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    dorli Top 50 Rezensent

    Aktiv seit: 13. Februar 2018
    "Hilfreich"-Bewertungen: 24
    272 Rezensionen
    Das Erbe der Karolinger Claudius Crönert
    Das Erbe der Karolinger (Buch)
    24.04.2025

    Ludwig der Fromme und seine Söhne

    In seinem historischen Roman „Das Erbe der Karolinger“ entführt Claudius Crönert den Leser in die Jahre 817-840 in das fränkische Reich. Im Mittelpunkt stehen Ludwig der Fromme, seine Ordinatio Imperii und die immer wieder eskalierenden Streitigkeiten und Machtkämpfe zwischen ihm und seinen Söhnen.

    Schon auf den ersten Seiten spüre ich, Ludwig hat es gerne beschaulich. Ihm steht der Sinn nach friedlichen Lösungen. Sein Sohn Lothar ist ganz anders eingestellt. Lothar wirkt oft launisch, ist fast krankhaft ehrgeizig und will jede Unruhe im Land und an den Grenzen mit kriegerischen Maßnahmen abwenden.

    In einem zweiten Handlungsstrang lerne ich Judith kennen, älteste Tochter von Welf I., einem alemannischen Grafen. Judith wird im Verlauf des Geschehens eine wichtige Rolle spielen. Sie wird von dem im Jahr 818 verwitweten Ludwig bei einer Brautschau als seine zweite Ehefrau ausgewählt. Die willensstarke Judith weiß ihren Status als neue Kaiserin zu nutzen und beeinflusst nicht nur die Entscheidungen innerhalb der Familie, sondern auch die Entwicklung des gesamten Reiches.

    Durch die Ordinatio Imperii sollte - entgegen der bisherigen Regelung, das Herrschaftsgebiet unter allen Söhnen gleichmäßig aufzuteilen - das Reich als Einheit bestehen bleiben und immer der älteste Sohn die Kaiserkrone erben. Entsprechend ernannte Ludwig seinen ältesten Sohn Lothar I. zum Mitkaiser und setzte seine jüngeren Söhne Pippin und Ludwig den Deutschen als Unterkönige in Aquitanien bzw. Bayern ein.

    Doch statt Einheit erreicht Ludwig das Gegenteil - alle driften immer weiter auseinander. Da die beiden Kaiser unterschiedliche Vorstellungen über die Art und Weise hatten, wie das Reich regiert werden soll, gerät die gut gedachte Neuregelung schnell ins Wanken und droht gänzlich zu scheitern, als Ludwig in zweiter Ehe Vater eines weiteren Sohnes wird, denn plötzlich gibt es mit Karl dem Kahlen einen weiteren Bruder mit Erbansprüchen.

    Claudius Crönert erzählt sehr anschaulich. Mit viel Liebe zum Detail zeichnet er ein umfassendes, facettenreiches und vor allen Dingen sehr glaubwürdiges Bild der damaligen Zeit und versteht es ausgezeichnet, die historischen Fakten durch abwechslungsreiche Schilderungen und schwungvolle Dialoge mit Leben zu füllen. Schon nach wenigen Seiten hat mich die Welt der Nachkommen Karls des Großen gefangen genommen und ich habe gespannt das Leben, Wirken und Streiten der karolingischen Herrscherfamilie verfolgt.

    Historische Gegebenheiten, Politik und Regierungsgeschäfte bilden die Grundlage für diesen Roman, das Hauptaugenmerk liegt aber auf dem turbulenten Miteinander und Gegeneinander von Vater und Söhnen. Ich begegne streitlustigen Charakteren, von denen jeder Einzelne nur daran interessiert ist, seine persönliche Macht auszuweiten und seinen eigenen Besitz zu vergrößern. Wechselnde Perspektiven lassen mich dabei einen Blick auf ihre unterschiedlichen Eigenarten und Beweggründe werfen. Ich lerne die Stärken und Schwächen der Akteure kennen und kann an ihren unterschiedlichen Emotionen teilhaben. Es regieren Neid und Missgunst. Intrigen werden gesponnen, Verschwörungen ausgeheckt, Zwietracht gesät, Rebellionen angezettelt. Ich befinde mich mittendrin in einem frühmittelalterlichen Familienstreit, der sich auf die Zukunft des gesamten fränkischen Reiches auswirken wird.

    Besonders gut gefallen hat mir, dass Claudius Crönert nicht nur die großen Herausforderungen der Zeit beleuchtet, sondern auch die vermeintlich kleinen Hindernisse hervorhebt. So erlebe ich zum Beispiel mit, wie schwierig Verhandlungen manchmal waren, weil es keine gemeinsame Sprache gab. Nachrichten brauchten oft mehrere Wochen, so dass der Inhalt der Botschaft bereits überholt sein konnte. Gefechte waren waghalsig, weil man nie genau wusste, wo das gegnerische Heer stand oder wie weit Verbündete vorgerückt waren.

    Im Verlauf der Handlung wird immer wieder deutlich, dass die Karolinger nicht nur hochrangige Adelige waren, sondern auch Menschen, die gute und eben auch schlechte Tage hatten. Die falsche Entscheidungen getroffen haben. Die zwischen Größenwahn und Selbstzweifeln schwankten. Die fröhliche Momente erlebten, aber auch dunkle Zeiten und emotionale Krisen bewältigen mussten. Denen Erschöpfung, Schmerz, Trauer, Hunger und Unwetter zusetzten. Die wilde Tiere fürchteten oder mit ihrem Aberglauben zu kämpfen hatten. Es ist die ausgefeilte Mischung aus aristokratischen, menschlichen und alltäglichen Aspekten, die die gesamte Szenerie in diesem Roman so herrlich lebendig und glaubwürdig machen.

    „Das Erbe der Karolinger“ hat mir sehr gut gefallen - eine mit vielen historischen Fakten verwobene Geschichte, die anschaulich und lebendig erzählt wird und dabei schnell einen Sog entwickelt, dem man sich als Leser nicht entziehen kann.
    Die Mündung Tim Pieper
    Die Mündung (Buch)
    07.04.2025

    Wenn das eigene Gedächtnis trügt

    Tim Pieper beginnt seinen Thriller „Die Mündung“ mit einem neugierig machenden Prolog: ein Mann in einem Segelboot kreuzt das Fahrwasser im Bereich der Elbmündung dicht vor dem Bug eines Containerschiffes - er versucht, mit dem waghalsigen Manöver seine Verfolger abzuhängen…

    Im Folgenden lerne ich Lena Funk kennen - die Kriminalhauptkommissarin hat sich eine Auszeit genommen, um zu verarbeiten, dass ihre Schwester Jette einem Serientäter zum Opfer gefallen ist. Lena verbringt deshalb einige Zeit als Umweltpraktikantin auf der Vogelinsel Scharhörn. Doch wiederkehrende Albträume und der Eindruck, dass die mit dem Fall betraute SoKo bei den Ermittlungen geschlampt hat, lassen sie nicht zur Ruhe kommen. Interessant wird es, als Lena nach einem Unwetter eine männliche Leiche in den Dünen entdeckt. Der offensichtlich ermordete Mann hat Schmuckstücke bei sich, die der sogenannte Gezeitenmörder von seinen Opfern als Trophäe behalten hat. Auch ein Anhänger von Jette ist dabei…

    Nach diesem Fund will Lena wieder mitermitteln und macht sich auf die Suche nach Antworten - und ich bin zunächst einmal irritiert, denn Lena verhält sich ganz und gar nicht wie eine erfahrene Kripo-Beamtin. Die Erklärung, warum ihre Ermittlungen so untypisch und nachlässig wirken, lässt nicht lange auf sich warten und hat es in sich…

    In diesem Thriller ist vieles nicht so, wie es auf den ersten Blick erscheint. In einem dem Prolog vorangestellten Zitat von der US-amerikanischen Psychologin Elizabeth Loftus heißt es: „Unser Gedächtnis arbeitet konstruktiv. Es arbeitet rekonstruktiv. Das Gedächtnis funktioniert ein bisschen wie Wikipedia: Sie können es aufrufen und es verändern, aber andere können das auch.“ Diese Worte lassen bereits erahnen, dass Tim Pieper sich für seine Protagonistin und damit auch für den Leser ein paar besondere Herausforderungen ausgedacht hat - so muss Lena sich im Verlauf der Handlung die Frage stellen, wie sie den Fall lösen soll, wenn sie ihren eigenen Erinnerungen nicht trauen kann. Und ich frage mich ständig, was hier tatsächliches Geschehen ist und welche Ereignisse aufgrund von Manipulation Hirngespinste sind und nur scheinbar geschehen.

    Tim Pieper wartet mit einer raffiniert gestrickten Geschichte auf, die voller falscher Fährten und dramatischer Wendungen ist. Die Spannung ist dabei von Anfang an auf einem hohen Level und wird durch unerwartete Ereignisse, temporeiches Geschehen und das stückweise Aufdecken von Hintergründen immer wieder aufs Neue befeuert.

    Und auch die unterschiedlichen Zeitebenen tragen dazu bei, dass die Handlung einen enormen Sog entwickelt. Während ich in Rückblenden erfahre, was vor Jettes Verschwinden passiert ist und zudem die familiären Angelegenheiten der Schwestern kennenlerne, kann ich in dem gegenwärtigen Part prima mit den Akteuren mitfiebern und rausche so mit großer Geschwindigkeit durch das Buch, immer begierig darauf zu erfahren, wer hier seine kriminellen Finger im Spiel hat.

    Als sehr gelungen habe ich auch die Beschreibungen der Schauplätze empfunden - die rauen Bedingungen an der Küste, der Wechsel von grauen Nebelschleiern und stürmischen Winden, das Spiel der Gezeiten und auch die Einsamkeit des Wattenmeers sorgen für eine düstere Atmosphäre und geben der Thrillerhandlung den passenden Rahmen.

    „Die Mündung“ hat mir sehr gut gefallen - ein Thriller, der mit einem abwechslungsreichen Geschehen punkten kann und mir ein paar spannende Lesestunden beschert hat.
    Ein ungezähmtes Tier Joël Dicker
    Ein ungezähmtes Tier (Buch)
    01.04.2025

    Trügerische Idylle

    Joël Dicker beginnt seinen Roman „Ein ungezähmtes Tier“ mit einem sehr kurzen, dafür aber spannenden Prolog - es ist der 02. Juli 2022, wir befinden uns in Genf und erleben den Beginn eines minutiös geplanten Raubüberfalls auf einen Juwelier mit.

    Die eigentliche Handlung beginnt 20 Tage vor diesem Überfall. In einem Genfer Villenviertel leben Sophie und Arpad Braun - sie Anwältin, er Banker - mit ihren beiden Kindern. Das Familienleben scheint perfekt zu sein. Eine heile Welt wie aus dem Bilderbuch.

    Unweit der Brauns wohnen Karine und Greg Liégan mit ihren Kindern in einer preiswerten Reihenhaussiedlung. Karine arbeitet in einer Boutique, Greg ist bei der Polizei. Im Alltag der Liégans scheint nichts wirklich rund zu laufen und doch wirkt ihr Leben auf dem ersten Blick viel realer als das von Sophie und Arpad.

    Arpad und Greg lernen sich im Fußballverein ihrer Söhne kennen. Die Männer sind sich auf Anhieb sympathisch, es folgt eine Einladung zu Arpads Geburtstagsfeier, die Ehepaare freunden sich an. Alles scheint ganz normal zu sein. Alltäglich. Aber das ist es bei weitem nicht…

    Schnell zeigt sich, dass das luxuriöse Leben der Brauns nur Fassade ist und dahinter dunkle Geheimnisse und tiefe Abgründe schlummern. Und im Hause Liégan sorgen Unzufriedenheit und Neid für eine giftige Stimmung, die Karine immer frustrierter werden lässt und Greg zu einem Voyeur macht.

    Joël Dicker ist ein Virtuose, wenn es darum geht, eine Geschichte fesselnd und unterhaltend zu erzählen. Ich liebe es einfach, wie der Autor seine Geschichten aufbaut. Er jongliert mit mehreren Handlungssträngen und springt in der Zeit vor und zurück, lässt mich aber trotz der zahlreichen Perspektiv-, Schauplatz- und Zeitwechsel nie den Faden verlieren. Er spielt mit meinen Erwartungen. Lässt mich Vermutungen anstellen, die er dann mit überraschenden Wendungen wieder zunichte macht. Joël Dicker liebt es, den Leser in seinen Geschichten an der Nase herumzuführen. Und ich genieße es jedes mal wieder.

    Während der Tag des Raubüberfalls unaufhörlich näher rückt, teile ich nicht nur die Alltagsprobleme mit den Akteuren, ich erlebe auch eine Welt voller Lügen, Neid, Intrigen und Begierde. Nach und nach kommen Heimlichkeiten an Licht, Hintergründe werden aufgedeckt und am Ende bin ich wieder einmal begeistert, wie nachvollziehbar alles aufgelöst wird.

    Joël Dicker hat in diesem Roman einmal mehr bewiesen, dass er ein gutes Gespür dafür hat, wie er die Spannung dosieren muss, damit die Sogwirkung der Handlung durchgehend auf einem hohen Niveau bleibt.

    „Ein ungezähmtes Tier“ hat mir sehr gut gefallen - eine fesselnde, raffiniert gestrickte Geschichte, die zahlreiche Überraschungen in petto hat und so für spannende Lesestunden sorgt.


    Vor hundert Sommern Katharina Fuchs
    Vor hundert Sommern (Buch)
    01.04.2025

    Schatten der Vergangenheit

    Die 94-jährige Elisabeth Liebig ist vor kurzem in ein Hamburger Seniorenheim gezogen, um in der Nähe ihrer Familie zu sein. Die Folgen eines Schlaganfalls haben es unmöglich gemacht, dass sie weiterhin allein in ihrer Wohnung in Berlin-Charlottenburg lebt. Die Wohnung soll verkauft werden, daher macht sich Elisabeths Tochter Anja daran, den Haushalt aufzulösen. Unterstützt wird Anja dabei von ihrer 19-jährigen Tochter Lena. Beim Ausräumen der Wohnung finden die beiden Frauen Fotos, Briefe und Gegenstände, die sie nicht nur neugierig auf ihre Familiengeschichte machen, sondern die gleichzeitig auch Fragen aufwerfen und ein dunkles Geheimnis vermuten lassen.

    Ein zweiter Handlungsstrang spielt im Berlin der 1920er und 30er Jahre. Clara Brand wächst in einfachen Verhältnissen in Berlin-Neukölln auf. Bereits in jungen Jahren arbeitet sie in der Spülküche der Kindl-Brauerei, um etwas zum Familieneinkommen beizutragen. Die monotone, körperlich anstrengende Arbeit verlangt Clara und ihren Kolleginnen einiges ab. Hinzu kommt ein Vorarbeiter, der alle ständig drangsaliert und schikaniert. Als Clara sich bei einem Vorfall zur Wehr setzt, wird sie fristlos entlassen. Der Verlust ihres Arbeitsplatzes erweist sich als Glück im Unglück - Clara bekommt eine Anstellung als Hundebetreuerin angeboten. Ein Job, mit dem sie den Grundstein für ihre berufliche Zukunft legt.

    Katharina Fuchs hat einen tollen Schreibstil, der mich immer wieder begeistert. Es braucht nur wenige Seiten und schon bin ich mittendrin in der Welt der Protagonisten und verfolge gespannt, was ihnen auf ihren Wegen widerfährt.

    Katharina Fuchs verbindet das ereignisreiche Leben ihrer 1904 in Berlin geborenen Großtante Clara mit einer genauso fesselnden wie unterhaltsamen fiktiven Geschichte, die bis in das Jahr 2024 reicht und in Berlin und Hamburg spielt. Die Autorin lässt mich dabei nicht nur an den Höhen und Tiefen teilhaben, die die Zeit der Weimarer Republik mit sich brachte, sie macht auch deutlich, dass sich die Herausforderungen, mit denen wir heutzutage konfrontiert werden, gar nicht so sehr von den damaligen Problemen unterscheiden.

    In „Vor hundert Sommern“ kann ich mitverfolgen, wie es Clara in der Zwischenkriegszeit ergangen ist, wie aus der Flaschenspülerin die Besitzerin eines Hundesalons wurde. Ich begleite Anja durch ihren herausfordernden Alltag, bis es ihr gelingt, ein Gleichgewicht zwischen familiären Verpflichtungen und eigenen Bedürfnissen zu finden. Ich beobachte Lena, die sich auf der Suche nach ihrem Platz im Leben befindet und noch ein wenig orientierungslos umherdriftet. Und ich lausche Elisabeths Erzählungen, die wie eine Brücke zwischen Gegenwart und Vergangenheit auf mich wirken.

    Besonders in dem zeitgenössischen Part wartet Katharina Fuchs mit einer wahren Flut an Themen auf - gefühlt alles, was uns aktuell in unserem Alltag beschäftigt und bewegt, scheint Einzug in die Geschichte gehalten zu haben. Mir hat diese Vielfalt sehr gut gefallen, weil sie das Leben von Anja und ihrer Familie authentisch macht und die Hektik unserer Zeit widerspiegelt. Ich hätte mir diese Fülle auch für den historischen Teil gewünscht; hier gerät manches für meinen Geschmack ein wenig zu knapp.

    Katharina Fuchs hat ein sehr gutes Händchen für stimmige Atmosphäre. Sie trifft den Zeitgeist auf beiden Zeitebenen ganz hervorragend - trotz aller Parallelen, die im Verlauf der Handlung deutlich werden, spürt man beim Lesen durchweg, dass sich die Mentalität und die Eigenarten der Menschen von heute und von vor einhundert Jahren eben doch in einigen Dingen unterscheiden.

    Eine Sache hat mich bereits während des Lesens und auch danach noch besonders beschäftigt: Schulden unsere Vorfahren uns die Wahrheit über die Dinge, die sie erlebt haben? Haben wir wirklich ein Recht darauf zu erfahren, was vorherige Generationen durchgemacht haben? Lena bedrängt ihre Oma geradezu, ihre Erinnerungen preiszugeben. Elisabeth kommt dem schließlich nach und erzählt von Dingen, die sie ihr Leben lang verschwiegen hat. Dabei merkt man deutlich, wie sehr sie das Erzählen belastet. Alte Wunden werden aufgerissen, Schuldgefühle ans Licht gezerrt. Ich habe es in dem Moment als falsch empfunden, dass Elisabeth die zum Teil sehr schmerzhaften Erfahrungen und Emotionen gedanklich noch einmal durchleben musste. Vielleicht ist der Zeitpunkt, sich ein traumatisches Erlebnis von der Seele zu reden, irgendwann einfach überschritten und dunkle Geheimnisse sollten das bleiben, was sie sind - geheim.

    „Vor hundert Sommern“ hat mir sehr gut gefallen - ein anschaulich und lebendig erzählter Familienroman, der mir ein paar kurzweilige Lesestunden beschert hat und mich ein wenig nachdenklich zurücklässt.
    Der Gott des Waldes Liz Moore
    Der Gott des Waldes (Buch)
    09.03.2025

    Gefährliche Wälder

    In ihrem Roman „Der Gott des Waldes“ nimmt Liz Moore den Leser mit in die im US-Bundesstaat New York liegenden Adirondack Mountains. Hier befinden sich das Naturreservat der Bankiersfamilie Van Laar sowie das daran angrenzende Ferienlager Camp Emerson. Das Ferienlager gehört zwar zum Eigentum der Van Laars, wird aber schon viele Jahre von Vic Hewitt und seiner Tochter T.J. verwaltet.

    Die Handlung spielt im Jahr 1975. Es ist das Jahr, in dem die 13-jährige Barbara Van Laar zum ersten Mal die Sommermonate im Camp verbringen darf. Das freut nicht nur Barbara selbst, sondern ganz besonders ihre Mutter - die seit dem spurlosen Verschwinden ihres Sohnes Bear vor 14 Jahren psychisch labile Alice ist überaus froh, dass sie ihre zu Wutanfällen neigende Tochter für einige Wochen los ist.

    Noch bevor der Sommer zu Ende ist, geschieht das Undenkbare: eines Morgens ist Barbara verschwunden. Es gibt keinerlei Hinweise auf ihren Verbleib. Niemand will etwas gesehen oder gehört haben. Eine groß angelegte Suchaktion verläuft ohne Ergebnis.

    Liz Moore versteht es ausgesprochen gut, den Leser mit ihrer Erzählweise zu fesseln. Trotz der besorgniserregenden Ereignisse - schließlich ist eine Teenagerin aus reichem Hause in den undurchdringlichen Wäldern verschwunden und ein entflohener Straftäter soll sich in der Gegend aufhalten - lässt die Autorin die Handlung geradezu ruhig verlaufen. Keine actionreiche Höchstspannung. Keine atemlose Verfolgungsjagd. Kaum brenzlige Situationen während der Ermittlungen. Es ist gerade diese Ruhe, die mich in den Bann gezogen hat. Von der ersten Seite an schwebt über allem eine ständige, deutlich spürbare unterschwellige Spannung, die einen enormen Sog auf mich ausgeübt hat.

    „Der Gott des Waldes“ besticht vor allen Dingen durch ein abwechslungsreiches Geschehen und einen vielschichtigen Handlungsaufbau - mehrere, ständig wechselnde Zeitebenen sorgen dabei für eine genauso lebhafte wie mitreißende Szenerie. Die aktuelle Handlung wird von zahlreichen Rückblenden in die 1950er und 60er Jahre unterbrochen - so erfährt man häppchenweise, was in den einzelnen Zeitabschnitten passiert ist und kann die Unstimmigkeiten und Widersprüche rund um Bears Verschwinden und die Fehler, die bei den damaligen Ermittlungen gemacht wurden, hautnah miterleben.

    Liz Moore hat ein feines Gespür für die Figurengestaltung. Sie schickt eine ganze Reihe interessanter Charaktere ins Rennen, die im stetigen Wechsel zu Wort kommen, so dass man intensiv an den Gedanken, Emotionen und Geheimnissen jedes Einzelnen teilhaben kann und dadurch versteht, was sie bewegt und wie sie ticken. Man kann die positiven wie negativen Schwingungen zwischen den Akteuren deutlich spüren. Beziehungen und Abhängigkeiten sowie Andeutungen über Verwicklungen und tatsächliche Konflikte befeuern immer wieder meine Neugierde auf die Hintergründe zu den Vermisstenfällen. Die Autorin lässt mich glauben, dass so gut wie jeder für das Verschwinden von Barbara verantwortlich sein könnte. Geschickt lenkt sie meinen Blick von einem zum nächsten und ich verfolge aufmerksam, was jeder Einzelne zu berichten hat, immer auf der Suche nach dem kleinen Hinweis, der mich der Lösung des Falls und damit Barbaras und auch Bears Schicksal näher bringt.

    Der Roman hat jede Menge Gesellschaftskritik im Gepäck. Neben der damals wie heute stark auseinanderklaffenden Schere zwischen Arm und Reich beleuchtet Liz Moore vor allen Dingen das Frauenbild in den 1950er bis 1970er Jahren - obwohl die Lebensläufe der Frauen in diesem Roman, ihre Altersstufen und ihr sozialer Stand ganz unterschiedlich sind, verbindet sie doch eine Sache: sie werden von den Männern in ihrem Umfeld als unterlegen angesehen. Sie werden unterdrückt, herumkommandiert, in ihrer beruflichen Entwicklung ausgebremst oder sogar zum Schweigen gebracht. Obwohl es sich durchaus um starke Frauenfiguren handelt, die den Herausforderungen des Lebens mutig begegnen, kämpfen sie meist vergeblich um einen gleichberechtigten Platz in der Gesellschaft.

    Die sehr gelungenen Beschreibungen der imposanten Natur, die Schilderung der Gefahren, die die raue Wildnis birgt und auch die Einblicke in die Historie der Adirondacks unterstreichen die Handlung dieses Familiendramas ganz hervorragend und runden den Roman damit perfekt ab.

    „Der Gott des Waldes“ ist sowohl mitreißende Familiengeschichte wie auch fesselndes Gesellschaftsporträt - ein Roman, der mir mit seiner abwechslungsreichen Handlung nicht nur spannende Lesestunden beschert hat, sondern mich auch einen Blick auf die Abgründe menschlicher Moral hat werfen lassen.
    Die Schwestern von Krakau Bettina Storks
    Die Schwestern von Krakau (Buch)
    05.02.2025

    Fesselnde Reise ins historische Krakau

    Bettina Storks beginnt ihren von wahren Begebenheiten inspirierten Roman „Die Schwestern von Krakau“ mit einem fesselnden Prolog, der im April 1943 im Montelupich-Gefängnis in Krakau spielt. Ich lerne die inhaftierte Widerstandskämpferin Gusta Dawidson Draenger kennen und erfahre, was gerade in ihr vorgeht. Ihre Gedanken reißen mich mit - ich möchte mehr wissen über den jüdischen Widerstand in Krakau. Möchte erfahren, was die jüdische Gemeinschaft und die polnische Bevölkerung während der Besetzung Krakaus durch die Nationalsozialisten durchmachen mussten. Schon nach diesen ersten Seiten weiß ich, dass mich eine Geschichte erwartet, die unter die Haut geht.

    Im Folgenden geht es nach Paris in das Jahr 2017. Hier begegne ich Édith Mercier. Die 52-jährige Architektin entdeckt im Nachlass ihres Vaters Simon Dokumente und Fotos, die ihre bisherige Welt ins Wanken bringen. Simon war adoptiert!? Édith will sich über ihre Wurzeln Klarheit verschaffen. Sie macht anhand der Notizen ihres Vaters Familienangehörige in Fellbach bei Stuttgart ausfindig und trifft sich daraufhin mit ihrer Großcousine Tatjana. Die beiden Frauen stellen schnell fest, dass es viele Ungereimtheiten in ihren Familienangelegenheiten gibt und beschließen, auf Spurensuche zu gehen…

    Die Handlung des historischen Parts beginnt im Frühjahr 1941. Lilo Wagner und ihre Schwester Helene wachsen als sogenannte Volksdeutsche in Krakau auf. Während die rebellische Helene bereits 1936 ihrem konservativen Elternhaus den Rücken gekehrt und in Paris ihr Glück gesucht hat, ist die pflichtbewusste Lilo in der Stadt an der Weichsel geblieben und macht eine Ausbildung zur Apothekerin. Die Adlerapotheke, in der Lilo beschäftigt ist, liegt in dem vor kurzem errichteten Krakauer Ghetto im Stadtteil Podgórze. Obwohl der Alltag in der Stadt durch die Machenschaften der Nationalsozialisten mehr und mehr in Schieflage gerät und es Lilos Eltern ein Dorn im Auge ist, dass ihre Tochter im Ghetto arbeitet, hat die 27-Jährige sich bewusst entschieden, dort ihre Ausbildung zu beenden. Weil sie ihre Arbeit liebt. Und ein bisschen auch, weil sie für ihren Vorgesetzten Tadeusz Pankiewicz schwärmt. Zu diesem Zeitpunkt ahnt Lilo noch nicht, wie sehr ihre Entscheidung ihren gesamten Lebensweg prägen wird…

    Bettina Storks erzählt die Geschichte rund um die fiktive Krakauer Arztfamilie Wagner und ihre Nachkommen sehr anschaulich - die Charakterisierung der Figuren, die bildhaften Beschreibungen der Schauplätze (besonders Krakau hat mich fasziniert) und die intensiven Schilderungen des abwechslungsreichen Geschehens sowohl in dem historischen wie in dem zeitgenössischen Part machen diesen Roman zu einem genauso ergreifenden wie spannenden Leseerlebnis.

    In dieser mehrere Generationen umspannenden Familiengeschichte geht es um das Schweigen der Kriegsgeneration über die erlebten Schrecken. Es geht darum, wie sich Ereignisse und Entscheidungen aus früheren Zeiten auf das aktuelle Geschehen auswirken können und welchen Einfluss das Verdrängen von Wahrheiten auf die Lebenswege von Angehörigen und Nachkommen haben kann. Es war äußerst spannend zu beobachten, was Tatjana und Édith alles aufdecken. Gewichtige Tatsachen, sorgsam in den hintersten Winkeln der Gedächtnisse vergraben, kommen ans Licht und bewirken auch über ein dreiviertel Jahrhundert nach den eigentlichen Ereignissen bei den Protagonisten emotionale Achterbahnfahrten.

    Neben der Geschichte der Familie Wagner geht es in diesem Roman auch um den jüdischen Widerstand in Krakau. Hier hat Bettina Storks sich eng an das tatsächliche Geschehen in den 1940er Jahren gehalten und mit Gusta Dawidson Draenger und dem Apotheker Tadeusz Pankiewicz zwei überaus wichtige Mitglieder des Widerstands in den Mittelpunkt gestellt. Die Autorin schildert die Lebensumstände im Ghetto und die zutiefst bewegenden und manchmal erschütternden Ereignisse sehr mitreißend. Sie lässt die Widerstandsbewegung vor meinen Augen lebendig werden, so dass ich am Schicksal der Menschen teilhaben kann. Ich kann die ständige Bedrohung deutlich spüren und erlebe dabei mit, wie trotz aller Widrigkeiten absolute Einigkeit in der Gruppe um Gusta und Tadeusz herrschte und wie groß ihre Entschlossenheit war, für die Nachwelt etwas zu bewegen.

    Besonders begeistert hat mich dabei immer wieder das stimmige Bild, das Bettina Storks zeichnet. Romanhandlung und reale Ereignisse werden zu einer Einheit. Alles passt zusammen und wirkt durchweg authentisch und lebensnah. Auch das Zusammenspiel zwischen fiktiven Figuren und historischen Persönlichkeiten ist ausgeklügelt und funktioniert reibungslos.

    „Die Schwestern von Krakau“ hat mir sehr gut gefallen - eine tiefgründige Familiengeschichte, die voller tragischer Momente ist und mich auch nach dem Lesen noch lange beschäftigt hat.
    Die Lungenschwimmprobe Tore Renberg
    Die Lungenschwimmprobe (Buch)
    07.11.2024

    Zeitreise ins barocke Leipzig

    In seinem historischen Roman „Die Lungenschwimmprobe“ nimmt Tore Renberg den Leser mit in die 1680er Jahre nach Leipzig und erzählt von der Verteidigung der 15-jährigen Anna Voigt, die beschuldigt wurde, ihr Kind nach der Geburt ermordet zu haben.

    Dieser Roman ist anders, als ich erwartet hatte. Im Klappentext heißt es „Erzählt nach wahren Begebenheiten“ - eine Anmerkung, die mich immer anlockt. Meist wird dann ein historisches Ereignis mit reichlich stimmiger Fiktion verknüpft. Ich mag solche Geschichten sehr. Renberg hat mir ein etwas anderes Leseerlebnis beschert: hier steht die Historie dominant im Vordergrund, Fiktion scheint nur schmückendes Beiwerk. Ein Lückenfüller. Renbergs Schreibstil wirkt dadurch sehr sachlich. Wer hier eine emotionale und zu Herzen gehende Geschichte rund um Anna und ihr Schicksal erwartet hat, wird von diesem Roman enttäuscht sein. In der „Lungenschwimmprobe“ geht es um das Rechtssystem im ausgehenden 17. Jahrhundert und um den Beginn der modernen Gerichtsmedizin. Renberg hat mehrere Jahre intensiv recherchiert und aus den unzähligen Fakten über die damaligen Ereignisse und Persönlichkeiten ein sehr umfassendes und vor allen Dingen äußerst glaubwürdiges Bild von Zeit und Ort gezeichnet.

    Bei einer Lungenschwimmprobe handelt es sich um ein rechtsmedizinisches Verfahren, mit dem überprüft wurde, ob ein verstorbenes Neugeborenes womöglich nach der Geburt getötet wurde. Im Rahmen einer Obduktion wird ein Teil der Lunge in Wasser gelegt und beobachtet, ob diese sinkt oder schwimmt. Schwimmt die Lunge, so enthält sie bereits Luft in den Lungenbläschen und das Kind hat geatmet. Eine nicht belüftete Lunge von tot geborenen Kindern sinkt dagegen ab.

    Im Jahr 1681 führte der belesene Stadtphysikus Johannes Schreyer als erster Mediziner überhaupt diese Probe durch und erbrachte damit den Nachweis, dass Annas Kind tot zur Welt gekommen war. Doch die Stadtoberen hielten Anna weiterhin für schuldig und ein langjähriger Prozess nahm seinen Anfang.

    Im Mittelpunkt des Geschehens steht nicht - wie ich eigentlich vermutet hatte - die junge Anna, sondern der damals 26-jährige aufstrebende Jurist Christian Thomasius. Dieser hatte sich auf Bitte von Annas Vater bereiterklärt, die Verteidigung der Familie Voigt zu übernehmen. Im Verlauf der Handlung wird schnell klar, dass es dem Anwalt nicht nur darum ging, Annas Unschuld zu beweisen und sie vor der Todesstrafe zu bewahren. Thomasius, der heute als Wegbereiter der Frühaufklärung in Deutschland gilt, wollte die in den 1680er Jahren noch vorherrschenden mittelalterlichen Strukturen aufbrechen, für frischen Wind in Leipzig sorgen und Reformen durchsetzen. Besonders die miserable Verfassung des Gerichtswesens war ihm ein Dorn im Auge. Obwohl er großen Mächten gegenüberstand, scheute er sich nicht, die gesellschaftlichen Institutionen aufzurütteln und wissenschaftliche Neuerungen voranzutreiben, doch die Welt um Thomasius schien zu träge für sein Tempo und wehrte sich gegen Veränderungen und Umbrüche.

    Renberg erzählt die Geschichte aus unterschiedlichen Perspektiven. Dabei erfahre ich gefühlt einfach alles über jede einzelne der handelnden Personen. Eine wahre Flut an Details. Auch viele Anmerkungen und Erläuterungen, die mit der eigentlichen Handlung und dem Gerichtprozess wenig bis gar nichts zu tun haben. Aber es sind gerade diese Nebensächlichkeiten und zusätzlichen Einblicke in die Historie, die mir die Möglichkeit gegeben haben, mich tief in die barocke Welt einzufühlen. Die damalige Stimmung zu spüren. Ich habe den Eindruck gewonnen, dass Renberg jede Kleinigkeit recherchiert hat, damit jede einzelne Szene historisch korrekt dargestellt wird.

    Obwohl das Buch anders war, als ich es erwartet hatte, bleibe ich nach dem Lesen fasziniert zurück. Es war für mich äußerst spannend, das Miteinander und Gegeneinander an der Schwelle zu einer neuen Zeit zu beobachten und habe es als sehr gut gelungen empfunden, wie Renberg das Gerangel zwischen denen, die am Althergebrachten festhalten und denen, die Neuerungen und wissenschaftlichen Erkenntnissen die Tür öffnen wollten, dargestellt hat.

    Es gibt eine Kleinigkeit, die mir nicht gefallen hat - statt eines gewohnten Anhanges am Ende des Buches, wird hier ein Link zum Download bereitgestellt. Ein kurzer Blick auf eine Karte oder mal eben eine Info zu den historischen Persönlichkeiten nachschlagen ist damit nicht möglich. Kein Beinbruch, dennoch hat es mich gestört.
    Frisch ermittelt: Der Fall Hartnagel Christiane Franke
    Frisch ermittelt: Der Fall Hartnagel (Buch)
    29.10.2024

    Mord im Erholungsheim

    Leer, 1958. Ein fröhliches Versteckspiel im Garten des Kindererholungsheimes in der Evenburg endet für den kleinen Holger schlagartig, als er hinter einen Gebüsch die zusammengekrümmte Leiche des Leiters des Heimes entdeckt. Schnell steht fest, dass Dr. Hartnagel an einer Zyankalivergiftung gestorben ist. Was auf den ersten Blick wie ein Suizid aussieht, erweist sich allerdings schon bald als ausgeklügelter Mord.

    Als die ersten Hinweise durchblicken lassen, dass Doktor Hartnagel nicht der ehrenwerte Mann gewesen ist, für den ihn alle gehalten haben, will Kommissar Onnen den Fall möglichst schnell zu den Akten legen, um das Ansehen des Arztes zu wahren. Im Gegensatz zu seinem Chef sieht Polizeiwachtmeister Hans Frisch einige Ungereimtheiten. Er will gute Ermittlungsarbeit leisten, wird aber von Onnen ausgebremst. Unterstützt wird Hans dagegen von seiner Großtante Martha und deren Enkelin Annemieke. Durch aufmerksames Zuhören und genaues Hinschauen können die beiden Hobbyermittlerinnen wertvolle Tipps zur Lösung des Falls beisteuern.

    „Frisch ermittelt: Der Fall Hartnagel“ ist bereits der dritte Band rund um die Heißmangel-Betreiberin Martha Frisch - der Krimi ist aber auch ohne Kenntnis der vorherigen Bände bestens verständlich.

    Christiane Franke und Cornelia Kuhnert haben ein ausgesprochen gutes Händchen dafür, die 1950er Jahre vor den Augen des Lesers lebendig werden zu lassen und verstehen es ganz ausgezeichnet, ihr Personal authentisch und lebensnah zu präsentieren. Es hat mir auch in diesem Band wieder ausnehmend gut gefallen, wie das Leben, der Alltag und ganz besonders die Polizeiarbeit in einer Kleinstadt zur damaligen Zeit dargestellt werden. Man fühlt sich mitgenommen in eine Welt, in der von der NS-Ideologie geprägte Strukturen noch nicht verdrängt wurden, freiheitliches Denken aber schon auf dem Vormarsch ist.

    Der verzwickte Kriminalfall mit den spannenden Ermittlungen steht natürlich im Mittelpunkt des Krimis. Falsche Fährten, mehrere Verdächtige, brisante Hintergründe und weitere Morde halten nicht nur die Handlung lebendig, sondern haben mich auch prima über das Motiv und die Identität des Täters miträtseln und mitgrübeln lassen.

    Darüber hinaus warten die Autorinnen mit einem dunklen Kapitel deutscher Nachkriegsgeschichte auf: es geht um das sehr ergreifende Thema Kinderverschickung. Unzählige Kinder wurden besonders in den ersten Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg zum Aufpäppeln in Kindererholungsheime verschickt. Diese Heime waren allerdings vielfach nicht das, was sie vorgaben zu sein, sondern Orte des Schreckens. Die Kinder wurden systematisch gedemütigt, misshandelt, oft sogar missbraucht und erlebten statt Erholung und Genesung häufig einfach nur pures Leid.

    „Frisch ermittelt: Der Fall Hartnagel“ hat mir sehr gut gefallen - ein aufwühlender Krimi, der mit authentischen Figuren und einer spannenden Handlung punkten kann.
    Gras drüber Kathrin Heinrichs
    Gras drüber (Buch)
    01.10.2024

    Kurzweilige Kurzkrimis

    „Gras drüber“ beinhaltet 15 ganz unterschiedliche Kurzkrimis. Die Geschichten sind sowohl im idyllischen Sauerland wie auch in anderen eher ländlichen Regionen angesiedelt, also fernab von irgendwelchen Kriminalitäts-Hotspots. Den Leser erwarten daher auch keine actionreichen Verfolgungsjagden, sondern ganz normale Alltagssituationen und Leute wie du und ich, deren Leben - mal geplant, mal spontan, mal ganz unbeabsichtigt - in eine mörderische Richtung abdriftet.

    Es geht in diesen Krimis nicht darum zu ermitteln, wer ein Verbrechen begangen hat. Es ist sogar meist schnell auszumachen, wer der Täter und wer das Opfer ist. Für Spannung und Unterhaltung sorgen hier das Drumherum und vor allen Dingen die Fragen, warum jemand einen Mitmenschen aus dem Weg räumen will und wie er es anstellt, unerkannt und damit am Ende straffrei aus der Sache herauszukommen.

    Kathrin Heinrichs hat ein gutes Händchen dafür, alltägliche Verstrickungen amüsant darzustellen und versteht es ganz ausgezeichnet, mich schnell mit den jeweiligen Gegebenheiten vertraut zu machen. Ich bin ruckzuck mittendrin im Geschehen und verfolge aus Tätersicht gespannt die verbrecherischen Ereignisse. Die Geschichten sind allesamt kurzweilig, meist humorvoll, manchmal bewegend und ab und an sogar skurril ausgeprägt.

    „Gras drüber“ hat mir sehr gut gefallen. Ich habe die abwechslungsreichen Kurzkrimis, deren Figuren und Handlungen wie aus dem Leben gegriffen wirken, mit viel Vergnügen gelesen.
    Die Löwin von Jerusalem Ruben Laurin
    Die Löwin von Jerusalem (Buch)
    04.08.2024

    Eine dramatische Liebesgeschichte

    In seinem Roman „Die Löwin von Jerusalem“ nimmt Ruben Laurin den Leser mit in die Zeit um 1000 v. Chr. nach Israel und erweckt Figuren aus dem 1. und 2. Buch Samuel des Alten Testaments zu neuem Leben. Der Autor hält sich eng an die ursprüngliche Erzählung, schildert den Lebensweg Davids vom Hirtenjungen zum König allerdings aus der Perspektive von Bathseba.

    Bathseba ist 16 Jahre jung, als sie sich in den Hirtenjungen David verliebt. David, den sie mutig vor einer gefräßigen Löwin beschützt. David, der so wundervoll Harfe spielt und Lieder dichtet. David, der anmaßend und unverschämt ist, ein Großmaul. David, der den Riesen Goliath besiegt. David, der König von Israel wird. David, der Bathseba begehrt, während ihr gewalttätiger Ehemann Uriah sich auf einem Feldzug befindet. David, der zum Sünder wird...

    Da Bathseba in der Bibel eine sehr kleine Rolle innehat und es entsprechend nur wenige Fakten über die junge Frau gibt, hat Ruben Laurin für sie eine fiktive Biografie angelegt, die sich überzeugend in das historische Umfeld einfügt. Der Autor zeichnet nicht nur ein sehr stimmiges Bild von Zeit und Ort, er scheut sich auch nicht, die alttestamentarischen Grausamkeiten wiederzugeben. Er schildert die Lebensumstände und die zutiefst bewegenden und manchmal erschütternden Ereignisse sehr mitreißend. Er lässt Bathseba vor meinen Augen lebendig werden, so dass ich an ihrem Schicksal teilhaben kann. Ich erlebe mit, wie trotz aller Widrigkeiten aus einem selbstbewussten Mädchen eine starke Frau wird. Bathseba, die auf Geheiß ihres Vaters einen Mann heiraten muss, der als Frauenschläger bekannt ist. Bathseba, die tapfer das ihr auferlegte Schicksal erträgt und geduldig auf eine Gelegenheit wartet, um der jahrelangen Ehehölle zu entkommen. Bathseba, die für ihren Mädchentraum kämpft und bereit ist, für Selbstbestimmung und für eine nicht mehr für möglich gehaltene Freiheit alles aufs Spiel zusetzen.

    Ruben Laurin erzählt diese tragische Liebesgeschichte auf unterschiedlichen Zeitebenen. Im lockeren Wechsel begegnet man mal den jugendlichen Protagonisten, dann wieder geht es um die späteren Jahre, als David bereits König ist. Darüber hinaus kommt ein auktorialer Erzähler zu Wort, der den Leser direkt anspricht und die Erlebnisse der Akteure schildert. Ich habe diesen Mix aus unterschiedlichen Zeiten und Perspektiven als sehr gelungen empfunden, weil die Handlung dadurch bis zum Schluss lebhaft und abwechslungsreich bleibt.

    „Die Löwin von Jerusalem“ hat mir sehr gut gefallen - eine dramatische, sehr bewegende Geschichte. Ein Roman für alle, die den Werdegang einer der faszinierendsten Figuren der Bibel einmal aus einer anderen Perspektive entdecken möchten.
    Die nackte Kuh Jürgen Ehlers
    Die nackte Kuh (Buch)
    14.06.2024

    Unterhaltsame Beispiele aus der KI-Bilderzeugung

    Künstliche Intelligenzen wirken sich immer stärker auf unser Leben aus und sind aus unserem Alltag kaum noch wegzudenken. Ein Anwendungsgebiet dieser Technologie ist die Erzeugung von Bildern. Hierfür gibt es mittlerweile eine Vielfalt an KI-Werkzeugen. Doch welche Möglichkeiten bieten Bildgeneratoren wie ChatGPT und Bing Image Creator und wie verlässlich sind eigentlich die Informationen, die sie liefern?

    Jürgen Ehlers ist diesen Fragen nachgegangen. Obwohl er, wie er in seinem Vorwort verrät, nichts von KI versteht, wollte er einfach mal spielerisch herausfinden, was möglich ist und was nicht. In „Die nackte Kuh“ stellt er die Ergebnisse vor und erzählt von seinen Erkenntnissen.

    Schon das Cover und der Untertitel „Beispiele künstlicher Intelligenz und Dummheit“ lassen erahnen, dass die mit den genannten Programmen erzeugten Bilder zwar schön anzusehen sind, man den Abbildungen aber auch mit einem gut geschärften kritischen Blick begegnen sollte.

    ChatGPT und Bing Image Creator brauchen nur eine Texteingabe, die das gewünschte Bild möglichst präzise beschreibt und ruckzuck wird eine passende Abbildung erstellt. Es gibt allerdings ein paar Einschränkungen. Bilder, die die Programme für unsicher oder schädlich halten, werden nicht erstellt. So können zum Beispiel reale Persönlichkeiten nicht abgebildet und gewalttätige Handlungen nicht dargestellt werden. Dafür legt die KI großen Wert auf positives Denken, bleibt sogar bei verheerenden Naturkatastrophen recht gelassen und stellt entsprechende Situationen verharmlost dar. Außerdem mögen die Programme keine Nacktheit - deshalb sind die Kühe auf dem Cover auch alle schicklich bekleidet. Gleiches gilt für Adam und Eva - der Algorithmus hat sie in Tücher gehüllt. Die biblischen Stammeltern aller Menschen Klavier spielen zu lassen, ist dagegen problemlos möglich. Hmmm…

    Ich habe mich bisher nur wenig mit künstlichen Intelligenzen und deren Möglichkeiten beschäftigt. Abgesehen davon, dass ich mich über die Bilder in diesem kleinen Buch köstlich amüsiert habe, ist mir beim Lesen einmal mehr bewusst geworden, wie leicht es ist, mit Hilfe von KI fehlerhafte Informationen oder gefälschte Nachrichten zu verbreiten und die Realität zu verzerren.

    „Die nackte Kuh“ hat mir sehr gut gefallen - ein reich bebildertes Büchlein, das gute Unterhaltung bietet und gleichzeitig deutlich macht, dass man mit offenen Augen durch die Welt gehen sollte und nicht ohne nachzudenken alles abnickt, was einem vorgesetzt wird.
    Das Baumhaus Vera Buck
    Das Baumhaus (Buch)
    29.05.2024

    Thriller mit Sogwirkung

    Ein Ferienhaus an einem See inmitten der urwüchsigen Wälder Schwedens - das klingt nach traumhafter Atmosphäre, nach purer Erholung, nach einem Paradies zum Spielen, nach einem unbeschwertem Familienurlaub à la Bullerbü. Mit diesen Bildern im Kopf machen sich Henrik und Nora mit ihrem fünfjährigen Sohn Fynn von Greifswald aus auf den Weg nach Västernorrland. Doch schon bei ihrer Ankunft bekommt die freudige Erwartung einen Dämpfer - nicht nur, dass sich die Hütte, die Henriks Großvater gehörte, als recht verwahrlost erweist, auch geht etwas Dunkles und Bedrohliches von dem idyllischen Fleckchen aus.

    In einem weiteren Handlungsstrang lernt man Rosa Lundqvist kennen. Rosa war schon als Kind eine Einzelgängerin und daran hat sich bis heute nichts geändert. Sie durchstreift gern allein die Wälder und beschäftigt sich mit toten Tieren. Sie studiert die Auswirkungen von Verwesungsprozessen auf die Pflanzenwelt und hat mittlerweile in forensischer Botanik promoviert. Als sie unter einer Esche eine neue Grube aushebt, legt Rosa statt des erwarteten Tierkadavers das Skelett eines Kindes frei…

    Bereits im Prolog begegnet man Marla. Marla wurde vor Jahren als fünfjähriges Mädchen entführt und unter menschenunwürdigen Verhältnissen in einem Baumhaus festgehalten.

    „Das Baumhaus“ hat mich schon nach wenigen Seiten fest im Griff gehabt. Vera Buck versteht es ganz ausgezeichnet, die vielfältigen Situationen und Emotionen greifbar darzustellen, so dass es mir ganz leicht gefallen ist, in die Handlung einzutauchen und mit den Akteuren mitzufiebern und mitzufühlen.

    Die Spannung ist von Anfang an auf einem hohen Level und wird durch unerwartete Ereignisse, unheimliche Begegnungen und das stückweise Aufdecken von Hintergründen immer wieder aufs Neue befeuert. Auch, dass schon im Klappentext verraten wird, dass Fynn spurlos verschwindet, ist in Sachen Spannung ein gelungener Schachzug. Immer, wenn Fynn in eine bedenkliche Situation gerät, fiebert man ganz besonders mit und lauert regelrecht darauf, dass das Unvermeidliche geschieht. Unglaublich aufwühlend sind zudem die Kapitel, in denen Marla ihr Martyrium schildert. Je mehr ich darüber erfahren habe, was das Mädchen erdulden musste, desto größer wurde mein Wunsch, dass die Polizei den Schuldigen am Ende dingfest macht.

    Ganz besonders spannend war es für mich, das Verhalten von Nora und Henrik zu beobachten, als Fynn plötzlich wie von Erdboden verschluckt ist und mit jedem weiteren Tag die Hoffnung schwindet, den Jungen lebend zu finden. Vera Buck katapultiert ihre Protagonisten nicht nur in diese furchtbare Ausnahmesituation, sie konfrontiert die beiden gleichzeitig mit Fehlern, die sie in ihrer Vergangenheit gemacht haben. Längst verschollene Erinnerungen werden an die Oberfläche gespült. Schuldgefühle aufgrund von Fehlverhalten keimen auf. Die Ehe, die sowieso schon nicht so harmonisch ist, wie sie auf den ersten Blick erschien, rutscht immer weiter in Schieflage. Beide wissen nicht, wie sie mit den albtraumhaften Ereignissen umgehen sollen und werden an ihre physischen und psychischen Grenzen gedrängt.

    Gefesselt hat mich auch Rosas Job als forensische Botanikerin (ich wusste gar nicht, dass es diesen Beruf gibt). Spannend, was in diesem Bereich alles möglich ist. Mit ihrem Wissen ist Rosa in der Lage, Veränderungen an Pflanzen zu deuten und der Polizei so bei der Suche nach Mordopfern in unwegsamen Waldgebieten zu helfen.

    Als sehr gelungen habe ich auch die Beschreibungen der Schauplätze empfunden - der schmuddelige Zustand der Ferienhütte, die einsame Umgebung mit dem undurchdringlichen Wald und auch die Überreste des alten Baumhauses sorgen für eine gruselige Atmosphäre und geben der Thrillerhandlung den passenden düsteren Rahmen.

    Als es im letzten Drittel des Buches immer offensichtlicher wird, wie alles zusammenhängt, gab es für mich kein Halten mehr - ich musste einfach lesen, lesen, lesen, um herauszufinden, wie sich alles auflöst und wer hinter allem steckt.

    „Das Baumhaus“ hat mir sehr gut gefallen - ein abwechslungsreicher Thriller, der mit interessanten Figuren und einer fesselnden Handlung punkten kann.
    Evas Rache Thomas Ziebula
    Evas Rache (Buch)
    25.04.2024

    Inspektor Stainers 4. Fall

    Thomas Ziebula wartet auch im 4. Fall für Kriminalinspektor Paul Stainer mit einer großen Portion Zeit- und Lokalkolorit auf - den Leser erwartet nicht nur spannende Krimiunterhaltung, sondern auch eine fesselnde Zeitreise in das Jahr 1922 nach Leipzig.

    Paul Stainer und seine Kollegen aus der Wächterburg haben wieder einmal alle Hände voll zu tun - ein Lustmörder treibt sein Unwesen in der Stadt, bereits drei junge Frauen sind der „Bestie von Leipzig“ zum Opfer gefallen. Stainer macht es schwer zu schaffen, dass die Ermittlungen ins Stocken geraten sind. Er trinkt zu viel, seine Depression droht zurückzukehren. Dann plötzlich eine neue Spur! Endlich geht es voran…

    Die Münchnerin Eva-Maria Dorn will sich an ihrem betrügerischen Ehemann Armin rächen und folgt ihm nach Leipzig, wo er seine neue Erfindung auf der Technischen Messe vorstellen will. Eva hat einen sorgfältig ausgeklügelten Racheplan im Kopf, doch die Dinge sollen ganz anders verlaufen, als sich vorgestellt hat…

    Der ereignisreiche Kriminalfall mit den spannenden Ermittlungen in Leipzigs Straßen hat mich schnell gefangen genommen, und auch das stimmige historische Bild, das Thomas Ziebula in diesem - leider letzten - Band der Reihe zeichnet, hat mich rundum begeistert. Es ist dem Autor wieder einmal ganz ausgezeichnet gelungen, den Zeitgeist der 1920er Jahre einzufangen und den Alltag seiner Figuren authentisch darzustellen. Die Eigenarten und Denkweisen der Menschen in den frühen Jahren der Zwischenkriegszeit fließen genauso wie die politische und wirtschaftliche Lage, die gesellschaftlichen Gepflogenheiten, Mode und Kultur in die Handlung ein. Während man die Akteure auf ihren Wegen begleitet, fühlt man sich mittendrin im damaligen Leipzig. Dabei ist es nicht nur spannend, Stainer & Co. bei den Ermittlungen über die Schultern zu schauen, auch die Höhen und Tiefen, die Eva im Verlauf der Handlung erlebt bzw. durchmachen muss, werden mitreißend dargestellt, so dass man durchweg mit ihr mitfiebert.

    „Evas Rache“ hat mir sehr gut gefallen - ein historischer Kriminalroman, der mit interessanten Charakteren, stimmigem Zeitkolorit und einer anschaulich und lebendig erzählten Handlung zu überzeugen weiß.
    Das Flüstern des Lebens Katharina Fuchs
    Das Flüstern des Lebens (Buch)
    23.04.2024

    Unausgegorene Familiengeschichte

    Die 68-jährige Münchner Unternehmerin Corinna Waldeck ist auf ihrer Farm in Tansania ums Leben gekommen. Ihre in München lebende Zwillingsschwester Doris und deren Tochter Isabelle sind immer noch zutiefst geschockt, als eine überraschende Neuigkeit die beiden Frauen sprachlos macht: Corinna hatte eine Tochter! Die 14-jährige Hannah ist bereits auf dem Weg nach München und braucht eine Bleibe. Die Familienähnlichkeit des selbstbewussten Mädchens ist unverkennbar, dennoch wirft ihre Existenz natürlich einige Fragen auf, allen voran, warum Corinna niemandem von ihrer Tochter erzählt hat.

    Die Testamentseröffnung sorgt für weitere Überraschungen. Hannah erbt den Großteil des Vermögens ihrer Mutter, allerdings unter der Voraussetzung, dass sie bis zu ihrem 21. Geburtstag in Deutschland bleibt. Die Bogenhausener Villa geht an Doris und die Farm mit der Kaffeeplantage in Tansania bekommt Isabelle. Corinnas Neffe Moritz wird mit einem vergleichsweise winzigen Betrag abgespeist. Er fühlt sich betrogen, reagiert entsprechend aufbrausend und zweifelt daran, dass das Testament rechtmäßig ist.

    Für Isabelle kommt das Erbe völlig unerwartet. Sie reist kurze Zeit später nach Tansania und muss schon in den ersten Tagen ihres Aufenthalts erkennen, dass der Glanz, der die erfolgreiche Corinna stets umgeben hat, zahlreiche matte Stellen aufweist. Während Isabelle versucht, die Kaffeeplantage wieder in Schwung zu bringen, ahnt sie nicht, dass die baldige Ankunft des Piloten Frank Barnes ihr bisheriges Leben gänzlich umkrempeln wird…

    Katharina Fuchs hat mich bisher mit ihren Romanen immer begeistert. Entsprechend vorfreudig war ich auf „Das Flüstern des Lebens“ - und bleibe nach dem Lesen des Buches recht zwiegespalten zurück.

    Die Autorin hat einen tollen Schreibstil, es braucht immer nur wenige Seiten, bis mir die Akteure vertraut sind und die Handlung mich gefangen nimmt. Das war auch diesmal so - ich war schnell mittendrin im Geschehen und konnte den Ereignissen, die aus unterschiedlichen Perspektiven erzählt werden, problemlos folgen.

    Anders als der Klappentext es vermuten lässt, spielt das erste Drittel der Geschichte ausschließlich in München. Man lernt die einzelnen Familienmitglieder und ihre Eigenarten ausgiebig kennen, es geht viel um das unerwartete Auftauchen der 14-jährigen Hannah und natürlich um die Regelungen rund um Corinnas Nachlass. Insgesamt ein etwas in die Länge gezogener Part, den ich dennoch als ganz unterhaltsam empfunden habe.

    Endlich in Tansania angekommen, leuchten die atemberaubenden Farben der afrikanischen Wildnis vor meinen Augen auf. Mit den Schilderungen von Land und Leuten kann Katharina Fuchs ganz besonders punkten. Ich bin begeistert von den lebendigen Beschreibungen der vielfältigen Natur und der Tierwelt. Spannend sind auch die Ausführungen zum Kaffeeanbau und die ganzen Probleme, die damit einhergehen. Die im Klappentext angepriesene Liebesgeschichte lässt allerdings auf sich warten. Doch als Frank Barnes dann endlich auf der Sandpiste der Plantage landet, geht alles holterdiepolter - er erscheint auf der Farm und ist nach wenigen Stunden Isabelles große Liebe. Eine Entwicklung der Beziehung, die mich erkennen lässt, woher diese tiefen Gefühle kommen, gibt es nicht. Ab hier wurde die gesamte Handlung für mich immer unglaubwürdiger, besonders Isabelle agiert nicht wie die gewissenhafte Mittvierzigerin, die ich zu Beginn des Buches kennengelernt habe. Während Isabelle ihr Leben und ihre Verpflichtungen in Deutschland anscheinend fast vergessen hat, darf ich weiter an den dortigen Ereignissen teilhaben - immer wieder schwenkt die Handlung nach München und ich erfahre, wie es Doris, Hannah und Moritz ergeht.

    Katharina Fuchs wartet in diesem Roman mit einer Flut unterschiedlicher Themen auf, die zwar im Einzelnen alle interessant und wichtig sind, aber leider aufgrund der Vielzahl oft nur oberflächlich angerissen werden, so dass das tatsächliche Geschehen nicht bereichert wird, sondern durch die Fülle überfrachtet wirkt. Hinzu kommen Nebenhandlungen, die die Haupthandlung nicht stützen, sondern gefühlt eher verdrängen. Das Zuviel insgesamt hat ein Zuwenig bei der eigentlichen Handlung zur Folge: am Ende bleiben doch einige Fragen offen.

    Ich habe die lebendigen Schilderungen über Tansania und die Kaffeeplantage genossen und fand die Erläuterungen zum Kaffeeanbau interessant, aber die Entwicklung der Handlung und die der Figuren besonders in der zweiten Hälfte des Buches haben mich nicht überzeugt. Dort, wo ich das Besondere erwartet habe, habe ich nur Durchschnitt bekommen und bin entsprechend ein wenig enttäuscht. 2,5/5
    The Hike Lucy Clarke
    The Hike (Buch)
    18.04.2024

    Tod am Blafjell

    Liz, Helena, Maggie und Joni kennen sich von Kindesbeinen an. Einmal im Jahr treffen sich die mittlerweile Mittdreißigerinnen zu einem Kurzurlaub. Diesmal hat Liz das Urlaubsziel bestimmen dürfen und sich für eine mehrtägige Wandertour in der idyllischen Bergwelt Norwegens entschieden, statt wie sonst immer irgendwo in der Sonne zu faulenzen. Die Begeisterung ihrer Freundinnen hält sich in Grenzen, doch schließlich machen sie sich gemeinsam auf, um den Blafjell und seine Umgebung zu erkunden - nicht ahnend, dass in der traumhaft schönen Natur ein Albtraum auf sie wartet…

    Lucy Clarke stellt ihre Protagonistinnen zunächst einmal ausgiebig vor. Ich lerne die Freundinnen gut kennen, erfahre einiges über ihrem Alltag und ihre jeweiligen Probleme. Schnell wird klar, dass alle vier dringend eine Auszeit nötig haben.

    Schon im Vorfeld der Wanderung läuft mein Kopfkino auf Hochtouren. Es gefällt mir wahnsinnig gut, wie Lucy Clarke die Normalität rund um diesen Ausflug mit vielen kleinen Andeutungen gespickt hat, die durchaus für Konflikte sorgen könnten. Obwohl eigentlich noch nichts passiert, verfolge ich gebannt das Geschehen und habe dabei immer den Aufmacher des Klappentextes im Kopf: „Vier Freundinnen in der Wildnis Norwegens. Nur drei kommen zurück.“ Ich möchte unbedingt erfahren, welche der Frauen am Ende diejenige sein wird, die in dem kurzen Prolog tot auf dem Berghang liegt. Ich möchte wissen, was genau da draußen passiert ist, bin neugierig auf die Hintergründe. Dass bereits vor einem Jahr eine junge Frau in der Nähe des Blafjell spurlos verschwunden ist, befeuert die Spannung noch zusätzlich. Fast ungeduldig warte ich darauf, dass die Wanderung endlich losgeht, und auf Seite 108 ist es dann soweit, die Freundinnen haben ihre Rucksäcke geschultert und das eigentliche Abenteuer beginnt.

    Lucy Clarke schont ihre Protagonistinnen nicht und lässt das unerfahrene Quartett in so ziemlich jede Gefahrensituation schliddern, die die norwegische Wildnis zu bieten hat. Neben einem mächtigen Unwetter und sinkenden Temperaturen, losem Geröll, verwitterten Pfaden und fehlenden Wegmarkierungen machen auch das unterschätze Gewicht der Ausrüstung, die fehlende Fitness und Blasen an den Füßen die Wanderung zu einer Tortur. Darüber hinaus sorgen mysteriöse Schatten, rätselhafte Verfolger sowie weitere Widrigkeiten und Bedrohungen für Angst und Schrecken. Aufgrund der zunehmenden Erschöpfung brechen persönliche Differenzen aus den Frauen heraus und lassen die Stimmung aggressiv werden. Es kommt zu schwerwiegenden Vorwürfen, die fast zu einer Eskalation führen, dann aber mit wenigen Worten aus der Welt geschafft werden, nur um nach kurzer Zeit wieder aufzulodern.

    Die zahlreichen kleinen und großen Katastrophen sollen für Spannung sorgen und das gelingt auch zunächst, doch im letzten Drittel des Romans beginnt mir dieses dramatische Auf und Ab zuviel zu werden. Die Autorin zieht alle Register, die man ziehen kann, wenn sich Laien unvorbereitet und auf eine herausfordernde Bergwanderung begeben, doch mit der Aneinanderreihung von unwirtlichen Bedingungen, brenzligen Situationen, unvorhersehbaren Ereignissen und unheimlichen Begegnungen überspannt sie den Bogen ein wenig. Das macht nicht nur die Handlung zunehmend unglaubwürdiger, auch das Miteinander der Freundinnen wirkt irgendwann gekünstelt, so dass meine anfängliche Begeisterung sich am Ende verflüchtigt hat.

    „The Hike“ konnte mich insgesamt nicht so begeistern, wie ich es nach dem Lesen von Kurzbeschreibung und Leseprobe erwartet hatte.
    Zeit der Schuldigen Markus Thiele
    Zeit der Schuldigen (Buch)
    04.03.2024

    Die Kluft zwischen Recht und Gerechtigkeit

    Hambühren im August 1981. Nina Markowski ist ein fröhliches 17-jähriges Mädchen, das mit ihren Freundinnen den Sommer genießt. Auf dem jährlichen Schützenfest trifft sie den fast doppelt so alten Volker März. Ein netter Kerl, der Nina aus einer brenzligen Situation befreit. Die beiden freunden sich an, gehen Eisessen, hören gemeinsam Musik. Als Volker sich eine intensivere Beziehung wünscht, macht Nina ihm klar, dass sie nichts für ihn empfindet. Sie hat sich in einen Mitschüler verliebt und bittet Volker, das zu akzeptieren.

    Einige Monate später, am 4. November 1981, wird Nina auf dem Nachhauseweg von der Chorprobe vergewaltigt und bestialisch ermordet - 22 Messerstiche, die Kehle bis auf die Halswirbelsäule durchgeschnitten. Dringend tatverdächtig: Volker März. Doch die Beweise reichen nicht aus, Volker wird rechtskräftig freigesprochen. Erst im Jahr 2012 lässt sich mittels DNA-Analyse einwandfrei seine Schuld beweisen. Doch für ein neues Verfahren ist es zu spät, denn laut Gesetz darf niemand nach einem Freispruch ein weiteres Mal für dieselbe Tat angeklagt werden - Volker März bleibt ein freier Mann…

    Ninas Vater Hans kann und will sich nicht damit abfinden, dass niemand für die Ermordung seiner Tochter zur Rechenschaft gezogen wird. Über mehrere Jahrzehnte hinweg kämpft er für Gerechtigkeit. Dabei wird er allerdings weder von Hass getrieben, noch trachtet er nach Vergeltung. Ganz anders Hauptkommissarin Anne Paulsen. Anne will März aus einem ganz persönlichen Grund drankriegen und setzt dafür alles aufs Spiel. Nach akribischer Vorbereitung ist es im November 2022 soweit, ein sorgfältig ausgeklügelter Plan soll den mittlerweile 72-jährigen Mann endlich dingfest machen.

    In seinem von einem wahren Verbrechen inspirierten Roman „Zeit der Schuldigen“ nimmt Markus Thiele den Leser mit auf eine fesselnde Zeitreise in die 1980er Jahre und erzählt die Geschichte der Schülerin Frederike von Möhlmann nach, die 1981 brutal ermordet wurde und deren Mörder trotz aller Anstrengungen der Opferfamilie auch über 40 Jahre nach der Tat ganz rechtmäßig sein Leben als freier Mann lebt.

    Markus Thiele hat die realen Ereignisse und die Prozesshistorie rund um diesen Mordfall mit einer spannenden, für mich äußerst glaubwürdigen fiktiven Handlung verwoben. Er beschreibt seine Akteure vielschichtig und lebensnah und schildert deren Beziehungen zueinander überzeugend. Der Fall wird aus unterschiedlichen Blickwinkeln beleuchtet, so dass ich mir ein umfassendes Bild von der Zeit vor und nach dem Mord machen kann.

    Der Autor gewährt mir zunächst einmal tiefe Einblicke in das Leben der 17-Jährigen. Nina ist ein ganz normaler Teenager. Sie wirkt emotional sehr verunsichert, was in ihrem Alter kein Wunder ist. Ich lerne sie gut kennen, begleite sie bis zu dem verhängnisvollen regnerischen Abend im November ’81. Anschaulich und eindringlich schildert Markus Thiele dann, was ihr Vater Hans über viele Jahre hinweg durchstehen muss. Seine Trauer und seine Verzweiflung sind für mich greifbar. Ich leide mit ihm, kann sein Hoffen und Bangen sehr gut nachvollziehen und spüre, wie die Rückschläge an seinen Kräften zehren. Mitgerissen haben mich auch die Ereignisse, die in dem Part rund um Anne Paulsen spielen. Der Autor lässt mich anfangs nur erahnen, was Anne antreibt und schickt mich auf eine emotionale Achterbahnfahrt - obwohl ich Annes tatsächliches Motiv erst ganz zum Schluss erfahre, obwohl ich weiß, dass Selbstjustiz niemals eine Option sein darf, fiebere ich intensiv mit ihr mit und ertappe mich immer wieder dabei, dass ich mir wünsche, dass ihr Plan am Ende erfolgreich sein möge. Warum nicht die Dinge selbst in die Hand nehmen, wenn man derart von Recht und Gesetz im Stich gelassen wird?

    Markus Thiele versteht es ganz ausgezeichnet, in seinen Romanen die juristische Sichtweise auf gesellschaftlich gewichtige Themen auch für den Laien leicht verständlich darzustellen und lädt seine Leser damit ein, über diese Dinge nachzudenken und sich ein eigenes Bild zu machen.

    Der Fall Frederike Möhlmann und auch die jahrzehntelangen Bemühungen ihres Vaters, für Gerechtigkeit zu sorgen, waren mir durch die Berichterstattung in der Medien schon bekannt. „Zeit der Schuldigen“ hat mir jetzt zusätzlich einen interessanten Einblick in den Ablauf der Ermittlungen und der Gerichtsverhandlungen geboten. Ich bleibe nach dem Lesen des Romans emotional aufgewühlt zurück. Ich kann es einfach nicht fassen, wie weit Recht und Gerechtigkeit hier auseinanderklaffen. Es fühlt sich für mich völlig falsch an, dass ein Mörder, dessen Schuld nachgewiesen ist, straffrei bleibt. Es will mir einfach nicht in den Kopf, dass jemand, der ohne Zweifel der Täter ist, rechtmäßig geschützt wird.

    „Zeit der Schuldigen“ hat mich von der ersten bis zur letzten Seite fest im Griff gehabt - eine mitreißend erzählte Geschichte, die den Leser intensiv an der Prozesshistorie eines wahren Verbrechens teilhaben lässt. Absolute Leseempfehlung!
    Demon Copperhead Barbara Kingsolver
    Demon Copperhead (Buch)
    25.02.2024

    Eine berührende Geschichte, die großartig erzählt wird.

    Damon Fields wird in einem Trailer in den Wäldern West Virginias geboren. Im Lee County, das zu den ärmsten Provinzen der USA gehört. Schon der Start ins Leben war für den Jungen nicht einfach, seine drogensüchtige Teenie-Mutter war - wie er selbst es nennt - „nicht ganz da“, sein Vater schon einige Zeit tot. Eine aufmerksame Nachbarin ist zum Glück zur rechten Zeit am rechten Ort.

    Der Lebensweg, den Barbara Kingsolver für ihren Protagonisten vorgesehen hat, besteht eigentlich nur aus Hindernissen und ist von Schicksalsschlägen geprägt. Der Junge, der wegen seiner kupferroten Haare Demon Copperhead genannt wird, erlebt all das, was ein Heranwachsender eigentlich nicht erleben sollte: Armut, eine Odyssee durch Pflegefamilien, Drogen, Ausbeutung, Vernachlässigung und Gewalt. Man sollte meinen, dass jemand, der wie Damon eigentlich keine Perspektive hat, an seinem Schicksal zerbricht, doch Damon ist ein Stehaufmännchen. Kraft dafür schöpft er sowohl aus der tiefen Verbundenheit mit seiner Heimat, seinen Leuten und der Natur wie auch aus seinem Talent als Comiczeichner, so dass es egal scheint, wie tief und finster das Tal ist, das er gerade durchschreiten muss, da ist immer ein Hoffnungsschimmer, dass es irgendwie weitergeht…

    Barbara Kingsolver lässt Damon seine Geschichte selbst erzählen. Mit Worten, die oft sehr direkt und auch derb sind, aber eben auch zu ihm passen. Worte, die mich trotz aller Tragik gut unterhalten haben. Ich habe mich beim Lesen immer wieder gefragt, wie man eine so traurige, herzzerreißende Geschichte mit so viel Witz in der Stimme erzählen kann. Ich habe diesem klugen Jungen gerne zugehört. Man spürt, dass er die raue Welt, in die er hineingeboren wurde, verstanden hat.

    Barbara Kingsolver wollte eine Geschichte über ihre Heimat schreiben und damit die appalachische Lebenswelt verständlich machen. Sie wollte sowohl die positiven wie die negativen Seiten der Gemeinschaft in Appalachia aufzeigen, vor allen Dingen aber auf die zahlreichen Missstände aufmerksam machen und damit denen Gehör verschaffen, die selbst nicht dazu in der Lage sind. Das ist ihr in beeindruckender Weise gelungen. Damons Geschichte zu lesen hat sich für mich angefühlt, als hätte er mich an die Hand genommen und gesagt: „Komm, ich zeige dir mal, was in meiner wunderbaren Heimat los ist, was hier verdammt noch mal alles nicht richtig läuft.“ Und es läuft vieles nicht richtig.

    Demon Copperhead steht als Sinnbild für eine Generation, der von Anfang an nur Steine in den Weg gelegt wurden - verwaiste Kinder und Jugendliche, die von den verheerenden Auswirkungen der Opioidkrise niedergedrückt und von Armut und dem Stigma Hillbilly ausgebremst werden, die mit mangelnder Schulbildung und einem miserablen Pflege- und Gesundheitssystem zu kämpfen haben, die sich nur selten aus eigener Kraft aufrappeln können und so oft nicht in der Lage sind, dem Unbill des Lebens die Stirn bieten. Eine ewige Abwärtsspirale.

    Barbara Kingsolver hat sich von Charles Dickens und seinen leidenschaftlichen Romanen inspirieren lassen. David Copperfield stand Pate für Demon Copperhead. Die Autorin hat trotz aller Parallelen mit ihrer Geschichte allerdings etwas geschaffen, das durchaus für sich allein stehen kann.

    „Demon Copperhead“ hat mir sehr gut gefallen - ein Roman, der mich realitätsnah miterleben lassen hat, was es heißt, ein Leben zwischen Albtraum und Chancen zu leben. Eine fesselnd erzählte, berührende Geschichte, die lange nachklingt. Absolute Leseempfehlung!
    Faule Fische fängt man nicht Christiane Franke
    Faule Fische fängt man nicht (Buch)
    19.02.2024

    Malkurs und Mord in Neuharlingersiel

    Neuharlingersiel. Auf dem Steffens-Hof findet ein Malkurs statt, zu dem sich neben Rosa Moll noch acht weitere Teilnehmer angemeldet haben. Kursleiter Conrad Gravenstein hat alle gebeten, ein Bild mitzubringen. Karin Müller, die wegen ihrer gnadenlosen Strafzettel für Falschparken in Neuharlingersiel auch als „Knöllchen-Karin“ bekannt ist, hat ein Gemälde dabei, das seit vielen Jahren bei ihrer Oma in der Küche hängt. Conrad studiert es aufmerksam und vermutet einen echten van Gogh. Karin amüsiert sich über seine Expertise, denn ihre Großeltern sind schließlich einfache Leute, etwas so Wertvolles besitzen sie ganz sicher nicht. Doch am nächsten Tag ist Karin mausetot; ermordet, wie nach der Obduktion feststeht. Und dann stirbt ganz plötzlich auch Conrad…

    „Faule Fische fängt man nicht“ ist bereits der elfte Einsatz für Lehrerin Rosa, Postbote Henner und Dorfpolizist Rudi - der Krimi ist aber auch ohne Kenntnis der vorherigen Bände bestens verständlich.

    Schon nach wenigen Seiten haben mich die Ereignisse in dem beschaulichen Küstenort wieder fest im Griff. Die Ermittlungen im Mordfall Karin Müller erweisen sich als äußerst knifflig und halten nicht nur die Kripo Wittmund, sondern auch die Hobbyermittler aus Neuharlingersiel durchweg in Atem. Rosa ist ruckzuck in ihrem Element, als bekannt wird, dass Karin einem Verbrechen zum Opfer gefallen ist. Henner ist wieder eher unfreiwillig mittendrin im Geschehen. Rudi versucht, die Hinweise seiner Freunde und seine Arbeit für die Polizei unter einen Hut zu bringen. Und Oberkommissar Schnepel macht, was er am besten kann: wild über mögliche Täter und Motive spekulieren und verworrenen Theorien nachjagen.

    Falsche Fährten, mehrere Verdächtige, unerwartete Wendungen und immer wieder neue Hinweise halten nicht nur die Handlung lebendig, sondern haben mich auch prima über Motive, Hintergründe und die Identität des Täters miträtseln und mitgrübeln lassen. Neben der spannenden Krimihandlung hat mich auch das herrliche Drumherum wieder gut unterhalten. Lebensnahes Alltagsgeschehen, das amüsante Zusammenspiel der Dorfbewohner und die schönen Momente in Mudder Steffens Küche sorgen für ein kurzweiliges Lesevergnügen.

    Wie man es von Christiane Franke und Cornelia Kuhnert gewohnt ist, wird das kriminelle Geschehen auch diesmal wieder durch interessante Themen bereichert. So geht es um Kunstraub oder auch um den fahrlässigen Umgang mit Medikamenten. Darüber hinaus sind auch die Beschreibungen der Handlungsorte in und um Neuharlingersiel wieder äußerst gut gelungen - man kann sich die einzelnen Schauplätze alle bestens vorstellen und wird von der Nordseeküsten-Atmosphäre schnell eingefangen. Und auch auf einige Spezialitäten und Leckereien aus der ostfriesischen (und diesmal auch polnischen) Küche nebst Rezepten im Anhang kann sich der Leser wieder freuen.

    „Faule Fische fängt man nicht“ hat mir sehr gut gefallen - ein Küstenkrimi, der kurzweilige Unterhaltung bietet und zum Miträtseln einlädt.
    Heinz Labensky - und seine Sicht auf die Dinge Anja Tsokos
    Heinz Labensky - und seine Sicht auf die Dinge (Buch)
    08.02.2024

    Unterhaltsame Zeitreise

    Der 79-jährige Heinz Labensky wohnt in einem Seniorenheim am Erfurter Stadtrand und führt ein unscheinbares Dasein. Sein Alltag ist eintönig, Höhen oder Tiefen gibt es nicht. Das ändert sich, als er einen Brief aus Warnemünde erhält, in dem es um das spurlose Verschwinden seiner Kindheitsfreundin und Jugendliebe Rita Warnitzke vor fast fünfzig Jahren geht. Kann es wirklich sein, dass es sich bei dem in einer Berliner Klärgrube gefundenen Skelett um Ritas Überreste handelt? Heinz will es genau wissen und steigt in einen Flixbus nach Warnemünde. Sein Ziel: endlich die Wahrheit über Ritas Verbleib klären und damit das größte Rätsel seines Lebens lösen.

    Mein Roadtrip mit Heinz Labensky beginnt am Bahnhof, als er gerade im Begriff ist, sich ein Seniorenticket Richtung Ostsee zu kaufen. Die Bedienung des Fahrscheinautomaten erweist sich als Hürde - die Welt, so scheint ihm, ist in den zehn Jahren, die er mittlerweile im Heim verbracht hat, komplizierter geworden. Er hat Glück und wird eingeladen, sich einer Reisegruppe anzuschließen. Damit steht der Fahrt zu Ritas Tochter nach Rostock/Warnemünde nichts mehr im Weg.

    Kaum sitzen wir im Bus, wird mir klar, dass diese Fahrt eine Zeitreise werden wird - in Heinz’ Vergangenheit und in die Historie der DDR, denn Heinz beginnt, unterschiedlichen Mitreisenden und damit auch mir aus seinem bewegten Leben zu erzählen. Heinz ist in einem kleinen brandenburgischen Dorf aufgewachsen. Er hat ein schlichtes Gemüt, ist ziemlich begriffsstutzig. Seine Mutter hat ihm damals erklärt, „…dass er ganz einfach da, wo Herz und Hirn vergeben wurden, leider nur einmal seine Hand gehoben habe…“ (S.31). Er galt als Außenseiter, bis auf Rita hatte er keine Freunde. Seine Welt ist immer klein geblieben, er hat den Osten Deutschlands zeitlebens nicht verlassen. Das Besondere an dem Mann, der als Rechenniete mit Leseschwäche schon früh die Schule verlassen musste: er macht seinen Mangel an Bildung durch eine herrlich blühende Fantasie wieder wett. Ich bin begeistert und lausche gespannt seinen Geschichten.

    Rita hat ihr Heimatdorf sehr zum Verdruss von Heinz schon in jungen Jahren verlassen. Da er aber geschworen hat, sie immer zu beschützen, macht er sich irgendwann auf die Suche nach ihr (er spürt sie sogar in Berlin auf, verliert sie aber wieder aus den Augen). Auf seinen Wegen gerät er immer wieder in absonderliche Situationen und ist in allerhand Machenschaften verstrickt. Diese erlebe ich hautnah und sehr umfassend mit und erfahre dabei, wie das alltägliche, politische und gesellschaftliche Leben in der DDR aus Sicht von Heinz war. Die Geschichten sind interessant, zum Teil aber auch sehr langatmig.

    Heinz’ Geschichten sind genauso aufgebaut wie seine Gedankenwelt. Abstrus. Abenteuerlich. Alles, was er sieht, hört oder riecht, verarbeitet er nur sehr langsam. Wenn er etwas nicht begreift, improvisiert er. Er kramt in Erinnerungen rum oder füllt die Lücken mit spontanen Hirngespinsten. Auch kommt er beim Denken und Erzählen oft vom Weg ab, schweift mal hierhin, mal dorthin. Auf diese Weise bastelt Heinz sich seine Sicht auf die Dinge. Wie viel Wahrheit in dem steckt, was er zu erzählen hat und wo sich Luftschlösser eingeschlichen haben, bleibt unklar. Aber egal, es hat Spaß gemacht, diesem einfachen, aber gutherzigen Mann zuzuhören. Seine Geschichten sind zwar ausgesprochen weitläufig und driften ab und an ins Skurrile ab, sind aber gleichzeitig auch sehr unterhaltsam. Ich habe es als Bereicherung empfunden, ihn auf seiner Fahrt begleitet zu haben.

    Irgendwann ist die Reise nach Warnemünde zu Ende. Und was Heinz dann dort erlebt, hätte selbst er sich nicht zusammenreimen können.
    Als der Sturm kam Anja Marschall
    Als der Sturm kam (Buch)
    03.02.2024

    Vincinette

    Als am Morgen des 16. Februars 1962 an der Nordseeküste vor dem heranrauschenden Orkan „Vincinette“ gewarnt wird, ahnt in Hamburg noch niemand, welche Tragödie auf die Stadt zurollt. Während man an der Küste Vorkehrungen gegen die drohende Sturmflut trifft und auch in Hamburg erste Warnungen rausgehen, geben sich die Hanseaten sorglos und bleiben erstaunlich gelassen, denn „…Sturm gibt es in Hamburg ständig. Das muss man nicht so ernst nehmen…“ (S. 96). Doch „Vincinette“ ist anders. Mächtiger. Das Sturmtief drückt riesige Wassermassen in die Elbe - die nach dem Krieg nur nachlässig geflickten Deiche halten dieser Wucht nicht stand, mehrere Stadteile Hamburgs werden in kürzester Zeit überflutet.

    In ihrem Roman „Als der Sturm kam“ schildert Anja Marschall facettenreich und greifbar, was die Hanseaten in den verhängnisvollen Stunden des 16. und 17. Februars 1962 durchstehen mussten. Ich hatte beim Lesen immer wieder eine Gänsehaut. Klar, als gebürtige Norddeutsche kenne ich die Fakten dieser verheerenden Flutkatastrophe aus unterschiedlichen Berichten und habe auch zahlreiche Fotos gesehen. Doch bloße Fakten und einzelne Bilder lassen mich nur wenig nachempfinden, was die Menschen damals wirklich durchgemacht haben. Anja Marschall hat aus den nüchternen Zahlen der furchtbaren Sturmflut und den wahren Geschichten, die dahinterstecken, etwas gemacht, dass im Gedächtnis bleibt. Sie hat einen Roman geschrieben, der nachhaltig an die tragischen Ereignisse und die vielen traurigen Schicksale erinnert.

    Anja Marschall beleuchtet die Katastrophe aus unterschiedlichen Blickwinkeln, so dass ich mir ein umfassendes Bild davon machen konnte, wie es Opfern und Rettern damals ergangen ist. Auch wenn - abgesehen von wenigen realen Persönlichkeiten - die handelnden Personen in diesem Roman fiktiv sind, haben mich sowohl die herben Schicksalsschläge der einen wie auch die enorme Hilfsbereitschaft der anderen tief berührt. Die Autorin hat mich die dramatischen Tage rund um die Flutkatastrophe sehr intensiv miterleben lassen. Ich hatte vor Augen, wie die Deiche brechen; wie sich die gurgelnden Fluten einen Weg durch die Straßen Hamburgs bahnen und dabei eine Schneise der Verwüstung hinterlassen. Ich habe mit den verängstigten Bewohnern einer Gartenkolonie in Wilhelmsburg auf den Dächern ihrer Lauben in Dunkelheit und Kälte ausgeharrt, während der Sturm unablässig über sie hinwegfegt und das rauschende Wasser immer höher steigt. Ich habe gemeinsam mit der Schreibkraft Marion Klinger im Polizeihaus die Verantwortlichen bei der Koordination der Hilfseinsätze unterstützt, mit ihr gegen die bleierne Müdigkeit angekämpft und die Sorge um ihre bettlägerige Mutter in der Kolonie geteilt. Ich habe mit Hubschrauberpilot Georg Hagemann in seiner Bristol Sycamore gesessen und ihn bei seinen waghalsigen Rettungseinsätzen angespornt. Ich war dabei, als Dieter Krämer mit seiner THW-Gruppe unzählige Sandsäcke befüllt hat und habe seine Verzweiflung gespürt, als seine Frau und seine Kinder nicht auffindbar sind. Ich habe Polizeioberrat Martin Leddin und Polizeisenator Helmut Schmidt über die Schultern geschaut, als sie sich ohne zu zögern über Regeln und Gesetze hinwegsetzen, um das Leben der Menschen in ihrer Stadt zu retten. Ich habe mit allen Betroffenen, Einsatzkräften und zivilen Helfern gebangt, gehofft und gelitten. Und ich habe mich mit ihnen gefreut, wenn jemand aus den Fluten gerettet werden konnte oder wenn diejenigen, die durch das Chaos getrennt wurden, sich wiedergefunden haben.

    Besonders gut gefallen hat mir, dass es in diesem Buch nicht ausschließlich um die dramatischen Ereignisse während der Katastrophe geht, sondern ich auch einen vielfältigen Einblick in die Lebensumstände der einzelnen Akteure bekommen habe. Jeder von ihnen hat eine persönliche Geschichte - ich lerne im Verlauf der Handlung ihre aktuelle Lebenssituation und ihren ganz normalen Alltag kennen. Ich erfahre, welche beruflichen und privaten Ziele sie haben, was sie sich wünschen, wovon sie träumen. Und auch ihre zwischenmenschlichen Beziehungen erlebe ich mit.

    Neben der genauso emotionalen wie fesselnden Handlung haben mich auch das Lokal- und Zeitkolorit begeistert - die norddeutsche Lebensart in den 1960er Jahren wird von Anja Marschall echt und glaubwürdig dargestellt.

    „Als der Sturm kam“ hat mich von der ersten bis zur letzten Seite fest im Griff gehabt. Die Mischung aus historischen Fakten und einer fesselnden fiktiven Handlung wird mitreißend erzählt und hat mir nicht nur spannende Lesestunden beschert, sondern mich auch realitätsnah an einem Stückchen Hamburger Stadtgeschichte teilhaben lassen. Ein Lesehighlight!
    Der Donnerstagsmordclub oder Ein Teufel stirbt immer zuletzt Richard Osman
    Der Donnerstagsmordclub oder Ein Teufel stirbt immer zuletzt (Buch)
    02.01.2024

    Amüsanter Krimi mit originellen Figuren

    In seinem Kriminalroman „Der Donnerstagsmordclub oder Ein Teufel stirbt immer zuletzt“ nimmt Richard Osman den Leser bereits zum vierten Mal mit nach Coopers Chase, einer luxuriösen Seniorenresidenz, die ganz idyllisch inmitten der grünen Hügellandschaft der Grafschaft Kent liegt. Hier leben Elizabeth (früher als Geheimagentin tätig), Joyce (eine ehemalige Krankenschwester), Ibrahim (ein gelegentlich immer noch praktizierender Psychiater) und Ron (ein einstiger Gewerkschaftsfunktionär) - vier muntere Senioren, die es sich zur Aufgabe gemacht haben, die ortsansässige Kriminalpolizei bei ungeklärten Mordfällen zu unterstützen.

    Es weihnachtet in Coopers Chase und die agilen Hobbyermittler hatten sich eigentlich ein Jahr ohne Mord gewünscht, doch dann wird Kuldesh Shamar - ein Freund von Elizabeths Ehemann Stephen - ermordet aufgefunden. Der Antiquitätenhändler war anscheinend in Drogengeschäfte verwickelt. Ehrensache, dass die gewieften Senioren alles daransetzt, um den Mörder dingfest zu machen. Damit nicht genug, ganz nebenbei helfen sie auch noch ihrem Mitbewohner Mervyn Collins, der nicht wahrhaben will, dass er einem Liebesschwindler in die Falle gegangen ist.

    Richard Osmans genauso originelles wie warmherziges Quartett aus Coopers Chase hat mich wieder prima unterhalten. Das charmante Miteinander und die irgendwie schrulligen und doch sehr scharfsinnigen Ermittlungen der älteren Herrschaften machen die Handlung zusammen mit ein paar unerwarteten Verstrickungen zu einem kurzweiligen Lesevergnügen.

    In diesem Band mischen sich ein paar ernste Töne in die ansonsten von einem feinen britischen Humor durchzogene Handlung. Das Quartett muss akzeptieren, dass im Alter ab und an Klippen auftauchen, die man nicht mehr so leicht umschiffen kann. Das Thema Demenz und der schwierige Umgang mit der Krankheit rücken für Stephen und Elizabeth auf dramatische Weise in den Fokus ihres Alltags. Da Elizabeth ihre Gedanken und ihre Kraft daher verständlicherweise nicht wie üblich in die Ermittlungen stecken kann, übernimmt Joyce diesmal den Part der Anführerin und beweist eindrucksvoll, dass man durchaus über sich hinauswachsen kann, wenn es die Situation erfordert.

    „Der Donnerstagsmordclub oder Ein Teufel stirbt immer zuletzt“ hat mir sehr gut gefallen - wer amüsante Krimis mit genauso liebenswerten wie schrägen Charakteren mag, kommt hier voll auf seine Kosten.


    Solte-Gresser, C: Welt der Träume Solte-Gresser, C: Welt der Träume (Buch)
    21.12.2023

    Traumhafte Entdeckungsreise

    Träumen ist etwas Alltägliches. Jeder Mensch kennt dieses nächtliche Erlebnis, und doch sind Schlafträume immer noch ein großes Rätsel. Ein Phänomen, das nicht eindeutig erforscht und erklärbar ist.

    Christiane Solte-Gresser widmet sich in „Die Welt der Träume“ Traumerlebnissen, die in literarischen und künstlerischen Werken zu finden sind. Die Autorin hat kulturenübergreifende Traumdarstellungen aus fast vier Jahrtausenden zusammengestellt und bietet dem Leser eine bunte Mischung aus Träumen aus den Bereichen Literatur, Musik, Film, Kunst und Theater. Als Professorin für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft beleuchtet Christiane Solte-Gresser die Traumdarstellungen aus wissenschaftlicher Sicht. Ich hatte daher im Vorfeld die Befürchtung, dass die Texte für mich als Laie auf diesem Gebiet nur schwer zu erfassen sein könnten, aber das war ganz und gar nicht der Fall. Die Ausführungen sind gut lesbar und leicht verständlich.

    Ich habe mich bisher kaum mit Traumdarstellung, Traumdeutung usw. auseinandergesetzt und hätte nie gedacht, wie komplex und vielschichtig dieses Thema ist. Daher bin ich sehr froh über die ausführliche Einleitung gewesen, in der Christiane Solte-Gresser nicht nur ihre Herangehensweise an das Thema erklärt und einen Überblick darüber gibt, was den Leser auf den folgenden rund 430 Seiten erwartet, sondern gleichzeitig auch über ein paar Grundlagen informiert und so einen kleinen Einblick in Traumgeschichte, Traumkulturen und Traumwissenschaft ermöglicht.

    Die vielfältige Zusammenstellung der Werke hat mich begeistert. Die Reise durch die Traumwelten der Kulturgeschichte beginnt im 18. Jahrhundert v. Chr. mit dem Todestraum des Enkidu aus dem Gilgamesch-Epos. In chronologischer Reihenfolge geht es dann durch die Epochen von der Antike bis in die Gegenwart. Dabei gibt es viel zu entdecken - ganz unterschiedliche Traumpassagen aus Erzählungen, Gedichten, Schauergeschichten, Liedern, Gemälden, Filmen, Comics und Videospielen erwarten den Leser: Der erotische Traum in der Geschichte von Haschischesser aus Tausendundeine Nacht. Die religiösen Visionen der Hildegard von Bingen. Kriemhilds Falkentraum aus dem Nibelungenlied. Das Traumwissen aus dem „Buch der Natur“ von Konrad von Megenberg, der sich auf die medizinischen und naturwissenschaftlichen Aspekte des Träumens konzentriert. Albrecht Dürers Aquarell „Traumgesicht“, mit dem er seinen Albtraum von einer Sintflut dokumentiert hat. Die Tradition der neapolitanischen Smorfia - Traumsymbole werden hiermit in genau festgelegte Lottozahlen umgewandelt. Traumszenen aus Buster Keatons Film „Sherlock jr.“. Die überwältigende I-Have-a-Dream-Rede von Martin Luther King. „Back to Bed“, ein Puzzle-Videospiel, das in einer künstlerischen Traumwelt angesiedelt ist. Und viele, viele weitere bekannte und auch nicht ganz so bekannte kreative Schöpfungen, in denen Träume lebhaft geschildert werden.

    Die Träume werden von Christiane Solte-Gresser immer auf ähnliche Weise präsentiert - einem einleitenden Kommentar mit aufschlussreichem Hintergrundwissen folgt ein Auszug aus dem jeweiligen Werk, oft begleitet von einer entsprechenden Abbildung, die die Ausführungen prima abrundet. Diese Herangehensweise war für mich - besonders bei den Werken, die mir nicht geläufig waren - äußerst wertvoll, weil sie zu einem besseren Verständnis beigetragen hat.

    Nicht nur der Inhalt dieser großartigen Sammlung hat mich überzeugt, auch die Aufmachung kann sich sehen lassen. Das Buch ist qualitativ sehr hochwertig (Leineneinband, zwei Lesebändchen und wunderbar glattes Papier, auf dem die Abbildungen besonders gut zur Geltung kommen) und zudem übersichtlich und überaus ansprechend gestaltet.

    „Die Welt der Träume“ hat mir sehr gut gefallen - die bunte Mischung der besprochenen Traumerlebnisse macht die Lektüre zu einer genauso bereichernden wie unterhaltsamen Entdeckungsreise.
    Fabeltiere Florian Schäfer
    Fabeltiere (Buch)
    14.12.2023

    Die eindrucksvolle Welt der tierischen Fabelwesen

    Unser Land ist reich an Sagen, Märchen und Mythen, die leider - genauso wie die in diesen fantastischen Geschichten vorkommenden Tierwesen - immer mehr in Vergessenheit geraten. Gemeinsam mit seinem Team (Janin Pisarek, Hannah Gritsch und Antje Kharchi) von Forgotten Creatures möchte Florian Schäfer diesen schwindenden Schatz wiederbeleben und „…mit diesem Buch auf die historischen, kulturellen und naturwissenschaftlichen Hintergründe von Tierdämonen und Fabeltieren hinweisen…“ (S.247).

    Mit dem Aufschlagen von „Fabeltiere“ betritt man eine magische Welt, die faszinierender nicht sein könnte: hier lauern nicht nur schaurige Schreckgestalten, deren Zweck es war, vornehmlich Kinder zu ängstigen und sie auf diesem Weg vor Gefahren zu warnen und vor Unheil zu bewahren, sondern auch Krankheitsdämonen, todbringende Kreaturen und Ungeheuer, die für Naturgewalten verantwortlich gemacht wurden. Putzige Geschöpfe, die in Scherzspielen eine wichtige Rolle spielten, kreuzen den Weg des Lesers genauso wie Gestalten, denen schützende und heilende Kräfte nachgesagt wurden.

    Ich bin während des Lesens nicht nur Fabeltieren begegnet, von denen ich bisher noch nie etwas gehört hatte, ich habe auch sehr viel Neues über mir bereits vertraute Wesen erfahren. Neben den allseits bekannten Drachen, Werwölfen und Einhörnern trifft man hier auch auf zahlreiche zum Teil nur regional bekannte (z. B. das Bahkauv) bzw. heutzutage sogar weitestgehend unbekannte Fabelwesen (z. B. Hötzelstier oder Elwedritsche). Ganz besonders überrascht hat mich, dass einige Tierwesen im Verlauf der Jahrhunderte ganz unterschiedlich wahrgenommen wurden. Das Einhorn zum Beispiel hatte über die Jahre hinweg wechselnde Attribute, war mal wild und gefährlich, dann wieder friedfertig und scheu. Und der Basilisk hat sein Aussehen von einer gerade einmal 24 cm langen Schlange zu einem variantenreichen Mischwesen verändert.

    Florian Schäfer hat unzählige historische und kulturelle Fakten über tierische Fabelwesen gesammelt, um den Ursprung der Geschöpfe, ihre Entwicklung und ihre gesellschaftliche Bedeutung darzulegen. Die Auffassungen antiker und mittelalterlicher Gelehrter und das Wissen früherer Naturforscher bereichern seine spannenden und unterhaltsamen Ausführungen dabei genauso, wie die Auszüge aus historischen Schriften und die vielen Zitate aus deutschsprachigen Sagen.

    Neben der Fülle und Vielfalt an Informationen wartet Florian Schäfer mit einer Besonderheit auf - es gibt zahlreiche Abbildungen von Fabeltieren, die das Team auf der Grundlage historischer Beschreibungen in ihrem Mythenatelier lebensecht nachgebildet hat. Dazu gehören u. a. furchteinflößende Gestalten, die - Dank der eindrucksvollen Fotos von Hannah Gritsch - beim Blättern durch das Buch ihre bedrohliche Wirkung nicht verfehlen. Begeistert haben mich darüber hinaus die schaurig-schönen Landschaftsaufnahmen - die gruselige Atmosphäre kommt auf den Bildern richtig gut zur Geltung.

    „Fabeltiere“ hat mir sehr gut gefallen - die beeindruckenden Porträts tierischer Fabelwesen beflügeln zusammen mit den großartigen Fotos die Fantasie und machen das Lesen dieses Sachbuchs zu einem genauso abenteuerlichen wie spannenden Erlebnis.
    Biblioteca Obscura: Frankenstein Mary Shelley
    Biblioteca Obscura: Frankenstein (Buch)
    05.12.2023

    Ein schaurig-schönes Leseerlebnis

    Der Verlag arsEdition präsentiert in seiner neuen Reihe „Biblioteca Obscura“ Klassiker der Weltliteratur in einem neuen Gewand. Auch Mary Shelleys berühmter Schauerroman „Frankenstein“ wurde mit den ansprechenden Illustrationen von Marcin Minor schaurig-schön herausgeputzt.

    Der junge Schweizer Naturwissenschaftler Viktor Frankenstein hat es sich zur Aufgabe gemacht, künstliches Leben zu erschaffen. Er setzt aus Leichenteilen eine Kreatur zusammen und erweckt diese zum Leben. Doch nach getaner Arbeit ist Dr. Frankenstein unzufrieden mit seiner Schöpfung, weil sich sein Werk als unansehnliches Monster entpuppt. Die Kreatur, der von allen Seiten der sehnsuchtsvolle Wunsch nach Liebe und gesellschaftlicher Akzeptanz verwehrt wird, wird schließlich aus der Isolation heraus zu einer rachsüchtigen Bestie.

    „Frankenstein“ hat seit seiner Erstveröffentlichung 1818 nie das Interesse der Leserschaft verloren. Das liegt nicht nur daran, dass Mary Shelley diese Gruselstory brillant erzählt und mit der tiefgründigen Handlung zu fesseln versteht, auch die Thematik des Romans ist nach wie vor aktuell. Auch heute noch bleiben Moral und ethische Prinzipien in der Wissenschaft oftmals auf der Strecke. Um die eigene Forschung voranzubringen, wird sich nicht oder nur unzureichend mit den Auswirkungen auseinandersetzt bzw. werden negative Folgen für andere billigend in Kauf genommen.

    Marcin Minor versteht sein Handwerk und hat hier ganze Arbeit geleistet. Seine Illustrationen geben die düstere Atmosphäre des Romans perfekt wieder. Die Farbgebung - schwarz, weiß, grau, rot - unterstreicht den gruseligen Touch des Romans dabei ganz hervorragend. Dem Betrachter begegnen immer wieder ähnliche Motive und Elemente: ein einzelnes Auge, das einem aus dem Buch heraus beoachtet; immer wieder Seiten auf denen Blitze abgebildet sind; Zeichnungen von einzelnen Körperteilen, Insekten und chirurgischen Instrumenten; ab und an ganzseitige Zeichnungen, die die aktuelle Handlung wiedergeben. Mary Shelley greift in „Frankenstein“ alle Elemente des Schauerromans auf, wobei sie aber die sonst übliche klare Zuordnung von gut und böse verwischt - ein besonderes Merkmal, das Marcin Minor ganz ausgezeichnet darstellt, indem er Totenköpfe in Blumenblüten platziert. In seinem Nachwort erklärt Minor, dass er „die Erhabenheit der Natur im Kontrast zur Verlorenheit des Menschen“ aufzeigen wollte - das ist ihm vortrefflich gelungen.

    „Biblioteca Obscura: Frankenstein“ hat mir sehr gut gefallen - nicht nur ein Klassiker zum immer wieder Lesen, sondern auch ein Buch zum immer wieder Anschauen.
    Monster Nele Neuhaus
    Monster (Buch)
    01.12.2023

    Nervenaufreibende Ermittlungsarbeit

    Die 16-jährige Lissy Böhlefeld wird erdrosselt aufgefunden. Das Team vom K11 Hofheim übernimmt den Fall und hat dank einer DNA-Analyse schnell einen möglichen Täter im Visier: den vorbestraften Asylbewerber Farwad Mahmoudi. Doch der gebürtige Afghane kann nicht befragt werden, weil er spurlos verschwunden ist. Ein weiterer Fall gibt den Ermittlern Rätsel auf: bei einem Verkehrsunfall auf einer Landstraße kommt ein Mann ums Leben, der bei eisigen Temperaturen ohne Jacke und barfuß im Wald unterwegs gewesen ist. Sein Körper ist mit üblen Bisswunden übersät. Es stellt sich heraus, dass der Tote für die Polizei kein Unbekannter ist - er hat eine Haftstrafe verbüßt, weil er bei einem illegalen Autorennen eine schwangere Frau getötet hat. Weitere mysteriöse Todes- und Vermisstenfälle lassen nicht lange auf sich warten…

    „Monster“ ist bereits der elfte Einsatz für das Ermittler-Duo Pia Sander und Oliver von Bodenstein - der Krimi ist aber auch ohne Kenntnis der vorherigen Bände bestens verständlich.

    Es begeistert mich immer wieder aufs Neue, wie vielschichtig und lebensnah Nele Neuhaus ihre Akteure beschreibt und deren Beziehungen zueinander schildert. Schon nach wenigen Seiten lief mein Kopfkino auf Hochtouren und ich habe wie gebannt das Geschehen verfolgt. Kaum haben Pia und Oliver mit ihren Befragungen im Mordfall Lissy Böhlefeld begonnen, habe ich gefühlt jeden aus dem Umfeld der 16-Jährigen in Verdacht. Familie, Nachbarn, Freundes- und Bekanntenkreis, jeder Einzelne wird von mir skeptisch und wachsam beobachtet. Es verblüfft mich immer wieder, wie die Autorin es schafft, dass ich in ihren Krimis von Anfang an derart mitfiebere und mitgrüble.

    Die ereignisreichen Kriminalfälle - in denen man manches erahnen kann und vieles dann doch ganz anders kommt, als man denkt - stehen mit den spannenden Ermittlungen natürlich im Mittelpunkt des Krimis. Darüber hinaus hat Nele Neuhaus einige brisante Themen in die Handlung eingeflochten, die aus unserem Alltag leider nicht mehr wegzudenken sind. Es geht um Recht und Gerechtigkeit, Flüchtlingspolitik, Fremdenfeindlichkeit und Selbstjustiz. Themen, die nachdenklich stimmen, weil Dinge hervorgehoben werden, die in Politik, Justiz und Gesellschaft aus dem Ruder laufen bzw. bereits aus dem Ruder gelaufen sind.

    Besonders gut gefallen hat mir, dass neben der Ermittlungsarbeit auch die privaten Angelegenheiten der Kommissare wieder eine Rolle spielen. Die zum Teil dramatischen Entwicklungen - Nele Neuhaus scheut sich nicht, ihre Protagonisten an den Rand der Belastbarkeit zu drängen - verleihen dem ohnehin schon lebhaften Geschehen noch zusätzliche Spannung.

    „Monster“ hat mir sehr gut gefallen - ein vielschichtig angelegter Krimi, der mit einer abwechslungsreichen Handlung, nervenaufreibender Ermittlungsarbeit, unerwarteten Wendungen und einer aufwühlenden Thematik für spannende Lesestunden sorgt.
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