany“ wird noch viel deutlicher, wenn er das frühere Neu!-Mitglied Michael Rother bei „Iam In Love…“ huldigt indem er ihn in dem Song Gitarre spielen lässt. Keine Komposition des Walisers, sondern ein nerdiges Cover der längst in Vergessenheit geratenen Postpunks The Passions. Das wiederum passt hervorragend zusammen, weil Bell vor nicht allzu langer Zeit ein Live-Cover von „Hallogallo“, vom Debüt der legendären Düsseldorfer Krautrockband, veröffentlichte. Es gibt aber auch wunderschöne, dreampoppige Zwischenspiele zu hören, wie „The Notes You Never Hear“ und „Madder Lake Deep“, die an die frühen Jahre von Ride verweisen. Es ist beeindruckend, wie Bell auf seinem neuen Album immer wieder in weite Sphären abdriftet, dabei nie den Faden verliert und stets den Weg auf zurück findet. Nach seinen etwas zahnlosen Erstversuchen „The View from Halfway Down“ und „Flicker“ hat Bell den Dreh raus und legt mit „Pinball Wanderer“ ein pulsierendes und ziemlich cooles Alt-Rock-Album vor.
    Schwarze Magie Die Heiterkeit
    Schwarze Magie (CD)
    14.04.2025
    Klang:
    5 von 5
    Musik:
    5 von 5

    Der Mund ist eine Wunde die lacht

    Den Preis für das edelste Schwarz-Weiß-Cover des Jahres haben Die Heiterkeit schon mal sicher. Aber auch auf ihren kühlen, elegischen Pop bleibt Verlass. Die großartige, feinfühlige Stella Sommer sucht auf „Schwarze Magie“ nach Sinn und Trost in harten Zeiten. Nach dem launigen Ausflug ins Mäuse-Universum mit Kumpel Drangsal ist das genau das Richtige.

    Auf ihrer letzten, meisterhaften Soloplatte warf Sommer der Stille noch einen silbernen Mantel um und brachte sie manchmal sogar ein bisschen zum Beben. Auf dem ersten Album von Die Heiterkeit seit fast sechs Jahren hört man selbst den leisesten und sanftesten Ton in seiner ganzen Stärke. Das gründliche, beinahe klinische Songwriting, welches man schon auf „Was Passiert Ist“ und „Pop & Tod I&II“ bestaunen konnte, wird auf „Schwarze Magie“ auf das Notwendigste heruntergefahren. Auch wenn Stella Sommer in ihrer Ur-Band (die sie mal wieder komplett neu besetzt hat) auf Deutsch singt, erkennt man einen Song von ihr längst von weitem. „Schwarze Magie“ lässt die klanglichen Grenzen zu ihren Alleingängen verwischen und erinnert am ehesten an „Silence Wore A Silver Coat“.

    Und dabei ist hier nicht immer alles so finster, wie uns der Name ihres neuen Albums weiß machen will. Sommer zeigt auch Humor, wenn sie im Titelstück ihrem Verdruss mit Country-Gitarre und witzigen Zeilen wie „Schwarze Magie ist besser als ihr Ruf. Wenn sonst nichts mehr funktioniert, ist es der beste Move. “ trotzt. Das die gebürtige Husumerin keinen Hehl mehr daraus macht, ein Oldie-Fan zu sein, zeigt sie uns auch in „Santa Ana“, dessen Text schon fast wie ein Trailer für einen romantischen Western klingt. Sommer, die es gerne kryptisch, immer mindestens unkonkret mag, wäre nicht eine der am unterbewertetsten Pop-Lyrikerinnen des Landes ohne ihre genialen, aphoristischen Weisheiten. Ihre Stärke lag schon immer in der Schaffung einer Stimmung und weniger im Erzählen von Geschichten. „Der Mund ist eine Wunde die lacht“, aus dem heilenden „Auch Das Hier Wird Vorübergehen“, ist nur eine Zeile, an der man lange kauen möchte. Sommer pflanzt uns Bilder in den Kopf, die lange nachwirken. Oder sie spricht Weisheiten aus, die so simpel und doch so wahr sind („Manchmal merkt man erst, dass man einsam war, wenn man es nicht mehr ist“).
    Für Pop-Feinschmecker und Zitate-Sammler ist „Schwarze Magie“ ein Fest. Wie schon „Silence Wore A Silver Coat“ wird auch dieses Album auf keinerlei Streaming-Plattformen zu finden sein. Ein Kauf des Tonträgers wäre nicht nur ein feine Geste, sondern wird sich auch lohnen. Die stilvollen Fotos von Miguel Martin Betancor, die das Artwork zieren, zeigen Stella Sommer so, wie auch ihre Musik wirken soll: zeitlos, elegant und in sich ruhend.
    Rampen (APM: Alien Pop Music) Einstürzende Neubauten
    Rampen (APM: Alien Pop Music) (CD)
    20.03.2025
    Klang:
    5 von 5
    Musik:
    4 von 5

    Wie lange noch?

    Als „Rampe“ bezeichnen die Experimental-Musiker von den Einstürzenden Neubauten ein live vor Publikum improvisiertes Stück. Schon immer hatten sie auf ihren Konzerten derartige Kompositionen aufgeführt. Jetzt haben die Berliner gleich 15 davon im Studio für die Ewigkeit festgehalten. Und das ging ihnen überraschend schnell von der Hand. Nach Ablenkungen wie Auftragsarbeiten und Nebenprojekten aller Mitglieder zog viel Zeit ins Land, ehe 2020 mit „Alles In Allem“ nicht nur die erste Platte seit 13 Jahren kam, sondern auch ein neues Kapitel ihrer langen Geschichte aufgeschlagen wurde. Im wievielten Frühling kann sich eine Gruppe befinden, die seit über vier Dekaden besteht? „Rampen: apm (alien pop music)“ arbeitet mit alten und neuen Tricks und zeigt, dass die Neubauten noch lange nicht fertig sind.

    Es wird hierzulande gerne übersehen, dass die Fangemeinde dieses nach wie vor schwer in Worte zu
    fassenden Kollektivs rundum den gesamten Erdball verteilt ist. Deshalb macht man sich natürlich gerne die Mühe die Texte auch in englischer Sprache zu veröffentlichen. Auf dem neuen Album seiner Band wechselt Blixa Bargeld nur allzu gerne ins Englische. Doch egal welche Vokabeln der Grandseigneur mit der ergrauten Mähne kunstvoll aneinander reiht, er bleibt meistens kryptisch. In „Planet Umbra“ grüßt er vom gleichnamigen, geheimnisvollen Himmelskörper, der von einer ätherischen, nach Ambient klingenden Atmosphäre umnebelt ist. Wortkarg, aber gespenstisch geht es in „Es könnte Sein“ zu. Und man ist fast versucht Zeilen wie „Es könnte sein, dass das was grad noch sicher schien es nicht mehr ist“ in einem gegenwärtigen, weltpolitischen Kontext einzuordnen. Näheres weiß nur Blixa Bargeld. Viel Altbekanntes, dafür wenig Überraschendes gibt es auf der ersten Hälfte von „Rampen…“ zu hören, weswegen besonders dieser Teil des Albums ein wenig durchhängt. Die Neubauten verstehen es aber nach wie vor mit ihren Klängen herauszufordern. Und ebenso Brücken in ihre Vergangenheit zu bauen. So werden beim ruhigen „Tar & Feathers“ Erinnerungen an „Fiat Lux“ vom Klassiker „Haus Der Lüge“ wach. In „Ick Wees Nich (Noch Nich)“ fliegen die Metallspäne sogar wie zu alten Zeiten durch die Gegend, als noch FM Einheit der Band angehörte. Solche Momente bleiben hier aber eher die Ausnahme.Die größte Kraft entfalten die Neubauten, wenn ihr gesamtes Instrumentarium in so spannungsgeladenen Momenten wie „Aus den Zeiten“ oder „Gesundbrunnen“ explodiert.

    Das sie Lärm und Chaos längst gegen Songwriting eingetauscht haben und hier nichts mehr einstürzt, hat man vergessen und verziehen. Nach interessanten, oft aber bemüht konstruierten Arbeiten, haben sich die Neubauten freigeschwommen, wenn auch nicht unbedingt neu erfunden. „Rampen...“ ist reich an filigran eingepinselten Klanglandschaften, wunderbar in Szene gesetzt von Boris Wilsdorf. Aufgenommen wurde alle Stücke von Ingo Krauss, der die Band dafür ins Candy Bomber-Studio in Berlin einlud und sie so opulent, wie lange nicht erklingen lässt. Organisch fließen die Töne ineinander und ergeben, auch dank Bargelds Exkursen ins Unterbewusste ein längst nicht mehr so verzerrtes, dafür umso harmonischeres Bild.
    Ententraum Ententraum (CD)
    17.02.2025

    Nenn mich Musik

    Das lässt aufhorchen! Mit ihrem zweiten Album hauen International Music eine jener Platten raus, die alle Kritiker in panische Erklärungsnot bringen. „Ententraum“ ist ein prall gefüllter Schmelztiegel, in dem locker ein halbes Jahrhundert Musikgeschichte köchelt. Drei Jahre nach „Die besten Jahre“ gießt die Gruppe ihr ganzes Können langsam aber sicher in hitverdächtige Formen.

    Es gibt das ungeschriebene Gesetz, dass es uncool sei, als Student in einer Rockband zu spielen. Peter Rubel, Gitarrist und Sänger von International Music, ist ausgebildeter Komponist. Wirklich notwendig wäre sein Besuch an der Universität nicht gewesen, nur um mit seinen Freunden Pedro Concalves Crescenti und Joel Roters Musik zu veröffentlichen. Und erst recht nicht, wenn diese weit genug von dem Anspruch entfernt ist in irgendeiner Form perfekt oder virtuos zu sein. Roters, seines Zeichens Schlagzeuger der Band, lernte sein Instrument sogar erst spielen, als er bei der Gruppe vor sechs Jahren einstieg. Das Improvisatorische und Freigeistige, dass ihren Songs innewohnt, erinnert an frühe Krautrock-Künstler aus Deutschland. Gepaart mit der Power eines klassischen Rock-Trio`s ergibt dies eine aufregende und kraftvolle Symbiose.

    Was schon nach dem ersten Hördurchgang feststeht: „Ententraum“ rockt. Ein Gedanke, der zwar bei all der demonstrativ zur Schau gestellten Nicht-Coolness des Essener Dreigespanns für ein leichtes Schmunzeln sorgt, der aber seine Berechtigung hat. „Fürst von Metternich“ und „Höhle der Vernunft“ marschieren mit fetzigen Gitarren im Gepäck selbstbewusst vorneweg, wollen einen aber noch viel lieber an die Hand nehmen und auf die Tanzflächen der Republik zerren. „Misery“ zitiert gekonnt Postpunk alter Bauart, ehe einem der wunderbar harmonische Chorgesang von Rubel und Crescenti ein weiches Bett aufschlägt, in das man sich zu gerne fallen lassen möchte. Überhaupt fragt man sich, woher International Music all diese überirdischen Melodien herhaben, die „Ententraum“ so magisch machen. „Ich will wie immer ein bisschen Zucker“ trällert es unablässig in „Zucker“. Und diese Forderung hat schon fast etwas Metaphorisches, so sehr wie sie den unstillbaren Hunger dieser Songs in Worte fasst.

    Egal in welche Richtung man hier blickt, „Ententraum“ bietet unendliche Weiten und Platz für alles, was eine gut sortierte Plattensammlung (vorzugsweise aus den 60er und 70ern) hergeben sollte. „Wassermann“ hat einen unwiderstehlichen Disco-Groove, der durch den gesamten Körper fließt. „In der Tiefe schläft ein Riese. Ist er gut drauf, weck ich ihn auf“ heißt es da und auch hier fügen sich die manchmal etwas schnörkelhaften Worte und die leichtfüßige Musik zu einem einleuchtendem Ganzen zusammen. Das Schöne an diesem Traum ist, dass man ihm seine Referenzen nicht gleich anhört, weil hier Alles ineinander fließt, ohne auch nur in einem Moment in Eklektizismus zu verfallen. „Heute kauf ich mir ein neues Glas Marmelade. Heute kauf ich mir nen neuen Rock.“ So eine Zeile kann man auch einfach mal völlig uninterpretiert stehen lassen. Und wenn über all dem ein hypnotisches Gitarrenriff kreist, dass Lou Reed und Sterling Morrison glatt von den Toten auferstehen lassen könnte, ist der geniale Irrsinn perfekt. Man muss schon ein paar Schrauben locker haben, um auf solche Ideen zu kommen. Wenn sie aber eine so bewusstseinserweiternde Wirkung erzielen, wie auf „Ententraum“, dann sind sie die fetteste Schatztruhe, die es dieses Jahr auszugraben gibt.
    Endless Rüttenscheid International Music
    Endless Rüttenscheid (CD)
    17.02.2025

    John, Paul & Ringo

    Wären International Music zu viert, wäre „Endless Rüttenscheid“, ihr drittes, sehnsüchtig erwartetes Album, der ideale Anlass um deren endgültige Beatles-Werdung zu verkünden. Dürfte man Peter Rubel und Pedro Goncalves Crescenti die Rollen von John Lennon und Paul McCartney zuordnen (wer von beiden welcher Beatle ist, darf jeder selber entscheiden)- und Drummer Joel Roters die Figur von Ringo Starr geben, bleibt der Posten von George Harrison bei ihnen vorerst leer. Zuckriger Sixtiespop und Psychedelicrock bleiben so oder so die ästhetischen Anker des Trios. Und wenn man so brav wie hier auf dem Cover in altmodischem Anzug und Krawatte posiert, müssen derartige Vergleiche erlaubt sein.

    Rüttenscheid, das ist ein von ca. 30000 Menschen besiedelter Stadtbezirk von Essen. Dort hatten Rubel, Crescenti und Roters ihre Band vor knapp zehn Jahren gegründet. Auf „Endless Rüttenscheid“ widmen sie diesem Ort einen Augenblick. Das kurze Zwischenspiel, welches die erste Hälfte des Albums abschließt, klingt wie ein wehmütiger Blick zurück in die Vergangenheit. Das wavige „Guter Ort“ oszilliert zwischen Standortbestimmung und Aufbruchsstimmung und spielt mit textlichen Querverweisen in Richtung des Vorgängeralbums „Ententraum“. „Ententraum“, das war ein wortwörtlicher Traum aus kreativer Spinnerei und dem, wie man in Radio-Jingles sagen würde, Besten aus den 60ern, 70ern und 80ern. „Endless Rüttenscheid“ ufert musikalisch weniger aus, an schönen Songs mangelt es der Platte mal wieder nicht.

    Schon der Opener „Kraut“ gibt sich wie ein Zeitreisender, der sich mit seinen tranceartigen E-Gitarren tief ins Bewusstsein eingräbt. Und auch wenn dies nur ein harmloses Liebeslied ist, gibt`s hier mit „Haust du auf die Trommel drauf, will ich Trommel sein.“ gleich noch den besten Musiker- Flirtspruch des Jahres mit dazu. Und Jeder, der unter schlimmen Liebeskummer leidet, kann sich vielleicht auch mit dem „Liebesformular“ trösten. Wie auch schon zwei Jahre zuvor, verweisen International Music diesmal mit einer Reprise von Mont St. Michel auf ihr Debüt „Die Besten Jahre“. Virtuos ertönt auch „Kieselwege“, welches mit seiner cleveren Tempoverschiebung von Strophe zu Bridge beinahe den Eindruck erweckt, dass hier zwei Songs in einem wohnen. Auch wenn man auf dem dritten Album der Gruppe ein wenig die elektrisierenden Riffs und die himmelhoch jauchzenden Melodien vermisst, hat sie spätestens mit „Endless Rüttenscheid“ ihren Stil gefunden.
    Tyron Slowthai
    Tyron (CD)
    17.02.2025
    Klang:
    5 von 5
    Musik:
    5 von 5

    Genie und Wahnsinn

    Auf dem Cover seines Albums „Nothing Great About Britain“ posierte Tyron Kaymone Frampton noch nackt und eingequetscht in einem Pranger. Ein Bild mit provokanter Symbolkraft. Machte er doch im Vorfeld der Veröffentlichung mit seiner lautstarken Anti-Brexit-Haltung von sich reden. Seine öffentlichen, teils aggressiven Anfeindungen gegenüber Theresa May und Boris Johnson darf man gerne im Nachhinein als pubertär und naiv abtun. Dennoch sorgten sie für ein mediales Echo, welches der Karriere des jungen Engländers nicht ganz unnütz gewesen war. Zwei Jahre später legt Slowthai, so der Künstlername, unter dem Frampton seine Musik herausbringt, mit „Tyron“ endlich nach. Und auch wenn der Zweitling wesentlich persönlicher geraten ist, versteht es der Rapper wieder, sich auch hier mit Bildsprache auszudrücken. An einem Apfelbaum lehnend sitzt der Protagonist, dem ein Pfeil im Auge steckt, in einem Teufelskostüm und mit einem Apfel auf dem Kopf. Eine Metapher für den vollzogenen EU-Austritt Großbritanniens? Vom einstigen Satansbraten steckt in Slowthai noch genug drin. Der neueste Streich ist dennoch ein gelungener Versuch, seine Kunst auf ein seriöseres Niveau zu hieven.

    Eigentlich stecken in „Tyron“ zwei Alben drin. Auf der ersten Hälfte rappt Slowthai zu aggressiven, aufgepumpten Grime-Beats und gibt sich dabei gewohnt großspurig, so wie in „Cancelled“ (mit seinem Freund und Idol Skepta) oder er berichtet in „Mazza“ über seine Drogen-Fehltritte vergangener Tage. In den Songs weiter hinten beleuchtet er mehr sein Inneres. Musikalisch präsentiert sich Frampton hier facettenreicher, was auch den spannenden Gäste zu verdanken ist. Im folkigen „Push“ kommt die Stimme der hierzulande noch wenig bekannten Singer-Songwriterin Deb Never zu tragen. Vermutlich der brüchigste Moment auf „Tyron“, der, wie alle Songs auf diesem Album, viel zu schnell vorbei ist. „NHS“ ist ein zu Tränen rührendes Loblied auf den „National Health Service“ des Vereinigten Königreichs in Corona-Zeiten. „Feel Away“ mit James Blake ist der herausragende Nummer Sicher-Hit und eine geschmackvolle Vermählung von Pop und Rap. Die Art und Weise wie Slowthai auf „Tyron“ mit Genre-typischen Größenwahn und seiner eigenen Verletzlichkeit jongliert, ist schlichtweg virtuos. Dazu passt auch der progressive Sound des Albums. Der 27-jährige Brite hat merklich an Reife gewonnen (von der ein oder anderen albernen Video-Auskopplung mal abgesehen) und steckt dieses Jahr wieder all seine Konkurrenten in die Tasche.
    Glow On Turnstile
    Glow On (CD)
    17.02.2025
    Klang:
    4 von 5
    Musik:
    4 von 5

    Zurück in die Zukunft

    Auch wenn die Pandemie die Event-Branche immer noch fest im Griff hat, darf man gerne schon mal folgende Prognose stellen: Turnstiles aufgedrehter Hardcorepunk ist für verschwitzte Moshpit`s wie gemacht.

    Es sind Bilder wie aus einer anderen Zeit: mehrere hundert Menschen tummelten sich im vergangenen Sommer anlässlich der Release-Show zu „Glow On“ eng an eng vor einer Open-Air-Bühne irgendwo in Baltimore. Möglich machten das die in den USA wieder fallen gelassenen Einschränkungen trotz hoher Inzidenz. Längst hat sich herumgesprochen, wie es auf den Shows von Turnstile abgeht. Schließlich gehören Pogotanz und Stagediving bei einer jeden Hardcore-Show zur Pflicht. Und auch wenn uns die Geburtsjahre der Bandmitglieder verraten, dass hier nur die Enkel der ersten Generation am spielen sind, versprüht ihre Musik doch jene unschuldige Wildheit, die in diesem Genre nur noch die Wenigsten zu vermitteln wissen.

    „Time & Space“ zog bereits das jüngere Publikum in Scharen an und ließ die Älteren in Nostalgie schwärmend versinken. Vermutlich wäre es für Turnstile das Leichteste gewesen sich einfach zu wiederholen. Stattdessen biegt „Glow On“ mit seiner dicken und modernen Produktion kurz vor der Sackgasse scharf in Richtung großer Bühne ab. Produziert wurde das Album von Mike Elizondo, der sich bislang durch seine Zusammenarbeit mit Mainstream-Künstlern wie Alanis Morissette, Ed Sheeran oder Dr. Dre einen Namen gemacht hat. Niemand, den man mit einer Punkband in Verbindung bringen würde, klar. Vielmehr stellt Elizondo hier eine klangliche Spielwiese bereit, dessen äußere Markierung zwar von allen Spielarten des Punkrocks bestimmt wird, auf der aber Alles erlaubt ist, was Spaß macht.

    Turnstile bedienen sich wahlweise bei New-York-Hardcore-Legenden wie Sick Of It All, progressiven Feingeistern wie Snapcase oder 90er Skatepunk. Ausgekleidet sind ihre Songs mit ätherischen Synthesizern, wirbelnden 80`s-Drumfils oder entspannten Hip Hop-Beats, kurz und knapp zusammen gefasst im stürmischen „T.L.C (Turnstile Love Connection)“. Zu den neu gewonnen Facetten gehören von nun an aber auch poppig akzentuierte Songs wie „Underwater Boi“ (mit Julien Baker als Gastsängerin) oder das sonnige, an New Wave angelehnte, „New Hear Design“. Mit Devonté Hynes (Blood Orange, Lightspeed Champion) gesellt sich dann ein weiterer unerwarteter Gast hinzu. “Alien Love Call” klingt nicht von ungefähr wie ein Song von Blood Orange, auf dem Turnstile gefeatured werden und nicht andersrum. Gut tut diese Entschleunigung mittendrin aber trotzdem, genauso wie der träumerische Dreampop von „No Surprise” kurz vor Ende, wenn dieser nicht vom letzten Song „Lonely Dezires“ (ebenfalls mit Devonté Hynes) nach nur wenigen Sekunden für beendet erklärt werden würde. Ein derartiger Twist ist aber nur zu typisch für so ein erfrischendes und abwechslungsreiches Album.
    Tonic Immobility Tomahawk
    Tonic Immobility (CD)
    17.02.2025
    Klang:
    4 von 5
    Musik:
    4 von 5

    Gentlemen's Agreement

    Das erste Tomahawk-Album seit einer Ewigkeit ruft einem mal wieder ins Bewusstsein, was Mike Patton für ein vielbeschäftigter Mann ist. Eine Faith No More-Reunion gab es, zwei Alben mit der Hardcore-Supergroup Dead Cross, eine Kollaboration mit dem Pianisten Anthony Pateras sowie dem Album „Corpse Flower“ mit Jean-Claude Vannier. Den Score zum Horrorfilm „1922“ steuerte er ebenfalls bei und dann war da natürlich noch die Wiederauferstehung der Crossover-Freidreher Mr. Bungle. Eine neue Platte mit Tomahawk sollte für jemanden wie Patton da schon fast eine Rückbesinnung auf dessen Kerngeschäft sein: knallharte Rockmusik ohne Schnickschnack.

    Never change a running system: Tomahawk bleiben ein eingespieltes Team. Gitarrist Duane Denison, Trevor Dunn am Bass, Drummer John Stainer und der Mann mit den tausend Stimmen. „Tonic Immobility“ heißt auf Deutsch wortwörtlich so viel wie „...angespannte Unbeweglichkeit“ oder auch Schockstarre. Tot stellt sich hier aber niemand. Tomahawk spielen auf ihrem fünften Album lieber mit ihren Muskeln. Zum Beispiel im heimtückischem „SHHH!“, dass sich erst auf Zehenspitzen anschleicht, um den Hörer in der Hook mit markigen Riffs in den Schwitzkasten zu nehmen. Wehren kann- und will man sich da auch gar nicht. Auch bei Fiesheiten wie „Valentine Shine“ oder „Predators And Scavegers“ behält das Quartett die Ärmel hochgekrempelt und verteilt eine Tracht Prügel. 2021 geben sich Tomahawk härter und weniger experimentell als auf dem verspielten und unausgegorenen „Odd Fellows“ von 2013. „Tonic Immobility“ ist wie ein teurer, maßgeschneiderter Anzug, der über dem gestählten Oberkörper eines Bodyguards spannt: edle Hülle, kompromissloser Inhalt.

    Tomahawk wären aber keine 90`s-Alternative-Supergroup aus ehemaligen Mitgliedern u.a. von The Jesus Lizard und Helmet, wenn deren Vita hier komplett außen vor wäre. „Tattoo Zero“ hat einen richtig zickigen Mathcore-Mittelteil und auch „Business As Casual“ erinnert mit einem vertrauten Stakkato-Basslauf an Stainers alte Band. Auch Duane Denisons unverkennbares Gitarrenspiel blitzt an allen Ecken und Kanten. Im letzten Drittel von „Tonic Immobility“ geht es etwas ruhiger zu. Sogar ein bißchen spacig, sowie im dronigen, an einen Soundtrack erinnernden „Eureka“, welches auch eine passende Untermalung für den Film „The Place Beyond The Pines“ gewesen wäre, für den Patton die Musik schrieb. Es ist erstaunlich, wie lange diese Formation mittlerweile Bestand hat. Kein neues Projekt, an dem Patton nach der Auflösung von Faith No More je beteiligt war, hat sich derart verselbstständigt, wie Tomahawk. Und für diesen musikalischen Anker muss man als sein Fan einfach dankbar sein. „Tonic Immobility“ klingt mehr denn je nach einer modernen, eigenständigen Rockplatte, als nach der bloßen Quersumme aller Qualitäten, die die Mitglieder dieser Band einbringen.
    Engine Of Hell Emma Ruth Rundle
    Engine Of Hell (CD)
    17.02.2025
    Klang:
    4 von 5
    Musik:
    4 von 5

    „Emma, die 90er sind am Telefon!“

    Was folgt auf knallbunten Gitarrenrock („On Dark Horses“) und der Zusammenarbeit „May Our Chambers Be Full“ mit den Sludge Metallern von Thou? Richtig, ein puristisches Singer-Songwriter Album, ganz allein und nur mit geringstem Produktionsaufwand aufgenommen.

    All jenen, die vor dem ersten Durchlauf von “Engine of Hell” tatsächlich noch so etwas wie gute Laune verspüren sollten, reicht bereits der erste Song „Return“ um wieder auf den Boden der Tatsachen zu landen. Ein echter Downer und ein Vollbad in Schwermut. Dem Kerrang-Magazin gegenüber erklärte Rundle „Return“ und dessen ästhetischen Clip wie folgt: „Ich bin keine Schriftstellerin. Ich mache Musik und versuche Dinge auszudrücken, die ich mit Worten nicht vermitteln kann. Ich habe Ballett studiert und wie man sich mit Bewegung ausdrücken kann, was ich auch für das Video angewendet habe. Während der Fertigstellung von „Engine of Hell“ habe ich mich immer weiter weg von Musik in Richtung Tanz, Malerei und Ideen für Videos und Filme bewegt. „Return“ ist das Ergebnis dieser Arbeit.“

    Anfang 2020 zog sich Rundle nach einer 5-monatigen Tour in das ländliche Wales zurück, um sich mehr Zeit für sich zu nehmen und um neue Songs zu schreiben. Ebenso wollte sie die Zeit zur Erholung nutzen. Die permanent laufende Maschinerie aus Unterwegssein und Auftreten sowie Rundles wachsender Alkohol- und Drogenkonsum forderten ihren Preis. Dann kam die Pandemie und die dadurch bedingte Isolation ließ Rundle in ein Loch fallen. Ein gut einwöchiger Aufenthalt in einer psychiatrischen Klinik war der Folge. „Engine Of Hell“, so die Musikerin, repräsentiert eine Phase der Veränderung, die immer noch anhält.

    Man macht Rundles neuem Album Komplimente, wenn man seinen Sound als hässlich und als „bis auf die Knochen abgenagt“ beschreibt. Denn genauso fühlt sich „Engine Of Hell“ an. Sich so nackt und verletzlich in seiner Musik zu zeigen zeugt von großem Selbstbewusstsein. Und es zeigt ebenfalls, was Emma Ruth Rundle für eine furchtlose und unberechenbare Künstlerin ist, die mit diesem Album manche Leute vor den Kopf stoßen wird. Zu zerrissenen Akkustikgitarren erzählt Rundle in “Blooms Of Oblivion” vom Kampf geliebter Menschen gegen deren Sucht-Probleme- oder im Trauer-Walzer „Body“ von Todesfällen in der Familie. Kurze Seufzer und unsaubere Akkordgriffe werden bewusst nicht herausgeschnitten oder retuschiert. Vergleiche mit den „American Recordings“ von Johnny Cash drängen sich auf, aber auch Beth Gibbons` majestätisches, in sich selbst versunkenes Soloalbum „Out Of Season“ oder die frühe Tori Amos dürfen gerne als Referenz genannt werden. „Engine Of Hell“ wartet mit nur 8 Songs auf, läuft aber gut 40 Minuten. Eine kleine Dosis Bedrückung mit großer, heilender Wirkung.
    Yo, Picasso Fatoni & Dexter
    Yo, Picasso (CD)
    17.02.2025
    Klang:
    5 von 5
    Musik:
    5 von 5

    Treffen sich ein Schauspieler und ein Arzt…

    Das kommt also heraus, wenn Männer, die ihr Geld hauptberuflich als Schauspieler (Fatoni) und Kinderarzt (Dexter) verdienen, ihre Karrieren als Rapper mit einem gemeinsamen Album begründen wollen. Die Arbeitsteilung auf „Yo, Picasso!“: Dexter darf produzieren und Fatoni scannt mit 360-Grad-Blick alles, was ihn umgibt und bewegt und erzählt von schlechten Menschen, Mike Skinner, Authentizität und Ignaz Semmelweis.

    „Yo, Picasso“ war mehr der plötzliche - als der endgültige Durchbruch für den Münchner Rapper Fatoni. Ein wenig gleicht seine Geschichte der von Wegbegleitern wie Audio88 & Yassin oder Mädness & Döll. Was diese Gruppe eint war und ist der Struggle mit der eigenen Musik und ihr später Erfolg. Etwas, dass auch Fatonis langjähriger Kumpel Juse Ju schon einmal mit der Umschreibung „Indie-Rap“ treffend zusammenfasste. Mit Anfang 30 doch noch zum Berufsmusiker werden? Für Anton Schneider ist das noch lange nicht zu spät. In der Hook von „Benjamin Button“ (der Titel ist eine Anspielung auf einen Film von David Fincher) resümiert er daher: „mit Anfang 20 war ich wack, aber guck mal jetzt, ich werde langsam perfekt.“ Ob man in ihm nun einen Spätzünder oder Newcomer sehen wollte, „Yo, Picasso“ war das richtige Album zur richtigen Zeit.

    Ein gut gemeinter Tipp an all jene Rapper, die ihre gesamten Ersparnisse lieber für unterfinanzierte Beats aus dem Fenster schmeißen, anstatt ihren künstlerischen Ausnahmestatus zu hinterfragen und lieber einen Blick über ihren Tellerrand werfen sollten: wie wäre es mal mit einen anderen Produzenten? Und warum nicht ein ganzes Album mit ihm alleine machen? Zum Beispiel mit ihm hier: Felix Göppel, den Meisten besser bekannt unter seinem Künstlernamen Dexter. Eine goldene und eine Platin-Schallplatte für seine Beiträge zu Casper`s „XOXO“ und „Raop“ von Cro konnte er schon einheimsen. Für „Yo, Picasso“ durchforstete er einmal gründlich seine Plattenregal und schuf ein wildes, pulsierendes, aber immer stimmiges Potpurri an Beats, die von rockig bis jazzig reichten. So manch ein Ü-40-Realkeeper mag geschmeichelt gewesen sein, dennoch war es die jüngere Generation die Fatoni in ihr Herz schloss. Und da sein sprichwörtlicher Tonangeber Dexter seit seinem Album „Palmen & Freunde“ endlich auch das Selbstvertrauen verspürt, sich ebenfalls als Rapper zu präsentieren, darf er dies in „ADHS“ auch einmal zum Besten geben.

    Natürlich könnte man Fatoni die üblichen, langweiligen Dinge attestieren, die man guten Rappern halt so nachsagt. Womit er sich aber tatsächlich von seiner Konkurrenz abhebt ist sein um 3 Ecken gedachter Humor und seine aufrichtig auf der Zunge getragene Selbstironie. In „Mike“ bringt er auf melancholische und zugleich witzige Art seine Bewunderung für Mike Skinner von The Streets zum Ausdruck. „Ich bleib immer ein Spinner, der meint, er sei Künstler, doch weiß innerlich, ich werde nie ein Mike Skinner.“ gibt er hier schon fast etwas sarkastisch zu Protokoll und man fragt sich, warum nicht mehr Rapper so wie Fatoni sein könnten. In „Semmelweisreflex“ verzweifelt Fatoni an der Unvollkommenheit unserer menschlichen Existenz und „32 Grad“ mutet erst wie ein böser Witz über die katastrophalen Zustände in den Unterkünften für Geflüchtete während der Flüchtlingskrise in Lampedusa an, ist aber wegen seiner ätzenden Ironie genau das richtige Gift gegen Pegida-Spaziergänger. „Yo, Picasso“ bündelt die Singer-Songwriter-Ambitionen Fatonis mit dessen nerdigem Rap-Skill-Feilereien und lässt den Blick über den üblichen Genre-Horizont nur zu gerne schweifen.
    Lives Outgrown Beth Gibbons
    Lives Outgrown (LP)
    15.02.2025

    Gelebtes Leben

    Es gibt schließlich immer ein erstes Mal: Beth Gibbons darf sich jetzt Debütantin nennen. „Lives Outgrown“ schmiegt sich zwar mehr an ihre Kollaboration mit Paul Webb an, erzeugt am Ende dabei doch mehr Sehnsucht nach einer vierten Portishead-Platte als einem lieb ist. Wie lange müssen wir das eigentlich noch ertragen?!

    „Den Leben entwachsen“. Das bedeutet in etwa der Titel des ersten, reinen Soloalbums von Beth Gibbons. Er fasst verschiedene Lebenserfahrungen zusammen, die die Britin in den letzten Jahren gesammelt hat und die sie als Mensch und speziell als Frau verändert haben. Todesfälle in der Familie, Mutterschaft, Menopause. Das Alles scheint kein Stoff zu sein, aus dem sie gerne neue Songs mit ihrer (und von uns so sehr vermissten) Band weben mochte. Also angelte sich Gibbons Produzent James Ford, zu dessen letzten Schützlingen The Last Dinner Party und (man höre und staune) die Pet Shop Boys und Depeche Mode zählten, um mit ihm diese Stücke entstehen zu lassen. Was dabei herausgekommen ist überrascht in seiner Tonalität zunächst nicht. „Lives Outgrown“ klingt wie eine logische Fortsetzung von „Out Of Season“. Ohne das Drama und die Theatralik, für die sie sonst nur mit ihren Mitstreitern Adrian Utley und Geoff Barrow sorgt, kommen selbst diese Songs nicht aus.

    Zunächst muss man durch das tiefe Dunkel des kryptischen Openers „Tell Me Who You Are Today“ schreiten, dann folgt das erste Highlight: „Floating On A Moment“. Gibbons singt über das Älterwerden und den Tod. Spätestens wenn der Song gegen Ende von wohltuender Wärme durchflutet wird, ist das dann auch gar nicht mehr so verbittert wie man es erwarten würde. Dazu gibt es Fingerpickings auf der Akustikgitarre, einen lieblichen Chor und verträumtes Pfeifen. Das Gros von „Lives Outgrown“ gibt sich da deutlich weniger schlicht. James Ford tischte für die Aufnahmen dieses Projektes eine Sammlung an Instrumenten auf, die locker in einen Lastwagen gepasst hätte und die er auch noch selber spielt. Wie auch schon bei den letzten Veröffentlichungen von und mit Gibbons, kreiert ihr neues Album ungewöhnliche, organische Klangwelten und hebt sich mal wieder von der Pop-Masse ab.

    Und was für eine Freude es ist, diese Frau endlich wieder singen zu hören! Ihre Zerbrechlichkeit in „Burdon Of Life“ oder „Lost Changes“ kauft man ihr sofort ab. Gibbons skizziert uns mit Worten verblasste Bilder der Vergangenheit in den Kopf, die nicht mehr als eine Ahnung davon enthalten, was sie mit uns teilen möchte und trotzdem fühlt man hier jede Sekunde mit. Ihre Stimme reicht aber auch noch immer bis in die höheren Lagen, so wie in „Beyond The Sun“, dass wie ein rauschhafter Abend auf den Mittelaltermarkt anmutet, beim von Jazz beschwipsten „Reaching Out“ oder in aufstampfendem „Rewind“. Mit jedem Hören gewinnt „Lives Outgrown“ an Größe. Und mit der Zeit schwindet auch die Enttäuschung darüber, dass sich Portishead, trotz vager Andeutungen, immer noch nicht wieder zusammen gefunden haben. Einen besseren Trost hätte man sich nicht ausmalen können.
    How Do You Burn? The Afghan Whigs
    How Do You Burn? (CD)
    16.02.2025
    Klang:
    3 von 5
    Musik:
    4 von 5

    Greg Dulli und sein As im Ärmel

    Seit zehn Jahren sind die Afghan Whigs wieder eine Band. Das Versprechen, dass sie mit dem kraftstrotzenden Comeback „Do To The Beast“ 2014 gaben, lösten sie drei Jahre später mit „In Spades“ konsequent ein. Selten klang die Wiederauferstehung alter Alternative-Helden so selbstverständlich wie bei der Band von Greg Dulli. „How Do You Burn?“ fasst nun die letzte (und vielleicht sogar spannendste) Dekade dieser Gruppe perfekt zusammen. Ein paar Schwächen zeigt sie trotzdem.

    Greg Dulli ist ein Stehaufmännchen. Zur absoluten Unzeit erscheint im Februar 2020, als weltweit die Corona-Pandemie ausbricht, „Random Desire“, sein erstes Soloalbum. Eine gebuchte Tour musste er absagen. Also luchste er seinem Label einen Vorschuss ab und ging mit den Afghan Whigs noch im September ins Studio. Anfang des Jahres war man fertig, was für das Quintett verhältnismäßig schnell ist. Dabei ist eigentlich jede Platte dieser Combo schon beinahe ein kleines Wunder, weil sich Greg Dulli beständig der perfekten Version seiner Musik nähert. Und immer, wenn man glaubt, dass ihm nichts mehr einfällt, rutscht ihm doch noch ein letztes As aus dem Ärmel. „How Do You Burn?“ ist ein Quasi-Best-Of aus über dreißig Jahren Bandgeschichte.

    Es dauert ein wenig, ehe sich in die Vertrauten Klänge der Männer aus Cincinnati in einem überwältigenden Schwall über einen ergießen. „I`ll Make You See Good“ schickt den Hörer mit brütenden Doom-Metal-Riffs erst einmal in die Wüste. Auf ihrer vergangenen Tour eröffneten sie mit diesem Song ihr Set, im Kontext von „How Do You Burn?“ irritiert er eher, da er mit dem Rest so rein gar nichts zu tun hat. So klingt es also, wenn der Frontmann der Afghan Whigs, von dem man auf ewig die romantische Vorstellung hat er könne seine Songs nur in abgedunkelten Räumen (und immer einer Flasche Wein und eine Packung Zigaretten griffbereit) schreiben, einfach mal loslässt und den Retrorocker mimt. Die unberechenbare Dynamik, die schon die letzten beiden Alben auszeichnete, wird hier nicht nur durch solche Momente auf die Spitze getrieben, sondern weil jeder Song von seinen ganz eigenen Vibe lebt. Zusammen gehalten werden sie wie immer von heißblütigem Soul und Dullis geölter Stimme.

    Dieser singt immer noch am liebsten über Frauen. Mal anzüglich („Catch A Colt“) oder kurz vorm Kitsch, so wie im soften „Please, Baby, Please“. Der Rumpf der Band untermalt seine Obsessionen so vielschichtig wie selten. Es gibt die typischen Momente, wie sie nur dieser Band gelingen und ein paar trickreiche Twists, so wie in „Jyia“, dass erst etwas uninspiriert vor sich hin torkelt, gen Ende doch noch Feuer fängt. Wenn aber auch hier wieder mit etwas nicht gegeizt wird, dann mit Melodien, die so rein und unverfälscht wie die Sterne am Himmel funkeln. Besonders „A Line Of Shots“, eines der Highlights von „How Do You Burn?“ bringt dann doch wieder die Gänsehaut von früher zurück. Noch schöner wäre es gewesen, wenn Greg Dulli „How Do You Burn?“ besser hätte mischen lassen können. So duellieren sich besonders bei den härteren Gitarrensongs zu viele Spuren um den besten Platz und gehen in diesem viel zu lauten Soundmatsch leider unter. Ein Schönheitsfehler, der nicht darüber hinwegtäuschen wird, dass die Afghan Whigs wieder ein gutes Album hingelegt haben. Auch wenn es etwas hinter seinen zwei Vorgängern zurückbleibt.
    Duo Duo The Düsseldorf Düsterboys
    Duo Duo (CD)
    16.02.2025
    Klang:
    5 von 5
    Musik:
    5 von 5

    Lavendeltreppen

    Geblitzt auf der Schnellstrecke direkt in unsere Indie-Herzen: Peter Rubel und Pedro Concalves Crescenti aka The Düsseldorf Düsterboys haben es eilig mit neuer Musik! Im Gepäck: ihr neues Album „Duo Duo“. International Music zählen längst zum Funkigsten, was die hiesige Independent-Szene zu bieten hat. „Die Besten Jahre“ und „Ententraum“ wurden von den Kritikern mit Lob überschüttet. Und auch das (wenn man die EP`s „Alkoholgedanken“ und „Im Winter“ mit einrechnet) vierte Album ihres Zweitprojektes fügt sich perfekt in den Kosmos des Duos ein. Kaum neigt sich das Jahr dem Ende zu und die tanzwütigen Hits ihres grandiosen Doppelschlages aus dem letzten Jahre verhallen allmählich, legen die Essener nach. Ihre wohl an irgendeiner Bar im Ruhrpott tief in der Nacht herunter geschluckten Introspektionen packen The Düsseldorf Düsterboys in löchrige Lo-Fi-Songs, die diesmal meist aus nichts anderem als aus akustischen Gitarrenskizzen und dem Doppelgesang Rubels und Crescenti gestrickt sind. Und das taugt nicht nur als angenehme Beschallung der eigenen Wohnung an verregneten Herbstnachmittagen, sondern bietet auch wieder viel zu entdecken. Wenn auch manchmal nur im Kleinen, etwa wenn für eines der unbetitelten Zwischenstücke des Albums nur noch Ian Brown als Gastsänger vors Mikrofon hätte geschleift werden müssen und die Reunion der Stone Roses wäre endgültig geglückt. Andernfalls schwingt auch auf „Duo Duo“ wieder eine ordentliche Note Psychedelic mit, was die Düsseldorf Düsterboys dann doch wieder in die Nähe von International Music rückt. Nicht umsonst fielen ihnen schon auf „Nenn mich Musik“ so lustige Reime ein, wie: „Und bist du aus der Haut gefahrn, dann hör dir mal die Beatles an!“ Noch ist die Beruhigungspille nicht verschreibungspflichtig, die man in diesen Zeiten dringend bräuchte. Bis dahin sollten man sich wenigstens diese wohltuende, aufheiternde und entschleunigende Musik anhören. Ihre Wirkung ist nicht zu unterschätzen!
    Die Nerven Die Nerven
    Die Nerven (CD)
    16.02.2025
    Klang:
    5 von 5
    Musik:
    5 von 5

    Zum Zerreißen angespannt

    „Alles in und um uns `rum ist zum Zerreißen angespannt“: auf ihrem „schwarzen“ Album kommen Die Nerven schmerzhaft auf den Punkt. Musikalisch gehen sie den Pfad, den sie mit ihrer letzten Platte eingeschlagen haben, konsequent weiter. „Die Nerven“ ist ein großes Reifezeugnis und zeigt eine Band, die endlich weiß wo sie hin will.

    Was mussten sich Die Nerven in ihren frühen Karrierejahren nicht alles anhören. Das klänge doch alles nach einer Aufwärmung von schön längst Dagewesenem, lautete noch der Tenor, als sie vor gut acht Jahren mit „Fun“ die letzten Andenken an die Hamburger Schule mit aufgekratztem Noiserock der Marke „es soll nicht gut klingen, sondern weh tun“ endgültig hinwegfegten. Es dauerte zwar noch bis zum vergleichsweise eingängigen „Fake“, bis der Letzte eingesehen hat, dass die Stuttgarter im deutschsprachigen Raum die neue Referenz für ohrenbetäubende Gitarrenmusik sind, darin, dass die Erwartungen an ihrem neuen, namenlosen Album groß sein werden waren sich aber diesmal Alle einig. Wie es dem Trio mittlerweile gelingt, die Angst und die Ohnmacht unserer Zeit zu formulieren, lässt sie wichtiger denn je erscheinen. „Die Nerven“ wühlt auf, spendet aber auch Trost.

    Mann kommt nicht umhin „Europa“ als einen der bedeutendsten Songs des abgelaufenen Jahres zu bezeichnen. Gerade einmal zwei Monate nach dem Überfall Russlands auf die Ukraine veröffentlichten Die Nerven den Opener ihres neuen Albums. Zeile für Zeile zieht sich die Schlinge der Gewissheit, dass das Europa, in dem wir in Frieden und Wohlstand sicher leben, auseinander zu fallen droht, am Hals des Zuhörers fest. Der Refrain „Und ich dachte irgendwie in Europa stirbt man nie“ hat das Zeug zu einem modernen Anti-Kriegs-Slogan zu werden. Auch wenn das Trio diese Interpretation wohl nur ungern teilen möchte. Der Text entstand bereits deutlich früher. Umhüllt wird der Song von warnendem, leuchtenden Gitarren-Nebel. „Ein Influencer weint sich in den Schlaf“ (den Titel muss Dirk von Lotzow der Band direkt ins Textbuch geschrieben haben), gibt sich zwar deutlich unlustiger, als wie man vermuten könnte, ist aber ebenfalls ein Indiz dafür, dass die Band bei ihrer Themenwahl den Puls der Zeit fühlt. Gleiches gilt für „15 Sekunden“, wo nur wenige Sätze reichen, um der degenerierten TikTok-Generation den Spiegel vor zu halten. Und man könnte noch weitere Beispiele aufzählen. „Die Nerven“ ist der unbequeme Soundtrack unserer Zeit.

    Rockbands, die über die Jahre zu schwächeln beginnen tun dies nicht unbedingt nur weil sie irgendwann anfangen ihre Kanten- sondern auch an Profil zu verlieren. So nicht bei diesem Trio, dass sich von Album zu Album immer mehr traut. Dynamischer und abgezirkelter, aber vor allem melodischer geben sich Die Nerven mittlerweile. Und sie gönnen ihren Songs nun auch das Bisschen Pop, welches ihnen gut tut, ohne sich auch nur einen Moment selbst zu verharmlosen. Das lässt ihre Musik zeitloser denn je klingen. Zum ersten Mal seit „Fun“ arbeitet die Band nicht mit ihrem Stammproduzenten Ralv Milberg zusammen. Stattdessen finden sie in Moses Schneider denjenigen, der der Band alte Dogmen austreibt und ihren mehr Struktur verleiht. Die bisher dominierende Spannung zwischen brachialem Lärm und süßer Melodie löst sich hier in fein arrangierten Songs auf. Und plötzlich haben Die Nerven Hits.
    Silence Wore A Silver Coat Stella Sommer
    Silence Wore A Silver Coat (CD)
    16.02.2025
    Klang:
    5 von 5
    Musik:
    5 von 5

    24 Grautöne

    Und wieder einmal erklingen von überall her die Lobeshymnen auf Stella Sommer. Und genauso schnell werden diese sich in den Weiten Profit orientierter Streamingdienste in Luft auflösen. Leider. Aber immer noch lassen sich keinerlei Anzeichen von Müdigkeit bei der Frontfrau von Die Heiterkeit erkennen. Im Gegenteil: „Silence Wore A Silver Coat“ ist bereits das zweite Doppelalbum ihrer Karriere- und ein weiterer Beweis für die schier unerschöpfliche Kreativität dieser Künstlerin. Von der eher beschaulichen Musikszene Hamburgs fühlte sich Sommer schon bald zu eingeengt, so dass sie ihrer alten Heimat 2018 den Rücken kehrte. Seitdem lebt sie in Berlin. In diesem Jahr erschien auch ihr Soloalbum „13 Kinds Of Happiness“ für welches sie zum ersten Mal ins Englische wechselte. Und es scheint so, als ob diese, im wortwörtlichen Sinne, doppelte Flucht der aus Husum stammenden Musikerin endlich die künstlerische Befriedigung gibt, nach der sie so lange gesucht hat.

    Längst hat man sich daran gewöhnt, dass sich die gegenwärtige Szene junger Indie-Musiker viel mehr von Vergangenem inspiriert fühlt. Die Lust an Innovation ist in gewisser Weise einer musikalischen Recycling-Attitüde gewichen. Auch von einem 60er, 70er, 80er, 90er- oder gar 00er-Revival spricht mittlerweile niemand mehr. So kann man die Sturheit Sommers eigentlich nur bewundern, mit der sie seit nun schon drei Alben ihre Liebe für den Pop der 60er und traditionellem Folk frönt. Denn das entspricht, nach eigener Aussage, eher ihrer musikalischen Sozialisation, als der Indiepop von Die Heiterkeit. Schon in ihrer Kindheit hörte sie lieber Oldie-Radiosender oder schwärmte für Bob Dylan oder die Beatles. Stella Sommers feines, zeitloses Songwriting bietet dennoch wenig Anlass für nostalgische Vergleiche.

    „Silence Wore A Silver Coat“ mutet anfangs mit seiner Überlänge noch größenwahnsinnig- und nur schwer zugängig an. Auch weil die potentiellen Hits fehlen (der Titeltrack sowie „A Single Thunder in November“ weisen am ehesten diese Qualität auf). Genau darin liegt aber dessen Stärke. Die 24 Songs bilden ein kohärentes Gesamtwerk, dessen ruhiger Gesamtfluss nie ins Stocken kommt. Dazu trägt auch Sommers strenge Produktionsweise bei, die weniger für Dynamik- aber auch nie für Eintönigkeit sorgt. Vielmehr erzeugt die Platte einen Sog aus Schwermut, den man sich kaum widersetzen kann. Nur wenige Songs stechen wirklich hervor, weil diese Frau es meisterhaft versteht ein beeindruckendes Sammelsurium an Ideen zu einem großen Ganzen zu bündeln. Auch deswegen verzichtete sie diesmal darauf, dass komplette Album auf Streaming-Plattformen zur Verfügung zu stellen. Für „Silence Wore A Silver Coat“ muss man sich nämlich Zeit nehmen, um es angemessen zu entdecken.
    UK Grim Sleaford Mods
    UK Grim (CD)
    16.02.2025
    Klang:
    4 von 5
    Musik:
    4 von 5

    Britisch, Grimmig, Gut

    Das vereinigte Königreich kommt einfach nicht zur Ruhe. Allein seit dem letzten Album des Duo`s Sleaford Mods reichten sich gleich drei Premierminister in der Londoner Downingstreet die Klinke in die Hand. Und als wären der Brexit und all seine Folgen für das britische Volk nicht schon verheerend genug, feiert dies frenetisch seinen neuen König. Das ist natürlich nur zuträglich für die Musik von Jason Williamson und Andrew Fearn. Und es ist natürlich auch schön für uns.

    „UK Grim“: nicht nur der Titel ist hier Programm, auch stilistisch bleiben sich die Sleaford Mods treu. „This is UK Grim, keep that desk area tidy. Put in a bin. This is UK Grim“ brüllt Jason Williamson im titelgebenden Eröffnungstrack. Dazu ein fluffiger Beat, unterfüttert mit grimmigen Synthesizern. Auch „Force 10 From Navarone“ (der Titel wurde dem gleichnamigem Kriegs-Film von 1978 entnommen), mit einer herrlich genervt wirkenden Florence Shaw von Dry Cleaning als Feature-Gast oder auch „On The Ground“ schlagen in die selbe Kerbe. Auch toll ist die gnadenlose Harcore-Walze „Tilldipper“.

    Doch so schlimm und aussichtslos auch alles auf der Insel zu sein scheint, die Sleaford Mods trotzen der Lage auch mit tanzbaren Songs. Verglichen mit dem letzten Output der Nottinghamer ist ihr (sage und schreibe) zwölftes Album weniger experimentell- sondern geradliniger geraten. Eingängige Zeilen wie „But what's gone on, what can I see? You're all getting mugged by the aristocracy“ wie im angenehm wippendem „Right Wing Beast“ runden das Ganze obendrein perfekt ab. Dieses Zweigespann versteht es seine Wut in gefällige Songstrukturen zu kanalisieren. Es gibt fetzigen Modpunk in „So Trendy“, treibende Bässe in „Pit 2 Pit“ und in „Apart from you“ zeigt Williamsen, dass er seine Stimme auch als Sänger einsetzen kann. Finstere Hip Hop-Tracks wie „D.I.Why“, „Smash Each Other Up“ oder „I Claudius“ stechen da schon fast heraus, auch wenn es dem kurzweiligen Hörerlebnis von „UK Grim“ keinen Abbruch tut.
    Heavy Heavy Young Fathers
    Heavy Heavy (CD)
    16.02.2025
    Klang:
    5 von 5
    Musik:
    5 von 5

    Don`t Worry, Be Heavy Heavy

    Was ist eigentlich in den vergangenen fünf Jahren mit den Young Fathers passiert? Ist das hier noch die gleiche Band wie auf „Cocoa Sugar“ oder eine gar völlig Neue? Nach drei interessanten, bemüht experimentellen, aber letztlich unausgegorenen Werken drohten die Schotten ein wenig egal zu werden. Auf „Heavy Heavy“ ist das Dreigespann wie ausgewechselt. Mit einem ungehobelten und unverbrauchten Enthusiasmus hauen sie dem Hörer einen Haufen Hits vor den Latz, für die ihnen vorher das richtige Bauchgefühl fehlte oder einfach der Kopf nicht frei genug war. Den Hip Hop ihres Debüts „Dead“ hatten sie gnädigerweise schon für „White Men Are Black Men Too“ hinter sich gelassen. Und von den hübsch produzierten, aber oft ziellosen Ausuferungen des Vorgängers lassen sie diesmal auch die Finger. Auf „Heavy Heavy“ lassen die Young Fathers Gegensätze mit einer Heftigkeit kollidieren, dass nie Stillstand herrscht. Von konventionellen Songstrukturen nahmen diese Herren zwar schon von Beginn an Abstand, jetzt reduzieren sie sich aufs Wesentliche und sind dabei doch so bissig wie nie. Denn weniger ist, wie man so schön sagt, manchmal eben doch mehr.

    Manche Songs hüpfen regelrecht wie Duracell-Häschen durch die Gegend, die ihre plüschigen Lauscher in Richtung TV On The Radio gestreckt haben. „Hear the beat of the drum and go numb“ empfiehlt uns Alloysious Massaquoi in „Drum“ und man kann eigentlich gar nicht anders, als sich von diesen positiven, energetischen Afro-Rythmen hypnotisieren zu lassen. Genauso abgedreht ist „Sink Or Swim“. Grob geschnitzter Rock wie in „Rice“ oder „I Saw“ bleibt dagegen auch auf „Heavy Heavy“ eher die Ausnahme. Am stärksten klingen die Young Fathers auf diesem Album ohnehin immer dann, wenn Alles für ein paar Minuten herunterfährt, die Musik sich langsam wieder aufbäumt, um dann zu explodieren, so wie in „Tell Somebody“ oder „Geronimo“.

    Die Briten wollen laut eigener Aussage mit ihrer lebensbejahenden Attitüde in diesen schwierigen Zeiten eine starke Schulter zum anlehnen sein, auch wenn ihre Lyrics meist eher esoterisch, statt politisch anklingen und dem Zuhörer lieber Raum für Interpretationen einräumen sollen, was man nicht schlimm finden muss. „Heavy Heavy“ ist kein Crossover mehr aus Pop, Rap, Noise, Gospel und Allem was je unter dem Begriff „schwarzer Musik“ zusammengefasst wurde, sondern zeigt die Band eigenständiger und musikalisch homogener. Und man kommt nicht von dem Gefühl los, dass Alben wie dieses gerade gnadenlos offenlegen, was dem Rock derzeit alles fehlt, um wieder cool zu sein.
    Everything Is Alive Slowdive
    Everything Is Alive (CD)
    16.02.2025
    Klang:
    4 von 5
    Musik:
    4 von 5

    Rock ohne Altersfreigabe

    Noch langsamer als wie sich zum Teil die Songs auf „Everything Is Alive“ winden, dreht sich wohl nur die Erde einmal täglich um ihre Achse. Doch so schlicht ihre Tagträumereien immer noch gestrickt sein mögen, bleiben Slowdive auch über 30 Jahre nach ihrer Gründung ihre eigene Marke. Eine Einschätzung, die man nicht unbedingt über all ihre Weggefährten treffen kann, mit denen sie einst den „Shoegaze“ in die Welt hinaus posaunten. Viele gibt es gar nicht mehr, Andere sind längst in der Egalität verschwunden. Kevin Shields brauchte geschlagene 22 Jahre um mit My Bloody Valentine den Nachfolger zu „Loveless“, bis heute für die Älteren so etwas wie die ewige, nie erreichte Messlatte für dröhnenden, schwelgerischen Gitarrenrock und auch für die coolen Indie-Kids von heute längst eine Referenz, um auch wenigstens ja mitreden zu können, fertig zu stellen. Als Slowdive vor sechs Jahren ihr erstes Album seit ebenfalls so langer Zeit veröffentlichten, hätte man das ihnen als Fan übel nehmen können, wenn jenes nicht so gut gewesen wäre. Oder genau deswegen. Ein Werk, dass man getrost als Instant-Klassiker bezeichnen darf, das all ihre Stärken in einer bis dahin nie dagewesenen Kompaktheit bündelte und das, wenn auch spät, der Karriere des Quintetts einen enormen Schub verpasste. Erst der Erfolg dieser Platte ermöglichte es Neil Halstead, Rachel Goswell, Simon Scott, Nick Chaplin und Christian Savill von ihrer Kunst gut leben zu können. Auf neue Musik der Briten musste man dennoch geduldig warten, was sich gleich auf mehrere Umstände zurückführen lässt. Neben der Pandemie waren es auch Todesfälle in den Familien der Mitglieder, die die Arbeit an neuem Material ausbremsten. Somit erhält man auch gleich eine Erklärung für den Titel: „Everything Is Alive“ beschreibt das Licht am Ende des Tunnels einer schwierigen Zeit. In seinen besten Momenten mutet das fünfte Album der Gruppe wie ein Best-Of ihres bisherigen Schaffens an, wenn man mal vom außergalaktischen Nicht-Rock von „Pygmalion“ absieht. Wobei der Vorgänger „Slowdive“ stilistisch der am stärksten wahrnehmbare Fixpunkt auf dem Neuling der Engländer ist. Es gibt aber auch dezente Modifizierungen im bandtypischen Sound. Zumindest „Shanty“ als auch „Andalucia Plays“ und „Chained To A Cloud“ werden von minimalistischer Elektronik umspielt. Das schleppende, rein instrumentale „Prayer Remembered“ bäumt sich fast fünf Minuten lang zu beeindruckender Größe auf, klingt schon beinahe wie ein Relikt aus den frühen Tagen der Band und gehört zu den sicheren Highlights von „Everything Is Alive“. Harmlos dagegen sind die zwei eher lauen Dreampopper „Kisses“ und „Alife“. Die Frage danach, ob die Musik dieser Gruppe gut oder weniger gut gealtert ist, stellt sich allein schon deswegen nicht, weil diese kleine, feine Nische der großen, weiten Welt der sieben Saiten, die Slowdive maßgeblich mitgeprägt haben, längst wieder modern- und von zeitloser Schönheit ist. Mit ihrem quasi zweiten Comeback schreibt die Band ihre Geschichte weiter.
    First Two Pages Of Frankenstein The National
    First Two Pages Of Frankenstein (CD)
    16.02.2025
    Klang:
    4 von 5
    Musik:
    3 von 5

    Vom Indieklub ans Lagerfeuer

    Nie hätte man sich über The National in der Vergangenheit getraut zu sagen, dass sie früher mehr gerockt hätten. Denn das würde schon fast einer Beleidigung gleich kommen. Und zwar nicht, weil es gelogen wäre, sondern weil die Amerikaner einer der wenigen großen Rockbands der letzten Jahre sind, die es einfach nie darauf angelegt hat eine zu sein. Und trotzdem wirkt „First Two Pages Of Frankenstein“ wie das absehbare Ende einer langen, von leichten, experimentellen Ausbrüchen geprägten Entwicklung weg von der mondänen Kunst des Songschreibens, hin zum romantischen Lagerfeuer-Liedchen. Da überrascht es längst nicht mehr, dass mit „Once Upon The Poolside“ eine unter die Haut gehende Ballade den Opener gibt oder das „Eucalyptus“ der einzige Song ist, für den es sich ausnahmsweise lohnt, die Anlage etwas lauter zu drehen. Den Rest ihres neuen Albums darf man wohlwollend zwischen melancholischer Spätsommerbrise und routiniertem Indierock einordnen. Wie schon für „Iam Easy To Find“ holen sich The National wieder prominente Unterstützung ins Studio. Vielleicht weil sie es sich als Indie-Konsensband längst leisten können oder weil man heutzutage die Streamingzahlen im Augenwinkel haben muss. Die Kollaborationen auf „First Two Pages Of Frankenstein“ zählen dennoch zu den glanzvollen Momenten. Besonders „This Isn`t Helping“ mit Phoebe Bridges und „The Alcott“ mit Taylor Swift. Auch das bereits erwähnte Duett mit Sufjan Stevens, „Once Upon The Poolside“, ist eine sichere Nummer. Im Gegensatz zu solch bleischweren Dramen, die The National nach wie vor in ihrem Repertoire haben, bleibt bei so lauen Lüftchen wie „New Order T-Shirt“, „Tropic Morning News“ und „Ice Machines“ beim Hörer dagegen nur wenig hängen. Eine schwere Geburt sollte ihr neuntes Album werden. Der Grund dafür war ausgerechnet Matt Berniger. Dieser hatte im Vorfeld mit Depressionen zu kämpfen, die es ihm unmöglich machten neue Songs zu schreiben. Wer einen tiefer gehenden Blick auf die Texte wirft, wird das Leid des Sängers in ihnen wieder finden. „First Two Pages Of Frankenstein“ geriet dadurch zum Schicksalswerk der Band und als Beginn einer neuen Ära, wie The National selber sagen. Bleibt nur zu Hoffen, dass sie dann ihren alten Biss wieder erlangen.
    My Back Was A Bridge For You To Cross Anohni & The Johnsons
    My Back Was A Bridge For You To Cross (CD)
    16.02.2025
    Klang:
    5 von 5
    Musik:
    5 von 5

    Zeit für Veränderungen

    Ihre Vielseitigkeit bleibt faszinierend. Über eine Dekade nach dem zerbrechlichen „Swanlights“ kehrt Anohni mit ihrer Band Anohni & The Johnsons zurück. Für „My Back Was A Bridge For You To Cross“ siedelt sie ihre Songs zwischen Motown-Soul, Blues und Rock`N` Roll an. Es ist ein bittersüßes Protest-Meisterwerk geworden.

    Wir erinnern uns: 2016 erschien Antony Hegartys, so der bürgerliche Name Anohnis, Solo-Einstand „Hopelessness“. Hier bot sie eine Art Elektropop von kristalliner Schönheit, mit dem sie den thematischen Schwerpunkt ihrer Musik mehr auf politische Themen lenken wollte. Auch wenn es in den folgenden Jahren um die Britin eher ruhig geworden ist, knüpft ihr neues Album an diese Arbeit an. Schon „It Must Change“ klingt wie eine Kniefall vor dem großen Marvin Gaye. Ein klagender, eindringlicher Text, der unsere (zwischen)menschlichen Probleme mit sprachlich starken Bildern offenlegt. Eingekleidet in elegantem Soul drückt der Song wie eine feste, gut tuende Umarmung zu. Im ästhetisch anspruchsvollen Clip performt sogar das Transmodel Munroe Bergdorf vor der Kamera. Im anderthalbminütigem Interlude „Go Ahead“ kreisen nur kurz blitzende Blueslicks drohend über die Köpfe der Zuhörer hinweg, weil mit „Sliver Of Ice“ direkt das nächste Highlight des Albums folgt. Das Lied ist inspiriert von einer Anekdote Anohnis mit Lou Reed (der auf ihrem Album „Iam A Bird Now“ als Gast zu hören war), den sie in dessen letzten Monaten begleiten durfte und ist eine kontemplative, berührende Reflexion über das Leben. Es sind aber immer wieder die wütenden Anprangerungen Anohnis auf „My Back Was A Bridge For You To Cross“, die die größte Kraft haben. Besonders „Scapegoat“ spricht all die Verletzungen aus, denen sich Transmenschen immer noch ausgesetzt sehen, bis ein weinendes Gitarrensolo die Erlösung bringt.

    Von Beginn an ist Anohnis Musik durchzogen vom Wunsch nach Anerkennung und Gleichberechtigung der Geschlechter, weswegen man auch unbedingt über ist das schöne Covermotiv des Albums reden muss. Jenes ist eine überfällige Verbeugung vor Marsha P. Johnson, jene US-Aktivistin, die sich bereits in den 60er-Jahren für die Rechte von Schwulen und Lesben einsetzte und auch Namensgeberin für Anohnis Bandprojekt ist. Der Albumtitel „My Back Was A Bridge For You To Cross“ ist einer Zeile des letzten Songs „You Be Free“ entnommen und drückt zum einen ihre Dankbarkeit gegenüber Menschen wie Johnson aus, die lange vor ihr die gleichen Kämpfe ausgetragen haben, zum anderen unterstreicht er aber auch, dass sie sich längst der Verantwortung ihrer Rolle in der gegenwärtigen Musikwelt als Trans-Künstlerin bewusst ist. „My Back Was A Bridge For You To Cross“ fühlt den Puls der Zeit und ist das am besten klingende Plädoyer für Humanität und Menschenrechte des Jahres. Auch wegen Anohnis Überstimme, die der Herzschlag ihrer Songs ist. Mit der erhabenen Produktion von Jimmy Hogarth verschmilzt sie hier zu einem sinnlichen Erlebnis, dass die Zeit für gut 40 Minuten vergessen lässt.
    Laugh Track The National
    Laugh Track (CD)
    16.02.2025
    Klang:
    4 von 5
    Musik:
    4 von 5

    Bitte Lachen Sie jetzt!

    Als Laugh Track (zu Deutsch Lachspur) wird im Englischen jener eingespielte „Lacher“ bezeichnet, der die vermeintliche Komik witziger Szenen in Sitcoms einfangen soll. Nun sind die weltweiten Chef-Romantiker des Indierock nicht gerade bekannt für ihren Humor. Dennoch konnte die Band vergangenes Jahr beim geneigten Fan immerhin für ein zufriedenes Grinsen sorgen. Denn „Laugh Track“, ihr im September veröffentlichtes Album ist nicht nur besser als sein ziemlich ausgedünnter Vorgänger- sondern The Nationals Bestes seit Jahren.

    Wenn zwischen beiden Veröffentlichungen nicht gerade mal gut vier Monate liegen würden, könnte man glatt von einer Kehrtwende zum Altbewährtem sprechen. Letztendlich stammen alle Stücke beider Alben aus ein und derselben Aufnahme-Session. Als im August 2022 die Kollaboration mit Bon Iver, „Weird Goodbyes“, als erster Vorbote veröffentlicht wurde, allerdings auf dem acht Monate später erschienenem Comeback der US-Band nicht zu finden war, ahnte noch niemand, dass The National ein weiteres Album bereits in der Hinterhand haben. Ein hervorragendes Gespür für die jeweilige Kopplung hat die Gruppe auf jeden Fall bewiesen. „First Two Pages Of Frankenstein“ hatte vielleicht die schneller zündenden Hits war aber arm an Überraschungen. Dieses Quintett kannte bislang immer nur eine Richtung und zwar nach vorne. Deswegen ist auch „Laugh Track“ keine wirkliche Rückbesinnung, sondern viel mehr das abgeklärteste Album in der Geschichte dieser Band. Kein übergeordnetes Konzept mehr wie auf „Iam Easy To Find“ und auch keine teils ermüdenden Erprobungen auf elektronischem Terrain wie bei „Sleep Well Beast“. The National haben 2023 abgespeckt und klingen so klar wie lange nicht.

    Der Trend der letzten Jahre, ihre Alben mit namhaften Feature-Gäste zu garnieren, setzt sich aber auch ihr wieder fort. Der bereits erwähnte Song mit Justin Vernon sowie das Titelstück (abermals mit Phoebe Bridges) hätten mit ihren minimalistischen Beats auch gut auf das Schwesteralbum gepasst. Nur das rustikale „Crumble“ will nicht so recht ins Gesamtbild der Platte passen. Es sind Songs wie „Deep End (Paul`s in Pieces)“ oder „Space Invader“, die hier besonders aufhorchen lassen und endlich wieder diese Weite skizzieren, die schon etliche, frühere Songs ausgezeichnet hat. Den Twist den letzterer Track in der zweiten Hälfte nimmt und sich von einer romantischen Ballade zu einem sanftmütigen Riesen aufbäumt, bleibt der vielleicht einzige, experimentelle Moment auf „Laugh Track“. The National bleiben die unaufgeregte Rockband der letzten Jahre. Nur das die Gänsehaut von Früher endlich wieder da ist.
    The Collective Kim Gordon
    The Collective (CD)
    16.02.2025
    Klang:
    4 von 5
    Musik:
    4 von 5

    Mach`s gut, alte Welt!

    Auf den Wow-Effekt von „No Home Record“ kann Kim Gordon mit ihrem neuen Album nicht mehr bauen. Eher gibt sie uns mit „The Collective“ und seinen von Lärm umhüllten, materialistischen Protz-Beats Erwartbares. Man könnte noch weiter herumnörgeln und ihr unterstellen, den Zeitgeist um ein paar Jahre verfehlt zu haben, weil Trap mittlerweile vielleicht auch ein bisschen out ist. Viel lieber sollte man sie dafür feiern, dass ihre Musik nicht jene Nostalgie-Veranstaltung sein will, wie die ihres Ex-Mannes.

    Das Stirnrunzeln, welches auf ihrem Soloeinstand noch Songs wie „Sketch Artist“ zum Vorschein brachten, bleibt diesmal aus. Im coolen „Bye Bye“ cruist Gordon mit heruntergekurbelter Autoscheibe durch die Gegend und verabschiedet sich von so ziemlich Allem, was uns unsere Überflussgesellschaft zum Leben bereithält. Die Message hinter den Lyrics bleibt zwar eher wage, dafür klingt der Song umso cooler. Und wenn Gordon mit ihren mittlerweile 70 Jahren definitiv an etwas nicht eingebüßt hat, dann an ihrer Coolness. Und ebenso an ihrem Sinn für Humor. In Zeiten von Diskursen über toxische Männlichkeit darf es wohl erst recht auf einem Album des Ex-Sonic Youth-Aushängeschildes nicht an Songs über dieses Thema fehlen. Mit zynischen Zeilen wie „Dropped out of college, don't have a degree. And I can't get a date. It's not my fault!“ zieht sie in „I`m A Man“ über ihr Gegenüber her. Und wenn es nicht wieder Justin Raison wäre, der auf „The Collective“ größtenteils die Beats schmiedet, könnte man auch die Noise-Rapper von Dälek hinter einem Song wie diesen oder hinter Albträumen wie „Psychedelic Orgasm“ vermuten, bei den Schürfwunden, die man hier davon zu tragen droht.

    „The Collective“ bietet keine hoffnungsvolle Perspektive in ungemütlichen Zeiten. Viel mehr ist das Album ein ängstlicher Blick in den hässlichen Abgrund unserer Gegenwart. Dementsprechend klingt dann genauso auch die Kapitalismuskritik in „Dream Dollar“: brutales Bassgewitter und eine raschelnde Drummachine in feinster Suicide-Manier. „It`s Dark Inside“ torkelt etwas zu ziellos über die Dreineinhalb-Minuten-Grenze und ist vielleicht auch deswegen der einzige schwächere Song. Nichtsdestotrotz lotet Gordon auf ihrer zweiten Platte noch mehr die grenzen zwischen Lärm und Pop aus. Und sie behauptet sich endgültig als ernstzunehmende Solokünstlerin. Über ihre alte Band braucht man spätestens jetzt getrost nicht mehr sprechen.
    To All Trains Shellac
    To All Trains (CD)
    16.02.2025
    Klang:
    5 von 5
    Musik:
    5 von 5

    Mittelfingermusik

    Es wäre mal wieder Zeit darüber zu sinnieren, was ein Song überhaupt alles braucht und was nicht. Wie lebendig das Zusammenspiel von Instrumenten auf Platte auch ohne Studio-Trickserei klingen kann oder über die Notwendigkeit von Refrains und Songstrukturen im Allgemeinen. Steve Albini hätte sicherlich zu all dem eine Meinung gehabt. Aber nun ist er tot und die Musikwelt trauert um einen der wichtigsten Independent-Vordenker und letzten Idealisten. „To All Trains“ ist das erste Lebenszeichen von Shellac seit zehn Jahren. Es ist leider auch der traurige Abschied von Albinis letzter Band.

    Shellac hatten es nicht unbedingt eilig mit den Arbeiten an ihrem sechsten Album. Auf fast fünf Jahre erstreckten sich die Aufnahmen, die sich aber auf nur wenige Sessions aufteilten. Wie immer klingt es so, als ob hier die große Disharmonie zelebriert wird. Die das Trommelfell in Scheibchen schneidenden Gitarren, das manchmal uferlose, meistens aber Backpfeifen verteilende Drumming und das bissige Bassspiel machen mehr den Eindruck einer Freestyle-Perfomance, statt den von runden, sorgfältig durchdachten Arragements. Es ist nicht unbedingt ein Qualitätsmerkmal von Musikern, wenn sich ihre Songs im Grunde immer gleich anhören. Im Falle des Trios aus Chicago muss man diese Ansicht aber zumindest relativieren. Jenes verstand sich schon immer als Antithese zum Typus Band, der immer anders und besser sein will, als auf seinen vorherigen Veröffentlichungen. Bei Shellac dagegen lautete von Anbeginn die Devise: „Wozu irgendwas ändern?!“

    Fans der ersten Stunde dürfen sich bei „To All Trains“ wie zu Hause fühlen. Und sie dürfen sogar ihre Straßenschuhe anbehalten. Kurz und heftig legen die Mathrocker mit „WSOD“ los. Der Song beginnt schon fast feierlich, endet aber mit einem umso dreckigeren Punkrockriff. Das muss reichen. Kurz und schmerzhaft sirrt die Gitarre auch in „Chick New Wave“ und Albini fasst ein letztes Mal lakonisch zusammen, worum es hier geht: „I'm through with music from dudes. What you do isn't brave. All I care about. Is chick new wave. Strained vocals through a bad PA. Music, hair, clothes. Asymmetry in every way. Bleating sax, two finger guitar. Yelps of glee. Asymmetry in every way. I wanna hear high voices. Singing real loud.“ Es ist schön anzuhören mit welcher Kompromisslosigkeit dieser Mann bis zu seinem Lebensende seiner Passion nachgegangen ist. „To All Trains“ ist pure Nostalgie. Ein repetitives Riff in „Girl From Outside“ genügt da auch vollkommen und man sieht sich wieder im „Action Park“ eine Wasserrutsche nach der zu nehmen. „Wednesday“ wächst aus einer verspielten Rhythmus-Figur Todd Trainers zu einem albtraumhaften Spoken-Word-Stück, in dem Albinis kalter Nihilismus alter Tage mal wieder zur Geltung kommt. Auch der das Album abschließende Jam von „I Don't Fear Hell“ jagt einem jedes Mal einen eiskalten Schauer über den Rücken. In Zeiten, in denen längst Algorithmen unseren Musikgeschmack diktieren, Produktionen nicht mehr ohne Lineal auskommen und selbst Artworks mit künstlicher Intelligenz entworfen werden können, ist solcher, auf das Nötigste reduzierter, unprätentiöser Rock, wie der auf „To All Trains“, schon fast wieder eine Entdeckung.
    Funeral For Justice / Tears For Injustice Mdou Moctar
    Funeral For Justice / Tears For Injustice (CD)
    16.02.2025
    Klang:
    4 von 5
    Musik:
    4 von 5

    Moderne Sklaverei

    Eine verlässliche Adresse für experimentelle und progressive Formen des Rocks ist und bleibt Matador Records. Der neueste Hit des amerikanischen Labels heißt Mdou Moctar. Hinter diesem Namen verbirgt sich ein nigerianischer Gitarrist, der die westliche Musikwelt mit seinem neuen Album das Fürchten lernen will. Und das könnte ihm durchaus gelingen. „Funeral For Justice“ ist bereits der zweite Release des Hauses. Hier wird das alte Rock`N`Roll-Feuer seiner Ahnen wieder angezündet- und dennoch selbstbewusst über den Genre-Tellerrand hinausgeblickt. Was aber über Allem schwebt ist Moctars kritische Auseinandersetzung mit dem Zustand seiner Heimat.

    Wann hat man so etwas zuletzt in einem Musikvideo gesehen? Männer in verschleierter Tuareg-Kleidung spielen Gitarre, Bass und Schlagzeug. Im Clip zu „Funeral For Justice“, ein Song ihres gleichnamigen Albums, treten die vier Mitglieder in einem leeren Klub auf und performen in etwas steifen Bewegungen vor der Kamera. Das sieht, zugegebenermaßen, schon etwas komisch aus. Das soll aber nicht über das ernste Anliegen der Band hinwegtäuschen. Moctars Worte (gesungen wird größtenteils in Tamascheq, der Sprache der Tuareg) richten sich hier direkt an seine nigerianischen Brüder und Schwestern. Das energetische Stück, welches sich zwischen Classicrock und Indie windet, klingt mit seinem eindringlich klagenden Text wie eine Hymne des Widerstands und wie ein Rundumschlag gegen die sozialen und kulturellen Missstände in Nigeria und auf dem gesamten, schwarzen Kontinent.

    Es wäre zu einfach „Funeral For Justice“ als eine Retrorock-Platte abzustempeln, die sich wie selbstverständlich an den Großen der Musikgeschichte bedient. Moctars Gitarrenspiel wurde zwar an anderer Stelle schon mit dem von Eddie Van Halen oder Jimi Hendrix verglichen, eher wirkt das Album wie ein erfrischender Hybrid aus Blues und verschiedenster, traditioneller Stile Afrikas. Komplettiert wird die Band von Bassist Mikey Coltun, der sich hier auch als Produzent erweist, Gitarrist Ahmoudou Madassane und Drummer Souleymane Ibrahim. Es ist besonders diese furios und eigenwillig aufspielende Band, die beim Hören des Albums als erstes begeistert. Stotternde Gitarrenfeedbacks läuten das rasende „Sousoume Tamacheq“ ein, welches virtuos einen Bogen von Hardcorepunk zu Dessertrock schlägt. „Imajighen“ (so bezeichnet sich das Volk der Berber in seiner eigenen Sprache) und „Takoba“ wiegen sich langsam und hypnotisch im Takt. „Imouhar“ kreuzt dagegen Southern Rock frech, aber virtuos mit tanzbaren Rhythmen.

    Auch wenn der geneigte Hörer wahrscheinlich nicht der Sprache Mdou Moctars mächtig ist und kein Wort verstehen wird („Tchinta“ und „Oh France“ werden immerhin in Französisch vorgetragen), sind die Songs von „Funeral For Justice“ ungemein verspielt, melodiös und sprechen gerade dank ihres überirdischen Gitarristen zuallererst ein Rock-Publikum an. Und mit Moctars Texten sollte man sich, trotz der Sprachbarriere, unbedingt auseinandersetzen, die es auch in englischer Sprache zu lesen gibt. In der Übersetzung des schon fast versöhnlich ertönenden „Modern Slaves“ heißt es: „All of our resources have been looted. Youth in pursuit of resources, weeping in dismay, in the ocean's depths, they perish, while you watch“. Ein Aufschrei, so laut, dass er über die europäischen Außengrenzen hinaus bis in die hiesigen Clubs schallt. „Funeral For Justice“ gibt den Unterdrückten eine neue Stimme. Sich dazu bewegen darf man natürlich trotzdem.
    1 bis 25 von 26 Rezensionen
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