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    LittleWalter Top 25 Rezensent

    Aktiv seit: 03. September 2010
    "Hilfreich"-Bewertungen: 1129
    480 Rezensionen
    Live At Montreux Rory Gallagher
    Live At Montreux (CD)
    01.04.2021
    Klang:
    3 von 5
    Musik:
    4 von 5

    Ausschnitte aus Montreux-Konzerten von 1975 - 1985

    Der irische Ausnahmegitarrist Rory Gallagher live beim Jazz-Festival in Montreux. Die Aufnahmen umreißen eine Spanne von 1975 bis 1985, wobei 1979 mit 5 Songs den größten Anteil einnimmt.

    Rory Gallagher ist ein Malocher des Blues-Rock. Er reibt sich an seinen Gitarren-Soli förmlich auf und singt engagiert und mit Hingabe. Die CD zeigt ihn bis auf 2 Songs in seiner elektrischen Variante mit Bass- und Schlagzeug-Begleitung, teilweise auch mit Tasten-Verstärkung. Nur 2 Stücke von 1979 ("Out On The Western Plain", "Too Much Alcohol") wurden Solo mit akustischer Gitarre eingespielt. Sie demonstrieren seine Fingerfertigkeit noch deutlicher.

    Rory ist natürlich ein genialer Gitarrist, was aber im Verlauf der CD manchmal stört, ist die Selbstverliebtheit in sein Instrument. Er ist der Star, steht im Vordergrund und spielt deshalb nicht immer songdienlich, sondern übertreibt es dann mit der Demonstration seiner brillanten Technik. Dieser Makel zeichnete auch schon andere große Gitarristen - wie z.B. Carlos Santana - aus, so dass sie sich dadurch manchmal selbst im Weg standen und die Songs nicht die Wirkung erzielen konnten, die ihnen langfristig gut getan hätten.

    Seine elektrischen Boogie-Blues-Nummern ("Laundromat", "Toredown", "Bought And Sold") haben aber Pfeffer unterm Hintern und gefallen durch ihre zeitlose Dynamik.

    Fans dürfen sich bei "Live At Montreux" über zusätzliche Live-Aufnahmen in ordentlicher, jedoch nicht überragender Tonqualität freuen. Einsteiger erhalten dennoch einen recht guten Überblick über das Können des Mannes.

    Diese Songs sind auf der CD "Live At Montreux" enthalten:

    01. "Laundromat" (1975) [from Rory Gallagher] - 7:49
    02. "Toredown" (1975) [from Blueprint-Sessions]- 4:53
    03. "I Take What I Want" (1977) [from Against the Grain] - 5:59
    04. "Bought And Sold" (1977) [from Against the Grain] - 5:47
    05. "Do You Read Me" (1977) [from Calling Card] - 5:48
    06. "The Last Of The Independents" (1979) [from Photo-Finish] - 5:59
    07. "Off The Handle" (1979) [from Top Priority] - 8:27
    08. "The Mississippi Sheiks" (1979) [from Photo-Finish] - 5:30
    09. "Out On The Western Plain" (1979) [from Against the Grain] - 5:23
    10. "Too Much Alcohol" (1979) [from Irish Tour 1974] - 5:02
    11. "Shin Kicker" (1985) [from Photo-Finish] - 7:05
    12. "Philby" (1985) [from Top Priority] - 8:16
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    A Lantern And A Bell Loney Dear
    A Lantern And A Bell (CD)
    26.03.2021
    Klang:
    5 von 5
    Musik:
    5 von 5

    Ehrfürchtig-spirituelle Lieder von Loney Dear aus Schweden.

    Dieser intime, kultivierte Ausdruck. Diese hohe, sensible Stimme. Diese gediegene, melodramatische Atmosphäre. "A Lantern And A Bell" - das siebente Album von Loney Dear - verbreitet den Klang der Sehnsucht und Vergänglichkeit. Aber auch den der Zuversicht, der die Kraft der Liebe und die Freude am Leben lobpreist. Mitunter treten diese Gefühle nicht offensiv in den Vordergrund, sie sind aber Bestandteil, Inhalt sowie Ausgangspunkt und Zentrum der neun neuen Lieder.

    Als Inspiration für die inhaltliche und musikalische Ausgestaltung müssen immer wieder Symbole rund um das Meer herhalten. So zeigt das Cover des Werkes die internationale Flagge für in Seenot geratene Schiffe. Das ist als Sinnbild für den Zustand zu verstehen, in dem sich der Schwede Emil Svanängen, der sich Loney Dear nennt, zu Beginn der Arbeit an dem aktuellen Album befand. In dieser Zeit - die sich anfühlte wie der Blick in den Abgrund - sorgte die Musik dafür, dass die Dunkelheit ihre Schrecken verlor und das Lachen wiederkehrte.

    Für das einleitende "Mute / All Things Pass" erzeugt Loney Dear sakrale Momente und erzählt in verzweifelter Stimmlage davon, dass alles einmal zu Ende sein wird. Hier tropfen bittere Tränen aus den Noten. Die Tristesse wird von einem in Moll gestimmten Piano, übermächtigem Bass-Brummen und einer Kirchenorgel, die Unheil herauf beschwört, getragen. "Habibi ist eine symbolische Person für alle Menschen, die Zuflucht in der Welt suchen. Für alle Menschen ohne Zuhause", erklärt Emil. Der Soundtrack dazu ("Habibi (A Clear Black Line)") bietet eine kurze, zu Herzen gehende Piano-Ballade an, die instrumental bis aufs Skelett entblößt wurde und in dieser Form auch von Randy Newman stammen könnte.

    "Trifles" erhöht die instrumentale Dichte und sorgt dadurch für eine dezent vibrierende Umgebung. Das Stück türmt zunächst Dramatik auf, wird dann zwischendurch federleicht, um die innere Spannung im weiteren Verlauf wieder bis zum überraschenden Ende zu steigern. Durch die wallenden Gefühlswogen gerät der Hörer unwillkürlich in eine abhängig machende Strömung, die leider unerwartet abreißt und ihn dadurch aus seiner versunkenen Gedankenwelt aufschreckt.

    Das Piano sucht bei "Go Easy On Me Now (Sirens + Emergencies)" zunächst vorsichtig tastend nach einer Konstante, bevor der Track durch andächtige, innig und theatralisch gesungene Töne, die sich wie ein Gebet und nicht wie ein Pop-Song anhören, aufgefangen wird. Salbungsvoll werden auch die Klänge für "Last Night / Centurial Procedures (The 1900s)" in einem wohlig warmen Sound-Kokon aufbereitet, der sich schon nach eineinhalb Minuten wieder auflöst. Wie schade!

    Der Physiker Robert Oppenheimer war einer der Väter der Atombombe und Namensgeber für das Lied "Oppenheimer". Emil erklärt das so: "Es ist schwer, meine Faszination dafür zu verstehen, aber ich denke, es hat natürlich mit Leben und Tod zu tun und sich die Freiheit zu nehmen, andere und ihr Schicksal zu kontrollieren ... Die Atombombe war die Zukunft und es war Populärkultur. Und die Tatsache, dass der Bikini das neueste Modeprodukt war und sie ihn nach dem Ort benannten, an dem sie eine Bombe gesprengt haben! Es sagt uns einfach so viel über diese Zeit." Ist das die Faszination für das Unbegreifliche im Schrecklichen, was aus diesen Worten spricht? Der Track selber spiegelt zumindest eine Stimmung wider, die zwischen Furcht, Grausen und dem Suchen nach dem Licht am Ende des Tunnels liegt.

    Feierlich und emotional stark bewegt präsentiert sich im Anschluss "Darling", das durchaus mit einer Zeitmaschine aus einer längst vergangenen Epoche - wie Rokoko oder Romantik - zu uns gelangt sein könnte. "Interval / Repeat" klingt wie die Definition der Geschwindigkeit der Einsamkeit. Das ist eine Beschreibung, die von einem John Prine-Song entliehen ist ("Speed Of The Sound Of Loneliness", 1986) und wie die Musik für eine neue Gesellschaft von nachdenklichen, bekümmerten und kreativen Menschen. Das ist eine Formulierung, die John Cale für eines seiner inbrünstigen Alben gewählt hat ("Music For A New Society", 1982). Das Lied wird entrückt gesungen und nur von einem sparsam gespielten Klavier und ätherisch-schwebenden Orgelklängen begleitet, was für eine weltabgewandte Stimmung sorgt. "A House And A Fire" hinterlässt den Eindruck einer Tragödie, aus der man gestärkt hervorgeht. Das Stück erscheint würdevoll, wobei der erhebende Gesang für Hoffnung sorgt und für Vertrauen wirbt. Was für ein zuversichtlicher Ausblick zum Abschluss!

    Eine Laterne und eine Glocke: Beides wird benötigt, um sich zu orientieren und sich bemerkbar zu machen, also um Kontakt aufzunehmen. Und Kontakt braucht man, um schwere Zeiten zu überwinden. In diesem Sinne dienten die Aufnahmen als eine Art Therapiearbeit, die Emil Svanängen und sein Produzent Emanuel Lundgren in einem Stockholmer Studio gemeinsam erlebt und durchgestanden haben. Auf "A Lantern And A Bell" klingt der Klassik- und Jazz-Fan Loney Dear wie ein Sprachrohr der verlorenen Seelen und der Betrübten, deren Schmerz er als Geleichgesinnter lindert, indem er Verständnis aufbringt und dadurch sowohl Trost wie auch Kraft spenden kann. Als derjenige, der die Pein schon durchlitten hat, kann er Vorbild, Freund und Ratgeber sein. Seine Stärke besteht aus inniger Glaubwürdigkeit und betörender Intensität, was über eindringliche Schwingungen vermittelt wird. Keine halbe Stunde dauert das Werk, aber es ist dennoch so drastisch aufwühlend, dass es erst einmal emotional verdaut werden muss. Ganz große Gefühle werden hier verdichtet und leidenschaftlich nahegebracht. Das ist die hohe Kunst der absoluten Hingabe für die Musik!

    Peter Gabriel nannte Loney Dear nicht nur "Europas Antwort auf Brian Wilson", sondern nahm ihn auch gleich für sein Real World Records-Label unter Vertrag. Gabriels Einschätzung ist durchaus nachvollziehbar, denn der schwedische Singer-Songwriter, der seine Kompositionen gerne mit diffusen maritimen Eindrücken umgibt, entwickelt spezifische Song- und Arrangement-Formen. Er denkt sich unter die Haut gehende Lieder aus, die lange nachhallen und sich im Unterbewusstsein anreichern. Die Musik hat einen ehrfürchtigen, spirituellen Charakter, auch wenn es sich hier nicht um Gospel-Musik im engeren Sinne handelt. Emil Svanängen singt die Lieder, als würde er sich in einer Heiligen Messe befinden. Er zelebriert sie wie ein gefallener Engel, der inbrünstig über Schuld und Sühne berichtet. Damit steht er in der Tradition solcher Künstler wie Townes van Zandt, Tim Hardin, Elliott Smith, Nick Cave, Rufus Wainwright, José González (Junip), Nick Drake oder Songs Of Boda.
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    House Music Bell Orchestre
    House Music (CD)
    19.03.2021
    Klang:
    4 von 5
    Musik:
    4 von 5

    Instrumentale Musik mit Charakter und Eigensinn.

    Instrumental-Musik umgibt häufig eine Aura der komplizierten Kopflastigkeit, der abgehobenen Intellektualität oder der unnahbaren Eliten-Kunst. Dabei ist es egal, ob es sich um Bereiche der Klassik, des Jazz oder der Minimal-Art handelt. Zwanglose Unterhaltung verbindet kaum jemand mit Tönen, zu denen nicht gesungen wird und nicht getanzt werden kann. Auch die sechsköpfige Formation Bell Orchestre gehört einer Gattung von ernsthaften Künstlern an. Das Kollektiv erschafft mit ihren Improvisationen Klanglandschaften, die zum Eintauchen und Zurückziehen einladen und trotzdem anregend und ungewöhnlich klingen. Es gibt etliche Etiketten, die dieser Musik angeklebt werden könnten: Post-Rock, Neue Musik, Ambient, Jazz, Avantgarde oder Weltmusik. Aber keines passt wirklich, es steckt vielmehr von Allem etwas drin. Bei den zehn Stücken des ersten Werkes seit 10 Jahren gibt es jedenfalls keinen eindeutigen Stil-Favoriten.

    Die "House Music" wurde in 10 Phasen unterteilt, welche aufeinander aufbauen oder untereinander für Kontraste sorgen. Diese Errungenschaft kam spontan zustande, wobei die Ideen individuell weiterentwickelt wurden. So knallt uns das 30 Sekunden lange "I: Opening" panisch und unzusammenhängend als Mix aus natürlichen sowie verfremdeten Geräuschen und stilistisch nicht einzuordnenden Tönen um die Ohren. Für "II: House" wird das monotone Bass-Riff aus "I: Opening" nahtlos als Basis übernommen. Darüber gleiten silbrige Steel-Gitarren-Töne hinweg. Wie Vögel, die sich fast schwerelos von der Thermik treiben lassen. Erst nach über 2 Minuten setzen sowohl ein unruhiger Schlagzeug-Rhythmus wie auch eine galoppierende Geige ein, die das Stück zum Stolpern und Traben bringen. Bass und Steel-Gitarre lassen sich davon jedoch nicht in ihrer Ausgeglichenheit verunsichern.

    Die schon aus "II: House" bekannte und am Square-Dance-Schwung orientierte Geige übernimmt bei "III: Dark Steel" spontan die Leitung. Sie wird später allerdings von dramatisch-weihevollen Bläser-Sätzen übertönt. Das Stück lässt langsame und schnelle Ton-Spuren mit- und gegeneinander ablaufen und erzeugt so eine lebhafte Atmosphäre, die von Anstrengung und Dominanzstreben geprägt ist. Schrille sowie dunkle, sich überlagernde Bass- und Percussion-Töne verursachen bei "IV: What You’re Thinking" ein geordnetes Chaos, das sich gegen Ende des Tracks in entfernt stattfindenden Explosionen entlädt und anschließend allmählich neu gestaltet wird.

    Diese neue Ordnung formt sich aber erst im Verlauf von "V: Movement" zu einer vollständigen, meditativen, aber dennoch beweglichen Gestalt zusammen. Eine gestopfte Trompete übernimmt hier neben der obligatorisch weinenden Steel-Gitarre zwischendurch eine führende Rolle, wobei auch andere kurze Solo-Aktionen gewichtige Klangbestimmungen erlangen. Kurz rauscht sogar ein altes Broadway-Musical wie eine im Hinterkopf versteckte und frisch aktivierte Sound-Erinnerung vorbei. Und Stimmen sind zu hören, die wortlos wie ein versöhnlich verzierendes Instrument agieren.

    "VI: All The Time" geht den grade eingeschlagenen Weg weiter. Der Track bekommt jedoch noch weitere exotische und eigentümliche Klangfarben verliehen, die ihn fremdartig erscheinen lassen. Wie Insekten summen, surren, schwirren und brummen verschiedene Töne in "VII: Colour Fields" herum, bevor wendig-schlaksige Schlagzeug-Takte, blubbernde und sirrende Synthesizer-Klänge und Breitwand-Bläser-Sätze das Stück stimmungsmäßig in schwindelnde Höhen entführen.

    Die 7minütige Tondichtung "VIII: Making Time" lässt zunächst die hypnotische Bass-Figur aus "II: House" wieder aufleben. Der Track bleibt insgesamt undurchsichtig, unheimlich und undefinierbar. Die verwirrenden Klänge lassen mal an einen Alb- und dann wieder an einen Tagtraum denken. Die Instrumente wechseln sich in ihrer Wichtigkeit ab und Stimmen murmeln dazu in einem Lücken füllenden Singsang, so dass ein wogender Klangteppich entsteht. "IX: Nature That’s It That’s All" besinnt sich auf die Kraft der langsam fließenden, sich nur wenig ändernden Schwingungen, die in dieser Konstellation zu einer konzentrierten Ruhe führen können. Immer wieder treten Töne an die Oberfläche, die in moderater Lautstärke neue Eindrücke vermitteln und so schlängelt sich der Klang-Strom rücksichtsvoll auf- und abschwellend durch eine Landschaft von bizarrer Beschaffenheit dahin. "X: Closing" läuft nahezu in sich gekehrt ab und sorgt so für einen entrückt wirkenden, versöhnlichen Ausklang der Platte.

    Die Einspielungen für "House Music" entstanden während einer zweiwöchigen Isolation im Haus der Arcade Fire-Geigerin und -Sängerin Sarah Neufeld. Ihre Musiker-Kollegen Richard Reed Parry (Bass, Gesang, auch von Arcade Fire), Pietro Amato (Horn, Keyboards, Elektronik), Michael Feuerstack (Pedal-Steel-Gitarre, Keyboards, Gesang), Kaveh Nabatian (Trompete, Gongoma, Keyboards, Gesang) sowie Stefan Schneider (Schlagzeug) wurden in dem mehrstöckigen Haus auf mehrere Zimmer und Etagen verteilt, wobei der Toningenieur Hans Bernhard für die Verständigung und den guten Ton sorgte.

    Obwohl die Musiker jeden Tag ihre Ideen aufnahmen, basiert das 45-minütige "House Music"-Album auf einer 90-minütigen Improvisation, die behutsam bearbeitet und zu einem möglichst organisch fließenden Werk verdichtet wurde. So entsteht der Eindruck, es handele sich insgesamt um ein einziges Stück mit verschiedenen Klangmustern, die intuitiv ausgearbeitet wurden. Die Musiker haben sich erstaunlich gut untereinander abgestimmt. Und das, obwohl sie sich bei den Aufnahmen nicht sehen konnten. Dafür ist schon ein gutes Gespür füreinander nötig. Herausgekommen sind Sounds, die wie eine klassische Symphonie Beweglichkeit, Dynamik und Überraschungselemente so miteinander verbinden, dass am Ende ein schlüssiges Ganzes entsteht. Das hat auf beachtliche und erstaunliche Weise funktioniert und zu verschachtelter Musik mit speziellem Charakter geführt. Ganz in der Tradition solcher Bands wie Magma, Tortoise oder Penguin Cafe (Orchestra).
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    10.03.2021
    Klang:
    5 von 5
    Musik:
    4 von 5

    Umbruch trotz oder wegen Corona: Der Lockdown als kreative Findungsphase.

    Corona ohne Ende. Auch die Tindersticks um Stuart A. Staples haben ihre Lehren aus der Pandemie gezogen. Der Lockdown sei definitiv ein Teil von "Distractions" aber nicht eine Reaktion darauf, lässt sich Staples zitieren. Aber die Gruppe brauchte Ablenkungen und bei dieser Gelegenheit habe man eine offene, frei fließende Form bei der Umsetzung ausprobiert, wobei jedes Bandmitglied seine Musikalität anders als bisher ausrichten konnte. Nur zwei Monate nach der Veröffentlichung von "No Treasure But Hope", also schon im Januar 2020 kam es zu ersten Überlegungen über die Gestaltung von zukünftiger Musik. Wegen des Lockdowns wurden dann auch bald Aktivitäten für das dreizehnte Studio-Album der Band aus Nottingham aufgenommen, dessen Fertigstellung sich bis zum September 2020 hinzog.

    Um unmittelbar Intensität aufzubauen, beginnen die Tindersticks das Album mit dem 11minütigen, monotonen "Man Alone (Can't Stop The Fadin')". Statt jedoch einen hypnotischen Rausch mit Hilfe von Krautrock-Referenzen im Can-Gedächtnis-Stil hervorzurufen, wartet das Stück mit nervtötenden Wiederholungen auf. Das klingt übertrieben in die Länge gezogen, so wie viele der 12inch-Maxi-Single-Remixe aus den 1980er Jahren, wo den Songs mit endlos ausgewalzten Gimmicks das Leben ausgehaucht wurde. Ein klassischer Fehlstart.

    Das sich anschließende, geflüstert-leise, merkwürdig-intime, klirrend kalt erscheinende "I Imagine You" macht den anfangs gewonnenen, zwiespältigen Eindruck zum großen Teil wieder wett. Die Arrangements wurden hier kreativ mit Tönen ausgestattet, die sich wie eine Glasharfe und eine singende Säge anhören. Staples erklärt das Stück kryptisch, aber auch poetisch: "Ich denke, es ist ein Lied von der Rückseite eines Sofas, das dort unten verschwindet und die Verbindung zur Welt verliert". Eine herrlich verschrobene Beschreibung.

    Richtig stark wird es mit dem folgenden Cover-Versionen-Trio. Da wäre zunächst "A Man Needs A Maid" von Neil Young, das im Original als teils intime, teils orchestral ausgeschmückte, ergreifende Ballade das Album "Harvest" aus 1972 ziert. Die Tindersticks interpretieren den Song als dunklen, melancholischen Electro-Pop mit gleichmäßig tickendem Rhythmus, dem auch Gina Foster als Duett-Gesangspartnerin keinen Sonnenschein einhauchen kann. Es entsteht eine kristallklare, behagliche Tristesse für Fortgeschrittene, die aus den Schattenseiten des Lebens Kraft schöpft.

    Dory Previn war die Ehefrau des Klassik- und Jazz-Pianisten, Komponisten und Dirigenten André Previn. Sie trat als Schriftstellerin und Musikerin ins Licht der Öffentlichkeit. In ihrem Leben gab es oft Konfrontationen mit psychischen Krankheiten, sowohl wegen ihres paranoiden Vaters wie auch wegen eigener Probleme: André Previn verließ sie 1970 wegen Mia Farrow. Ihren Schmerz verarbeitete sie auch in ihren Songs, in denen sie zur Kompensation drastische Themen unterbrachte. "Lady With The Braid" von 1971 erzählt die Geschichte einer einsamen, verunsicherten Frau, die einen männlichen Gast dazu bewegen möchte, über Nacht zu bleiben, wobei sie sich emotional an ihn klammert. Musikalisch handelt es sich um eine traditionelle Country-Folk-Ballade im Merle Haggard-Stil mit romantischen, lieblichen Streichern, die von Dory mit klarer, angenehmer Stimme offen und unvoreingenommen gesungen wird. Stuart A. Staples & Co. erhöhen das Tempo und lassen den Song jazzig swingen, wobei der Gesang gedankenvoll-sinnierend hinterher zu hinken scheint. Das Lied wird nach sieben Minuten ausgeblendet. Es entsteht aber der Eindruck, dass die Musiker noch mehr zu sagen hatten und der Track in Wirklichkeit viel länger ausgefallen ist.

    Die Television Personalities wurden 1977 in London von Sänger Dick Treacy gegründet und waren sowas wie das fehlende Glied zwischen Punk und psychedelischem Folk-Rock. Die britischen Underground-Helden erlangten zumindest durch den Song "I Know Where Syd Barrett Lives" Insider-Kult-Status. Sie wussten damals tatsächlich, wo sich der verschollene Pink Floyd-Gründer aufhielt. Er lebte nämlich abgeschieden in Cambridge bei seiner Mutter. "You'll Have To Scream Louder" stammt vom 1984er-Album "The Painted Word" und ist ein schlampig-dreckiger Rocker mit Pop-Füllung, die sich aber im Gewirr des E-Gitarren-Geschrammels und der zersetzenden Echo-Effekte verliert. Bei den Tindersticks kommt das Lied im Gegensatz dazu mit karibisch anmutenden, tanzbaren Rhythmen beinahe freundlich rüber.

    Song Nr. 6 und 7 sind dann wieder Eigenkompositionen: Das traurige Piano-Chanson "Tue-Moi" verbreitet eine gedrückte Stimmung, denn es ist dem Terroranschlag auf das Bataclan in Paris im Jahr 2015 gewidmet. Die Aufmerksamkeit wird hier ganz und gar auf das leicht erregte Timbre des lyrisch-bedeutsamen Gesanges gelenkt. Friedliche Frühlingsgeräusche leiten dann das abschließende "The Bough Bends" ein. Besänftigend gesprochene Worte passen sich in die harmonische Klanglandschaft ein, bevor der Track ganz langsam Fahrt aufnimmt, aber sich trotz knurrend-rumorenden und hell schillernden E-Gitarren in ruhigem Fahrwasser aufhält.

    Es ist löblich, dass sich die Musiker für "Distractions" bemühen, sich selbst und ihren Sound weiterzuentwickeln. Aber diese Schritte sollten ausgereift, sinnvoll und nachvollziehbar sein und nicht - wie bei "Man Alone (Can't Stop The Fadin')" - in einem unausgegorenen Experiment enden. Um das zu vermeiden, hilft es oft Ideen von Künstlern aufzunehmen, die bisher noch nicht im Dunstkreis der handelnden Personen aufgetaucht sind, statt im eigenen Saft zu schmoren. Die Kritik an dem Stück soll darstellen, wie schnell man sich verrennen kann und künstlerisch in die Sackgasse gerät, wenn Ideen herausgegeben werden, die nicht das gewohnte Niveau halten. In diesem Falle wird teilweise genau das erreicht, was vermieden werden sollte: Ein Qualitätsverlust. Aber die Tindersticks haben ansonsten nur interessante Tracks abgeliefert. So ist unterm Strich ein lohnendes Album herausgekommen, aber eben kein Meisterwerk.
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    06.03.2021
    Klang:
    4 von 5
    Musik:
    4 von 5

    "Electrically Possessed" ist der 4. Teil der Vergangenheitsbewältigung von Stereolab.

    Der Sound des Projektes Stereolab ist für den Zufallshörer kaum zu fassen oder einzuordnen, zu unterschiedlich sind die Stücke gestrickt. Der Schwerpunkt kann dabei sowohl auf Lounge-Pop, Bossa Nova und Electro-Pop, wie auch auf Minimal-Art, Jazz oder Chanson liegen.

    Stereolab formierten sich 1990 in London aus den Resten der Gitarren-Band McCarthy mit den Ideengebern Tim Gane (Gitarre, Keyboards) und Laetitia Sadier (Gesang, Keyboards, Gitarre). Sie benannten sich nach einem Sublabel von Vanguard Records, für das solch wegweisende, unabhängige und einflussreiche Künstler wie Sandy Bull, Larry Coryell, Odetta und auch Joan Baez aufgenommen haben. Schnell fanden Stereolab im pulsierenden London eine Lücke zwischen Post-Rock, Mutant-Disco, Minimal-Art, Bossa Nova und Kraut-Rock, die sie kreativ ausfüllen konnten. Bei ihnen lernt die Elektronik seitdem das Swingen und Grooven, sie reihen Pop-Traditionen in avantgardistische Ausflüge ein, sie verschmelzen brasilianische Klänge mit Kraut-Rock und das Swinging London der 1960er Jahre lebt wieder neu auf. Alle diese Ingredienzien treiben in sich ständig wandelnder Form seltsam-frische Blüten und tragen so zu einer stilvollen und anspruchsvollen Unterhaltung bei.

    Im Jahr 1992 haben die Musiker damit begonnen, ihre Vergangenheit aufzubereiten, indem sie seltene Tracks und bisher unveröffentlichte Outtakes sichteten und klangtechnisch überarbeiteten. Dabei kamen dabei bisher die Werke "Switched On" (1992), "Refried Ectoplasm" (1995) und "Aluminum Tunes" (1998) heraus. Mit "Electrically Possessed" wurde jetzt die Zeit zwischen 1997 bis 2008 durchforstet und mit 25 handverlesenen Tracks nachgebildet.

    Die ersten sieben Kompositionen stammen vom Minialbum "The First Of The Microbe Hunters" (2000): Bei "Outer Bongolia" werden wiederkehrende, monotone Rhythmen sehr ernst und konsequent eingesetzt. Und das alles unter dem Feuer lateinamerikanischer Rhythmen. Kunst trifft auf Klischee! Das Vibraphon spielt von Anfang an die selben Töne, über die die anderen Instrumente improvisieren und fantasieren. Dabei entstehen dann Fusionen aus psychedelischen und suggestiven Sounds, Jazz-Grooves und lateinamerikanische Disco-Klänge. Das Stück ist ein Trip, der im Nirgendwo endet und das Gehirn unterwegs zum Expandieren bringt. Ein gewagtes Experiment mit ungewissem Ausgang. Skurril, abgedreht und unter Umständen an den Nerven zerrend. Zehn Minuten bis zur Ewigkeit oder Minimal-Art als Psycho-Droge.

    "Intervals" setzt die Stimme von Laetitia Sadier ins rechte Licht. Anmutig wie Astrud Gilberto ("The Girl From Ipanema") oder bisweilen herausfordernd wie Flora Purim ("Light As A Feather") präsentiert sie sich als souveräne Lenkerin von bedeutenden Stimmungen und spontanen Einfällen in diesem anziehend-verspielten Bossa Nova-Chanson. Der kühle Anteil im Gesang verweist auf Nico, die auf "Velvet Underground & Nico" (1967) und ihrem ersten Solo-Album "Chelsea Girl" (1967) einen unnahbaren Gesang beisteuerte. Später sang sie dann noch frostiger, aber das ist eine andere Geschichte. Bei Laetitia geht die Sonne bei den von ihr hervorgebrachten Lauten jedenfalls nie ganz unter. Die Musiker setzen auf Gegensätze, mit denen sie das Stück beweglich halten: Billig wirkende Synthesizer-Klänge geben sich mit gesellschaftsfähigen, feinen Marimbaphon-Klängen ein Stelldichein und der Rhythmus simuliert Tanzmusik. Aber die Tempowechsel durchbrechen den Schwung stets zu Gunsten der inneren Einkehr.

    Der Beat von "Barock-Plastic" wühlt sich wuchtig und konstant durch einen Dschungel von Brasilectro-Klängen. Dieser jugendliche Überschwang verleiht dem Stück auch sein Selbstbewusstsein und seine Originalität. Es überholt alles, was zu behäbig nach alten Regeln abläuft und schafft so neue Sound-Tatsachen. Frechheit siegt (manchmal). Auch "Nomus Et Phusis" zapft sowohl Weltmusik wie auch die Errungenschaften der elektronischen Musik an. Daraus entsteht ein fremdartiger Pop-Song oder verfremdeter Latino-Track. Ganz wie man will. Was mit dezenten Trommeln beginnt, wechselt in ein absurdes Ton-Geleier und dann in einen künstlich-kitschigen Chill-Out-Sound. Im Reich der Klang-Illusion ist eben alles erlaubt.

    Die Luft auf einem anderem Planeten ("I Feel The Air (Of Another Planet)") stellt sich Stereolab als stakkato-hafte Vokal-Übung vor, die nur wenige Veränderungen mit sich bringt. Diese Tonfolgen durchziehen weite Teile des 8 Minuten langen Stückes. Das ist ein bizarrer Science-Fiction-Soundtrack und ein exzentrisches Chanson in einem. Oder eine Hommage an Laurie Anderson - die mit "O Superman" wahrscheinlich die Vorlage für die verwendete Stimmband-Akrobatik lieferte - und Lou Reed, der für knorriges Songwriting mit Herz und Seele steht. Eine Ausprägung, die am Ende der Komposition nach einem Stilbruch in Richtung Kammermusik dann auch die Oberhand gewinnt.

    "Household Names" lässt an Sonne und Strand denken, obwohl das Lied eindeutig zu munter zum Entspannen ist. Easy Listening für Fortgeschrittene! "Retrograde Mirror Form" hypnotisiert durch verschiedene eindringliche instrumentale Wiederholungen, die Echo-artig zwischen dem linken und rechten Ohr hin und her geschickt werden. Eine intensive Übung in Zeitdehnung und Konzentration. Das ist nichts für nervöse, stressgeplagte Individuen, wenn sich auch genau deren Situation hier akustisch widerspiegelt.

    Die Tracks auf "Electrically Possessed" wurden nicht chronologisch angeordnet, sie folgen vielmehr einer subjektiven Dramaturgie der Erschaffer. So werden auch gemeinsam veröffentlichte Songs manchmal quer über die Tonträger verteilt. Die Single "Solar Throw-Away" (A-Seite) / "Jump Drive Shut-Out" (B-Seite) stammt aus 2006. Die A-Seite gibt es in zwei Versionen, die beide hier zu hören sind. Die "Original Version" präsentiert psychedelischen Beatles-Pop der "Magical Mystery Tour"-Phase, der auf flotte kubanische Rhythmen trifft. Die andere Fassung klingt eher wie die sich am Rokoko orientierende Film-Musik aus den Miss Marple-Krimis der 1960er Jahre, bevor der exotische Rhythmus wieder zugesteuert wird und sich das Umfeld elektro-poppig verändert.

    Die B-Seite beherbergt ein Instrumental-Stück, das eine Stimmungslage zwischen beschaulich und vergnügt ausdrückt. Hier wird Kraut-Rock mit romantischer Film-Musik gekreuzt. Das ist musikalisch nicht unbedingt zwingend, aber ganz nett anzuhören. "Pandora's Box Of Worms" ist ein Outtake aus den "Dots And Loops"-Sessions von 1997, das nach einer unstrukturierten Schüler-Indie-Rock-Band im Übungskeller klingt. Das Ton-Dokument demonstriert zwar die stilistische Breite von Stereolab, ist aber musikalisch überflüssig. Außerdem hat der Take bei einer Minute und elf Sekunden einen derben Aussetzer. Die Tour-Single "Explosante Fixe" (A-Seite) / "L'exotisme Interieur" (B-Seite) erschien 2008. Die A-Seite fühlt sich im locker groovenden Mod-Jazz wohl und "L'exotisme Intérieur" ist ein positiv gestimmtes Lied, das Hippie-Folk und Soul-Pop destilliert und frisch aufbereitet.

    Im Jahr 1999 gab es eine 7"-Vinyl-EP mit vier Titeln, die auf 33 Umdrehungen pro Minute lief, "The Underground Is Coming" hieß und auf der damaligen Tournee verkauft wurde: "The Super-It" schafft es, im Grenzbereich zwischen Brasil-Jazz und Folk-Pop gleichzeitig zurückhaltend-entspannt wie auch beschwingt-nachdenklich zu erscheinen. Die Instrumental- und Gesangs-Versionen von "Fried Monkey Eggs" sind im Vergleich dazu etwas vitaler ausgefallen und im Umfeld des Space-Age-Pop zuhause, denn sie wurden für das "Charlie`s Angels In Space"-Videospiel aufgenommen. Space-Age-Pop ist ein Genre, das besonders in den 1950er Jahren gediegene, fremdartige Lounge-Musik hervorbrachte.

    "Monkey Jelly" sitzt als ruhige Electro-Pop-Ballade, die mit wortlosem Gesang und Percussion-ähnlicher Elektronik auf sich aufmerksam macht, wieder zwischen allen Stühlen. Nicht auf der EP war die gesanglose Beats-Variante von "Monkey Jelly". Das ist nämlich ein bislang unveröffentlichter Outtake aus dieser Zeit. Nicht unbedingt notwendig, aber eben selten. 1998 kollaborierte Stereolab mit dem Künstler Charles Long für eine (Klang)-Installation mit dem Namen "B.U.A (Burnt Amber Assembly): An Entanglement Of Wholes". Die Musik dafür ist nicht etwa experimentell-verworren, sondern zugänglich-nüchtern ausgefallen und steht jetzt erstmals offiziell auf Tonträgern zur Verfügung. Laetitias Gesang lässt Engel sprechen und die Elektronik blubbert, pfeift, knurrt und scratched, als wolle sie eine unbekannte Star Wars-Episode erzählen. Pop-Art, so bunt wie die Bilder von Roy Lichtenstein.

    "Free Witch And No Bra Queen" (A-Seite) und "Speck Voice" (B-Seite) waren auf einer auf 2.000 Stück limitierten Tournee-Single vom August 2001 enthalten. Beide Kompositionen sind mit dem Jazz-verwandt, wobei die A-Seite das Experiment neben den Groove stellt und die B-Seite den Jazz nach Brasilien holt und deshalb luftiger ausgefallen ist. "Heavy Denim Loop Pt 2" ist ein Outtake von den "Mars Audiac Quintet"-Album Sessions aus 1994, der Garagen- und Kraut-Rock zusammen bringt. Die dröhnenden Riffs stammen aus der Garage und der unerbittlich harte, monotone Rhythmus wurde in deutschen Klanglaboren der 1970er Jahre geboren.

    "Variation One" wurde für den Soundtrack von "Moog" zu Ehren von Dr. Robert Moog entwickelt, der 1964 den ersten Synthesizer erfand. Es handelt sich hierbei um eine druckvoll-kompakte, voluminös produzierte Komposition mit Retro-Analog-Synthesizer-Solo, der sich für die Tanzfläche eignet und direkt hinter "Blue Monday" von New Order gespielt werden sollte. Oder vor "Dimension M2", das über weite Strecken auch gut in die Beine geht und plötzliche Brüche aufweist. Zu diesem Track, der 2005 auf der CD-Compilation "Disko Cabine" veröffentlicht wurde, gibt es folgenden (gekürzten) Kommentar von Tim Gane: "Nach der Entstehung der Platte "Dots & Loops" (1997) [...] kauften wir uns einen Apple-Desktop-Computer, eine MOTU-Soundkarte und die Software Logic 2 und begannen, sehr einfache Tracks zu produzieren, wobei wir hauptsächlich Samples als Inspiration nutzten und diese mit etwas Gitarre, Keyboards und oft auch wortlosem Gesang überlagerten, den Laetitia und Mary Hansen hinzufügten. Ich persönlich mochte das Schneiden und Zerhacken von Sounds und Rhythmen und versuchte, kleine, pulsierende Songs zu machen [...]. Die meisten dieser Stücke landeten entweder auf Tour-Singles oder auf Compilations. [...] Ich wollte etwas Peppiges und Partymäßiges machen und "Dimension M2" war so nah dran, wie ich an so etwas herankommen konnte - allerdings immer noch ein bisschen kühl und distanziert."

    "Calimero" mit Brigitte Fontaine als verführerische, rätselhafte Lead-Sängerin wurde etwa zur gleichen Zeit wie die Tracks für die "The Underground Is Coming"-EP geschrieben und erschien auch 1999 als Vinyl- und CD-Single. Der Song hat alles, was anspruchsvoller und unterhaltsamer Art-Pop benötigt: Thriller-Jazz-Spannung, eine rauchig-erotische Stimme, überraschende Wendungen, einen federnden Rhythmus und phantasievolle Solisten. Leider fand die tolle B-Seite "Monade" - die wieder vom Gesang von Madame Sadier verziert wurde - keine Berücksichtigung bei der Kopplung der Songs für diese Sammlung.

    Die Auswahl für "Electrically Possessed" mag kontroverse Meinungen auslösen, beinhaltet aber keine Sammlung von Ausschuss. Sie klingt zwar mitunter unzusammenhängend, schöpft aus diesen Gegensätzen aber auch ihre Reize. Es liegt in der Natur der Sache, dass bei dem Vorhaben, die Vergangenheit aufzuarbeiten, nicht alles Gold ist, was glänzt. Schließlich gibt es in der Diskografie von beinahe jeder Band auch unausgegorene Ideen. Aber interessant sind die meisten Ausgrabungen allemal. Denn es ist aufschlussreich zu hören, wie sich die Musiker weiter entwickelt haben und was alles ausprobiert wurde. Stereolab ist eine Formation, die sich enorme Freiheiten gestattet, um ihren Weg konsequent zu gehen. Sie biedern sich nicht an Trends an, scheuen nicht das Risiko und sind trotzdem erfolgreich mit ihren Forschungen. Noch ist die Pop-Kultur also nicht verloren!
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    Wrestler The Entrepreneurs
    Wrestler (LP)
    06.03.2021
    Klang:
    3 von 5
    Musik:
    3 von 5
    Pressqualität:
    4 von 5

    Die dänischen Noise-Rocker spielen Punk, Grunge, Post-Rock u. psychedelischen Garagenrock.

    In Zeiten wie diesen...so fangen derzeit viele Erfahrungsberichte und Ratschläge an. Ja, in Zeiten der Isolation braucht man auch mal ein Ventil, um aufgestauten Tatendrang rauszulassen, aus sich heraus zu gehen und den Kopf frei zu bekommen. Was hilft da besser und ist befreiender als krachende, dreckige Rock-Musik mit Haltung? Da kommt das dänische Trio The Entrepreneurs mit ihrem zweiten Album "Wrestler" grade richtig.

    Wie die Band ihre Musik selber einordnet, beschreibt sie auf ihrer Facebook-Seite: "Wir spielen Noise-Rock. Manchmal machen wir es schnell und grandios, ein anderes Mal langsam und mit tiefgründiger Kontemplation, für Ihren Seelenzustand, weil wir einfach nicht anders können. Ästhetisch reiche und experimentelle Variationen über einige der wichtigsten Subgenres des Rock ist der Sound der dänischen The Entrepreneurs." Mathias Bertelsens Gesang will sich zunächst gar nicht in dieses Umfeld einfügen lassen, da er eine feminine Ausstrahlung besitzt, die zwischen sachlich und ärgerlich schwankt, selten aggressiv erscheint und von daher im Noise-Rock nicht oft anzutreffen ist.

    Der Opener "A Good Year To Go Across The Country" klingt wie ein verschollener Velvet Underground-Track, der in einer hellerer Stimmlage dargeboten wird, wie sie ähnlich vom jungen Neil Young bekannt ist. Die E-Gitarre raspelt dazu zunächst monoton-verloren und einsilbig. Wenn dann das Rhythmus-Duo einsetzt, wandelt sich das Bild allmählich zu einer in Feedback getränkten Krach-Orgie, bei dem der nun auch mal rauschhaft in den Hintergrund tretende Gesang der einzige ruhende Pol bleibt.

    "Sweet" lässt dann bei ähnlicher Ausrichtung mehr Geschwindigkeit zu und hat ordentlich Dampf auf dem Kessel. Es schwirrt und surrt stimulierend, dass es eine Freude ist. Dinosaur jr. um J Mascis lassen grüßen. "What's Up With Your Head?" erinnert durch die trocken-holprige Bass/Schlagzeug-Kombination an Sonic Youth. Hinzu kommen noch harte Garagenrock-Riffs, Power-Pop-Melodie-Schnipsel und eine experimentell geprägte Leerlaufphase, die auch gerne als Stilmittel von der New Yorker Avantgarde-Rock-Band um Kim Gordon und Thurston Moore genutzt wurden.

    Das Titelstück "Wrestler" präsentiert sich als langsamer, düster-gespenstischer Psychedelic-Folk-Rock mit Alice Coltrane-Gedächtnis-Harfe. Die drogenschwangere Atmosphäre lässt an Quicksilver Messenger Service in der Dino Valenti-Phase von "Just For Love" von 1970 denken. Eine gelungene Zeitreise! Das sich anschließende "Cinnamon Girl" ist keine Cover-Version des Neil Young-Tracks, sondern wurde vom Sänger Mathias Bertelsen für seine Tochter geschrieben. Das Lied handelt von den einschneidenden Veränderungen, die das Leben als Vater mit sich bringt. Musikalisch schalten die Entrepreneurs einen Gang zurück und lassen den Gitarren-Krach nicht klangbestimmend sein, sondern nur wie ein zusätzliches Instrument als raumfüllendes Element mitschwingen. Ansonsten zeigen sich die Noise-Spezialisten hier eher als moderne Art-Rocker, die Melodie und Rhythmus gleichberechtigt austarieren.

    "Mess" geht als Ballade durch, obwohl die Komposition wesentlich mehr laute, störende Geräusche und Sound-Eskapaden beinhaltet, als dies sonst bei langsamen Liedern üblich ist. Und genau das zeichnet das Stück aus. Die Musiker nutzen einen ähnlichen Effekt, wie ihn auch The Jesus And Mary Chain verwenden: Durch kreischende Feedback-Gitarren, die mit einer zuckersüßen Melodie gefüttert werden, gelingt die Quadratur des Kreises in Form einer Verschmelzung von Pop und Experiment. "What`s So Fucking Strange About My Idea" ist eine freche, überschwängliche Classic-Rock-Parodie mit Bass- und Gitarren-Soli, die von Frank Zappa entliehen sein könnten. Bei "Gonzo" tobt sich die Band dann noch mal richtig aus: Allerlei Effekte, versetzte Takte und eine im Hintergrund mit Echo bearbeitete Stimme sorgen für Verwirrung und lassen das Stück bizarr und unnahbar erscheinen.

    Die Dänen geben eine Leistungsschau davon ab, was so alles zwischen Punk, Grunge, Post-Rock und psychedelischen Garagenrock möglich ist und lassen dabei viele Erinnerungen an bekannte Vorbilder aufflackern. Die von ihnen ausgedrückte musikalische Zerrissenheit passt natürlich als Lebensgefühl in den derzeitigen Zeitgeist, aber mit unter 30 Minuten Laufzeit ist das Werk dann doch zu kurz geraten, um als vollwertiges Album durchzugehen. Die Platte enthält ein paar gute Ansätze, es fehlen jedoch noch weitere prägende Songs für einen rundum bemerkenswerten Höreindruck. In Zeiten wie diesen benötigen wir pralle, starke, vor Energie und Mut überschäumende, phantasievolle Musik, an der wir uns festhalten können.
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    Düsseldorf - Tokyo Düsseldorf - Tokyo (CD)
    06.03.2021
    Klang:
    4 von 5
    Musik:
    4 von 5

    Love Machine sind unkonventionell in dem, was sie singen und spielen. Und das ist gut so.

    Love Machine erzählen auf ihrem vierten Album "Düsseldorf-Tokyo" laut eigenem Bekunden von ihrer Heimatstadt Düsseldorf als eine schmuddelige und irrsinnige Stadt. Es geht um Abgründe und üble Schicksale mit Geschichten über Sucht, Absturz, Ausnüchterung und Freundschaft. Das soll alles im örtlichen Spannungsfeld zwischen Mondänität und Trash am eigenen Leib erlebt worden sein, wie die Musiker Marcel Rösche (Gesang), Noel Lardon (Schlagzeug), Richard Eisenach (Bass), Jan Lammert (Keyboards) und Hendrik Siems sowie Felix Wursthorn (beide Gitarre) versichern. Die Künstler hinterlassen optisch einen verwegenen Eindruck, so als wären sie in den 1960er Jahren Begleitmusiker von Frank Zappa gewesen.

    Aber man liegt nicht unbedingt richtig, wenn man vom Äußeren auf die Musik schließt. Diese Love Machine ist überwiegend zugänglich orientiert. Es gibt konventionelle Elemente, die an Achim Reichel erinnern, manche dadaistischen Anspielungen lassen dagegen an Kiev Stingl denken. Dieser wegweisende Musiker wirbelte ab Mitte der 1970er Jahre auch durch Anschub von Herrn Reichel die Deutschrock-Musikszene durch rotzig-kraftvolle Töne ganz schön durcheinander. Er ist heute aber leider etwas in Vergessenheit geraten. Beim Quintet Love Machine nimmt der dunkle Bariton von Marcel Rösche den Hörer oft als hervorstechendes Merkmal besänftigend und freundschaftlich mit auf poetisch-skurrile Gedankenspiele, bei denen die deutsche und englische Sprache gemischt und gleichberichtigt berücksichtigt wird. Das hat eine gewisse dekadent-hinterhältig-belustigend-charmant-naive Ausstrahlung, schert sich also nicht unbedingt um Konventionen.

    Die Verbindung zwischen Düsseldorf und Tokyo scheint eine lockere und harmonische zu sein, zumindest lässt der das Album eröffnende, gemächlich trottende Easy Listening-Shuffle "Düsseldorf-Tokyo" so etwas vermuten. "Golo Mann" schwenkt dann um und präsentiert die Musiker als sehnsüchtige Southern-Rocker mit Hang zum schwelgenden Country-Rock. Dieses Gebräu wird von einem zärtlich-gefühlvollen, sanft brummenden Gesang untermalt, dem man einfach verfallen muss.

    Die Love Machine ist überwiegend mit intimer Leidenschaft unterwegs. Die nächsten fünf Balladen legen Zeugnis darüber ab: "Hauptbahnhof" ist von ernsthafter Sinnlosigkeit geprägt und wird dazu kurioserweise von ergreifenden Klängen umspült. Mit der Aussage: "Hauptbahnhof, hier wollte ich eigentlich gar nicht hin", beginnt diese putzige Moritat, aber erhellender wird die Geschichte danach auch nicht mehr. Ist das die hohe Kunst des Blödsinns, wie ihn auch Trio ("Da Da Da") praktizierten?

    "100 Jahre Frieden" als Kuschel-Rock zu bezeichnen, wäre eine Beleidigung. Aber zumindest begegnen sich hier auf übertrieben seriöse Weise Schlager-Trivialität und Rock-Gitarren. Das liebliche "Lieblingsbar" suggeriert auch Ernsthaftigkeit, kann aber auch als ironischer Humor verstanden werden. Eine eindimensionale Orgel sorgt beim traurig-introvertierten Folk-Jazz "Gunst der Dinge" für Behaglichkeit und "Swimmingpool der Welt" ist ein bewegend-ausschweifender Song, der durch eine dynamische Melodielinie besticht. Alle diese Lieder werden von wehmütigem Gesang getragen, wie ihn Freddy Quinn in seinen Seemannslieder verbreitet hat. Aber auch der Heilige Zorn von Unheilig deutet sich zwischendurch stimmlich an.

    Das betont als altmodischer, trockener Country getarnte "Gemeinsam einsam" schlurft gemütlich dahin und kann sowohl als Parodie wie auch als charmanter Retro-Beitrag gedeutet werden. Der nüchterne Gesang sagt jedenfalls nichts Eindeutiges über die wahre Absicht der Musiker aus. "That Mean Old Thing" dreht dann den harmlosen Spieß um und lässt bewährte Trieb-Mittel aus Boogie-, Glam- und Hard-Rock kraftvoll sprechen. Der Track spiegelt die Unnachgiebigkeit von Status Quo, den Glamour von T. Rex, die gespielte Coolness von Boss Hoss und den verruchten Dreck von Motörhead wider und bringt das Stück damit auf Trab.

    Bei "The Animal" spielen die Musiker mit einem halbwegs wilden Rock & Roll-Klischee und schrecken allerdings auch nicht vor süßlichen Passagen zurück. So sind sie nun mal: Unberechenbar und nicht zu greifen. Es ist auch nicht sofort einzuschätzen, ob nun Kitsch oder Kunst fabriziert wird.

    Love Machine scheinen aus einer Zwischenwelt zu kommen: Sie sind zu unkonventionell, um als Schlager- oder Chanson-Verwalter durchzugehen, zu liebevoll, um als Rocker anerkannt zu werden und zu vielseitig, um der Roots-Music eindeutig zugerechnet werden zu können. Aber sie haben von allem etwas und die Mischung der Formen und Stile macht den großen Unterschied zum derzeit vorherrschenden Mainstream aus. Die verschwurbelt naiven Texten sind so sympathisch-absurd, dass sie nicht als am Reißbrett entstandene Gehirnblähungen gedeutet werden können, was häufig bei den grade angesagten deutschsprachigen Musikern vorzufinden ist. Die Gruppe fällt - wenn sie Pech hat - aufgrund ihrer kuriosen Eigenarten und selbstverständlich erscheinenden Umgangsformen durch alle Raster, weil sie eben nicht einer Schublade zuzuordnen ist. Das kann davon kommen, wenn man originell und nicht stromlinienförmig agiert, ist aber ein Qualitätsmerkmal.
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    Freeze Where U R Freeze Where U R (CD)
    06.03.2021
    Klang:
    5 von 5
    Musik:
    5 von 5

    Harmonischer Pop mit Substanz und Widerhaken ist das gelungene Konzept von "Freeze Where U R".

    "Freeze Where U R" zeigt auf, was möglich ist, wenn Seelenverwandte zur richtigen Zeit zusammen finden, um gemeinsam ihre losen Ideen zu fertigen Songs zu formen. Dann können aus Rohdiamanten Edelsteine entstehen. Dieses Phänomen gelang Brisa Roché & Fred Fortuny auf beeindruckende Weise. Getrennt voneinander bewiesen sie schon ihr Talent, als Duo schwingen sie sich zu ungeahnten Möglichkeiten auf. Die beiden Musiker trafen sich bereits vor zehn Jahren, verloren sich danach zwar nie gänzlich aus den Augen, fanden aber erst jetzt Zeit, um ihre Entwürfe zu einem Werk zu fusionieren: Die Stücke sorgen für wohltuende Assoziationen, bringen Vergangenes zum erstrahlen, lassen die Gegenwart glänzen und auf eine schillernde Zukunft hoffen. Die Künstler demonstrieren mit ihren Kompositionen eine schöpferische Reife auf Basis langjähriger Erfahrungen und statten ihre Lieder originell und geschmackvoll aus.

    Aber wer sind die Protagonisten hinter diesem stimmigen Pop-Album? Brisa Roché wurde 1976 in einem Haus am Strand von Nord-Kalifornien geboren. Ihre Hippie-Eltern zogen in die Berge, als sie 13 war und dort musste sie ohne Strom und fließendes Wasser klar kommen. Mit 16 ging sie von zuhause fort und erlebte in Seattle die Grunge-Welle. Danach zog es sie nach Paris, wo sie den Jazz und das Chanson aufsaugte und 2005 ihr erstes Album auf dem renommierten Blue Note-Label einspielte. Im Anschluss pendelte sie immer wieder zwischen Kalifornien und Frankreich, wodurch die Singer-Songwriter der 1970er Jahre, die sie durch ihre Eltern kennen gelernt hatte, präsent blieben.

    Diese Prägungen bestimmen grundsätzlich das Verständnis vom Songaufbau, von Harmonie und von sensibler Dynamik. Brisas Potential war schon früh - selbst auf dem unausgegorenen "Invisible 1" von 2016 - zu erkennen, aber längst noch nicht formschön ausgeprägt. Seitdem kam es jedenfalls zu einer enormen künstlerischen Entwicklung, weshalb "Freezy Where U R" jetzt in seiner anspruchsvollen und abwechslungsreichen Schönheit erstrahlen kann. Aber Brisa hat auch noch ein anderes Anliegen umsetzen können: „Ich habe über Momente und Themen aus unterschiedlichen Abschnitten in der Lebensgeschichte einer Frau geschrieben – betrachtet durch die emotionale Linse meines aktuellen Lebens, meines Daseins im Hier und Jetzt. Emanzipation, nostalgische Gefühle für längst vergangene Liebschaften, Wut auf Männer, Trennung und Unabhängigkeit in der Arbeit, immer neue Kapitel, die man anfängt, das Auflehnen gegen die Sklaverei, die der technologische und virtuelle Fortschritt mit sich bringen.…“ Diese Inhalte werden in den neuen Songs behandelt und sorgen auch im poetischen Bereich für ein zuverlässig hohes Niveau.

    Genau so wichtig für dieses Projekt ist Fred Fortuny als gleichberechtigter Partner, der zwar aus dem Hintergrund zu agieren scheint - wie auch das Cover-Foto der Platte suggeriert - aber in seiner Rolle des spirituellen Direktors mindestens so entscheidende und richtungsweisende Impulse lieferte, wie es George Martin für die Beatles tat. Außerdem hat er als Arrangeur, Komponist, Musiker, stilistisches Gegengewicht und Seelsorger einen erheblichen Anteil am Gelingen von "Freeze Where U R". Bisher ist der zurückhaltende Künstler allerdings relativ selten in Erscheinung getreten. Von Ende der 1980er Jahre bis hinein in die 1990er Jahre war er als Bassist, Gitarrist und Keyboarder Mitglied der französischen Power-Pop-Band Love Bizarre, die offensichtlich von den Beatles, den Kinks und Big Star beeinflusst war. Zuletzt arbeitete er oft mit dem französischen Autor, Komponisten und Performer Da Silva zusammen.

    Fred hörte in einem Urlaub auf Mallorca im Jahr 2000 zum ersten Mal "Tapestry" (1971) von Carole King, was für ihn eine Offenbarung war. Dieser Sound ist jetzt oft ein leitendes Licht, das "Freeze Where U R" bevorzugt erhellt. Seit diesem Urlaub träumt Fortuny davon ein Album aufzunehmen, das vom Laurel Canyon-Sound solcher Künstler wie The Byrds oder The Mamas & The Papas und von erfahrenen Songwritern wie Jimmy Webb beeinflusst ist. Diesem Ziel ist er nun sehr nahe gekommen.

    Das Album beginnt kurioserweise mit dem "Last Song". Warum sollte man ein Pferd nicht auch mal von hinten aufzäumen? Inhaltlich geht es um die Verarbeitung einer zerbrochenen Beziehung. Es werden sozusagen letzte Worte gesprochen und Bewältigungsstrategien ausprobiert, bevor das Thema zu den Akten gelegt werden kann. Das Lied wurde reich und detailverliebt instrumentiert, treibt schwelgerische Gefühle auf die Spitze, verwendet zwischendurch ruhige Sequenzen zur Spannungssteigerung und seltsame, hohe Chorstimmen zur Betonung der Extravaganz. Der Gesang drückt dazu feierliche Eleganz und ein individuelles Jubeln aus, wie es Joni Mitchell gerne als Stilmittel benutzt. Ganz große Klasse! Auch "You Were Mine" ist fantasievoller, anspruchsvoller Pop für Erwachsene, der als Bezugspunkt ausdrucksstarken Gospel-Folk-Jazz-Gesang präsentiert, wie er von Laura Nyro ("Wedding Bell Blues") kultiviert wurde.

    "Tempted Tune" und "Blue Light" wurden maßgeblich von den amerikanischen Musicals der 1940er und 1950er Jahre - wie "Showboat" - beeinflusst, die bei der musikalischen Sozialisation von Fred Fortuny eine große Rolle spielten. Diese kurzen, romantischen Retro-Vaudeville-Nummern stützen sich voll und ganz auf die sympathische Wirkung einer ausdrucksvollen Stimme in Verbindung mit einem einfühlsamen Piano. Sie verbreiten eine Behaglichkeit aus einer guten alten Zeit, die es so wahrscheinlich nie gegeben hat. Und "Blue Light" klingt zusätzlich noch wie eine demütige Verneigung vor Billie Holiday.

    "Don't Want A Man" scheint dafür gemacht worden zu sein, groß inszeniert zu werden. Ein üppiges Bühnenbild, allerlei Tänzer und diverse Musiker erscheinen vor dem geistigen Auge, wenn dieser ausladende Show-Pop der besseren Sorte ertönt und mit hymnisch-würdevollem und lustvoll-verzücktem Lead-Gesang bestückt wird. Der Track "Freeze Where U R" bekommt Anregungen von der experimentellen Phase der New Wave- Szene aus den End1970er Jahren verliehen, als schräge Samples ausprobiert wurden und die suggestiv-monotone Elektronik des Kraut-Rock ein Revival erhielt. Bei Brisa Roché stehen Can und ganz besonders deren 20minütiges "Yoo Doo Right" vom "Monster Movie"-Album aus 1969 nämlich hoch im Kurs. Für die Komposition "Freeze Where U R" werden dröhnende, perkussiv verfremdete Maschinenklänge zu Gehör gebracht. Sie klingen so übermächtig, als hätten Roboter die Weltherrschaft übernommen. Genau die gleichen Effekte benutzte übrigens das Art-Rock-Genie Peter Hammill für sein "A Motor-Bike In Afrika", das auf "The Future Now" aus 1978 zu finden ist.

    Über diesem Gerumpel hinweg singt Brisa ungerührt, ausgeglichen und ruhig. Sie sorgt so für ein Sound-Bild, das zwei völlig unterschiedliche Seiten enthält, als würde Yin mit Yang um Vorherrschaft kämpfen. "Woman With A Star" und "Window Gun" sind stilvolle Übungen in Harmonielehre. Mit Hilfe von Soft-Rock- und Folk-Pop-Elementen entstanden diese Lieder, die so leicht daher kommen, als könnten sie in Milch schwimmen. Wobei sie durch ihre prägnanten Melodien ohne Weiteres einen Ohrwurm auslösen können.

    So verdreht, wie das Wortspiel "I Yove Lou" ist, ist auch die Musik zu diesem Track. Hier werden Tonfragmente zufällig zusammengefügt, die aus der Betätigung des Sendersuchlaufs eines Radios zugesteuert zu sein scheinen. Das ist eine Übung in alternativer Aufmerksamkeitssteigerung, die dem Ablauf eine unruhige, aber anregende Brisanz verleiht. Die optimistisch gestimmte Ballade "I Do Not Need Repair" zapft sowohl Late-Night-Jazz wie auch barocke Klassik und coolen Rhythm & Blues an. Deshalb klingt das Stück auch so eigenständig, intelligent und ungewöhnlich.

    Das kunstvoll verschnörkelte "The Pattern" sendet Morse-Signale ins All und lässt exotisch-surreale Klang-Landschaften entstehen. Dennoch wirkt das Stück zutraulich und nahbar. Art-Pop für Hirn und Seele. Das hat was von der sensiblen Pop-Avantgarde von Julia Holter. Das feinfühlige "Quite Clean" verströmt hingegen Reinheit, Offenheit und ausgeglichene Gelassenheit, so dass der fragil-spartanisch instrumentierte Song sowohl zerbrechlich-verletzliche wie auch ernsthaft-beharrliche Momente besitzt. Schönheit entsteht eben auch aus Bescheidenheit heraus.

    Deuten die bislang verwendeten Beschreibungen und Formulierungen etwa auf Lobhudelei, Übertreibung und Fehleinschätzung hin, wo doch die anderen Werke der Künstler nicht diese vollständige Überzeugungskraft besaßen? Wohl kaum, denn die individuelle Art der Präsentation und die kreative Umsetzung der Ideen von Brisa Roché & Fred Fortuny lassen keinen Zweifel an ihrer professionellen, überlegten und überlegener Vorgehensweise zu.

    Die Mischung macht die überzeugende Wirkung aus. "Freeze Where U R" ist deshalb so unterhaltsam und interessant, weil das Album als Gesamtkunstwerk mit facettenreicher Mosaik-Technik zu betrachten ist. Eingängige, einnehmende Pop-Songs stehen neben provokativ ausgerichteten Stücken. Der Pop ist dabei nicht zu süßlich und die Wagnisse sind nicht zu kopflastig ausgefallen. Ausgewogenheit ist das Gebot der Stunde, Anregung der Sinne trotzdem eine Pflicht. Brisa Roché & Fred Fortuny haben sich als Traumpaar des anspruchsvollen Pop profiliert, wobei der Anspruch darin besteht, bewährte Konstellationen und innovative Kreationen so zu fusionieren, dass beim Hörer nie der Eindruck entsteht, aufgewärmte Retro-Kost oder sinnentleerte Fingerübungen serviert zu bekommen. Das ist vollauf gelungen. Vielleicht ist "Freeze Where U R" schon jetzt eines der Pop-Alben des Jahres.
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    American Standards Ian Fisher
    American Standards (CD)
    06.03.2021
    Klang:
    5 von 5
    Musik:
    5 von 5

    Ian Fisher setzt nicht nur Standards, sondern auch die Messlatte hoch.

    Jetzt ist es schon wieder fünf Jahre her, seit der vielseitige Singer-Songwriter Ian Fisher einen "Koffer" in Berlin hatte und dies auch auf deutsch besungen hat. Seitdem ist er aber nicht untätig gewesen, sondern hat "Nero" (2016), die "Italian EP" (2018), "Idle Hands" (2018) sowie "Cherry Orchard" (2019) veröffentlicht. "Idle Hands" wurde sogar vom ROLLING STONE als "halb Americana und halb Abbey Road-würdiger Pop" bezeichnet.

    Der Künstler aus dem US-Bundesstaat Missouri, der aktuell in Wien lebt, ist ein Vollblutmusiker und Workaholic: Er soll schon über anderthalbtausend Lieder geschrieben haben und hat Hunderte von Konzerte in Europa, Nordamerika, Afrika und Europa gespielt, sowie an einer Handvoll von Theaterstücken in Wien und München teilgenommen. Bei Ian Fisher ist aber nicht nur die Quantität seiner Arbeit beeindruckend, sondern immer wieder auch die Qualität seiner abwechslungsreichen Kompositionen.

    Für "American Standards" wählte Ian Fisher zusammen mit dem Lead-Gitarristen und Produzenten René Mühlberger und den Musikern und Co-Arrangeuren Ryan Thomas Carpenter (Keyboards), Andreas Laudwein (Bass) und Camillo Jenny (Schlagzeug) aus 300 Demo-Versionen zehn Songs aus. Diese wurden zusammen mit fünf atmosphärischen Bonus-Tracks, die als kurze Übergänge zwischen den Stücken eingestreut werden, in einem malerisch gelegenen österreichischen Studio eingespielt.

    "American Standards" enthält also keine allseits bekannten Klassiker, sondern strebt den ehrgeizigen, selbstbewussten Anspruch an, die eigenen Kompositionen als kommende Evergreens zu präsentieren. Und tatsächlich hinterlässt das Werk einen im besten Sinne abgehangenen, durchdachten, abgerundeten Eindruck, bei dem die Stücke eine spezielle altersweise Patina aufweisen. Das kommt in besonderem Maße bei den ausdrucksstark interpretierten Liedern "Three Chords & The Truth" und "Winterwind" zum Tragen, die sich wie Country Folk-Urgesteine aus den 1960er und 1970er Jahren anhören. Als Vergleich fallen Künstler wie Jesse Winchester, Steve Young, Michael Dinner oder Eric Anderson ein. Diese in ihrer Schönheit unangreifbar erscheinenden Tracks nehmen eine unumstößliche Position ein, die keinen Widerspruch duldet und diesen auch unnötig erscheinen lässt.

    Aber auch die anderen Lieder haben es in sich: "Maybe A Little More" fängt eine melancholische Stimmung ein, die zwischen Bangen und Hoffen angesiedelt ist. Die Stimme taucht in eine Zwischenwelt ein, die sowohl Schmerz wie auch Verlangen ausdrückt. Gesanglich lässt das an den wehmütigen Ausdruck von Morrissey (ex-The Smiths) im verregneten London denken. "AAA Station" wird vom schwirrenden, kurzen "Endless Drive Thru" eingeleitet und atmet bald darauf weitläufige Country-Luft, kann aber auch seine elektrisierende Folk-Rock- und aufmunternde Power-Pop-Wurzeln nicht verleugnen. Der Song beinhaltet einen verwegenen, kreativen Stil-Mix, bei dem sich Ian Fisher als Bruder im Geiste von Daniel Romano präsentiert.

    Fishers Stimme vermittelt zwischendurch eine coole, leicht nasale Note, die eventuell auch als arroganter Ausdruck gedeutet werden kann und im Übrigen auch beim kraftvollen, selbstbewussten Song "American Standards" für Aufsehen sorgt. Das Lied fällt außerdem noch durch einen unwiderstehlichen Refrain, ein aufwühlend-treibendes Piano und leidenschaftlich lodernden Gesang auf. Das ist konstruktives Songwriting der Güteklasse A! Das instrumentale Zwischenspiel "Early Morning Haze" wird von einer singenden Pedal-Steel-Gitarre und wolkigen Keyboards in den Weltraum befördert. Bei dem sich anschließenden, demütigen, zu Tränen rührenden Country-Folk "Be Thankful" spielt die Pedal-Steel-Gitarre wieder eine Hauptrolle, weil es ihr gelingt, die Seele sanft zu streicheln. Wer hier nicht dahin schmilzt, hat ein Herz aus Stein. Ein Schnipsel der Folk-Song-Demo-Aufnahme "In Front Of Another" bildet dann den Übergang zum elegant groovenden, elektronisch verstärkten, hymnischen, Gitarren-verzierten Pop von "One Foot".

    "Melody On Tape" ist eine elektronisch-akustische Spielerei als Vorgeschmack zu "Melody In Nashville". Diese romantische, beatlesque Ballade lässt die Gitarre sanft weinen. Ian singt dazu zuckersüß, als wäre er ein Schüler von Roy Orbison gewesen. Mit "It Ain’t Me" präsentiert sich der Allrounder dann als am Rock & Roll geschulter Boogie-Man und füllt den hämmernden Rhythm & Blues mit einer großen Portion Soul-Pop auf. Bei "Only Church With A God I Pray To" spricht Mr. Fisher mit sphärischer Untermalung über seine Auffassung von Spiritualität, bevor mit dem sechseinhalb Minuten langen "Ghosts Of The Ryman" der ausführlichste und eindringlichste Song der Platte beginnt. Das Ryman Auditorium ist sowas wie der Tempel der Country-Music in Nashville. Hier fand von 1943 bis 1974 die legendäre Radio-Show Grand Ole Opry statt und Ian verbeugt sich mit dem Song vor diesem Auftrittsort in seinem Geburtsort. Und das nicht etwa mit traditionellen Mitteln, sondern mit einem Konglomerat aus Gospel-Country, Art-Pop, "Wish You Were Here"-Pink Floyd und Space-Jazz. Aber dennoch respektvoll und angemessen, sowie intellektuell durchdacht.

    Ian Fisher fühlt sich vom "White Album" der Beatles und von Neil Young`s "Harvest" inspiriert, weil diese Alben sowohl spartanisch instrumentierte wie auch üppig arrangierte Songs enthalten und trotzdem einen kompakten Eindruck hinterlassen. Eigentlich ist "Koffer" im Vergleich zu "American Standards" ein Werk, bei dem viel versucht und riskiert wurde. Damit nahm der Musiker bewusst in Kauf, auch scheitern zu können. Konzeptionell handelt es sich also eher um sein "White Album". Das aktuelle Werk erscheint trotz unterschiedlicher Ansätze insgesamt ausgeglichener und geordneter, wurde demnach eher wie "Harvest" gestaltet. Ian hat im Laufe seiner Karriere schon viel ausprobiert. So veröffentlichte er 2014 zusammen mit dem Berliner Musiker und Produzenten Fabian Kalker unter dem Namen Junior zwei Platten mit gediegenem Electro-Folk-Pop ("Junior Vs. Shakespeare EP" und "Self Fulfilling Prophets"). Seitdem wurde er immer sicherer und souveräner in seiner Kunst.

    "American Standards" ist übrigens auch der Name einer amerikanischen Toiletten-Marke. Der Mann hat einen feinen Sinn für doppeldeutigen Humor! Für die neue Song-Sammlung kanalisiert Ian Fisher seine Ideen in Sounds, nicht in Stil-Schubladen und erlangt dadurch einen höheren Grad an künstlerischer Freiheit. Das macht seine Kreationen so wertvoll und eigen. Spätestens jetzt sollte er eine breitere Öffentlichkeit ansprechen, denn er ist schon längst in der ersten Liga der wegweisenden Musiker angekommen.
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    Wyvern Lingo Wyvern Lingo
    Wyvern Lingo (CD)
    28.02.2021
    Klang:
    5 von 5
    Musik:
    5 von 5

    Sinnkrise als Kreativitäts-Schub: Die drei Frauen von Wyvern Lingo machen vor, wie das geht.

    Wenn man beinahe 30 Jahre alt ist, dann ist wahrscheinlich die richtige Zeit gekommen, um inne zu halten und sowohl zurück wie auch nach vorne zu schauen. Was habe ich bisher aus meinem Leben gemacht und welche Weichen habe ich gestellt? Was sollte ich korrigieren und wie soll mein Leben in 10 Jahren aussehen? Die ungestüme Jugend ist vielleicht in diesem Alter grade vorbei, aber die noch vorhandene Energie lässt jeglichen Stillstand unmöglich erscheinen. In dieser Phase befinden sich grade die drei irischen Jugend-Freundinnen Karen Cowley, Caoimhe Barry und Saoirse Diane, die als Wyvern Lingo ihr zweites Album "Awake You Lie" fertig gestellt haben.

    Von gegenseitigem Trost ist die Rede, der nötig tat, um die geschilderte Sinnkrise nicht nur einordnen sondern auch bewältigen zu können und die Erkenntnisse in die Lebensplanung einfließen zu lassen. Musikalisch setzt das Trio auf Vielseitigkeit. Als Einflüsse geben sie Classic-Rock-Acts wie Thin Lizzy oder Led Zeppelin sowie Singer-Songwriter wie Joni Mitchell oder Simon & Garfunkel an, die sie über die Platten-Sammlungen ihrer Eltern kennen gelernt haben. Außerdem fließen eigene R&B-Vorlieben für Destiny's Child, Solange, Beyoncé oder Rhianna als Sound-Vorstellungen in ihre Songs mit ein. Unvereinbare Gegensätze? Nicht für Wyvern Lingo!

    Zwischen den drei Frauen wird Harmonie groß geschrieben. Sie gehen offen und ehrlich miteinander um und kennen sich so gut, dass sie wie eine geschlossene Einheit agieren können. Ihr Handeln ist so aufeinander abgestimmt, dass individuelle Gesichtspunkte bestimmend bleiben, die Musikerinnen dabei jedoch ihre Kenntnisse konzentriert zum Wohle der Kompositionen einsetzen. Der Auftakt "Only Love Only Light" drückt dies alles aus: Würde, verführerischer Überschwang, rhythmischer Trotz sowie stimmliche Eigenarten und gleichgesinnter Einklang.

    Die Ballade "Rapture" verbindet Folk und Soul so miteinander, dass sowohl sinnliche wie auch romantische Gefühle betont werden. Beim selbstbewussten, soft-rockigen "Don't Say It" spielen sich die Damen nach und nach frei. Sie entwickeln dabei eine aktiv-bewegliche Strömung, die das Lied organisch vorwärts trägt und zum Schluss in Überschwang münden lässt.

    Die Lieder "Sydney" und "Aurora" profitieren von den Classic-Rock-Kenntnissen der irischen Frauen, weil sie dadurch genau wissen, wie sich ein spannendes Gitarren-Solo anhören muss: Zwingend, derbe, melodisch grundiert und möglichst nicht zu lang sollte es sein. Dann kann das Stück auch noch gerne in eine charmante Soul-Umgebung eingebunden werden. Also: Alles richtig gemacht! Das perlende E-Piano verheißt bei "There's A Place" empfindsame, genüssliche Leichtigkeit. Der Gesang suggeriert erwartungsvolle Verlockungen und der Rhythmus vermittelt heftiges Herzklopfen. "Things Fall Apart" wuchert danach mit Dynamiksprüngen, Intimität, Kraft, Durchsetzungsvermögen und Individualität, dass es eine Freude ist. Mit Frische, ungewöhnlichen Einfällen und warmherzigen Gesängen erobert der Track das Gehör im Sturm.

    Der Folk-, Pop- und Rock-Einfluss von "Ask Away" wird mit dezenten Funk-Rhythmen angefüttert, die den leidenschaftlich gesungenen Track treu begleiten und ihn vor ausufernden Gefühls-Auswüchsen beschützen. Was als soulige Piano-Ballade beginnt, führt bei "Full Height" zu einem übermütigem Pop-Chanson mit sehnsüchtigem Gesang und aufgewühltem Temperament bei flehender Emotionalität. Eine drängende Gefühlslage wird hier komprimiert dargestellt, was sehr intensiv rüber kommt.

    Auf einem jazzig swingenden Untergrund gleitet "In Colour / On The Mend" geschmeidig dahin und beschwört die beseelte Spiritualität der Gospel-Musik, die Kraft spendenden Geister des Folk-Rock und die meditative Ruhe von Space-Sounds herauf. Heraus kommt ein origineller, weltoffener Track mit ungewöhnlichen Wendungen, die erstaunlicherweise Sinn ergeben und gut zusammen passen.

    War der Erstling "Wyvern Lingo" (was soviel wie "Spezialsprache der zweifüßigen Drachen mit Flügeln" heißt) aus 2018 schon ein überzeugendes Album, so ist "Awake You Lie" hinsichtlich Kompaktheit und Ideenreichtum ein weiterer Schritt nach vorne in Richtung unsterblicher Pop-Musik. Bunte Sound- und Stil-Verwirbelungen sorgen weiterhin für unterhaltsame Attraktivität. Das Trio verfügt über eine ausgeprägte Musikalität mit einem untrüglichen Gespür für stilistisch breit angesiedelte Kompositionen, die Anspruch und Hingabe sowie Tradition und Moderne unvoreingenommen zusammen bringen.

    Die Musikerinnen haben noch eine Botschaft zu ihrem zweiten Album parat: "Ein wiederkehrendes Bild während des Schreibprozesses dieses Albums war das Licht, der Mangel daran und der Wunsch, die Dinge klarer zu sehen, für uns selbst und andere. Wir haben das Album „Awake You Lie" genannt, weil es ein Bild der Nacht heraufbeschwört, wenn jemand schlafen sollte, es aber nicht kann, weil er unruhig ist oder sich Sorgen macht. Im Licht des Tages sind die Dinge immer klarer." "Awake You Lie" macht Mut - nicht nur in Pandemie-Zeiten.
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    Glowing In The Dark Django Django
    Glowing In The Dark (CD)
    12.02.2021
    Klang:
    5 von 5
    Musik:
    5 von 5

    Bei "Glowing In The Dark" wird POP ganz groß geschrieben.

    Wie nähert man sich dem Sound des 2008 in London gegründeten Quartetts Django Django an, wenn isoliert betrachtet die aktuelle, vierte Platte "Glowing In The Dark" im Fokus stehen soll?

    Vielleicht erst einmal, indem verdeutlicht wird, dass diese Formation stilistisch vor nichts zurückschreckt. Betrachtet man deren Zusammenstellung aus der "Late Night Tales"-Serie, dann wurde dort das Akustik-Gitarren-As Leo Kottke neben dem Minimal-Art-Künstler Philip Glass und den Trip-Hoppern von Massive Attack angeordnet. Aber auch James Last mit seiner Version des "Inner City Blues" von Marvin Gaye und eine eigene Cover-Version des "Porpoise Song" der Teeny-Pop-Band The Monkees aus dem Jahr 1968 wurde ausgewählt. Die Band drückt das so aus: "Django Django`s "Late Late Tales" nimmt Sie mit auf eine psychedelische Reise aus Blues, Jazz, Leftfield-Rock, Hip Hop und Electronica". Was für eine Bandbreite, die unter anderem auch noch Blues, harten Indie-Rock und Soul beinhaltet.

    Entsprechend der mannigfaltigen Erfahrungen und Interessen lassen Django Django für "Glowing In The Dark" ein Feuerwerk an Assoziationen aufleuchten und jede Menge ungewöhnliche Ideen von der Kette. Der Opener "Spirals" symbolisiert mit seinen sich abenteuerlich beschleunigenden, elektronisch erzeugten Akkorden die gedrehte DNA-Struktur. Somit den Strudel des Lebens und die Essenz des Seins. Der Song handelt davon, dass uns als Menschen mehr miteinander verbindet, als uns trennt. Der Song wirbt also um Toleranz. Der coole, an New Order orientierte Bass bringt den Track zusammen mit dem galoppierenden Schlagzeug auf die Tanzfläche. Der konzentrierte Gruppengesang sowie das energisch-optimistische Surf-Rock-Gitarrensolo sorgen daneben für stabilisierende, sympathische Schwingungen, während die Keyboards die vorhandenen Lücken mit kitschig-wolkigen Orchestral Manoeuvres In The Dark-Klang-Nebeln ausfüllen. Das hat großes Hit-Potential!

    An diesen Adrenalin-Kick dockt das muntere "Right The Wrongs" mit leicht schrägem New Wave-Sound direkt an. Hat da jemand Devo gerufen? Gar kein schlechter Vergleich! Wie bei einem Staffellauf wird der Stab mit den Inhaltsstoffen aus dem Vorgängerstück an "Got Me Worried" weitergegeben. Im Klartext: Devo treffen auf die Monkees, deren gut gelaunte Stimmung es bis nach Brasilien geschafft hat, wo sie mit Samba-Zutaten angereichert wird. Der 60s-Pop fühlt sich hörbar wohl am Zuckerhut!

    Für die angenehm leichte und frische, aufs Lustzentrum abzielende Mid-Tempo-Nummer "Waking Up" trägt Charlotte Gainsbourg erotisch angereicherten Gesang bei. Sex sells! "Free From Gravity" bedient sich bei den Eingangs-Sequenzen des Southern Soul-Songs "I Can't Stand The Rain" von Ann Peebles und lässt sich danach auf einen Ablauf ein, bei dem der eingängige Refrain zu Tode genudelt wird. Schade drum, denn da wäre bei weniger Wiederholungen mehr Spannung drin gewesen. Eine vertane Chance!

    "Headrush" geht da direktere Wege, lässt druckvollen Schwung aufkommen und bietet melodisch differenzierte Formate an, die aus dem Gewöhnlichen das Besondere machen. Der zielgerichtete Weg ist manchmal auch der attraktivere! Das Instrumental-Stück "The Ark" wildert in der Erfahrungslandschaft, die Brian Eno und David Bowie 1977 für "Low" ersonnen haben: Elektronische Spielereien, die auf Kraut-Rock-Erfahrungen beruhen, führen zu einem kruden Science-Fiction-Soundtrack. Zurück in die Zukunft!

    Der Boogie-Blues "Night Of The Buffalo" trifft auf nostalgische Harmonien, wie sie von The Zombies oder The Association in den 1960er Jahren ins Leben gerufen wurden. Ein organisch eingebundenes, orientalisch anmutendes Zwischenspiel und ein kammermusikalisches Streicher-Outro sorgen neben dem weit gefassten Umfang des eingesetzten musikalischen Geschichtsbewusstseins für weiteres Erstaunen. Die ehrwürdigen Geister der Vergangenheit werden aus der Flasche gelassen! Und schon wieder ein Richtungswechsel: Stilecht wird "The World Will Turn" als romantischer, mehrstimmiger Country-Folk aufgeführt. Und zwar so überzeugend, als wäre das Lied ein Outtake von den Milk Carton Kids. Das ist Qualität jenseits von Zeit und Raum!

    "Kick The Devil Out" lässt dann den Funk in den Pop einziehen, wobei beide Stile etwa zu gleichen Anteilen vorhanden sind: Der Funk bestimmt den Rhythmus und der Pop die Melodieführung. Eine demokratische Gestaltung, wenn man so will! Der Track "Glowing In The Dark" ist von Electronic Dance Music geprägt. Harte Beats und repetierende Refrains erzeugen ansteckendes Futter für den Tanzboden. Das Funkeln im Dunkeln ist das Laser-Licht!

    "Hold Fast" benutzt hypnotische, sich wiederholende Takte, wie sie ähnlich bei der Gamelan-Musik aus Bali üblich sind, um trance-artige Zustände zu simulieren. Dieses Konstrukt wird allmählich in eine weiche Umgebung eingebunden, so dass die gleichförmige Taktfrequenz besänftigt wird und ein beschwingtes, lieblich-optimistisch wirkendes Stück entsteht. Fernöstliche Traditionen verschmelzen mit westlichem Dynamik-Verständnis! Zwischen Supertramp ("The Logical Song"), Neu! ("Für immer") und Peter Frampton ("Show Me The Way") ist "Asking For More" angesiedelt. Das ist Unterhaltungs-Musik, die sowohl den Mainstream-Konsumenten wie auch den verwöhnten Art-Pop-Gourmet anspricht. Gelobt sei, was Spaß macht!

    Bei "Glowing In The Dark" wird POP ganz groß geschrieben. Sowohl Pop als Unterhaltungsansatz wie auch als Kulturgut. Es geht nicht darum, die Hörer mit modischen Attributen abzuspeisen oder das zu reproduzieren, was grade angesagt ist und die Charts flutet. Musik wird als eine umfassende Errungenschaft betrachtet, deren wertvolle Bestandteile gehegt, gepflegt und erhalten werden müssen. Vincent Neff (Gesang und Gitarre), David Maclean (Schlagzeug und Produktion), Jimmy Dixon (Bass) und Tommy Grace (Keyboards) bewegen sich souverän zwischen Kunst und Kitsch und erheben dabei ihre Kompositionen zu einer universellen Klangsprache mit Niveau und individuellem Ausdruck, die ein breites Spektrum an Ausdrucksmöglichkeiten abdeckt. Völlig ohne Scheuklappen gelingen so Kombinationen, die aus historischen und aktuellen Tonmustern zeitlos relevante Songs entstehen lassen.
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    12.02.2021
    Klang:
    5 von 5
    Musik:
    5 von 5

    "SAFT" ist reifer, nachdenklicher, erkämpfter. Meinen die Botticelli Baby-Musiker.

    Sandro Botticelli war ein italienischer Maler, der der Renaissance zuzurechnen ist und vom 1. März 1445 bis zum 17. Mai 1510 lebte. Zu seinen bekanntesten Werken gehört die "Geburt der Venus", welches um 1485 herum entstanden sein soll. Auf dem Gemälde ist jedoch nicht die Geburt der Göttin Venus, sondern deren Landung auf der Insel Zypern dargestellt. Vortäuschung falscher Tatsachen? Vielleicht, aber niemand wird deshalb von dem Bild enttäuscht sein, denn die Kraft und Fantasie, die es ausstrahlt, spricht für sich. So verhält es sich auch mit der Musik des Septetts Botticelli Baby aus Essen: Der Name der Gruppe, ihre Herkunft und die Zuordnung innerhalb der Stile ist nicht von Bedeutung, sondern nur die Wirkung, Energie und Eindringlichkeit ihrer Musik zählt.

    "SAFT" kann gesund und heilsam sein, was für die Formation Botticelli Baby als Metapher für den Albumtitel reicht. Ihre Konzerte bezeichnen die Künstler als Saftpartys, nämlich als "eine von Botticelli Baby durchgeführte Veranstaltung, die zur Vermittlung eigener Seinszustände und Ideen zum Weltgeschehen, durch musikalischen und vokalen Vortrag zum Mitmachen und Räsonieren animiert". Aber genug der Theorien und den absichtlich im Nebel gehaltenen Beschreibungen, Einschätzungen und Zuordnungen der Botticelli Baby-Musik. Halt, eins noch, das möchte die Gruppe noch zu ihrem dritten Album loswerden: ""SAFT" ist reifer, nachdenklicher, erkämpfter. Die Soli erzählen mehr Geschichten, die Texte sind poetischer. Die Party zum Leben fehlt jedoch keines falls. Vielschichtig ist dieses Album und facettenreich, wie immer..."

    Was gesagt werden muss, muss gesagt werden. Da drucksen die Botticelli Baby-Männer nicht unnötig rum. Von ausgedehnter Weiterentwicklung und von ausgelassener Party-Stimmung ist die Rede. Das macht neugierig. Die Einleitung ("Prelude") zu "SAFT" lässt den Hörer aber weiterhin darüber rätseln, wohin die Klang-Reise gehen soll. Sind Botticelli Baby etwa eine verkappte Zirkuskapelle oder stammen die Musiker eventuell vom Balkan?

    "The Inner Hulk" räumt dann mit diesen Annahmen vollständig auf. Der Bass wummert druckvoll, brachial, dominant und trocken, als würde das Herz bis zum Hals schlagen. Die Bläser-Fraktion sorgt mit klug hingetupften sowie raumfüllenden Show-Band-Einlagen für Stil-Verwirrung und glänzt zwischendurch mit inspirierten Solo-Einlagen, die dem Track einen Sinn stiftenden Anstrich verleihen. Der Gesang folgt dieser scheinbar ins Nichts führenden Mischung konstant auf gleichmütige Art und Weise. Die Gruppe liefert damit eine geschmackvolle Visitenkarte ab, die die Grenzen zwischen Lied und Lautmalerei neu bestimmen.

    "Joy Passed By" swingt und rockt im gediegenen Retro-Sound. Feurig umgarnen sich die Musiker und sorgen mit Teamgeist und Elan für Spaß. Das ist der Stoff, der seit ewigen Zeiten Tänzer anlockt und diese dazu animiert, aus sich heraus zu gehen. Das ist auch der Urschleim, aus dem Jazz, Rhythm & Blues und Rock & Roll gekrochen sind. "Kiss Me" hinterlässt den Eindruck einer kraftvoll-süffigen Brass-Band, die genauso gerne Funk- wie Jazz-Grooves verarbeitet. Und sogar Marschmusik steckt da als zusätzlicher, kurzzeitiger Animateur drin. Auch hitzig-beklemmender Thriller-Jazz klingt an. Brodelnd und spritzig zeigt der musikalische Kompass hier nach New Orleans, wo der Mardi Gras auf diese Kapelle wartet.

    Beschaulich-ausgleichend legt sich für "Vagabond In A Dandy Suit" ein Bläser-Teppich über den unruhig-nervösen Rhythmus. Der Song wird mutig vorwärts gepeitscht und von abenteuerlichen Solo- und Ensemble-Exkursionen durchzogen. Die kleine Big Band sorgt mit unvorhersehbaren Wendungen für große Überraschungen. Sowohl zupackend, elegant und verspielt, als auch sanft perlend erscheint "Follow Me". Die Musiker lassen dabei in knapp viereinhalb Minuten hymnisch-intimen Jazz, coolen Smooth-Funk und psychedelischen Rock ineinander laufen. Suggestiv-hypnotisch fordert die Stimme: "Follow me, I`m fallin`" und die Musik gerät dazu in einen verheißungsvoll-rätselhaften Strudel.

    Trauer und Wut liegen manchmal dicht beieinander. So auch bei "Yes". Hier tropfen die Noten zunächst schwer belastet zu Boden. Sie ordnen sich dann zu einem zähen Schwall und zerbersten schließlich unter lautem Getöse mit Unterstützung von heftigem, bösem Gesang. Danach tritt Zufriedenheit ein. Punk und Jump-Blues stellen die Inhaltsstoffe zur Verfügung, aus denen das flotte "Plant Pot" und das rasante "Crash Test Dummy" gebastelt wurden. Die Rhythmus-Fraktion treibt die Stücke an und die Bläser greifen den Schwung auf, um ihn zu konservieren. Kurze Verschnaufpausen sorgen bei dem hohen Tempo dafür, dass sich die euphorisierten Akteure sammeln und neu orientieren können.

    "1:30" ist zwei Minuten lang und reflektiert mit seinem schwindelerregenden Tempo und seiner aufbrausenden Dynamik das wilde, ausschweifende Nachtleben der 1920er Jahre. Ein Einsatz des Tracks in der Serie "Babylon Berlin" ist deshalb nicht ausgeschlossen. "New Year Chez Les Vikings" steigert sich von lyrisch-ruhigen Momenten über saft(!)ige Fanfaren bis hin zu ekstatisch-eruptive Free-Jazz-Ausbrüche und "Ballerspring" fördert zum Schluss weitere kreative Ideen von Marlon Bösherz (Gesang, Bass), Alexander Niermann (Trompete), Jörg Buttler (Gitarre), Lucius Nawothnig (Piano), Maximilian Wehner (Posaune), Jakob Jentgens (Saxophon) und Tom Hellenthal (Schlagzeug) zu Tage. Die Gemeinschaft bringt das dynamisch in alle Richtungen ausschlagende Stück mit Energie, Fantasie, Übersicht und jeder Menge Spontanität über die Ziellinie.

    Der Gesang und die Instrumente hinterlassen bei "SAFT" den Eindruck, als wäre die Musik nicht komponiert worden, sondern würde erst als logische Folge aus der Gedankenwelt des Sängers spontan entstehen. Es ergibt sich quasi eine fruchtbare Allianz als Call & Response Situation zwischen den Schwingungen der Stimmbänder und denen der Instrumente. Der Gesang von Marlon Bösherz hält den bunten Kosmos von Klängen und Emotionen dabei mit Übersicht zusammen. Er dirigiert, spaltet sich ab, verstärkt und besänftigt - alles um die elektrisierende Wirkung der Kompositionen zu erhalten. Ohne Stimm-Beitrag wäre die Gruppe "nur" ein exzellentes Crossover-Ensemble. So besitzt sie ein individuelles Alleinstellungsmerkmal, aufgrund dessen sie in keine Schublade passt. Die Musik überzeugt ohne Etikett durch traumwandlerisches Timing, solistische Sahnestücke sowie je nach Bedarf, entweder druckvollem oder sensiblem Zusammenspiel.
    For The First Time Black Country, New Road
    For The First Time (CD)
    07.02.2021
    Klang:
    5 von 5
    Musik:
    5 von 5

    Anstrengend und anregend, so klingt das erste Album von Black Country, New Road.

    Nach zwei Singles aus 2019 liegt ab dem 5. Februar 2021 das erste Album "For The First Time" mit 6 Tracks vor, das es auf eine Länge von etwa 40 Minuten bringt. Die einzelnen Stücke sind dabei zwischen fünf und zehn Minuten lang. Kein Radio-Format also, aber die Musik ist sowieso nicht für den oberflächlichen Konsum im Mainstream-Segment geeignet. Hier geht es zur kraftvoll-wild zur Sache, kunstvoll arrangierte Elemente kommen aber auch nicht zu kurz. Als grobe Orientierung lässt sich die Musik als Art-Punk einordnen.

    Mächtige Bässe und heftig-schneller Trommelwirbel leiten das Album mit einem "Instrumental" ein. Eine stoisch piepsende Orgel und melodisch wiederkehrende E-Gitarren-Akkorde sowie fidele Klezmer-Sounds folgen. Dieses bunte Treiben, das Weltmusik, Minimal-Art und Jazz resolut und seltsam miteinander vermengt, schafft schon eine gewisse Vorstellung davon, wie sich die Gruppe auf der Bühne präsentiert, um ihr Publikum zu fordern und ihm ordentlich einzuheizen.

    Kreiselnde, unrund erscheinende E-Gitarren werden bei "Athens, France" von einem harten Beat gestützt. Ein Wechselbad der Gefühle beginnt: Allmählich taumelt das Stück in schwebend-fragile Traumgefilde hinein. Die zunächst zornig-leidende Stimme geht in diesem Zusammenhang in einen erklärend-desillusionierten Sprech-Gesang über, bevor sich aggressive und kompromissbereite Töne immer wieder abwechseln.

    Die E-Gitarren werfen Splitterbomben, wie einst Jimi Hendrix beim Woodstock-Festival. Aber nur kurz. "Science Fair" gerät danach in eine abwartende Phase, in der sich Sänger Isaac Wood immer mehr in Rage redet. Die Gitarren wüten erneut und die Konstruktion scheint auseinander zu fallen. Das Saxophon steuert dazu freiesten Free-Jazz bei, bevor sich die Stimmung leicht beruhigt, aber stetig am Kochen gehalten wird. Aber es kommt doch noch zum Punk-beschleunigten Sound-Orgasmus: Alles klirrt, kracht, schreit und dröhnt. So in etwa muss sich die Apokalypse anhören. Was für ein heiliger Krach.

    Als gäbe es nicht schon genug Chaos, verzerren die Gitarren auch für "Sunglasses" die Töne atonal. Aber das ist nur das Vorspiel für einen beinahe konventionell ablaufenden Art-Rock, der von seiner dynamischen Steigerung profitiert. Es kommt auch hier zum Showdown und Zusammenbruch des Systems. Aber die abgewrackte Song-Kreatur erholt sich wieder und macht sich angeschlagen und trotzig auf einen von Krisen geschüttelten Weg.

    Bei "Track X" siegt eindeutig die Ordnung gegenüber der Zersetzung. Die Komposition setzt auf sich stetig wiederholende Akzente zur Intensivierung des Höreindrucks. Zusätzlich werden harmonische Zwischentöne eingebaut, wodurch der Song neben seiner intellektuellen Erscheinung noch eine volkstümliche Note erhält.

    "Opus" bildet dann die Klammer über das bisher Gehörte und bezieht alle verwendeten Ideen ein: Klezmer-Folk, Free-Jazz, Art-Rock und Post-Punk begegnen sich hier nochmal ausgelassen und unkonventionell.

    Was May Kershaw (Keyboards), Charlie Wayne (Schlagzeug), Luke Mark (Gitarre), Isaac Wood (Gesang und Gitarre), Tyler Hyde (Bass), Lewis Evans (Saxophon) und Georgia Ellery (Violine) hier fabrizieren, ist wahrlich nichts für schlichte Gemüter. Man muss musikalisch schon in Abgründe geschaut und das gemocht haben, um an dieser schräg wirkenden Musik Vergnügen zu haben. Das Ensemble hat die Platte innerhalb von sechs Tagen unter Live-Bedingungen aufgenommen, was der Vermittlung von unmittelbarer Leidenschaft gut getan hat. Die Formation wirft mit Dreck, provoziert, lässt der Energie freien Lauf und kreiert originelle Fantasie-Gebilde, dass es eine Freude in Form eines reinigenden Gewitters ist. Die Musik elektrisiert, macht Spaß, schockiert, rüttelt auf und ist auf angenehme Weise durchgedreht. Was will man mehr?
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    A Common Turn Anna B. Savage
    A Common Turn (CD)
    29.01.2021
    Klang:
    5 von 5
    Musik:
    5 von 5

    Die Lieder von Anna B Salvage sind spannend, ungewöhnlich und bewegend.

    Es gibt Künstler, die provozieren einfach nur, um Aufmerksamkeit zu bekommen. Und dann gibt es welche, da gehört die Provokation zum Konzept, nämlich um verkrustete Zustände aufzubrechen, Denkanstöße zu liefern oder Hörgewohnheiten in Frage zu stellen. Auch Anna B Savage aus London fiel schon vor "A Common Turn" mit scharfen, herausfordernden Thesen zum Thema Lust und Selbstbestätigung der Frau auf. Aber kann sie diesen klaren Worten auch überzeugende Taten in Form von bahnbrechender Musik folgen lassen? Oder war der Aufruhr bloß ein Marketing-Trick, um von den Medien wahrgenommen zu werden?

    Der Titel, der schon vorab für Wirbel gesorgt hatte, war "Chelsea Hotel #3". Das Chelsea Hotel im New Yorker Stadtteil Manhattan ist in den 1960er Jahren als Künstlerhotel bekannt geworden. Größen wie Salvador Dali, Nico, Bob Dylan oder Jimi Hendrix haben dort übernachtet. Leonard Cohen schrieb den Song "Chelsea Hotel #2" über eine dort stattgefundene amouröse Liaison mit Janis Joplin. Anna B Savage erzählt nun von einer eigenen schlüpfrigen Begegnung, bei der der Cohen-Song eine Rolle spielt und fertig ist der (Beinahe)-Skandal. Das unheimlich schlingernde, zerrissene "Chelsea Hotel #3" bleibt lange im bloßen Erzählmodus, bevor sich melodische Hard-Rock-Gefüge herausbilden. Im Lied geht es um sexuelle Befreiung und das ist alles andere als billige Selbstdarstellung.

    Kann ein Drogenrausch in Töne umgewandelt werden? Daran haben sich unter anderem schon Tim Buckley ("Lorca", 1970) und The Stooges ("Fun House", 1970) versucht. Das eineinhalbminütige "A Steady Warmth", das "A Common Turn" eröffnet, versucht mit halluzinogenen und fiebrigen Klängen ähnliche Wege zu gehen. Aber schon das folgende "Corncrakes" schlägt einen etwas konkreteren Kurs ein. Der sinnestrügende elektrische Folk-Rock nimmt Jazz-Einflüsse auf. Er spielt mit verdrehten Melodien, spannungsgeladenen Brüchen und einem Gesang, der ein sanftes Tremolo und durchdringende Erregung aufzuweisen hat, was zu beschwörender Intensität führt. Das Stück transportiert verwinkelten West-Coast Hippie-Rock, der das Gehirn auf komplexe Hör-Abenteuer schickt. Die E-Gitarren lauern in Angriffsstellung, begnügen sich aber mit lässiger Rhythmus-Begleitung. Der Bass füllt die Lücken, die der Background- und Lead-Gesang noch übrig lässt, so dass ein relativ dichter Sound-Teppich entsteht. Anna irritiert den Hörer noch zusätzlich, indem sie mit Tempo-Varianten spielt und dem Song so ein gewisses Eigenleben einhaucht.

    "Dead Pursuits" ist stimmlich von Drama durchzogen. Von verletzlich über traurig bis hin zu verzweifelt wird eine beklemmende Gefühlspalette abgegriffen. Aber die Musikerin jammert nicht, sie klagt sich vielmehr selber an, denn sie ist zutiefst betrübt über ihre belastenden Unsicherheiten. Musikalisch finden sich bei diesem wogenden, tragischen Chanson trotz allem immer wieder Anhaltspunkte für Optimismus. Für "BedStuy" werden bei aller angemessenen Zurückhaltung auch brachial treibende Elemente der Electronic-Dance-Music verwendet, ohne dass der Track dadurch tanzbar erscheint. Dennoch bewegt er sich vom Schatten ins Licht und überwindet dabei eine gewisse emotionale Zerrissenheit. Die wortreiche Ballade "Baby Grand" ist im Vergleich dazu beinahe sanft, wenn auch nicht weniger intensiv. Dieses Liebeslied beschreibt prägende Momente, die mit der ersten vergangenen, aber nicht verarbeiteten großen Liebe verbunden sind.

    Himmelhoch jauchzend und zu Tode betrübt sind zwei Gemütszustände, die die Psyche tüchtig durcheinander rütteln können. So verhält es sich auch mit "Two": Zeitlupenhafte Tristesse-Schauer stehen dicht neben Maschinengewehr-artigen Rhythmus-Gewittern und erschüttern die Wahrnehmung bis ins Mark. Die E-Gitarren-Akkorde scheinen am Anfang sogar dafür zu sorgen, dass die Luft zersplittert. Der Gesang ist voller Leid, reflektiert eine gequälte Seele und erinnert so an die schwarze Folk-Ikone Odetta. Mit Erscheinen der Rhythmus-Befeuerung erhält die Stimme Rückendeckung und zeigt wieder Kampfgeist. Der Song "A Common Tern" (nicht Turn) baut mächtigen Druck auf, so als würde ein Flugzeug starten. Der Track strotzt vor neu erlangtem Selbstvertrauen, denn er erzählt vom Entkommen aus einer als toxisch bezeichneten Beziehung. Und so wird aus einer gemeinsamen Wende (= A Common Turn) eine Fluss-Seeschwalbe (= A Common Tern) als Symbol für Freiheit. Musikalisch liegt das Lied zwischen intelligentem Folk- und strammem Art-Rock und überzeugt auf ganzer Linie durch seine Kraft und Raffinesse.

    So lieblich, wie es der Musikerin nur möglich ist, agiert sie im Sinne der zerbrechlichen Ballade "Hotel". Aber süßliche Überzeichnung ist nicht ihr Ding und so wird der Song zu einem ähnlich entblößenden Gesangsereignis wie die Art-Pop-Arien von Anohny. "One is the loneliest Number" sang Harry Nilsson 1968 so treffend wie auch unnachahmlich prachtvoll und der Track wurde 1999 wunderbar von Aimee Mann gecovert. Dieses "One" ist keine Cover-Version, sondern der aufgeräumte, zuversichtliche Abschluss einer mutigen, eigenwilligen Platte einer außergewöhnlich beachtlichen Künstlerin. Auch wenn den Liedern eine gewisse Morbidität nicht abzusprechen ist, so verkörpern sie bei aller Komplexität ein Bekenntnis zur Liebe. Das ist keine leichte Kost, aber eine Demonstration mit reinigender Wirkung. Hier singt jemand mit Lebenserfahrung zu uns, damit wir wissen, dass wir mit unseren Fehlern, Gewissensbissen und gemischten Gefühlen nicht alleine sind.

    Die Musik auf "A Common Turn" ist eigenwillig und stark wie die von Tim und Jeff Buckley. Sie verzückt wie manches von Joni Mitchell, zeigt sich sperrig wie vieles von PJ Harvey und psychedelisch berauscht wie einiges von Jefferson Airplane. Die besten Referenzen also für diese im positiven Sinne verrückten, bizarren Klänge. Anna B Savage hat schon mit diesem ersten Longplayer eine individuelle, markante Ausdrucksform gefunden. Die Art der kompromisslosen, durchdringenden Vortragsweise erinnert an David Keenans Meisterwerk "A Beginner`s Guide To Bravery" aus dem letzten Jahr. Die beiden Künstler könnten Geschwister im Geiste sein.

    Ist die Musik nun ein Therapieansatz oder ein Reifezeugnis oder ein Ausdruck der Persönlichkeit einer offenen, verletzlichen und mutigen Künstlerin? Vielleicht ist von allem was drin, denn Anna hat schon früh gelernt, dass sich mit Hilfe der Kunst Dinge ausdrücken lassen, die abseits davon gar nicht oder nur ungenau offen gelegt werden können. Ihre Eltern waren Klassik-Sänger und so verbrachte das Mädchen die Kinder-Geburtstage im Green Room der Royal Albert Hall. Eine gewisse Vorprägung war also unvermeidbar. 2015 brachte die Singer-Songwriterin dann ihre erste 4-Track-EP heraus, die von Father John Misty wahrgenommen wurde, woraufhin er Anna mit auf Europa-Tournee nahm. Doch die Anerkennung überforderte die junge Frau, führte zur Schreibblockade und zu psychischen Störungen. Von da an musste sie sich neu ordnen und fing vor drei Jahren wieder an, Songs zu schreiben, die ihr Inneres nach außen kehren. Dabei sind diese spannenden, ungewöhnlichen und bewegenden Lieder herausgekommen, die "A Common Turn" zu einem nachhaltig beeindruckenden Hör-Erlebnis machen.
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    The Future Bites Steven Wilson
    The Future Bites (CD)
    29.01.2021
    Klang:
    5 von 5
    Musik:
    5 von 5

    Das sechste Solo-Werk des Allrounders Steven Wilson wurde überwiegend entschlackt gestaltet.

    Der Mann will in die Charts! Warum sonst sollte er einen dermaßen eingängigen Pop-Song wie "12 Things I Forgot" aufnehmen, wo er doch eigentlich als Progressive-Rock-Musiker, Produzent (z.B. für Anja Garbarek und King Crimson) sowie Ton-Techniker (z.B. Remix-Arbeiten für Jethro Tull und Yes) bekannt geworden ist? Verrat rufen die Einen, nachvollziehbare musikalische Entwicklung die Anderen. Betrachten wir mal, was das sechste Solo-Album des Porcupine Tree-Gründers so zu bieten hat.

    "The Future Bites" gehört zum Typus eines Konzeptalbums, weil sich ein bestimmtes Thema durch die Song-Sammlung zieht. Nämlich der Umgang der Menschen mit dem Einsatz von Kommunikations- und Unterhaltungs-Technologien. Deren Nutzung birgt die Gefahr, dass sich Abhängigkeiten ergeben, aber die technischen Hilfsmittel können genauso zur Unterstützung der persönlichen Entwicklung dienen. Sie sind also Fluch und Segen zugleich. Wilson erklärt außerdem, dass wir nicht mehr von Politikern, sondern von Menschen, die Algorithmen schreiben und die unser Online-Verhalten manipulieren, regiert werden.

    Zu Beginn des Albums werden die Gegensätze unselbständig und selbständig kontrastreich als intim-schüchternes "Unself" sowie rockig-selbstbewusstes "Self" dargestellt. Es schließt sich das mächtig wummernde "King Ghost" an. Die Stimme führt abwechselnd entweder nüchtern erzählend oder zurückhaltend-melancholisch oder im leidenden Falsett durch das märchenhaft verschnörkelte Stück. Das schon erwähnte "12 Things I Forgot" krempelt die Stimmung dann von düster auf sonnig um und zeigt ein Faible für erwachsene Song-Intelligenz, wie sie die Beatles und XTC vorlebten. Das ist großer, harmonisch anspruchsvoller Pop mit verführerischen Melodie-Linien in Ohrwurm-Qualität.

    Bei "Eminent Sleaze" ist dann Schluss mit lustig. Die Komposition wildert ernsthaft und schweißtreibend im Soul- und Funk-Umfeld. Auf diese Weise kommt mit Hilfe eines klatschenden Chain-Gang-Taktes, frech wallenden Philly-Soul Geigen, einem extrovertierten Gitarren-Solo und frisch auftrumpfenden Chor-Sängerinnen ein mitreißender Schwung zustande. Das wuchtige, mit Referenzen an "Sign O` The Times" von Prince ausgestattete "Man Of The People" würde in Händen eines weniger versierten Musikers wahrscheinlich peinlich und aufgeblasen klingen. Wilson kriegt aber die Kurve und bewahrt das Stück vor einem operettenhaften Kitsch-Kollaps.

    Die Konsumkritik des zentralen Song "Personal Shopper" orientiert sich in seinen beinahe 10 Minuten Laufzeit an einem aufgeweckten elektronischen Groove. Wenn dann als Mahnung eine Einkaufsliste vorgelesen wird, agiert dieser allerdings auf Sparflamme. Dem Track schadet die Über-Länge nicht, weil viel Dynamik, Abwechslung und Bewegung drin steckt. Der spritzige Rocker "Follower" gewinnt durch wildernde Synthesizer und eruptive E-Gitarren-Ausbrüche an Schärfe und erhält durch den abwartenden, seriösen Mittelteil eine erhabene Reife. Die sensibel-ausdrucksstarke Ballade "Count Of Unease" hinterlässt danach einen mysteriösen Eindruck. So als würde sie frei schwebend vorgetragen werden.

    Das ursprüngliche, sperrige Progressive-Rock-Korsett ist Steven Wilson längst zu eng geworden. Er nutzt die dort angesiedelten Möglichkeiten zur vielfältigen dynamischen Gestaltung und Abstufung allerdings immer noch gerne für seine Kompositionen, um ihnen Fülle und überraschende Wendungen zu verpassen. Diese Exkursionen werden jedoch verträglich, kompetent und mit Seitensprüngen in diverse Stilrichtungen vorgenommen, so dass sich das Ergebnis einer eindeutigen Kategorisierung entzieht. Seinen Hang zum Pathos hat Wilson jetzt noch wirkungsvoller als beim Vorgänger "To The Bone" von 2017 unter Kontrolle gebracht.

    Gut so, denn auch deshalb bleibt der Künstler unberechenbar und kann seinen Wirkungskreis weiter ausdehnen. Grade im Pop-Bereich hat Steven enorm dazu gelernt, vielleicht auch wegen der Zusammenarbeit mit Tim Bowness bei No-Man. Das beste Beispiel dafür ist das schon ausführlich gelobte, exzellente "12 Things I Forgot". Das Stück ist enorm aufbauend sowie erfrischend und bohrt sich tief und nachhaltig in die Gehörgänge, dass es eine Freude ist. Aber auch Fans von komplexen, verschnörkelten Strukturen kommen auf ihre Kosten. Schließlich sollte Progressive-Rock dem Namen nach fortschrittlich sein und Fortschritte hinsichtlich seiner musikalischen Ausrichtung hat Steven Wilson definitiv gemacht.

    Jedenfalls haben die Songs weiter an Durchschlagskraft gewonnen und präsentieren sich überwiegend entschlackt und griffig. Ob Wilson nun in Richtung (Art)-Pop oder Groove tendiert, ist im Prinzip egal, denn das Ergebnis in Form von guten Songs zählt. Und in dieser Hinsicht gibt es auf "The Future Bites" keinen Mangel. Und als Arrangeur und Produzent ist der Engländer sowieso eine Klasse für sich. Entsprechend hervorragend klingt die Platte. Sie ist eine runde Sache geworden, bei der die stilistischen Ausflüge Sinn machen, durchdacht sind und nicht nur kommerziellen, sondern auch künstlerischen Gesichtspunkten dienen.
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    3 Kommentare
    Anonym
    02.07.2021

    Ich bin taub ??

    Wahnsinn was Du in diesem langweiligem Projekt hörst und jeden Song in seine Einzelteile zerpflückst. Ich werde demnächst den Ohrenarzt aufsuchen müssen ...mich hat die CD komplett amüsiert. Wenn das ein Angriff auf die Charts und den Kommerz sein soll Herr Wilson ... muß ich Sie enttäuschen. Beim Hören werden alle einschlafen und von den unheilvollen 80ern Träumen ....
    Anonym
    30.08.2023

    Laber-Rhabarber

    Die Bewertung des Albums zu lesen benötigt bald mehr Zeit wie das Anhören des Albums. In der Kürze liegt die Würze. Nicht so viel persönliches einbringen, kurz und knapp objektiv bewerten und gut is!
    Ohle
    03.02.2021

    Danke

    Wirklich tolle Rezension!
    Tripping With Nils Frahm Nils Frahm
    Tripping With Nils Frahm (CD)
    29.01.2021
    Klang:
    5 von 5
    Musik:
    4 von 5

    Nils Frahm stellt auf der Bühne sein Werk "All Melody" vor.

    "Tripping..." zeigt Nils Frahm auf der Bühne des Funkhaus Berlin, die er 2019 viermal erklomm. Dieses Ereignis war der Abschluss einer Tournee mit über 180 Shows, die hauptsächlich das damals aktuelle Album "All Melody" vorstellte. Der Filmemacher Benoit Toulemonde hielt die Auftritte in bewegten Bildern fest und der entstandene Konzertfilm - für den unter anderem auch Brad Pitt als Geldgeber gelistet wird - ist seit dem 3. Dezember 2020 auf der Streaming-Plattform MUBI zu sehen.

    Die Audio-Version mit der Essenz aus den Funkhaus-Auftritten gab es zeitgleich in digitaler Form und ab dem 29. Januar 2021 sind die Stücke auch als CD und LP zu bekommen. Die CD beginnt mit "Enters" und man hört erst einmal 20 Sekunden lang gar nichts. Und das bei einer Live-Aufnahme vor Publikum. Das zeigt, wie gespannt und konzentriert die Besucher auf das Konzert reagiert haben. Behutsam angeblasene, sich in der Lautstärke steigernde, beruhigend rauschende Harmonium-Töne erzeugen zur Einstimmung eine sakrale, andächtige Atmosphäre.

    Auch "Sunson" wird vorsichtig entwickelt und aufgebaut. Vom Piano angetriebene, wallende Tonschwaden sorgen für die Bildung einer weitläufigen Klang-Landschaft, bevor rhythmische Bass-Tropfen und exotisch-künstliche, Urwald-ähnliche Geräusche die Situation beleben. Das Mellotron sorgt begleitend für eine phantasievolle, gleitende, besänftigende Untermalung. "Fundamental Values" ist auf "All Melody" knapp unter vier Minuten lang, hier hat das Stück eine Laufzeit von über 14 Minuten erhalten. Der hypnotisch-kultivierte Charakter der Komposition wird in der Verlängerung stärker betont und effektvoll herausgearbeitet. Frahm steht alleine auf der Bühne mit all seinen Sequenzern, Modulatoren, Synthesizern und anderen Tasteninstrumenten. Und es klingt wie eine große Besetzung, ist aber eine One-Man-Show.

    Die Piano-Balladen "My Friend The Forest" und "The Dane" (von "All Encores") nehmen sich gefühlt alle Zeit der Welt, um den Hörer in eine friedvoll-melancholische Stimmung zu versetzen. Die Tracks "All Melody" und "#2" trumpfen dagegen rhythmisch aktiv auf, lassen die Noten hüpfen und bewegen sich tänzelnd. "Ode - Our Own Roof" stammt ursprünglich aus dem Soundtrack des Films "Victoria" und stellt zum Ende der Veranstaltung Sanftmut und Romantik in den Vordergrund.

    Das Bedürfnis nach kunstvollen, schwelgerisch-schwebenden Klängen, die das Kopfkino aktivieren, wurde in den 1970er Jahren im erweiterten Pop-Bereich von solchen Künstlern wie Klaus Schulze, Keith Jarrett, Bo Hansson, Mike Oldfield oder Tangerine Dream befriedigt. Heute übernehmen z. B. Max Richter oder Nils Frahm diese Aufgabe und erobern sich damit ein Publikum, das sowohl romantische Klassik, wie auch modernen Jazz, intelligente Ambient-Klänge und gediegene Chill-Out-Sounds zu schätzen weiß.

    Der Titel "Tripping With Nils Frahm" ist gut gewählt, denn die Musik des anerkannten Pianisten, Produzenten und Komponisten kann im positiven Sinn ganz ohne Drogen bewusstseinserweiternd sein, wenn man sie völlig auf sich einwirken lässt. Muss aber trotzdem noch ein Live-Album mit vielen bekannten Stücken her? Nun ja, der Mehrwert ergibt sich aus der veränderten Zusammensetzung und der gelegentlichen Streckung der Tracks. Der ab und zu eingeblendete Applaus stört da eher die Konzentration. Für Fans ist das Werk wahrscheinlich trotzdem unverzichtbar. Wer den Künstler jedoch neu für sich entdecken möchte, sollte eher mit "All Melody" beginnen und "Tripping..." bei Gefallen als Ergänzung anschaffen. Denn was lässt sich schon gegen einen weiteren funktionierenden akustischen Trip einwenden?
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    Home (CD)
    22.01.2021
    Klang:
    5 von 5
    Musik:
    5 von 5

    Rhye stellen das Easy Listening-Erlebnis auf neue Füße und sorgen für harmonische Intelligenz.

    Viel näher kann man mit männlichem Gesang einer femininen Ausstrahlung kaum kommen, als es Michael Milosh fertig bringt. Und dabei klingt bei ihm alles natürlich, sauber und unverkrampft. Der gebürtige Kanadier leitet seit 2010 als Sänger, Multi-Instrumentalist und Komponist die Geschicke der Formation Rhye, deren Besetzung den jeweiligen Gegebenheiten angepasst wird. Schönheit und Eleganz sind Qualitätsmerkmale, die bei der Entstehung der Musik eine besondere Rolle spielen. Der entweder entrückte oder rhythmisch betonte Sound wird sowohl von elektronischen wie auch mit akustischen Instrumenten gestaltet. Er wird dabei von Eckpunkten bestimmt, die sowohl im raumgreifenden Ambient-Klang wie auch im eleganten Smooth-Jazz und kuscheligen Soul-Pop zu finden sind.

    "Home" beginnt mit einem "Intro" aus ätherisch-gregorianischen Gesängen, die sich anhören, als wären sie in einer Kathedrale aufgenommen worden. Das setzt überirdisch-spirituelle Akzente frei. "Come In Closer" bedient dann mit einem milden Disco-Beat weltliche Ambitionen. Der dafür vorgesehene platschende Takt führt ein Eigenleben und orientiert sich nicht an der sinnlichen Stimme, die zunächst ein langsames Tempo vorlegt, später aber dem Weckruf der aufblühenden, gut gelaunten Kaffeehaus-Geigen folgt. Insgesamt entsteht dadurch eine mondäne Aura. Das lyrische, sanfte Werben um eine schöne Frau steht im Mittelpunkt des lässigen, gepflegten "Beautiful", wobei der erotisch-sehnsüchtige Gesang den lasziven Charakter dieses sowohl schmeichelnden wie auch stramm getakteten Electro-Pops noch zusätzlich betont. Musikalisch tritt das Stück in ähnliche Fußstapfen wie das provokante "Sexy Boy" von Air.

    "Safeword" wirkt luftig und leicht, ohne dabei belanglos zu klingen. Daran zeigt sich, dass diese Art von Easy Listening eine Kunstform und nicht nur eine unverbindliche Methode zur akustischen Berieselung ist. Der Titel vermittelt eine Unbeschwertheit, die ihn in die Nähe einiger Bossa Nova- oder Samba-Songs rückt. Dazu kommt gegen Ende noch der Einsatz von kribbeligen Geigen, die den Sound dezent auffrischen. Dagegen klingt "Hold You Down" klotzig und grob, auch wenn der Gesang zurückgenommen und distanziert eingesetzt wird. Rhye ist eben ein Verfechter von gegensätzlichen, sich reibenden Zuständen, wie immer wieder deutlich wird. Kitschig-billige, manchmal grelle 1980er Jahre-Synthesizer-Klänge erschaffen dann und wann künstlich erscheinende Töne, die sich gegen die engelsgleichen Chorstimmen absetzen. Das sind bizarre Momente, die bei diesem Track für kontroverse Innenansichten sorgen.

    Der Gesang bekommt beim tieftraurigen "Need A Lover" eine zu Herzen gehende, zerbrechliche Ausprägung und wird in ein genauso intim-introvertiertes, manchmal orchestrales Folk-Gerüst eingebunden. Die Akustik-Gitarren-Töne tropfen wie Tränen herab und das Piano ist der Freund, der in dieser Situation zu trösten versucht. Der Soul von "Helpless" hat dagegen eine moderne Fassade bekommen, saugt seinen emotionalen Nektar aber aus der Tradition des Southern-Soul der USA. So kann neben dem effekthaschenden, brachialen Rhythmus auch Gospel-ähnliches Flehen ausgemacht werden, was den Song vor einem sterilen Pro-Tools-Produktions-Tod rettet.

    Mit einem ähnlich kräftigen Takt geht es bei "Black Rain" weiter. Wieder einmal gibt es einen deutlichen Kontrast zwischen dem kühlen, tanzbaren Elektronik-Einsatz und dem schmachtenden, gefühlsbetonten Gesang. Das Lied hört sich beinahe wie ein vergessener Track von Marvin Gaye`s Schlafzimmer-Soul-Album "Midnight Love" aus dem Jahr 1982 an. Das frivole Knistern der aufgedonnerten Stimmung hätte wahrscheinlich auch Prince gefallen.

    Rhye verarbeitet auf dem neuen Album vermehrt Soul-Einflüsse. Bei "Sweetest Revenge" gibt es sogar Funk-Anklänge zu hören, die ganz stilvoll und nur da, wo sie einen Mehrwert an Erstaunen versprechen, eingesetzt werden. Da bleibt sogar noch Raum für romantische Ausflüge. "My Heart Bleeds" verfügt über einen harten Beat, der davon ablenken soll, dass der Track davon abgesehen weitestgehend in Kummer und Leid badet. Das Lied erzählt laut Milosh vom kollektiven Schmerz des Jahres 2020 und entsprechend monoton, abwartend und gedrückt ist die Grundstimmung.

    "Fire" kann als hypnotisch-trockene Ballade bezeichnet werden, die sich bei aller Gleichförmigkeit doch in den Gehörgängen einnistet, weil der innige Gesang und das einsame Klavier eine suggestive Sogwirkung ausüben. Swing-Rhythmen, Krautrock-Mechanik und der 49köpfige Danish National Girl`s Choir durchziehen dann das düstere, undurchsichtige "Holy". Dieses Geschehen geht in ein "Outro" über, welches den andächtigen Faden weiter spinnt und durch sakrale Gesänge Diesseits und Jenseits miteinander verbindet.

    Die Titel der Alben von Rhye bestanden bisher immer nur aus einem zentralen Begriff: "Woman" (2013), "Blood" (2018) und nun ist "Home" der Schlüsselbegriff. Ein Zuhause bedeutet für Michael Milosh das Zentrum von Kreativität und Gemeinschaft. Lange Zeit war er allerdings ständig unterwegs und konnte dieses Gefühl nicht ausleben. 2019 fand er jedoch im Westen von Los Angeles - einem Landstrich, der von Bergen umgeben ist und an den Pazifischen Ozean grenzt - ein Haus, welches sich im Sinne seiner Erwartungen als perfekt herausstellte.

    Nichtsdestotrotz hätte das neue Werk auch "Sex" heißen können, so verlockend-erotisch wurde es gestaltet. Die Musik lebt allerdings nicht nur vom Ansprechen körperlicher Reize und den Einflüssen aus Ambient, Pop, Jazz und Soul, sondern auch von extremen Kombinationen: Ausflüge in die geistliche Welt stehen neben dröhnenden Dancefloor-Bässen und leise Sequenzen neben stampfenden Takten. Einzige Konstante ist die durchdringend-sensible Stimme von Michael Milosh, die es schafft, jede musikalische (Ausnahme)-Situation auf sich zu lenken.

    Das Album bietet somit vielfältige, anregende Pop-Musik, die sowohl versunken-beherrscht, wie auch verführerisch-tiefgründig oder zupackend-energisch sein kann. Das Ergebnis ist stets genüsslich-intensiv und reiht "Home" als ein Referenzwerk im Umfeld der Easy-Listening-Ambient-Electro-Pop-Musik ein, weil es unversöhnlich erscheinende Aspekte harmonisch und intelligent zusammen fügt.
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    22.01.2021
    Klang:
    4 von 5
    Musik:
    5 von 5

    My Little White Rabbit fühlen sich im Psychedelic- und Garagen-Rock sowie Power-Pop hörbar wohl.

    Es ist schon clever und geschickt, wie My Little White Rabbit ihre musikalischen Möglichkeiten einsetzen, um in einem festgesteckten Rahmen möglichst variabel zu agieren. Die Hamburger Formation ist seit ihrer Gründung vom Trio zum Quintett angewachsen und legt jetzt mit "Lowest Heights" ihr zweites Album vor.

    Ein auffallendes Merkmal im Gefüge des kompakten Garagen-Punk-Pop-Sounds ist der Lead-Gesang von Rike Pfeiffer, der mühelos und glaubwürdig zwischen frech und lieblich hin und her schaltet. Damit zeigt sie eine große stimmliche Bandbreite und lässt sich nicht auf den Begriff "Rockröhre" reduzieren. Die ihr zur Seite stehende instrumentale Begleitung ist stets kraftvoll, dabei differenziert und abwechslungsreich. Das ist im Rockbereich eher ungewöhnlich und deshalb herausstechend.

    Aber mal der Reihe nach: "Bat In My Livingroom" pendelt rasante Ohrwurmqualitäten mit griffigen Riffs zu einem flotten Rocker mit gelegentlichen Hippie-Klang-Einlagen aus. "Rusty Nail" tobt sich anschließend im Punk-Umfeld aus, scheut sich nicht vor einem Metal-Einschub und vermittelt reichlich Power-Pop-Schwung. Beide Songs bewegen sich energetisch im oberen Level, punkten mit abgeschichteten Melodien und können neben einem massiven Rhythmus-Geflecht mit Gitarren aufwarten, die nicht nur krachen, sondern auch psychedelische Exkursionen anbieten.

    "Hello Mister" ist eine dichte, relativ gut gelaunte Mid-Tempo-Nummer mit Funk-Reggae-Takten, die sich fürs Radio eignet, aber auch ihre Ecken und Kanten nicht verleugnet. Hier stehen harmonisch-verspielte Bubblegum-Pop-Akkorde im Vordergrund, die von einer wuchtigen Wand aus elektrisch wuchernden Tönen nebst zackiger Rhythmus-Begleitung getragen werden. "Cloud Of Clover" wird von schwirrenden, experimentellen, rauschhaften Space-Sounds eingeleitet, entpuppt sich dann aber als exotisch-verspielter, drogenschwangerer Pop mit mild gestimmter, friedvoller Melodieführung, bei der der bewusstseinserweiternde Aspekt halbwegs unter Kontrolle ist. Da stellt sich nebenbei die Frage, ob der Bandname vom Song "White Rabbit" von Jefferson Airplane aus dem Jahr 1967 abgeleitet wurde. Das würde zumindest den Psychedelic-Rock-Einfluss erklären.

    Den harten Synthesizer-Spuren von "The M-Word" wurden neben druckvollen Funk-Grooves auch sensible Sequenzen beigemischt, so dass sich der Track einer eindeutigen Kategorisierung wirkungsvoll entzieht. Mit Hochgeschwindigkeit läuft die Punk-Nummer "Anybody Seen My Brain" ab und macht so den Ramones nicht nur hinsichtlich des Tempos Konkurrenz. Auch "Moneymaker" zeigt sich dreckig und aufgeputscht, gönnt sich aber mit Hilfe einer atmosphärisch dichten Gitarreneinlage zwischendurch eine Verschnaufpause.

    "Moorgnivil Ym Ni Tab" ist nichts anderes als ein rückwärts abgespielter Auszug von "Bat In My Livingroom". Und schon hört sich die Variation durch etwas Bearbeitung fremdartig, nach Weltraum und Orient an. Die elektrisierte Ballade "The Bird & Me" kreuzt optimistischen Folk- mit düsterem Indie-Rock und sorgt so abwechselnd für lauschige und angespannte Momente. "Lucky People" erinnert dann aufgrund der ungestümen Vorgehensweise sowohl an die frühen Blondie wie auch an die Buzzcocks und bietet somit zeitlosen, tanzbaren Power-Pop mit hohem Unterhaltungswert. "Slow Down Mister" lässt das Album instrumental ausklingen und wirft nochmal ein Potpourri von verschiedenen Eindrücken in die Waagschale: Unter anderem haben The Police, genauso wie Pink Floyd ihre Spuren hinterlassen.

    Corona-bedingt lief der Entstehungsprozess der Platte anders als geplant ab. Die Band konnte nur einmal miteinander proben, bevor sich die Musiker erst drei Monate später für eine Woche in den Schalltona Studios in Hamburg verschanzten, um die Songs einzuspielen. Diese für die Gruppe neue Art der Spontanität hat den Aufnahmen aber offensichtlich nicht geschadet. Ganz im Gegenteil: Sie ist ihnen vielleicht sogar entgegen gekommen, weil so jegliche Form der Überproduktion vermieden werden konnte.

    Die Musiker überzeugen mit Talent, Überblick und unverbrauchter Frische. Sie kennen sich in der Pop- und Rock-Historie aus und haben sinnvolle Elemente herausgepickt, um damit ihren spezifischen Sound anzureichern. Zu den Haupteinflüssen zählen sie: "Blues, Psychedelic Rock und Sixties Pop von Vorbildern wie Led Zeppelin, Kula Shaker und Tame Impala." Stilistisch verhält sich das Team kompromissbereit, ohne dabei die Linie und den Überblick zu verlieren oder sich einem Trend anzubiedern. Außerdem vertreten die Künstler noch politisch-soziale Themen, wie den Feminismus ("Hello Mister") und das Tierwohl ("Lucky People"). So ist aus "Lowest Heights" ein durchweg stimmiges Rock-Paket aus spannenden Klängen mit einer aufrechten Haltung geworden.
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    18.01.2021
    Klang:
    4 von 5
    Musik:
    3 von 5

    Das Tüftler-Duo Grandbrothers erweitert sein Klangspektrum auf dem dritten Album.

    Das Ungewöhnliche und Unbekannte hörbar machen, das sind nur zwei Komponenten, die bei der Musik des Pianisten Erol Sarp und des Produzenten und Software-Entwicklers Lukas Vogel eine Rolle spielen. Mit Hilfe von präparierten, verfremdeten Klavieren und diversen Misch- und Sound-Gestaltungs-Techniken haben sie mit Entdeckergeist ihr Klangspektrum für das gemeinsame dritte Album "All The Unknown" gegenüber den Vorgängern erweitert und sind deshalb ihrem bisherigen Prinzip, keine Elektronik bei der ursprünglichen Entstehung der Klänge einsetzen zu wollen, untreu geworden.

    Zwei Flügel und ein Piano bilden die instrumentale Basis der Kompositionen. Dazu kommen jetzt noch Samples und Loops, die die Möglichkeiten des Duos erweitern, besonders im rhythmischen Bereich, wie der Sound-Tüftler Lukas Vogel betont. Die Klänge werden oft von Minimal-Art- und Klassik-Elementen durchzogen, wie schon der Opener "Howth" klar macht. Sich gegenseitig lockende, obendrein auftürmende und abschwellende Ton-Kaskaden sowie romantische Melodielinien verleihen dem Stück einen cineastischen Charakter, so dass man sich das Stück gut zur Untermalung von Naturfilmen vorstellen kann.

    Durch seinen geschmeidig tropfenden Rhythmus wirkt "What We See" wie ein Soft-Krautrock, der mit moderner Klassik geimpft wurde. Seitens der Schöpfer besteht eine Erwartungshaltung, wie mit dem Track umgegangen werden soll: ""What We See" ist eine Aufforderung, nicht immer dem ersten Eindruck den Vorrang zu geben, sondern sich auch Zeit zu nehmen für das, was zuerst verborgen liegen mag", gibt das Duo als Anregung mit auf den Weg.

    "Umeboshi" ist ein knapp einminütiges Intermezzo, das atmosphärisch durch Space-Sounds nach den Sternen greift und "All The Unknown" verarbeitet kraftvoll-entschlossene Akkord-Wiederholungen, die dynamisch variiert und zugleich rhythmisch verstärkt werden. Dadurch tricksen die Künstler sozusagen die subjektiv wahrgenommene Zeit aus.

    Das zweite Intermezzo "The Goat Paradox" basiert auch auf Minimal-Art-Abläufen, die sich ineinander zu verzahnen scheinen und "Four Rivers" bezieht belebend-hypnotische Einflüsse in den als Ausgangspunkt dienenden, unverfänglichen Pop-Rahmen ein. Der Track konserviert außerdem locker verspielten Jazz, wie er vom Tingvall Trio bekannt ist und hört sich deshalb an, als würde er Ausblicke in eine schillernde, erlebnisreiche Zukunft ermöglichen. Das hat die Wirkung von positiv gestimmter Corona-Bewältigungs-Musik, die gedämpft frohe Erwartungen zulässt.

    "Shorelines" bewegt sich mit swingender elektronischer Grundierung frei schwebend über blühende Landschaften hinweg. Direkt in den Sonnenauf- oder -untergang hinein. Je nach Neigung. Das Stück dringt unaufgeregt und leicht fließend ans Ohr. Die Töne gleiten nahezu unbeschwert dahin, sie prickeln erfrischend leicht wie Soda-Wasser und haben gleichzeitig eine ausgleichende Wirkung. Das ist Gebrauchsmusik für eine friedvolle, aber nicht einschläfernde Untermalung. Durch Manipulationen wird das Klavier für "Auberge" teilweise zum Saiteninstrument umfunktioniert. Wolkige Klangwände sorgen dafür, dass die experimentellen Einlagen nur ein Nebenschauplatz bleiben und das Hauptaugenmerk auf eine phantasievolle Traumreise gelegt wird.

    Bei "Organism" sind perkussive Elemente dazu da, um eine aufmunternde Stimmung zu unterstützen. Das Stück baut seine Dynamik letztendlich durch laute und leise sowie schnelle und langsame Passagen auf, die sich ständig abwechseln. Der Name ist bei "Silver" Programm: Flirrend blinken und klirren silbrige Piano-Akkorde, die von Bass-Spuren geerdet und im ständigen Taumel der scheinbar kontinuierlich wiederkehrenden Töne durch eine optimistische Haltung voran getrieben werden.

    Der Begriff Schwarzer Frost stammt aus der Seefahrt. Er bezeichnet die völlige Vereisung von Schiffen durch Nebel oder Nieselregen. Dieser Zustand kann im schlimmsten Fall dazu führen, dass ein Boot kopflastig wird und kentert. Ob der Track "Black Frost" dieses Phänomen akustisch nachbilden möchte, ist nicht überliefert, er beinhalt aber zumindest Tonfolgen, die kalt und frostig klingen.

    Bedrohlich und Unheil ahnend beginnt "Unrest", bevor ein mächtiger Bass die Situation klärt und dominant Macht demonstriert. Die Tasteninstrumente glätten danach die Wogen zugunsten eines kraftvollen, energischen Ablaufs, schaffen aber auch die Möglichkeit für besinnliche Momente. Der Raum scheint zu atmen, wenn "Mourning Express" ertönt. Pumpende Klänge verleihen der Komposition Leben und Bewegung. Die Keyboards verzieren ausgleichend und schwelgerisch, beeinflussen die sonstigen organisch anmutenden Anordnungen aber nicht wesentlich.

    Für die Grandbrothers bedeutet "All The Unknown" in technischer und musikalischer Hinsicht ein gewichtiger Entwicklungsschritt. Im Rahmen der Pop-Historie ergeben sich allerdings einige Vergleichsobjekte: Die Sounds von Vangelis, Mike Oldfield, Pink Floyd oder Terry Riley liegen als Inspirationsquelle bewusst oder unbewusst in der Luft, finden aber in dieser Zusammensetzung einen neuen Nährboden.

    "All The Unknown" scheint ein Übergangsalbum zu sein, welches den Grandbrothers zwar alternative Möglichkeiten, aber noch keinen konkreten Leitfaden für die Zukunft aufgezeigt hat. Die Musik versucht einen Spagat zwischen Geduld fordernder und anregender Minimal-Art sowie süffig produzierten Klangobjekten, die angenehme, verträumte Gefühle auslösen. Dieses Vorhaben wird keine der beiden erwähnten Erwartungen gänzlich befriedigen, aber die individuelle Klasse der Musiker führt dazu, dass letztlich auch niemand von "All The Unknown" enttäuscht sein wird.
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    Better Way Better Way (CD)
    08.01.2021
    Klang:
    4 von 5
    Musik:
    4 von 5

    Der Efterklang-Sänger auf dem Weg zu neuen Ufern.

    Casper Clausen ist nicht nur Mitglied des Electro-Pop-Projektes Liima, sondern vor allem mit der im Jahr 2000 gegründeten dänischen Gruppe Efterklang (was so viel wie Nachhall heißt) bekannt geworden. Dieses Trio lässt seinen Art-Pop mathematisch exakt erklingen, musiziert dabei aber auch sinnlich-entrückt. In dieser Tradition spielt sich auch der Solo-Einstand des Sängers ab. Unter eigenem Namen hantiert er gerne mit Gegensätzen und siedelt seine Kompositionen unter anderem zwischen wohlklingendem Anspruch und hymnisch verklärter Eingängigkeit an.

    Die erste Single-Auskopplung "Used To Think" beginnt mit stoisch-hektischen Krautrock-artigen Loops, die an solche Bands wie Neu! oder Kraftwerk erinnern. Erst nach etwa drei Minuten werden die gleichförmigen Takte milder gestimmt und von selbstbewusstem, sanft gedehntem Gesang umweht, so dass der mechanisch wirkende Eindruck eine menschliche Facette verliehen bekommt.

    Casper Clausen sucht das Risiko. Er versteht seine Kunst nicht als statisches Konstrukt, sondern forscht nach Verbindungen, die zumindest den Eindruck vermitteln sollen, in dieser Konstellation bisher unentdeckt gewesen zu sein. "Feel It Coming" ist solch eine Erfindung, die sich gängigen Mustern entzieht. Abenteuerlich werden hier windschiefe Sounds, energiegeladene Beats und geheimnisumwobene Gesänge montiert. Auf diese Weise entstehen Geräusche, die herausfordernd erscheinen, obwohl ein melodischer Grundgedanke erhalten bleibt. Das ist freigeistiger Pop, der mehr Klangmalerei als ausgestalteter Song ist.

    "Dark Heart" tritt nicht offensiv ins Bewusstsein, denn die Musik trägt einen Schleier, wirkt rauschhaft oder schlaftrunken oder wie ein benommener Moment zwischen Traum und Erwachen. Rhythmen kreiseln stoisch wie Gedanken im Fiebertraum und die Stimme taumelt träge dahin, ist leicht verfremdet, aber tapfer um Harmonie bemüht. Auch für "Snow White" werden Dauerschleifen so eingesetzt, dass die Musik irritierend und fremd wirkt. Erst mit dem Einsatz einer verwehten Trompete und dem melancholisch flehenden Gesang kehren warme Emotionen in das Stück ein. Brüche und gesangliche Verwerfungen sorgen jedoch immer wieder für seltsam-skurrile Wendungen in diesem rhythmisch unnachgiebigem Track.

    Elemente aus der anglo-amerikanischen und indigenen Folklore begleiten "Falling Apart Like You", das wie ein aus dem Rahmen gefallener Pop-Song erklingt, dem versehentlich die falschen Background-Spuren zugeordnet wurden. Ätherischer, teils hoher Gesang, schwirrende psychedelische Töne und grummelnd-blubbernde Hintergründe bestimmen die Klangfarben von "Little Words". Dieser Soundwall wird in eine Melodie eingepasst, die isoliert betrachtet leicht und locker klingen würde. Diese Collage-Technik macht den Reiz der Casper Clausen-Tracks aus: Avantgarde trifft sich mit Pop-Mainstream zu einer Gartenparty im LSD-Rausch. Das ist sonderbar, aber unterhaltsam.

    Die New Wave-Disco der 1980er Jahre lebt mit "8 Bit Human" wieder auf. Streiflichter von New Order oder The Sisters Of Mercy sorgen für bildhafte Erinnerungen. In der Mitte des Stückes kommt es zu einem abgründigen, destruktiven Zwischenspiel, bevor sich der Track wieder fängt und als ungeordnet erscheinender Pseudo-Power-Pop zu Ende geführt wird. Das finale "Ocean Wave" verbindet verträumte Space-Sounds, ausdauernde Minimal-Art-Takte im Science-Fiction-Look und sanft-introvertierten Gesang zu einer berührend-intimen Liebeserklärung an das Meer und an Lissabon, wo der Musiker derzeit lebt.

    Die Sound-Landschaften auf "Better Way" wurden von Peter Kember alias Sonic Boom in Szene gesetzt. Das Gründungsmitglied von Spacemen 3 kennt sich mit halluzinogenen und avantgardistischen Klängen aus, so dass er die Ideen von Casper Clausen verstehen und klangtechnisch sinnvoll zuordnen konnte. Clausen geht keine Kompromisse ein, besinnt sich auf seine Vorstellungskraft, scheut nicht das Experiment, bewahrt sich aber sein Pop-Verständnis, so dass die Songs nicht völlig aus dem Ruder laufen. Das macht sie sowohl für Freunde des anspruchsvollen Pop, wie auch für Entdecker, die zwischen ernster und unterhaltsamer Musik keine grundsätzliche Unterscheidung machen, interessant.
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    I Slept On The Floor Another Sky
    I Slept On The Floor (CD)
    02.01.2021
    Klang:
    4 von 5
    Musik:
    4 von 5

    Wenn Konfliktbewältigung auf Kreativität trifft, kann eine neue Wahrnehmung entstehen.

    Das 2013 gegründete Quartett Another Sky legt mit "I Slept On The Floor" nach der EP "Forget Yourself" aus 2018 endlich ihre erste lange Song-Kollektion vor. Die Band fand an der Goldsmiths University in London zusammen und besteht aus Jack Gilbert (Gitarre), Naomi Le Dune (Bass), Max Doohan am Schlagzeug sowie der Sängerin, Pianistin und Song-Autorin Catrin Vincent, die durch die Gründung der Kapelle ihrem sie bisher umgebenden Kleinstadt-Mief entfliehen wollte. In London geriet die junge Frau aber zunächst psychisch in einen Konflikt zwischen ihrem alten und dem neuen Leben. Die Verarbeitung der dadurch entstandenen Ängste und Zweifel spielten dann bei der Entstehung der Stücke eine gewichtige Rolle.

    Besonders die Stimme der Frontfrau ist ein markantes Erkennungszeichen im Gesamt-Gefüge, denn sie lässt sich geschlechtlich nicht immer eindeutig zuordnen und sorgt so für Irritationen bei manchen Beobachtern. Nun sind es grade diese androgynen Schwingungen, die für eine Besonderheit im Sound sorgen. Dabei ist es völlig unerheblich, wie und von wem sie erzeugt werden.

    Die Musiker stimmen grundsätzlich nachdenkliche, grau gefärbte Töne an. Es ist jedoch nicht nur Traurigkeit, sondern auch Wut, was in die neuen Lieder eingeflossen ist. Gleich der Opener "How Long?" ist durchzogen von Brüchen, lauten und leisen Passagen, sowie anheimelnden und verstörenden Klängen. Die Künstler sprechen davon, dass sie unter anderem durch "Spirit Of Eden" und "Laughing Stock" von Talk Talk beeinflusst wurden, was sich in den Anfangssequenzen des Openers durch schwebend-jazzige Töne widerspiegelt. Es folgen sich hervorhebende, spiralförmig drehende, schwirrende E-Gitarren in einem satten Rhythmus-Geflecht, die jäh abbrechen und einem erneuten Erblühen einer ruhigen Klang-Landschaft Platz machen. Danach setzt eine hohe Stimme ein, die hier wie die Vermenschlichung einer Klarinette klingt. Der unterlegte Hall verleiht ihr zusätzlich eine sakrale Wirkung.

    "Fell In Love With The City" beginnt als schlaksig-stoischer Independent-Rock, der an solch dunkle Post-Punk Kapellen wie Echo & The Bunnymen oder The Comsat Angels gemahnt. Und dann ist da wieder dieser auffallende, eigentümliche Gesang, der sich eindrucksvoll zurück meldet. Dieses Mal sind auch tiefere Frequenzen zu hören, die - wie wir ja inzwischen wissen - auch in der Kehle von Catrin Vincent entstanden sind. Diese Kombination wirkt so, als würden zwei Seelen in einer Brust wohnen. So wird veranschaulicht, wie Konflikte akustisch dargestellt werden können.

    "Brave Face" weist die hektische Betriebsamkeit einiger New Wave-Stücke von Siouxsie & The Banshees und auch den beschaulichen, orchestralen Pop von Coldplay auf. Zwei Seiten einer Medaille? Another Sky machen diese Verbindung jedenfalls instrumental und gesanglich möglich.

    Schrammelnde Gitarren sorgen dafür, dass das dramatisch-impulsive "Riverbed" stellenweise an U2 erinnert. Seinen Schwung erhält "The Cracks" durch einen abgewandelten Bossa-Nova-Rhythmus, der den Track ausdauernd begleitet und bei verschiedenen Stimmungswechseln den emotionalen Schlingerkurs unterstützt.

    Der künstlich verfremdete, gespenstisch-verdrehte Gesang erinnert beim kurzen Intermezzo "I Slept On The Floor" in seiner schmerzhaften intim-geschundenen Ausdrucksweise an Antony & The Johnsons. Die sowieso schon seltsame Stimme wird für "Life Was Coming In Through The Blinds" manchmal technisch so aufgewertet, dass der voluminöse Eindruck eines Chores entsteht. Schwebeklänge mit und ohne rhythmische Unterstützung bilden über weite Strecken das Fundament der Komposition, die mit hypnotischen Minimal-Art-Einlagen angereichert wird.

    Bemerkenswert, wie geschmeidig der Gesang bei "Tree" zwischen hohen und tiefen Tonlagen zirkuliert. Das verleiht dem Song einen Dynamik-Zuwachs, der instrumental noch durch den Wechsel zwischen intro- und extrovertierten Bestandteilen verstärkt wird. Vielleicht haben die Sirenen in Homer`s "Odyssee" einst so verführerisch und fordernd gesungen wie Catrin für "Avalanche". Zumindest transportiert der pumpende, latent aggressive Track eine wilde Entschlossenheit, die Respekt einflößt.

    Das Piano spielt beim relativ optimistischen "Let Us Be Broken" eine wichtige Nebenrolle. So dient es als Taktverstärker und spornt dazu an, das Licht am Ende des Tunnels schnellstmöglich zu erreichen. Die schwermütige Ballade "All Ends" suhlt sich im Anschluss in traurigen, fein gesponnenen Tönen und mag so gar keine Zuversicht zulassen. Zwischen Folk, Jazz und Romantik-Chanson bewegt sich dann "Only Rain", ohne dabei die klaren Konturen einzubüßen. Der Titel zeigt Haltung und biegt unverbraucht in die Zielgrade ein.

    Another Sky haben versucht, im Rahmen ihrer Ausdrucksmittel ein möglichst vielfältiges Album zu gestalten. Nun lässt sich trefflich darüber streiten, ob Abwechslung oder Homogenität zu mehr Intensität geführt hätte. Fest steht jedoch, dass die eher unkonventionellen, wagemutigen Stücke auf "I Slept On The Floor" einen stärkeren Eindruck hinterlassen. Aber hätten sie das auch getan, wenn alle Lieder extravagant gewesen wären? Oder hätte das eventuell zu einer Überforderung der Hörer geführt?

    Alles Spekulationen. Unterm Strich bleibt ein überdurchschnittlich interessantes Dream-, Psycho- und Art-Pop-Werk mit vielen guten Ideen, etwas Hausmannskost und einer bemerkenswerten Sängerin. Es soll sogar schon etliche neue Aufnahmen für ein zweites Album geben, das noch stilübergreifender gestaltet werden soll. Man darf also gespannt sein, in welche Richtung sich diese interessante Formation entwickeln wird.
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    02.01.2021
    Klang:
    4 von 5
    Musik:
    4 von 5

    Eigenständiger und phantasievoller alternativer Pop!

    Die Belgier spielen einfallsreichen alternativen Pop mit gelungenen instrumentellen und melodischen Schlenkern. Gleich der Opener FIFTEEN FLOORS weiß durch einen einprägsamen Refrain zu überzeugen. Das ist der heimliche Hit des Albums. Der Song ist unterhaltsam und abwechslungsreich zugleich.

    Die Band hat einen enormen Ideenreichtum, denn die Lieder sind alle unterschiedlich aufgebaut. Die Band biedert sich bei keiner Modebewegung an und rochiert geschickt zwischen eingängigen Melodien und dem attraktivem Setzen von Duftmarken, die dafür sorgen, dass die Lieder nicht beliebig werden.

    Referenzen und Einflüsse findet man bei XTC um Andy Partridge und Colin Moulding und den BEATLES der Sergeant Pepper-Phase. Ansonsten ist die CD sehr eigenständig und lebhaft geworden. Die Produktion ist kräftig und sauber, aber nicht steril. Macht Spaß!
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    From The Start From The Start (CD)
    11.12.2020
    Klang:
    5 von 5
    Musik:
    4 von 5

    Was ein Umzug von Australien nach Schweden alles bewirken kann.

    Der Australier Ryan Edmond zog vor vier Jahren von seinem Heimatland nach Schweden um. Solch ein Wechsel von Klima und Kultur löst sicher etliche Gedankenspiele aus. Damals begann der Musiker auch damit, die jetzt als "From The Start" auf seinem ersten Album versammelten Lieder zu schreiben. Die Songs haben also einen langen Reifeprozess hinter sich und erzählen direkt und indirekt von den Unterschieden und Gemeinsamkeiten der beiden Länder, aber auch von den Herausforderungen des täglichen Lebens.

    Vier Jahre Erfahrung hat Ryan kompakt auf 25 Minuten Musik zusammengefasst. Die Platte beginnt mit einer Hommage an seine neue Heimat "Stockholm", für die er die weiten sandigen Strände Australiens gegen die malerischen Wälder und Berge Schwedens getauscht hat, wie er es ausdrückt. Der Multiinstrumentalist hat für sein ganzes Album einen vollen Band-Sound eingespielt, der aus dieser Ballade einen vollmundigen, erwachsenen Folk-Pop mit wehmütig-erfahrenem Charakter und entschlossenem, kräftigen Rhythmus werden lässt.

    Beim Stück "From The Start" wird dieser Klang durch Einsatz von Funk- und Reggae-Anklängen sowie gelegentlichen Ausflüge in den Beinahe-Falsett-Gesang variiert. "Perfect" kommt rhythmisch gleichförmig daher, was dem Mid-Tempo-Folk-Rock jedoch eine sonderbar-anziehende Wirkung verleiht. "Walk On The Wild Side" (Lou Reed) trifft auf "I Feel A Whole Lot Better" (The Byrds).

    Zwei schon von Ryan Edmond bekannte Stil-Elemente werden für "If She Knew" neu kombiniert: Ein un-karibischer, nordisch-kühler Reggae-Vibe und der Einsatz eines Kornetts. Edmond hat das Spielen des Trompeten-ähnlichen Instrumentes von seinem Großvater gelernt und er setzt dessen Töne mehr oder weniger dominant auf dem gesamten Werk ein. Der Track durchlebt coole und lebhafte Phasen, die von rhythmischen und aufwühlenden Gitarren-Passagen begleitet werden. Das ist psychedelischer Pop-Reggae, der von mentalen Problemen erzählt.

    "Take It Easy" ist keine Cover-Version des Eagles-Songs, aber auch ein ausgeruhtes Lied, das neben Folk- und Rock- auch Jazz-Elemente transportiert, dabei jedoch stets konzentriert und zurückhaltend bleibt. Auch wenn gelegentlich der Eindruck entsteht, das Stück könnte jeden Moment aus sich raus gehen. Ryan Edmond lässt für "Rollercoaster" seine Stimme vereinzelt sinnlich jauchzen und verleiht dem locker fließenden Song damit eine spezielle, liebliche Note. Die unbeschwerte Leichtigkeit des "Sky Song" wird bewusst durch ein nüchternes Kornett-Solo aufgeraut. Das tut dem Track gut, denn es lässt ihn nicht in Wohlklang sterben, sondern verleiht ihm Güte und Würde.

    "From The Start" ist ein schönes Singer-Songwriter-Album geworden, in dem hörbar viel Liebe, Arbeit und Einfühlungsvermögen steckt. Wer Künstler wie Bruce Springsteen oder Ryan Adams liebt, der sollte diesem jungen Talent zumindest eine Chance geben!
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    Too Slow To Disco Neo: The Sunset Manifesto Too Slow To Disco Neo: The Sunset Manifesto (CD)
    11.12.2020
    Klang:
    5 von 5
    Musik:
    4 von 5

    Eine neue, moderne Folge der "Daytime-Disco"-Reihe.

    Gestartet wurde die Serie "Too Slow To Disco" im Jahr 2014 unter dem Slogan: "A Compilation Series Of Late 70s Westcoast Yachtpop You Can Almost Dance To." In Folge eins fanden sich dann solche Interpreten wie The Doobie Brothers, Fleetwood Mac, Chicago oder Nicolette Larson. Sie trugen wohlklingenden, glatten Soft-Rock bei, der nicht aneckte, aber auch nicht zu süßlich war. Perfekte Musik zum Auto fahren, zum Entspannen oder um an der Pool-Bar einen kühlen Drink zu genießen.

    Alle beinharten Westcoast-Sound-Fans, die die Musik der Endsechziger- und frühen siebziger Jahre liebten, rümpften damals nur die Nase über diesen für sie weichgespülten Pop. Sie erkannten die musikalischen Leistungen nicht an, die in perfekten Harmonien, meisterlichen Instrumentalbeiträgen und klaren Lead-Stimmen lagen. Für sie war das Verrat am komplexen, psychedelisch beeinflussten Sound solcher Country-Folk-Pop-Pioniere wie Crosby, Stills & Nash, James Taylor oder Jackson Browne.

    Inzwischen hat es neben der Ursprungsidee - von der es bisher drei Folgen gibt - noch weitere Ableger des Konzeptes gegeben: "The Too Slow To Disco Ladies" (Volume 1 + 2), "Too Slow To Disco Brazil (Compiled By Ed Motta)" und "Too Slow To Disco NEO (Vol.1 En France)". Die letztgenannte Sparte wird jetzt mit "The Sunset Manifesto" fortgesetzt.

    Wer bisher nur die Beiträge aus der Serie kennen und schätzen gelernt hat, die nicht den Zusatz NEO enthalten haben, der wird sich eventuell mit der neuen Folge schwer tun. Denn diese Zusammenstellung aus sechzehn exklusiven, unveröffentlichten Stücken orientiert sich oft am aktuellen Electronic-Dance-Pop-Geschehen und hat auf den ersten Blick fast gar nichts mit den geschniegelten Hochglanz-Songs aus den 1970er Jahren zu tun. Die aktuellen Tracks kommen manchmal scheinbar unverbindlich daher, so dass sie im Zweifel auch als reine Hintergrundbeschallung taugen würden. Aber hat man das nicht auch über die Easy Listening-Musik der 1960er und 1970er Jahre gesagt? Und heute haben deren Vertreter wie Burt Bacharach, The Carpenters, Sergio Mendes oder Herb Alpert Kultstatus und ihre unaufdringliche, zwingende Professionalität wird in den höchsten Tönen gelobt.

    Das könnte in Zukunft vielleicht auch für die Musiker von Poolside gelten, die mit ihrem "I Feel High" (im Vibes4YourSoul Remix) einen hypnotischen Chillout-Track geschaffen haben, der sowohl funky wie auch cool ist. Das Duo gehört zu den Pionieren der "Daytime-Disco"-Bewegung mit Querverweisen zum Westcoast-Sound der 1960er und 1970er Jahre. So verfassten sie z.B. eine Cover-Version von Neil Young`s "Harvest Moon" und zum 25sten Todestag von Jerry Garcia erschien mit "Shakedown Street" eine Hommage an The Grateful Dead. Das Original des Stückes war schon auf "Too Slow To Disco, Vol. 3" enthalten.

    Auch die umtriebigen Holländer Kraak & Smaak - die mit einigen anderen Teilnehmern dieser Zusammenstellung vernetzt sind - überzeugen mit ihrem unterhaltsamen "Hotel Sorriso", in das sie sowohl Elemente alter Krimi-Soundtracks ("Die 2") wie auch R&B-Rhythmik einbauen. Die Macher der "Too Slow To Disco"-Reihe haben auch erkannt, dass man mit brasilianischen Takten wenig falsch machen kann. Entsprechend ist der Brasilectro "Do Beijo" des DJ und Pianisten Yuksek (alias Pierre-Alexandre Busson) hinsichtlich des Akzeptanz-Faktors ein Selbstläufer. Bei "Vulf`s Back Pocket Regroove" von Moods handelt es sich um eine Cover-Version des Stückes "Back Pocket" der Funk-Band Vulfpeck. In dieser Interpretation wird versucht, mit einer gewissen rhythmischen Ähnlichkeit zu "Another One Bites The Dust" von Queen zu punkten.

    Disco, Smooth-Soul und Rap verleihen "Is It True" von Glamour Hammer ein Allerwelts-Gesicht. Der Titel bietet so ziemlich alle Klischees auf, die der Mainstream der Black Music zu bieten hat und biedert sich hemmungslos an, um bei Top-40-Hörern anzukommen. Prep lehnt sich mit dem stampfend-monotonen Rhythmus von "Love Breaks Down" an "I Can`t Stand The Rain" von Ann Peebles an. Dem Song fehlt es jedoch insgesamt an einem gesunden Maß an Raffinesse, Charme und Coolness.

    "Heart And Soul" von Turbotito besitzt einen beinahe schläfrigen Takt, der allerdings für einen hypnotisch-suggestiven Sog sorgt. Das klingt dann in etwa so wie "Blue Monday" von New Order auf Valium. Gekonnt ist eben gekonnt, denn Filip Nikolic, der hinter dem Pseudonym Turbotito steckt, war eine Hälfte von Poolside. Hinter dem Namen Diskobeistet versteckt sich der norwegische Produzent und Multi-Instrumentalist Thor Christian Maast. Er nutzt für "Baner Vei" die eindringliche Kraft der Minimal-Art und sorgt so mit mechanischen und elektronischen Klängen für ein akustisch-psychedelisches Science-Fiction-Abenteuer. "Think About It" vermittelt den Eindruck, als würden Frequenzen aus David Bowies "Let`s Dance" verwendet werden. Die Produkt-Informationen bestätigen das jedoch nicht. Die Satin Jackets schaffen aber hier einen elegant-mondänen Disco-Soft Rock-Hybriden, der durch kühlen, aber dennoch sinnlichen Gesang die richtige Würze erhält.

    Funk-Bässe, Dub-Effekte, Chill Out-Gesänge und Philly Soul-Streicher verleihen "... At Any Moment" von Luxxury bei aller Gleichförmigkeit im Rhythmus ein abwechslungsreiches Gesicht. Space-Disco meets Electro-Soul-Pop ist dann die Divise bei "Mistakes" von dem deutschen Musiker Sebastian Stuetz, der sich Final DJs nennt. Seine Remixe wurden unter anderem von Stevie Nicks und Elton John in Anspruch genommen. Der Ablauf von "Mistakes" offenbart einen unterschwelligen Groove, der sich ab dem zweiten Hördurchgang hinterlistig im Gehörgang festsetzt. "Windsurf" von Kimchii und "Take Me Back" von Roosevelt werden von einem sonnig-milden, relaxten Flair getragen, der den Stücken auf den "Café del Mar"-Zusammenstellungen ähnelt.

    Der Synthesizer klingt bei "Imagination" von Knight One - wie sich Billy Burki aus den Niederlanden nennt - nach dem Jazz-Rock-Fusion-Sound der 1980er Jahre. Das hört sich aus heutiger Sicht schon beinahe altertümlich an, passt aber gut als Kontrast zu dem weichen Gesang und dem swingenden Schlagzeug. Das Ergebnis kann stilistisch auch als kultivierter, balladesker Art-Pop durchgehen.

    Elektronischer Dream-Pop und Soft-Rock sind die Hauptbestandteile von "4 Step" des Duos Private Agenda aus London und Berlin. Damit bilden sie eine moderne Form des Yacht-Rock an, der die ursprünglichen "Too Slow To Disco"-Zusammenstellungen zierte. Das Gespür für smarte, verschachtelte Melodien und Verwendung punktgenauer Hooklines ist dabei herausragend und macht "4 Step" zu einem Highlight auf dieser Zusammenstellung. Das gilt genauso für James Alexander Bright mit seinem elegant fließenden, durch sirrende elektrische Gitarren auffallenden "Under The Sun". Und somit sorgt der Track für einen anspruchsvollen Abschluss für alle, die eine Fortsetzung des anfänglichen Konzeptes erwartet haben.

    "Too Slow To Disco Neo Presents The Sunset Manifesto" ist eine uneinheitliche Werkschau eines Sub-Genres, das sich leicht zwischen alle Stühle setzen kann. Je nach Erwartungshaltung oder musikalischer Sozialisierung werden Stücke dabei sein, die beim ersten Hören auf Ablehnung stoßen werden. Wer verfügt schon über so ein breites Spektrum, das sowohl Soft-Rock wie auch Electronische Dance Music umfasst? Aber genau darin liegt auch die Stärke der Song-Auswahl: Wer möchte, kann seinen Horizont erweitern und lernen, dass es auch in bisher nicht wahrgenommenen oder abgelehnten Bereichen gute Musik geben kann. Es ist zwar nicht alles Gold, was hier zu glänzen versucht, aber ein paar Edelsteine sind auch darunter.
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    Seasonal Shift Calexico
    Seasonal Shift (CD)
    08.12.2020
    Klang:
    5 von 5
    Musik:
    4 von 5

    Eine Weihnachtsplatte von Calexico?

    Wenn Musiker ein Weihnachtsalbum aufnehmen, dann sind sie meistens künstlerisch auf dem absteigenden Ast. Natürlich gibt es rühmliche Ausnahmen wie das 2006 erschienene Werk "One More Drifter In The Snow" von Aimee Mann oder die "Christmas EP" von Low aus dem Jahr 1999, die mit ihren besinnlichen Beiträgen für anspruchsvolle Festtagsunterhaltung gesorgt haben. Und jetzt springen sogar die über jeden Zweifel erhabenen Calexico auf diesen meistens kommerziell sehr lohnenden Zug auf. Vielleicht trügt da der Schein. Die Songs sind nämlich schon im Juni 2020 als Ersatz für eine ausgefallene Tournee entstanden, wobei die Aufnahmen unter Mitwirkung einiger Gäste zwischen Europa, Mexiko und den USA zwecks Ausgestaltung hin und her geschickt wurden. Laut Aussage von Joey Burns handelt es sich bei "Seasonal Shift" eigentlich gar nicht um ein typisches X-Mas-Album, sondern einfach um Lieder, die gut zum Jahresabschluss passen. So kann man das zwar auch formulieren, aber trotzdem ist der Charakter der Platte festlich und feierlich. Viel wichtiger als die Bezeichnung und Zuordnung der Musik ist jedoch deren Güte und Relevanz. Braucht man sowas oder deckt man lieber den Mantel des Schweigens über diese Aktion?

    Nun ja, hier gibt es Songs, die klingen genau so empathisch und exotisch, wie man es von Calexico erwartet ("Heart Of Downtown", "Natures Domain", "Glory`s Hope", "Tanta Tristeza", "Peace Of Mind"). Andere haben einen typisch weihnachtlichen Charakter ("Hear The Bells", "Christmas All Over Again", "Seasonal Shift") oder sind - wie sagt man es freundlich? - kindlich naiv ausgefallen ("Mi Burrito Sanero", "Sonoran Snowball"). Dazu gibt es mit John Lennon & Yoko Ono`s "Happy X-Mas (War Is Over)" noch eine prominente Cover-Version, zu der auch ein offizielles Comic-Strip-Video erstellt wurde.

    Die besinnlichen Stücke "Christmas All Over Again" (im Original von Tom Petty) und "Seasonal Shift" klingen in diesem Kontext wie halbherzige Verlegenheitslösungen, die aufgrund der im Sommer entstandenen Idee das Christfest-Konzept zu stützen versuchen, aber nicht über genügend Tragkraft verfügen.

    Es finden sich allerdings auch beachtenswerte Stücke auf dem Album. Allen voran das geheimnisvolle und fremdartige "Heart Of Downtown", das auf geschmeidige Art und Weise Anmut und einen unangestrengten Weltmusik-Groove zusammen bringt. Als Gast fungiert hier der nigerianische Sänger Bombino, der musikalisch für die Überwindung der Kluft zwischen seiner Welt und der westlichen Zivilisation steht. Die Klammer, die die Kulturen künstlerisch miteinander verbindet, ist die Hoffnung, dass die Zeiten besser und die Menschen solidarischer und toleranter werden.

    Silbrig schimmernde, perlend-glitzernde Xylofon- und Marimbafon-Töne bringen "Glory's Hope" instrumental zum Leuchten und Glänzen. Das klingt dann nach klirrender Kälte und sternenklarem Himmel.

    "Peace Of Mind" und "Nature`s Domain" sind dagegen traditionsbewusste, wehmütige Country & Western-Balladen, die relativ unsentimental zu Tränen rühren können. "Peace Of Mind" entstand um zwei Uhr nachts, ist entschlackt und führt Joey Burns an die Anfänge der Calexico-Aufnahmen zurück, die 1996 als "Spoke" erschienen. Als Inspiration für "Nature`s Domain" dienten Kinderbücher, die Abbildungen von frostigen Landschaften und Tieren im Winterschlaf enthielten. Um den kühlen Eindruck zu untermauern, wurden Nylonsaiten durch Stahlsaiten ersetzt und im Verlauf der Entwicklung des Stückes stellten sich Gedanken zum Klimawandel ein, die die Stimmung drückten.

    Auch "Hear The Bells" und "Tanta Tristeza" transportieren melancholische Stimmungen, die die Hörer sofort in einen Zustand versetzen, der sie verträumt in wehmütigen Gedanken schwelgen lässt. Das ist ein Qualitäts- und Markenzeichen, dass etliche Songs von Calexico auszeichnen. "Hear The Bells" ist sowas wie der Schlüssel-Song des Albums, denn es geht darum, sich Zeit für Erinnerungen zu reservieren, um innezuhalten und die eigene Situation zu reflektieren. Weihnachtszeit = nachdenkliche Zeit.

    Joey Burns baute zusätzlich ein Zitat aus dem mexikanischen Volkslied "Cancion Mixteca" ein, das er 1993 in der Version von Ry Cooder auf dem "Paris, Texas"-Soundtrack hörte, als er nach Tucson zog. In dem Lied geht es um Sehnsucht und den Verlust der Heimat. Die portugiesische Fado-Sängerin Gisela João legt einen wohligen Grauschleier über "Tanta Tristeza" und Martin Wenk spielt dazu eine traurige Chet Baker-Gedächtnis-Trompete. Bonjour Tristesse!

    In Summe ist "Seasonal Shift" das erste Calexico-Werk, mit dem ich mich nicht voll identifizieren kann. Fünf nicht überzeugende Stücke von insgesamt zwölf Beiträgen bilden schon eine relativ hohe negative Quote, die man von Calexico bisher nicht kannte. Aber für Fans und Komplettisten ist die Platte aufgrund der sieben sehr guten Songs kein Fehlkauf und wer es harmonisch-behaglich mag und zu Weihnachten mal was anderes als sonst hören möchte, der macht mit "Seasonal Shift" nicht grundsätzlich etwas falsch.
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