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    LittleWalter Top 25 Rezensent

    Aktiv seit: 03. September 2010
    "Hilfreich"-Bewertungen: 1112
    472 Rezensionen
    American Standards Ian Fisher
    American Standards (CD)
    06.03.2021
    Klang:
    5 von 5
    Musik:
    5 von 5

    Ian Fisher setzt nicht nur Standards, sondern auch die Messlatte hoch.

    Jetzt ist es schon wieder fünf Jahre her, seit der vielseitige Singer-Songwriter Ian Fisher einen "Koffer" in Berlin hatte und dies auch auf deutsch besungen hat. Seitdem ist er aber nicht untätig gewesen, sondern hat "Nero" (2016), die "Italian EP" (2018), "Idle Hands" (2018) sowie "Cherry Orchard" (2019) veröffentlicht. "Idle Hands" wurde sogar vom ROLLING STONE als "halb Americana und halb Abbey Road-würdiger Pop" bezeichnet.

    Der Künstler aus dem US-Bundesstaat Missouri, der aktuell in Wien lebt, ist ein Vollblutmusiker und Workaholic: Er soll schon über anderthalbtausend Lieder geschrieben haben und hat Hunderte von Konzerte in Europa, Nordamerika, Afrika und Europa gespielt, sowie an einer Handvoll von Theaterstücken in Wien und München teilgenommen. Bei Ian Fisher ist aber nicht nur die Quantität seiner Arbeit beeindruckend, sondern immer wieder auch die Qualität seiner abwechslungsreichen Kompositionen.

    Für "American Standards" wählte Ian Fisher zusammen mit dem Lead-Gitarristen und Produzenten René Mühlberger und den Musikern und Co-Arrangeuren Ryan Thomas Carpenter (Keyboards), Andreas Laudwein (Bass) und Camillo Jenny (Schlagzeug) aus 300 Demo-Versionen zehn Songs aus. Diese wurden zusammen mit fünf atmosphärischen Bonus-Tracks, die als kurze Übergänge zwischen den Stücken eingestreut werden, in einem malerisch gelegenen österreichischen Studio eingespielt.

    "American Standards" enthält also keine allseits bekannten Klassiker, sondern strebt den ehrgeizigen, selbstbewussten Anspruch an, die eigenen Kompositionen als kommende Evergreens zu präsentieren. Und tatsächlich hinterlässt das Werk einen im besten Sinne abgehangenen, durchdachten, abgerundeten Eindruck, bei dem die Stücke eine spezielle altersweise Patina aufweisen. Das kommt in besonderem Maße bei den ausdrucksstark interpretierten Liedern "Three Chords & The Truth" und "Winterwind" zum Tragen, die sich wie Country Folk-Urgesteine aus den 1960er und 1970er Jahren anhören. Als Vergleich fallen Künstler wie Jesse Winchester, Steve Young, Michael Dinner oder Eric Anderson ein. Diese in ihrer Schönheit unangreifbar erscheinenden Tracks nehmen eine unumstößliche Position ein, die keinen Widerspruch duldet und diesen auch unnötig erscheinen lässt.

    Aber auch die anderen Lieder haben es in sich: "Maybe A Little More" fängt eine melancholische Stimmung ein, die zwischen Bangen und Hoffen angesiedelt ist. Die Stimme taucht in eine Zwischenwelt ein, die sowohl Schmerz wie auch Verlangen ausdrückt. Gesanglich lässt das an den wehmütigen Ausdruck von Morrissey (ex-The Smiths) im verregneten London denken. "AAA Station" wird vom schwirrenden, kurzen "Endless Drive Thru" eingeleitet und atmet bald darauf weitläufige Country-Luft, kann aber auch seine elektrisierende Folk-Rock- und aufmunternde Power-Pop-Wurzeln nicht verleugnen. Der Song beinhaltet einen verwegenen, kreativen Stil-Mix, bei dem sich Ian Fisher als Bruder im Geiste von Daniel Romano präsentiert.

    Fishers Stimme vermittelt zwischendurch eine coole, leicht nasale Note, die eventuell auch als arroganter Ausdruck gedeutet werden kann und im Übrigen auch beim kraftvollen, selbstbewussten Song "American Standards" für Aufsehen sorgt. Das Lied fällt außerdem noch durch einen unwiderstehlichen Refrain, ein aufwühlend-treibendes Piano und leidenschaftlich lodernden Gesang auf. Das ist konstruktives Songwriting der Güteklasse A! Das instrumentale Zwischenspiel "Early Morning Haze" wird von einer singenden Pedal-Steel-Gitarre und wolkigen Keyboards in den Weltraum befördert. Bei dem sich anschließenden, demütigen, zu Tränen rührenden Country-Folk "Be Thankful" spielt die Pedal-Steel-Gitarre wieder eine Hauptrolle, weil es ihr gelingt, die Seele sanft zu streicheln. Wer hier nicht dahin schmilzt, hat ein Herz aus Stein. Ein Schnipsel der Folk-Song-Demo-Aufnahme "In Front Of Another" bildet dann den Übergang zum elegant groovenden, elektronisch verstärkten, hymnischen, Gitarren-verzierten Pop von "One Foot".

    "Melody On Tape" ist eine elektronisch-akustische Spielerei als Vorgeschmack zu "Melody In Nashville". Diese romantische, beatlesque Ballade lässt die Gitarre sanft weinen. Ian singt dazu zuckersüß, als wäre er ein Schüler von Roy Orbison gewesen. Mit "It Ain’t Me" präsentiert sich der Allrounder dann als am Rock & Roll geschulter Boogie-Man und füllt den hämmernden Rhythm & Blues mit einer großen Portion Soul-Pop auf. Bei "Only Church With A God I Pray To" spricht Mr. Fisher mit sphärischer Untermalung über seine Auffassung von Spiritualität, bevor mit dem sechseinhalb Minuten langen "Ghosts Of The Ryman" der ausführlichste und eindringlichste Song der Platte beginnt. Das Ryman Auditorium ist sowas wie der Tempel der Country-Music in Nashville. Hier fand von 1943 bis 1974 die legendäre Radio-Show Grand Ole Opry statt und Ian verbeugt sich mit dem Song vor diesem Auftrittsort in seinem Geburtsort. Und das nicht etwa mit traditionellen Mitteln, sondern mit einem Konglomerat aus Gospel-Country, Art-Pop, "Wish You Were Here"-Pink Floyd und Space-Jazz. Aber dennoch respektvoll und angemessen, sowie intellektuell durchdacht.

    Ian Fisher fühlt sich vom "White Album" der Beatles und von Neil Young`s "Harvest" inspiriert, weil diese Alben sowohl spartanisch instrumentierte wie auch üppig arrangierte Songs enthalten und trotzdem einen kompakten Eindruck hinterlassen. Eigentlich ist "Koffer" im Vergleich zu "American Standards" ein Werk, bei dem viel versucht und riskiert wurde. Damit nahm der Musiker bewusst in Kauf, auch scheitern zu können. Konzeptionell handelt es sich also eher um sein "White Album". Das aktuelle Werk erscheint trotz unterschiedlicher Ansätze insgesamt ausgeglichener und geordneter, wurde demnach eher wie "Harvest" gestaltet. Ian hat im Laufe seiner Karriere schon viel ausprobiert. So veröffentlichte er 2014 zusammen mit dem Berliner Musiker und Produzenten Fabian Kalker unter dem Namen Junior zwei Platten mit gediegenem Electro-Folk-Pop ("Junior Vs. Shakespeare EP" und "Self Fulfilling Prophets"). Seitdem wurde er immer sicherer und souveräner in seiner Kunst.

    "American Standards" ist übrigens auch der Name einer amerikanischen Toiletten-Marke. Der Mann hat einen feinen Sinn für doppeldeutigen Humor! Für die neue Song-Sammlung kanalisiert Ian Fisher seine Ideen in Sounds, nicht in Stil-Schubladen und erlangt dadurch einen höheren Grad an künstlerischer Freiheit. Das macht seine Kreationen so wertvoll und eigen. Spätestens jetzt sollte er eine breitere Öffentlichkeit ansprechen, denn er ist schon längst in der ersten Liga der wegweisenden Musiker angekommen.
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    Wyvern Lingo Wyvern Lingo
    Wyvern Lingo (CD)
    28.02.2021
    Klang:
    5 von 5
    Musik:
    5 von 5

    Sinnkrise als Kreativitäts-Schub: Die drei Frauen von Wyvern Lingo machen vor, wie das geht.

    Wenn man beinahe 30 Jahre alt ist, dann ist wahrscheinlich die richtige Zeit gekommen, um inne zu halten und sowohl zurück wie auch nach vorne zu schauen. Was habe ich bisher aus meinem Leben gemacht und welche Weichen habe ich gestellt? Was sollte ich korrigieren und wie soll mein Leben in 10 Jahren aussehen? Die ungestüme Jugend ist vielleicht in diesem Alter grade vorbei, aber die noch vorhandene Energie lässt jeglichen Stillstand unmöglich erscheinen. In dieser Phase befinden sich grade die drei irischen Jugend-Freundinnen Karen Cowley, Caoimhe Barry und Saoirse Diane, die als Wyvern Lingo ihr zweites Album "Awake You Lie" fertig gestellt haben.

    Von gegenseitigem Trost ist die Rede, der nötig tat, um die geschilderte Sinnkrise nicht nur einordnen sondern auch bewältigen zu können und die Erkenntnisse in die Lebensplanung einfließen zu lassen. Musikalisch setzt das Trio auf Vielseitigkeit. Als Einflüsse geben sie Classic-Rock-Acts wie Thin Lizzy oder Led Zeppelin sowie Singer-Songwriter wie Joni Mitchell oder Simon & Garfunkel an, die sie über die Platten-Sammlungen ihrer Eltern kennen gelernt haben. Außerdem fließen eigene R&B-Vorlieben für Destiny's Child, Solange, Beyoncé oder Rhianna als Sound-Vorstellungen in ihre Songs mit ein. Unvereinbare Gegensätze? Nicht für Wyvern Lingo!

    Zwischen den drei Frauen wird Harmonie groß geschrieben. Sie gehen offen und ehrlich miteinander um und kennen sich so gut, dass sie wie eine geschlossene Einheit agieren können. Ihr Handeln ist so aufeinander abgestimmt, dass individuelle Gesichtspunkte bestimmend bleiben, die Musikerinnen dabei jedoch ihre Kenntnisse konzentriert zum Wohle der Kompositionen einsetzen. Der Auftakt "Only Love Only Light" drückt dies alles aus: Würde, verführerischer Überschwang, rhythmischer Trotz sowie stimmliche Eigenarten und gleichgesinnter Einklang.

    Die Ballade "Rapture" verbindet Folk und Soul so miteinander, dass sowohl sinnliche wie auch romantische Gefühle betont werden. Beim selbstbewussten, soft-rockigen "Don't Say It" spielen sich die Damen nach und nach frei. Sie entwickeln dabei eine aktiv-bewegliche Strömung, die das Lied organisch vorwärts trägt und zum Schluss in Überschwang münden lässt.

    Die Lieder "Sydney" und "Aurora" profitieren von den Classic-Rock-Kenntnissen der irischen Frauen, weil sie dadurch genau wissen, wie sich ein spannendes Gitarren-Solo anhören muss: Zwingend, derbe, melodisch grundiert und möglichst nicht zu lang sollte es sein. Dann kann das Stück auch noch gerne in eine charmante Soul-Umgebung eingebunden werden. Also: Alles richtig gemacht! Das perlende E-Piano verheißt bei "There's A Place" empfindsame, genüssliche Leichtigkeit. Der Gesang suggeriert erwartungsvolle Verlockungen und der Rhythmus vermittelt heftiges Herzklopfen. "Things Fall Apart" wuchert danach mit Dynamiksprüngen, Intimität, Kraft, Durchsetzungsvermögen und Individualität, dass es eine Freude ist. Mit Frische, ungewöhnlichen Einfällen und warmherzigen Gesängen erobert der Track das Gehör im Sturm.

    Der Folk-, Pop- und Rock-Einfluss von "Ask Away" wird mit dezenten Funk-Rhythmen angefüttert, die den leidenschaftlich gesungenen Track treu begleiten und ihn vor ausufernden Gefühls-Auswüchsen beschützen. Was als soulige Piano-Ballade beginnt, führt bei "Full Height" zu einem übermütigem Pop-Chanson mit sehnsüchtigem Gesang und aufgewühltem Temperament bei flehender Emotionalität. Eine drängende Gefühlslage wird hier komprimiert dargestellt, was sehr intensiv rüber kommt.

    Auf einem jazzig swingenden Untergrund gleitet "In Colour / On The Mend" geschmeidig dahin und beschwört die beseelte Spiritualität der Gospel-Musik, die Kraft spendenden Geister des Folk-Rock und die meditative Ruhe von Space-Sounds herauf. Heraus kommt ein origineller, weltoffener Track mit ungewöhnlichen Wendungen, die erstaunlicherweise Sinn ergeben und gut zusammen passen.

    War der Erstling "Wyvern Lingo" (was soviel wie "Spezialsprache der zweifüßigen Drachen mit Flügeln" heißt) aus 2018 schon ein überzeugendes Album, so ist "Awake You Lie" hinsichtlich Kompaktheit und Ideenreichtum ein weiterer Schritt nach vorne in Richtung unsterblicher Pop-Musik. Bunte Sound- und Stil-Verwirbelungen sorgen weiterhin für unterhaltsame Attraktivität. Das Trio verfügt über eine ausgeprägte Musikalität mit einem untrüglichen Gespür für stilistisch breit angesiedelte Kompositionen, die Anspruch und Hingabe sowie Tradition und Moderne unvoreingenommen zusammen bringen.

    Die Musikerinnen haben noch eine Botschaft zu ihrem zweiten Album parat: "Ein wiederkehrendes Bild während des Schreibprozesses dieses Albums war das Licht, der Mangel daran und der Wunsch, die Dinge klarer zu sehen, für uns selbst und andere. Wir haben das Album „Awake You Lie" genannt, weil es ein Bild der Nacht heraufbeschwört, wenn jemand schlafen sollte, es aber nicht kann, weil er unruhig ist oder sich Sorgen macht. Im Licht des Tages sind die Dinge immer klarer." "Awake You Lie" macht Mut - nicht nur in Pandemie-Zeiten.
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    Glowing In The Dark Django Django
    Glowing In The Dark (CD)
    12.02.2021
    Klang:
    5 von 5
    Musik:
    5 von 5

    Bei "Glowing In The Dark" wird POP ganz groß geschrieben.

    Wie nähert man sich dem Sound des 2008 in London gegründeten Quartetts Django Django an, wenn isoliert betrachtet die aktuelle, vierte Platte "Glowing In The Dark" im Fokus stehen soll?

    Vielleicht erst einmal, indem verdeutlicht wird, dass diese Formation stilistisch vor nichts zurückschreckt. Betrachtet man deren Zusammenstellung aus der "Late Night Tales"-Serie, dann wurde dort das Akustik-Gitarren-As Leo Kottke neben dem Minimal-Art-Künstler Philip Glass und den Trip-Hoppern von Massive Attack angeordnet. Aber auch James Last mit seiner Version des "Inner City Blues" von Marvin Gaye und eine eigene Cover-Version des "Porpoise Song" der Teeny-Pop-Band The Monkees aus dem Jahr 1968 wurde ausgewählt. Die Band drückt das so aus: "Django Django`s "Late Late Tales" nimmt Sie mit auf eine psychedelische Reise aus Blues, Jazz, Leftfield-Rock, Hip Hop und Electronica". Was für eine Bandbreite, die unter anderem auch noch Blues, harten Indie-Rock und Soul beinhaltet.

    Entsprechend der mannigfaltigen Erfahrungen und Interessen lassen Django Django für "Glowing In The Dark" ein Feuerwerk an Assoziationen aufleuchten und jede Menge ungewöhnliche Ideen von der Kette. Der Opener "Spirals" symbolisiert mit seinen sich abenteuerlich beschleunigenden, elektronisch erzeugten Akkorden die gedrehte DNA-Struktur. Somit den Strudel des Lebens und die Essenz des Seins. Der Song handelt davon, dass uns als Menschen mehr miteinander verbindet, als uns trennt. Der Song wirbt also um Toleranz. Der coole, an New Order orientierte Bass bringt den Track zusammen mit dem galoppierenden Schlagzeug auf die Tanzfläche. Der konzentrierte Gruppengesang sowie das energisch-optimistische Surf-Rock-Gitarrensolo sorgen daneben für stabilisierende, sympathische Schwingungen, während die Keyboards die vorhandenen Lücken mit kitschig-wolkigen Orchestral Manoeuvres In The Dark-Klang-Nebeln ausfüllen. Das hat großes Hit-Potential!

    An diesen Adrenalin-Kick dockt das muntere "Right The Wrongs" mit leicht schrägem New Wave-Sound direkt an. Hat da jemand Devo gerufen? Gar kein schlechter Vergleich! Wie bei einem Staffellauf wird der Stab mit den Inhaltsstoffen aus dem Vorgängerstück an "Got Me Worried" weitergegeben. Im Klartext: Devo treffen auf die Monkees, deren gut gelaunte Stimmung es bis nach Brasilien geschafft hat, wo sie mit Samba-Zutaten angereichert wird. Der 60s-Pop fühlt sich hörbar wohl am Zuckerhut!

    Für die angenehm leichte und frische, aufs Lustzentrum abzielende Mid-Tempo-Nummer "Waking Up" trägt Charlotte Gainsbourg erotisch angereicherten Gesang bei. Sex sells! "Free From Gravity" bedient sich bei den Eingangs-Sequenzen des Southern Soul-Songs "I Can't Stand The Rain" von Ann Peebles und lässt sich danach auf einen Ablauf ein, bei dem der eingängige Refrain zu Tode genudelt wird. Schade drum, denn da wäre bei weniger Wiederholungen mehr Spannung drin gewesen. Eine vertane Chance!

    "Headrush" geht da direktere Wege, lässt druckvollen Schwung aufkommen und bietet melodisch differenzierte Formate an, die aus dem Gewöhnlichen das Besondere machen. Der zielgerichtete Weg ist manchmal auch der attraktivere! Das Instrumental-Stück "The Ark" wildert in der Erfahrungslandschaft, die Brian Eno und David Bowie 1977 für "Low" ersonnen haben: Elektronische Spielereien, die auf Kraut-Rock-Erfahrungen beruhen, führen zu einem kruden Science-Fiction-Soundtrack. Zurück in die Zukunft!

    Der Boogie-Blues "Night Of The Buffalo" trifft auf nostalgische Harmonien, wie sie von The Zombies oder The Association in den 1960er Jahren ins Leben gerufen wurden. Ein organisch eingebundenes, orientalisch anmutendes Zwischenspiel und ein kammermusikalisches Streicher-Outro sorgen neben dem weit gefassten Umfang des eingesetzten musikalischen Geschichtsbewusstseins für weiteres Erstaunen. Die ehrwürdigen Geister der Vergangenheit werden aus der Flasche gelassen! Und schon wieder ein Richtungswechsel: Stilecht wird "The World Will Turn" als romantischer, mehrstimmiger Country-Folk aufgeführt. Und zwar so überzeugend, als wäre das Lied ein Outtake von den Milk Carton Kids. Das ist Qualität jenseits von Zeit und Raum!

    "Kick The Devil Out" lässt dann den Funk in den Pop einziehen, wobei beide Stile etwa zu gleichen Anteilen vorhanden sind: Der Funk bestimmt den Rhythmus und der Pop die Melodieführung. Eine demokratische Gestaltung, wenn man so will! Der Track "Glowing In The Dark" ist von Electronic Dance Music geprägt. Harte Beats und repetierende Refrains erzeugen ansteckendes Futter für den Tanzboden. Das Funkeln im Dunkeln ist das Laser-Licht!

    "Hold Fast" benutzt hypnotische, sich wiederholende Takte, wie sie ähnlich bei der Gamelan-Musik aus Bali üblich sind, um trance-artige Zustände zu simulieren. Dieses Konstrukt wird allmählich in eine weiche Umgebung eingebunden, so dass die gleichförmige Taktfrequenz besänftigt wird und ein beschwingtes, lieblich-optimistisch wirkendes Stück entsteht. Fernöstliche Traditionen verschmelzen mit westlichem Dynamik-Verständnis! Zwischen Supertramp ("The Logical Song"), Neu! ("Für immer") und Peter Frampton ("Show Me The Way") ist "Asking For More" angesiedelt. Das ist Unterhaltungs-Musik, die sowohl den Mainstream-Konsumenten wie auch den verwöhnten Art-Pop-Gourmet anspricht. Gelobt sei, was Spaß macht!

    Bei "Glowing In The Dark" wird POP ganz groß geschrieben. Sowohl Pop als Unterhaltungsansatz wie auch als Kulturgut. Es geht nicht darum, die Hörer mit modischen Attributen abzuspeisen oder das zu reproduzieren, was grade angesagt ist und die Charts flutet. Musik wird als eine umfassende Errungenschaft betrachtet, deren wertvolle Bestandteile gehegt, gepflegt und erhalten werden müssen. Vincent Neff (Gesang und Gitarre), David Maclean (Schlagzeug und Produktion), Jimmy Dixon (Bass) und Tommy Grace (Keyboards) bewegen sich souverän zwischen Kunst und Kitsch und erheben dabei ihre Kompositionen zu einer universellen Klangsprache mit Niveau und individuellem Ausdruck, die ein breites Spektrum an Ausdrucksmöglichkeiten abdeckt. Völlig ohne Scheuklappen gelingen so Kombinationen, die aus historischen und aktuellen Tonmustern zeitlos relevante Songs entstehen lassen.
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    12.02.2021
    Klang:
    5 von 5
    Musik:
    5 von 5

    "SAFT" ist reifer, nachdenklicher, erkämpfter. Meinen die Botticelli Baby-Musiker.

    Sandro Botticelli war ein italienischer Maler, der der Renaissance zuzurechnen ist und vom 1. März 1445 bis zum 17. Mai 1510 lebte. Zu seinen bekanntesten Werken gehört die "Geburt der Venus", welches um 1485 herum entstanden sein soll. Auf dem Gemälde ist jedoch nicht die Geburt der Göttin Venus, sondern deren Landung auf der Insel Zypern dargestellt. Vortäuschung falscher Tatsachen? Vielleicht, aber niemand wird deshalb von dem Bild enttäuscht sein, denn die Kraft und Fantasie, die es ausstrahlt, spricht für sich. So verhält es sich auch mit der Musik des Septetts Botticelli Baby aus Essen: Der Name der Gruppe, ihre Herkunft und die Zuordnung innerhalb der Stile ist nicht von Bedeutung, sondern nur die Wirkung, Energie und Eindringlichkeit ihrer Musik zählt.

    "SAFT" kann gesund und heilsam sein, was für die Formation Botticelli Baby als Metapher für den Albumtitel reicht. Ihre Konzerte bezeichnen die Künstler als Saftpartys, nämlich als "eine von Botticelli Baby durchgeführte Veranstaltung, die zur Vermittlung eigener Seinszustände und Ideen zum Weltgeschehen, durch musikalischen und vokalen Vortrag zum Mitmachen und Räsonieren animiert". Aber genug der Theorien und den absichtlich im Nebel gehaltenen Beschreibungen, Einschätzungen und Zuordnungen der Botticelli Baby-Musik. Halt, eins noch, das möchte die Gruppe noch zu ihrem dritten Album loswerden: ""SAFT" ist reifer, nachdenklicher, erkämpfter. Die Soli erzählen mehr Geschichten, die Texte sind poetischer. Die Party zum Leben fehlt jedoch keines falls. Vielschichtig ist dieses Album und facettenreich, wie immer..."

    Was gesagt werden muss, muss gesagt werden. Da drucksen die Botticelli Baby-Männer nicht unnötig rum. Von ausgedehnter Weiterentwicklung und von ausgelassener Party-Stimmung ist die Rede. Das macht neugierig. Die Einleitung ("Prelude") zu "SAFT" lässt den Hörer aber weiterhin darüber rätseln, wohin die Klang-Reise gehen soll. Sind Botticelli Baby etwa eine verkappte Zirkuskapelle oder stammen die Musiker eventuell vom Balkan?

    "The Inner Hulk" räumt dann mit diesen Annahmen vollständig auf. Der Bass wummert druckvoll, brachial, dominant und trocken, als würde das Herz bis zum Hals schlagen. Die Bläser-Fraktion sorgt mit klug hingetupften sowie raumfüllenden Show-Band-Einlagen für Stil-Verwirrung und glänzt zwischendurch mit inspirierten Solo-Einlagen, die dem Track einen Sinn stiftenden Anstrich verleihen. Der Gesang folgt dieser scheinbar ins Nichts führenden Mischung konstant auf gleichmütige Art und Weise. Die Gruppe liefert damit eine geschmackvolle Visitenkarte ab, die die Grenzen zwischen Lied und Lautmalerei neu bestimmen.

    "Joy Passed By" swingt und rockt im gediegenen Retro-Sound. Feurig umgarnen sich die Musiker und sorgen mit Teamgeist und Elan für Spaß. Das ist der Stoff, der seit ewigen Zeiten Tänzer anlockt und diese dazu animiert, aus sich heraus zu gehen. Das ist auch der Urschleim, aus dem Jazz, Rhythm & Blues und Rock & Roll gekrochen sind. "Kiss Me" hinterlässt den Eindruck einer kraftvoll-süffigen Brass-Band, die genauso gerne Funk- wie Jazz-Grooves verarbeitet. Und sogar Marschmusik steckt da als zusätzlicher, kurzzeitiger Animateur drin. Auch hitzig-beklemmender Thriller-Jazz klingt an. Brodelnd und spritzig zeigt der musikalische Kompass hier nach New Orleans, wo der Mardi Gras auf diese Kapelle wartet.

    Beschaulich-ausgleichend legt sich für "Vagabond In A Dandy Suit" ein Bläser-Teppich über den unruhig-nervösen Rhythmus. Der Song wird mutig vorwärts gepeitscht und von abenteuerlichen Solo- und Ensemble-Exkursionen durchzogen. Die kleine Big Band sorgt mit unvorhersehbaren Wendungen für große Überraschungen. Sowohl zupackend, elegant und verspielt, als auch sanft perlend erscheint "Follow Me". Die Musiker lassen dabei in knapp viereinhalb Minuten hymnisch-intimen Jazz, coolen Smooth-Funk und psychedelischen Rock ineinander laufen. Suggestiv-hypnotisch fordert die Stimme: "Follow me, I`m fallin`" und die Musik gerät dazu in einen verheißungsvoll-rätselhaften Strudel.

    Trauer und Wut liegen manchmal dicht beieinander. So auch bei "Yes". Hier tropfen die Noten zunächst schwer belastet zu Boden. Sie ordnen sich dann zu einem zähen Schwall und zerbersten schließlich unter lautem Getöse mit Unterstützung von heftigem, bösem Gesang. Danach tritt Zufriedenheit ein. Punk und Jump-Blues stellen die Inhaltsstoffe zur Verfügung, aus denen das flotte "Plant Pot" und das rasante "Crash Test Dummy" gebastelt wurden. Die Rhythmus-Fraktion treibt die Stücke an und die Bläser greifen den Schwung auf, um ihn zu konservieren. Kurze Verschnaufpausen sorgen bei dem hohen Tempo dafür, dass sich die euphorisierten Akteure sammeln und neu orientieren können.

    "1:30" ist zwei Minuten lang und reflektiert mit seinem schwindelerregenden Tempo und seiner aufbrausenden Dynamik das wilde, ausschweifende Nachtleben der 1920er Jahre. Ein Einsatz des Tracks in der Serie "Babylon Berlin" ist deshalb nicht ausgeschlossen. "New Year Chez Les Vikings" steigert sich von lyrisch-ruhigen Momenten über saft(!)ige Fanfaren bis hin zu ekstatisch-eruptive Free-Jazz-Ausbrüche und "Ballerspring" fördert zum Schluss weitere kreative Ideen von Marlon Bösherz (Gesang, Bass), Alexander Niermann (Trompete), Jörg Buttler (Gitarre), Lucius Nawothnig (Piano), Maximilian Wehner (Posaune), Jakob Jentgens (Saxophon) und Tom Hellenthal (Schlagzeug) zu Tage. Die Gemeinschaft bringt das dynamisch in alle Richtungen ausschlagende Stück mit Energie, Fantasie, Übersicht und jeder Menge Spontanität über die Ziellinie.

    Der Gesang und die Instrumente hinterlassen bei "SAFT" den Eindruck, als wäre die Musik nicht komponiert worden, sondern würde erst als logische Folge aus der Gedankenwelt des Sängers spontan entstehen. Es ergibt sich quasi eine fruchtbare Allianz als Call & Response Situation zwischen den Schwingungen der Stimmbänder und denen der Instrumente. Der Gesang von Marlon Bösherz hält den bunten Kosmos von Klängen und Emotionen dabei mit Übersicht zusammen. Er dirigiert, spaltet sich ab, verstärkt und besänftigt - alles um die elektrisierende Wirkung der Kompositionen zu erhalten. Ohne Stimm-Beitrag wäre die Gruppe "nur" ein exzellentes Crossover-Ensemble. So besitzt sie ein individuelles Alleinstellungsmerkmal, aufgrund dessen sie in keine Schublade passt. Die Musik überzeugt ohne Etikett durch traumwandlerisches Timing, solistische Sahnestücke sowie je nach Bedarf, entweder druckvollem oder sensiblem Zusammenspiel.
    For The First Time Black Country, New Road
    For The First Time (CD)
    07.02.2021
    Klang:
    5 von 5
    Musik:
    5 von 5

    Anstrengend und anregend, so klingt das erste Album von Black Country, New Road.

    Nach zwei Singles aus 2019 liegt ab dem 5. Februar 2021 das erste Album "For The First Time" mit 6 Tracks vor, das es auf eine Länge von etwa 40 Minuten bringt. Die einzelnen Stücke sind dabei zwischen fünf und zehn Minuten lang. Kein Radio-Format also, aber die Musik ist sowieso nicht für den oberflächlichen Konsum im Mainstream-Segment geeignet. Hier geht es zur kraftvoll-wild zur Sache, kunstvoll arrangierte Elemente kommen aber auch nicht zu kurz. Als grobe Orientierung lässt sich die Musik als Art-Punk einordnen.

    Mächtige Bässe und heftig-schneller Trommelwirbel leiten das Album mit einem "Instrumental" ein. Eine stoisch piepsende Orgel und melodisch wiederkehrende E-Gitarren-Akkorde sowie fidele Klezmer-Sounds folgen. Dieses bunte Treiben, das Weltmusik, Minimal-Art und Jazz resolut und seltsam miteinander vermengt, schafft schon eine gewisse Vorstellung davon, wie sich die Gruppe auf der Bühne präsentiert, um ihr Publikum zu fordern und ihm ordentlich einzuheizen.

    Kreiselnde, unrund erscheinende E-Gitarren werden bei "Athens, France" von einem harten Beat gestützt. Ein Wechselbad der Gefühle beginnt: Allmählich taumelt das Stück in schwebend-fragile Traumgefilde hinein. Die zunächst zornig-leidende Stimme geht in diesem Zusammenhang in einen erklärend-desillusionierten Sprech-Gesang über, bevor sich aggressive und kompromissbereite Töne immer wieder abwechseln.

    Die E-Gitarren werfen Splitterbomben, wie einst Jimi Hendrix beim Woodstock-Festival. Aber nur kurz. "Science Fair" gerät danach in eine abwartende Phase, in der sich Sänger Isaac Wood immer mehr in Rage redet. Die Gitarren wüten erneut und die Konstruktion scheint auseinander zu fallen. Das Saxophon steuert dazu freiesten Free-Jazz bei, bevor sich die Stimmung leicht beruhigt, aber stetig am Kochen gehalten wird. Aber es kommt doch noch zum Punk-beschleunigten Sound-Orgasmus: Alles klirrt, kracht, schreit und dröhnt. So in etwa muss sich die Apokalypse anhören. Was für ein heiliger Krach.

    Als gäbe es nicht schon genug Chaos, verzerren die Gitarren auch für "Sunglasses" die Töne atonal. Aber das ist nur das Vorspiel für einen beinahe konventionell ablaufenden Art-Rock, der von seiner dynamischen Steigerung profitiert. Es kommt auch hier zum Showdown und Zusammenbruch des Systems. Aber die abgewrackte Song-Kreatur erholt sich wieder und macht sich angeschlagen und trotzig auf einen von Krisen geschüttelten Weg.

    Bei "Track X" siegt eindeutig die Ordnung gegenüber der Zersetzung. Die Komposition setzt auf sich stetig wiederholende Akzente zur Intensivierung des Höreindrucks. Zusätzlich werden harmonische Zwischentöne eingebaut, wodurch der Song neben seiner intellektuellen Erscheinung noch eine volkstümliche Note erhält.

    "Opus" bildet dann die Klammer über das bisher Gehörte und bezieht alle verwendeten Ideen ein: Klezmer-Folk, Free-Jazz, Art-Rock und Post-Punk begegnen sich hier nochmal ausgelassen und unkonventionell.

    Was May Kershaw (Keyboards), Charlie Wayne (Schlagzeug), Luke Mark (Gitarre), Isaac Wood (Gesang und Gitarre), Tyler Hyde (Bass), Lewis Evans (Saxophon) und Georgia Ellery (Violine) hier fabrizieren, ist wahrlich nichts für schlichte Gemüter. Man muss musikalisch schon in Abgründe geschaut und das gemocht haben, um an dieser schräg wirkenden Musik Vergnügen zu haben. Das Ensemble hat die Platte innerhalb von sechs Tagen unter Live-Bedingungen aufgenommen, was der Vermittlung von unmittelbarer Leidenschaft gut getan hat. Die Formation wirft mit Dreck, provoziert, lässt der Energie freien Lauf und kreiert originelle Fantasie-Gebilde, dass es eine Freude in Form eines reinigenden Gewitters ist. Die Musik elektrisiert, macht Spaß, schockiert, rüttelt auf und ist auf angenehme Weise durchgedreht. Was will man mehr?
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    29.01.2021
    Klang:
    5 von 5
    Musik:
    5 von 5

    Die Lieder von Anna B Salvage sind spannend, ungewöhnlich und bewegend.

    Es gibt Künstler, die provozieren einfach nur, um Aufmerksamkeit zu bekommen. Und dann gibt es welche, da gehört die Provokation zum Konzept, nämlich um verkrustete Zustände aufzubrechen, Denkanstöße zu liefern oder Hörgewohnheiten in Frage zu stellen. Auch Anna B Savage aus London fiel schon vor "A Common Turn" mit scharfen, herausfordernden Thesen zum Thema Lust und Selbstbestätigung der Frau auf. Aber kann sie diesen klaren Worten auch überzeugende Taten in Form von bahnbrechender Musik folgen lassen? Oder war der Aufruhr bloß ein Marketing-Trick, um von den Medien wahrgenommen zu werden?

    Der Titel, der schon vorab für Wirbel gesorgt hatte, war "Chelsea Hotel #3". Das Chelsea Hotel im New Yorker Stadtteil Manhattan ist in den 1960er Jahren als Künstlerhotel bekannt geworden. Größen wie Salvador Dali, Nico, Bob Dylan oder Jimi Hendrix haben dort übernachtet. Leonard Cohen schrieb den Song "Chelsea Hotel #2" über eine dort stattgefundene amouröse Liaison mit Janis Joplin. Anna B Savage erzählt nun von einer eigenen schlüpfrigen Begegnung, bei der der Cohen-Song eine Rolle spielt und fertig ist der (Beinahe)-Skandal. Das unheimlich schlingernde, zerrissene "Chelsea Hotel #3" bleibt lange im bloßen Erzählmodus, bevor sich melodische Hard-Rock-Gefüge herausbilden. Im Lied geht es um sexuelle Befreiung und das ist alles andere als billige Selbstdarstellung.

    Kann ein Drogenrausch in Töne umgewandelt werden? Daran haben sich unter anderem schon Tim Buckley ("Lorca", 1970) und The Stooges ("Fun House", 1970) versucht. Das eineinhalbminütige "A Steady Warmth", das "A Common Turn" eröffnet, versucht mit halluzinogenen und fiebrigen Klängen ähnliche Wege zu gehen. Aber schon das folgende "Corncrakes" schlägt einen etwas konkreteren Kurs ein. Der sinnestrügende elektrische Folk-Rock nimmt Jazz-Einflüsse auf. Er spielt mit verdrehten Melodien, spannungsgeladenen Brüchen und einem Gesang, der ein sanftes Tremolo und durchdringende Erregung aufzuweisen hat, was zu beschwörender Intensität führt. Das Stück transportiert verwinkelten West-Coast Hippie-Rock, der das Gehirn auf komplexe Hör-Abenteuer schickt. Die E-Gitarren lauern in Angriffsstellung, begnügen sich aber mit lässiger Rhythmus-Begleitung. Der Bass füllt die Lücken, die der Background- und Lead-Gesang noch übrig lässt, so dass ein relativ dichter Sound-Teppich entsteht. Anna irritiert den Hörer noch zusätzlich, indem sie mit Tempo-Varianten spielt und dem Song so ein gewisses Eigenleben einhaucht.

    "Dead Pursuits" ist stimmlich von Drama durchzogen. Von verletzlich über traurig bis hin zu verzweifelt wird eine beklemmende Gefühlspalette abgegriffen. Aber die Musikerin jammert nicht, sie klagt sich vielmehr selber an, denn sie ist zutiefst betrübt über ihre belastenden Unsicherheiten. Musikalisch finden sich bei diesem wogenden, tragischen Chanson trotz allem immer wieder Anhaltspunkte für Optimismus. Für "BedStuy" werden bei aller angemessenen Zurückhaltung auch brachial treibende Elemente der Electronic-Dance-Music verwendet, ohne dass der Track dadurch tanzbar erscheint. Dennoch bewegt er sich vom Schatten ins Licht und überwindet dabei eine gewisse emotionale Zerrissenheit. Die wortreiche Ballade "Baby Grand" ist im Vergleich dazu beinahe sanft, wenn auch nicht weniger intensiv. Dieses Liebeslied beschreibt prägende Momente, die mit der ersten vergangenen, aber nicht verarbeiteten großen Liebe verbunden sind.

    Himmelhoch jauchzend und zu Tode betrübt sind zwei Gemütszustände, die die Psyche tüchtig durcheinander rütteln können. So verhält es sich auch mit "Two": Zeitlupenhafte Tristesse-Schauer stehen dicht neben Maschinengewehr-artigen Rhythmus-Gewittern und erschüttern die Wahrnehmung bis ins Mark. Die E-Gitarren-Akkorde scheinen am Anfang sogar dafür zu sorgen, dass die Luft zersplittert. Der Gesang ist voller Leid, reflektiert eine gequälte Seele und erinnert so an die schwarze Folk-Ikone Odetta. Mit Erscheinen der Rhythmus-Befeuerung erhält die Stimme Rückendeckung und zeigt wieder Kampfgeist. Der Song "A Common Tern" (nicht Turn) baut mächtigen Druck auf, so als würde ein Flugzeug starten. Der Track strotzt vor neu erlangtem Selbstvertrauen, denn er erzählt vom Entkommen aus einer als toxisch bezeichneten Beziehung. Und so wird aus einer gemeinsamen Wende (= A Common Turn) eine Fluss-Seeschwalbe (= A Common Tern) als Symbol für Freiheit. Musikalisch liegt das Lied zwischen intelligentem Folk- und strammem Art-Rock und überzeugt auf ganzer Linie durch seine Kraft und Raffinesse.

    So lieblich, wie es der Musikerin nur möglich ist, agiert sie im Sinne der zerbrechlichen Ballade "Hotel". Aber süßliche Überzeichnung ist nicht ihr Ding und so wird der Song zu einem ähnlich entblößenden Gesangsereignis wie die Art-Pop-Arien von Anohny. "One is the loneliest Number" sang Harry Nilsson 1968 so treffend wie auch unnachahmlich prachtvoll und der Track wurde 1999 wunderbar von Aimee Mann gecovert. Dieses "One" ist keine Cover-Version, sondern der aufgeräumte, zuversichtliche Abschluss einer mutigen, eigenwilligen Platte einer außergewöhnlich beachtlichen Künstlerin. Auch wenn den Liedern eine gewisse Morbidität nicht abzusprechen ist, so verkörpern sie bei aller Komplexität ein Bekenntnis zur Liebe. Das ist keine leichte Kost, aber eine Demonstration mit reinigender Wirkung. Hier singt jemand mit Lebenserfahrung zu uns, damit wir wissen, dass wir mit unseren Fehlern, Gewissensbissen und gemischten Gefühlen nicht alleine sind.

    Die Musik auf "A Common Turn" ist eigenwillig und stark wie die von Tim und Jeff Buckley. Sie verzückt wie manches von Joni Mitchell, zeigt sich sperrig wie vieles von PJ Harvey und psychedelisch berauscht wie einiges von Jefferson Airplane. Die besten Referenzen also für diese im positiven Sinne verrückten, bizarren Klänge. Anna B Savage hat schon mit diesem ersten Longplayer eine individuelle, markante Ausdrucksform gefunden. Die Art der kompromisslosen, durchdringenden Vortragsweise erinnert an David Keenans Meisterwerk "A Beginner`s Guide To Bravery" aus dem letzten Jahr. Die beiden Künstler könnten Geschwister im Geiste sein.

    Ist die Musik nun ein Therapieansatz oder ein Reifezeugnis oder ein Ausdruck der Persönlichkeit einer offenen, verletzlichen und mutigen Künstlerin? Vielleicht ist von allem was drin, denn Anna hat schon früh gelernt, dass sich mit Hilfe der Kunst Dinge ausdrücken lassen, die abseits davon gar nicht oder nur ungenau offen gelegt werden können. Ihre Eltern waren Klassik-Sänger und so verbrachte das Mädchen die Kinder-Geburtstage im Green Room der Royal Albert Hall. Eine gewisse Vorprägung war also unvermeidbar. 2015 brachte die Singer-Songwriterin dann ihre erste 4-Track-EP heraus, die von Father John Misty wahrgenommen wurde, woraufhin er Anna mit auf Europa-Tournee nahm. Doch die Anerkennung überforderte die junge Frau, führte zur Schreibblockade und zu psychischen Störungen. Von da an musste sie sich neu ordnen und fing vor drei Jahren wieder an, Songs zu schreiben, die ihr Inneres nach außen kehren. Dabei sind diese spannenden, ungewöhnlichen und bewegenden Lieder herausgekommen, die "A Common Turn" zu einem nachhaltig beeindruckenden Hör-Erlebnis machen.
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    The Future Bites Steven Wilson
    The Future Bites (CD)
    29.01.2021
    Klang:
    5 von 5
    Musik:
    5 von 5

    Das sechste Solo-Werk des Allrounders Steven Wilson wurde überwiegend entschlackt gestaltet.

    Der Mann will in die Charts! Warum sonst sollte er einen dermaßen eingängigen Pop-Song wie "12 Things I Forgot" aufnehmen, wo er doch eigentlich als Progressive-Rock-Musiker, Produzent (z.B. für Anja Garbarek und King Crimson) sowie Ton-Techniker (z.B. Remix-Arbeiten für Jethro Tull und Yes) bekannt geworden ist? Verrat rufen die Einen, nachvollziehbare musikalische Entwicklung die Anderen. Betrachten wir mal, was das sechste Solo-Album des Porcupine Tree-Gründers so zu bieten hat.

    "The Future Bites" gehört zum Typus eines Konzeptalbums, weil sich ein bestimmtes Thema durch die Song-Sammlung zieht. Nämlich der Umgang der Menschen mit dem Einsatz von Kommunikations- und Unterhaltungs-Technologien. Deren Nutzung birgt die Gefahr, dass sich Abhängigkeiten ergeben, aber die technischen Hilfsmittel können genauso zur Unterstützung der persönlichen Entwicklung dienen. Sie sind also Fluch und Segen zugleich. Wilson erklärt außerdem, dass wir nicht mehr von Politikern, sondern von Menschen, die Algorithmen schreiben und die unser Online-Verhalten manipulieren, regiert werden.

    Zu Beginn des Albums werden die Gegensätze unselbständig und selbständig kontrastreich als intim-schüchternes "Unself" sowie rockig-selbstbewusstes "Self" dargestellt. Es schließt sich das mächtig wummernde "King Ghost" an. Die Stimme führt abwechselnd entweder nüchtern erzählend oder zurückhaltend-melancholisch oder im leidenden Falsett durch das märchenhaft verschnörkelte Stück. Das schon erwähnte "12 Things I Forgot" krempelt die Stimmung dann von düster auf sonnig um und zeigt ein Faible für erwachsene Song-Intelligenz, wie sie die Beatles und XTC vorlebten. Das ist großer, harmonisch anspruchsvoller Pop mit verführerischen Melodie-Linien in Ohrwurm-Qualität.

    Bei "Eminent Sleaze" ist dann Schluss mit lustig. Die Komposition wildert ernsthaft und schweißtreibend im Soul- und Funk-Umfeld. Auf diese Weise kommt mit Hilfe eines klatschenden Chain-Gang-Taktes, frech wallenden Philly-Soul Geigen, einem extrovertierten Gitarren-Solo und frisch auftrumpfenden Chor-Sängerinnen ein mitreißender Schwung zustande. Das wuchtige, mit Referenzen an "Sign O` The Times" von Prince ausgestattete "Man Of The People" würde in Händen eines weniger versierten Musikers wahrscheinlich peinlich und aufgeblasen klingen. Wilson kriegt aber die Kurve und bewahrt das Stück vor einem operettenhaften Kitsch-Kollaps.

    Die Konsumkritik des zentralen Song "Personal Shopper" orientiert sich in seinen beinahe 10 Minuten Laufzeit an einem aufgeweckten elektronischen Groove. Wenn dann als Mahnung eine Einkaufsliste vorgelesen wird, agiert dieser allerdings auf Sparflamme. Dem Track schadet die Über-Länge nicht, weil viel Dynamik, Abwechslung und Bewegung drin steckt. Der spritzige Rocker "Follower" gewinnt durch wildernde Synthesizer und eruptive E-Gitarren-Ausbrüche an Schärfe und erhält durch den abwartenden, seriösen Mittelteil eine erhabene Reife. Die sensibel-ausdrucksstarke Ballade "Count Of Unease" hinterlässt danach einen mysteriösen Eindruck. So als würde sie frei schwebend vorgetragen werden.

    Das ursprüngliche, sperrige Progressive-Rock-Korsett ist Steven Wilson längst zu eng geworden. Er nutzt die dort angesiedelten Möglichkeiten zur vielfältigen dynamischen Gestaltung und Abstufung allerdings immer noch gerne für seine Kompositionen, um ihnen Fülle und überraschende Wendungen zu verpassen. Diese Exkursionen werden jedoch verträglich, kompetent und mit Seitensprüngen in diverse Stilrichtungen vorgenommen, so dass sich das Ergebnis einer eindeutigen Kategorisierung entzieht. Seinen Hang zum Pathos hat Wilson jetzt noch wirkungsvoller als beim Vorgänger "To The Bone" von 2017 unter Kontrolle gebracht.

    Gut so, denn auch deshalb bleibt der Künstler unberechenbar und kann seinen Wirkungskreis weiter ausdehnen. Grade im Pop-Bereich hat Steven enorm dazu gelernt, vielleicht auch wegen der Zusammenarbeit mit Tim Bowness bei No-Man. Das beste Beispiel dafür ist das schon ausführlich gelobte, exzellente "12 Things I Forgot". Das Stück ist enorm aufbauend sowie erfrischend und bohrt sich tief und nachhaltig in die Gehörgänge, dass es eine Freude ist. Aber auch Fans von komplexen, verschnörkelten Strukturen kommen auf ihre Kosten. Schließlich sollte Progressive-Rock dem Namen nach fortschrittlich sein und Fortschritte hinsichtlich seiner musikalischen Ausrichtung hat Steven Wilson definitiv gemacht.

    Jedenfalls haben die Songs weiter an Durchschlagskraft gewonnen und präsentieren sich überwiegend entschlackt und griffig. Ob Wilson nun in Richtung (Art)-Pop oder Groove tendiert, ist im Prinzip egal, denn das Ergebnis in Form von guten Songs zählt. Und in dieser Hinsicht gibt es auf "The Future Bites" keinen Mangel. Und als Arrangeur und Produzent ist der Engländer sowieso eine Klasse für sich. Entsprechend hervorragend klingt die Platte. Sie ist eine runde Sache geworden, bei der die stilistischen Ausflüge Sinn machen, durchdacht sind und nicht nur kommerziellen, sondern auch künstlerischen Gesichtspunkten dienen.
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    3 Kommentare
    Anonym
    02.07.2021

    Ich bin taub ??

    Wahnsinn was Du in diesem langweiligem Projekt hörst und jeden Song in seine Einzelteile zerpflückst. Ich werde demnächst den Ohrenarzt aufsuchen müssen ...mich hat die CD komplett amüsiert. Wenn das ein Angriff auf die Charts und den Kommerz sein soll Herr Wilson ... muß ich Sie enttäuschen. Beim Hören werden alle einschlafen und von den unheilvollen 80ern Träumen ....
    Anonym
    30.08.2023

    Laber-Rhabarber

    Die Bewertung des Albums zu lesen benötigt bald mehr Zeit wie das Anhören des Albums. In der Kürze liegt die Würze. Nicht so viel persönliches einbringen, kurz und knapp objektiv bewerten und gut is!
    Ohle
    03.02.2021

    Danke

    Wirklich tolle Rezension!
    Tripping With Nils Frahm Nils Frahm
    Tripping With Nils Frahm (CD)
    29.01.2021
    Klang:
    5 von 5
    Musik:
    4 von 5

    Nils Frahm stellt auf der Bühne sein Werk "All Melody" vor.

    "Tripping..." zeigt Nils Frahm auf der Bühne des Funkhaus Berlin, die er 2019 viermal erklomm. Dieses Ereignis war der Abschluss einer Tournee mit über 180 Shows, die hauptsächlich das damals aktuelle Album "All Melody" vorstellte. Der Filmemacher Benoit Toulemonde hielt die Auftritte in bewegten Bildern fest und der entstandene Konzertfilm - für den unter anderem auch Brad Pitt als Geldgeber gelistet wird - ist seit dem 3. Dezember 2020 auf der Streaming-Plattform MUBI zu sehen.

    Die Audio-Version mit der Essenz aus den Funkhaus-Auftritten gab es zeitgleich in digitaler Form und ab dem 29. Januar 2021 sind die Stücke auch als CD und LP zu bekommen. Die CD beginnt mit "Enters" und man hört erst einmal 20 Sekunden lang gar nichts. Und das bei einer Live-Aufnahme vor Publikum. Das zeigt, wie gespannt und konzentriert die Besucher auf das Konzert reagiert haben. Behutsam angeblasene, sich in der Lautstärke steigernde, beruhigend rauschende Harmonium-Töne erzeugen zur Einstimmung eine sakrale, andächtige Atmosphäre.

    Auch "Sunson" wird vorsichtig entwickelt und aufgebaut. Vom Piano angetriebene, wallende Tonschwaden sorgen für die Bildung einer weitläufigen Klang-Landschaft, bevor rhythmische Bass-Tropfen und exotisch-künstliche, Urwald-ähnliche Geräusche die Situation beleben. Das Mellotron sorgt begleitend für eine phantasievolle, gleitende, besänftigende Untermalung. "Fundamental Values" ist auf "All Melody" knapp unter vier Minuten lang, hier hat das Stück eine Laufzeit von über 14 Minuten erhalten. Der hypnotisch-kultivierte Charakter der Komposition wird in der Verlängerung stärker betont und effektvoll herausgearbeitet. Frahm steht alleine auf der Bühne mit all seinen Sequenzern, Modulatoren, Synthesizern und anderen Tasteninstrumenten. Und es klingt wie eine große Besetzung, ist aber eine One-Man-Show.

    Die Piano-Balladen "My Friend The Forest" und "The Dane" (von "All Encores") nehmen sich gefühlt alle Zeit der Welt, um den Hörer in eine friedvoll-melancholische Stimmung zu versetzen. Die Tracks "All Melody" und "#2" trumpfen dagegen rhythmisch aktiv auf, lassen die Noten hüpfen und bewegen sich tänzelnd. "Ode - Our Own Roof" stammt ursprünglich aus dem Soundtrack des Films "Victoria" und stellt zum Ende der Veranstaltung Sanftmut und Romantik in den Vordergrund.

    Das Bedürfnis nach kunstvollen, schwelgerisch-schwebenden Klängen, die das Kopfkino aktivieren, wurde in den 1970er Jahren im erweiterten Pop-Bereich von solchen Künstlern wie Klaus Schulze, Keith Jarrett, Bo Hansson, Mike Oldfield oder Tangerine Dream befriedigt. Heute übernehmen z. B. Max Richter oder Nils Frahm diese Aufgabe und erobern sich damit ein Publikum, das sowohl romantische Klassik, wie auch modernen Jazz, intelligente Ambient-Klänge und gediegene Chill-Out-Sounds zu schätzen weiß.

    Der Titel "Tripping With Nils Frahm" ist gut gewählt, denn die Musik des anerkannten Pianisten, Produzenten und Komponisten kann im positiven Sinn ganz ohne Drogen bewusstseinserweiternd sein, wenn man sie völlig auf sich einwirken lässt. Muss aber trotzdem noch ein Live-Album mit vielen bekannten Stücken her? Nun ja, der Mehrwert ergibt sich aus der veränderten Zusammensetzung und der gelegentlichen Streckung der Tracks. Der ab und zu eingeblendete Applaus stört da eher die Konzentration. Für Fans ist das Werk wahrscheinlich trotzdem unverzichtbar. Wer den Künstler jedoch neu für sich entdecken möchte, sollte eher mit "All Melody" beginnen und "Tripping..." bei Gefallen als Ergänzung anschaffen. Denn was lässt sich schon gegen einen weiteren funktionierenden akustischen Trip einwenden?
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    Home (CD)
    22.01.2021
    Klang:
    5 von 5
    Musik:
    5 von 5

    Rhye stellen das Easy Listening-Erlebnis auf neue Füße und sorgen für harmonische Intelligenz.

    Viel näher kann man mit männlichem Gesang einer femininen Ausstrahlung kaum kommen, als es Michael Milosh fertig bringt. Und dabei klingt bei ihm alles natürlich, sauber und unverkrampft. Der gebürtige Kanadier leitet seit 2010 als Sänger, Multi-Instrumentalist und Komponist die Geschicke der Formation Rhye, deren Besetzung den jeweiligen Gegebenheiten angepasst wird. Schönheit und Eleganz sind Qualitätsmerkmale, die bei der Entstehung der Musik eine besondere Rolle spielen. Der entweder entrückte oder rhythmisch betonte Sound wird sowohl von elektronischen wie auch mit akustischen Instrumenten gestaltet. Er wird dabei von Eckpunkten bestimmt, die sowohl im raumgreifenden Ambient-Klang wie auch im eleganten Smooth-Jazz und kuscheligen Soul-Pop zu finden sind.

    "Home" beginnt mit einem "Intro" aus ätherisch-gregorianischen Gesängen, die sich anhören, als wären sie in einer Kathedrale aufgenommen worden. Das setzt überirdisch-spirituelle Akzente frei. "Come In Closer" bedient dann mit einem milden Disco-Beat weltliche Ambitionen. Der dafür vorgesehene platschende Takt führt ein Eigenleben und orientiert sich nicht an der sinnlichen Stimme, die zunächst ein langsames Tempo vorlegt, später aber dem Weckruf der aufblühenden, gut gelaunten Kaffeehaus-Geigen folgt. Insgesamt entsteht dadurch eine mondäne Aura. Das lyrische, sanfte Werben um eine schöne Frau steht im Mittelpunkt des lässigen, gepflegten "Beautiful", wobei der erotisch-sehnsüchtige Gesang den lasziven Charakter dieses sowohl schmeichelnden wie auch stramm getakteten Electro-Pops noch zusätzlich betont. Musikalisch tritt das Stück in ähnliche Fußstapfen wie das provokante "Sexy Boy" von Air.

    "Safeword" wirkt luftig und leicht, ohne dabei belanglos zu klingen. Daran zeigt sich, dass diese Art von Easy Listening eine Kunstform und nicht nur eine unverbindliche Methode zur akustischen Berieselung ist. Der Titel vermittelt eine Unbeschwertheit, die ihn in die Nähe einiger Bossa Nova- oder Samba-Songs rückt. Dazu kommt gegen Ende noch der Einsatz von kribbeligen Geigen, die den Sound dezent auffrischen. Dagegen klingt "Hold You Down" klotzig und grob, auch wenn der Gesang zurückgenommen und distanziert eingesetzt wird. Rhye ist eben ein Verfechter von gegensätzlichen, sich reibenden Zuständen, wie immer wieder deutlich wird. Kitschig-billige, manchmal grelle 1980er Jahre-Synthesizer-Klänge erschaffen dann und wann künstlich erscheinende Töne, die sich gegen die engelsgleichen Chorstimmen absetzen. Das sind bizarre Momente, die bei diesem Track für kontroverse Innenansichten sorgen.

    Der Gesang bekommt beim tieftraurigen "Need A Lover" eine zu Herzen gehende, zerbrechliche Ausprägung und wird in ein genauso intim-introvertiertes, manchmal orchestrales Folk-Gerüst eingebunden. Die Akustik-Gitarren-Töne tropfen wie Tränen herab und das Piano ist der Freund, der in dieser Situation zu trösten versucht. Der Soul von "Helpless" hat dagegen eine moderne Fassade bekommen, saugt seinen emotionalen Nektar aber aus der Tradition des Southern-Soul der USA. So kann neben dem effekthaschenden, brachialen Rhythmus auch Gospel-ähnliches Flehen ausgemacht werden, was den Song vor einem sterilen Pro-Tools-Produktions-Tod rettet.

    Mit einem ähnlich kräftigen Takt geht es bei "Black Rain" weiter. Wieder einmal gibt es einen deutlichen Kontrast zwischen dem kühlen, tanzbaren Elektronik-Einsatz und dem schmachtenden, gefühlsbetonten Gesang. Das Lied hört sich beinahe wie ein vergessener Track von Marvin Gaye`s Schlafzimmer-Soul-Album "Midnight Love" aus dem Jahr 1982 an. Das frivole Knistern der aufgedonnerten Stimmung hätte wahrscheinlich auch Prince gefallen.

    Rhye verarbeitet auf dem neuen Album vermehrt Soul-Einflüsse. Bei "Sweetest Revenge" gibt es sogar Funk-Anklänge zu hören, die ganz stilvoll und nur da, wo sie einen Mehrwert an Erstaunen versprechen, eingesetzt werden. Da bleibt sogar noch Raum für romantische Ausflüge. "My Heart Bleeds" verfügt über einen harten Beat, der davon ablenken soll, dass der Track davon abgesehen weitestgehend in Kummer und Leid badet. Das Lied erzählt laut Milosh vom kollektiven Schmerz des Jahres 2020 und entsprechend monoton, abwartend und gedrückt ist die Grundstimmung.

    "Fire" kann als hypnotisch-trockene Ballade bezeichnet werden, die sich bei aller Gleichförmigkeit doch in den Gehörgängen einnistet, weil der innige Gesang und das einsame Klavier eine suggestive Sogwirkung ausüben. Swing-Rhythmen, Krautrock-Mechanik und der 49köpfige Danish National Girl`s Choir durchziehen dann das düstere, undurchsichtige "Holy". Dieses Geschehen geht in ein "Outro" über, welches den andächtigen Faden weiter spinnt und durch sakrale Gesänge Diesseits und Jenseits miteinander verbindet.

    Die Titel der Alben von Rhye bestanden bisher immer nur aus einem zentralen Begriff: "Woman" (2013), "Blood" (2018) und nun ist "Home" der Schlüsselbegriff. Ein Zuhause bedeutet für Michael Milosh das Zentrum von Kreativität und Gemeinschaft. Lange Zeit war er allerdings ständig unterwegs und konnte dieses Gefühl nicht ausleben. 2019 fand er jedoch im Westen von Los Angeles - einem Landstrich, der von Bergen umgeben ist und an den Pazifischen Ozean grenzt - ein Haus, welches sich im Sinne seiner Erwartungen als perfekt herausstellte.

    Nichtsdestotrotz hätte das neue Werk auch "Sex" heißen können, so verlockend-erotisch wurde es gestaltet. Die Musik lebt allerdings nicht nur vom Ansprechen körperlicher Reize und den Einflüssen aus Ambient, Pop, Jazz und Soul, sondern auch von extremen Kombinationen: Ausflüge in die geistliche Welt stehen neben dröhnenden Dancefloor-Bässen und leise Sequenzen neben stampfenden Takten. Einzige Konstante ist die durchdringend-sensible Stimme von Michael Milosh, die es schafft, jede musikalische (Ausnahme)-Situation auf sich zu lenken.

    Das Album bietet somit vielfältige, anregende Pop-Musik, die sowohl versunken-beherrscht, wie auch verführerisch-tiefgründig oder zupackend-energisch sein kann. Das Ergebnis ist stets genüsslich-intensiv und reiht "Home" als ein Referenzwerk im Umfeld der Easy-Listening-Ambient-Electro-Pop-Musik ein, weil es unversöhnlich erscheinende Aspekte harmonisch und intelligent zusammen fügt.
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    22.01.2021
    Klang:
    4 von 5
    Musik:
    5 von 5

    My Little White Rabbit fühlen sich im Psychedelic- und Garagen-Rock sowie Power-Pop hörbar wohl.

    Es ist schon clever und geschickt, wie My Little White Rabbit ihre musikalischen Möglichkeiten einsetzen, um in einem festgesteckten Rahmen möglichst variabel zu agieren. Die Hamburger Formation ist seit ihrer Gründung vom Trio zum Quintett angewachsen und legt jetzt mit "Lowest Heights" ihr zweites Album vor.

    Ein auffallendes Merkmal im Gefüge des kompakten Garagen-Punk-Pop-Sounds ist der Lead-Gesang von Rike Pfeiffer, der mühelos und glaubwürdig zwischen frech und lieblich hin und her schaltet. Damit zeigt sie eine große stimmliche Bandbreite und lässt sich nicht auf den Begriff "Rockröhre" reduzieren. Die ihr zur Seite stehende instrumentale Begleitung ist stets kraftvoll, dabei differenziert und abwechslungsreich. Das ist im Rockbereich eher ungewöhnlich und deshalb herausstechend.

    Aber mal der Reihe nach: "Bat In My Livingroom" pendelt rasante Ohrwurmqualitäten mit griffigen Riffs zu einem flotten Rocker mit gelegentlichen Hippie-Klang-Einlagen aus. "Rusty Nail" tobt sich anschließend im Punk-Umfeld aus, scheut sich nicht vor einem Metal-Einschub und vermittelt reichlich Power-Pop-Schwung. Beide Songs bewegen sich energetisch im oberen Level, punkten mit abgeschichteten Melodien und können neben einem massiven Rhythmus-Geflecht mit Gitarren aufwarten, die nicht nur krachen, sondern auch psychedelische Exkursionen anbieten.

    "Hello Mister" ist eine dichte, relativ gut gelaunte Mid-Tempo-Nummer mit Funk-Reggae-Takten, die sich fürs Radio eignet, aber auch ihre Ecken und Kanten nicht verleugnet. Hier stehen harmonisch-verspielte Bubblegum-Pop-Akkorde im Vordergrund, die von einer wuchtigen Wand aus elektrisch wuchernden Tönen nebst zackiger Rhythmus-Begleitung getragen werden. "Cloud Of Clover" wird von schwirrenden, experimentellen, rauschhaften Space-Sounds eingeleitet, entpuppt sich dann aber als exotisch-verspielter, drogenschwangerer Pop mit mild gestimmter, friedvoller Melodieführung, bei der der bewusstseinserweiternde Aspekt halbwegs unter Kontrolle ist. Da stellt sich nebenbei die Frage, ob der Bandname vom Song "White Rabbit" von Jefferson Airplane aus dem Jahr 1967 abgeleitet wurde. Das würde zumindest den Psychedelic-Rock-Einfluss erklären.

    Den harten Synthesizer-Spuren von "The M-Word" wurden neben druckvollen Funk-Grooves auch sensible Sequenzen beigemischt, so dass sich der Track einer eindeutigen Kategorisierung wirkungsvoll entzieht. Mit Hochgeschwindigkeit läuft die Punk-Nummer "Anybody Seen My Brain" ab und macht so den Ramones nicht nur hinsichtlich des Tempos Konkurrenz. Auch "Moneymaker" zeigt sich dreckig und aufgeputscht, gönnt sich aber mit Hilfe einer atmosphärisch dichten Gitarreneinlage zwischendurch eine Verschnaufpause.

    "Moorgnivil Ym Ni Tab" ist nichts anderes als ein rückwärts abgespielter Auszug von "Bat In My Livingroom". Und schon hört sich die Variation durch etwas Bearbeitung fremdartig, nach Weltraum und Orient an. Die elektrisierte Ballade "The Bird & Me" kreuzt optimistischen Folk- mit düsterem Indie-Rock und sorgt so abwechselnd für lauschige und angespannte Momente. "Lucky People" erinnert dann aufgrund der ungestümen Vorgehensweise sowohl an die frühen Blondie wie auch an die Buzzcocks und bietet somit zeitlosen, tanzbaren Power-Pop mit hohem Unterhaltungswert. "Slow Down Mister" lässt das Album instrumental ausklingen und wirft nochmal ein Potpourri von verschiedenen Eindrücken in die Waagschale: Unter anderem haben The Police, genauso wie Pink Floyd ihre Spuren hinterlassen.

    Corona-bedingt lief der Entstehungsprozess der Platte anders als geplant ab. Die Band konnte nur einmal miteinander proben, bevor sich die Musiker erst drei Monate später für eine Woche in den Schalltona Studios in Hamburg verschanzten, um die Songs einzuspielen. Diese für die Gruppe neue Art der Spontanität hat den Aufnahmen aber offensichtlich nicht geschadet. Ganz im Gegenteil: Sie ist ihnen vielleicht sogar entgegen gekommen, weil so jegliche Form der Überproduktion vermieden werden konnte.

    Die Musiker überzeugen mit Talent, Überblick und unverbrauchter Frische. Sie kennen sich in der Pop- und Rock-Historie aus und haben sinnvolle Elemente herausgepickt, um damit ihren spezifischen Sound anzureichern. Zu den Haupteinflüssen zählen sie: "Blues, Psychedelic Rock und Sixties Pop von Vorbildern wie Led Zeppelin, Kula Shaker und Tame Impala." Stilistisch verhält sich das Team kompromissbereit, ohne dabei die Linie und den Überblick zu verlieren oder sich einem Trend anzubiedern. Außerdem vertreten die Künstler noch politisch-soziale Themen, wie den Feminismus ("Hello Mister") und das Tierwohl ("Lucky People"). So ist aus "Lowest Heights" ein durchweg stimmiges Rock-Paket aus spannenden Klängen mit einer aufrechten Haltung geworden.
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    18.01.2021
    Klang:
    4 von 5
    Musik:
    3 von 5

    Das Tüftler-Duo Grandbrothers erweitert sein Klangspektrum auf dem dritten Album.

    Das Ungewöhnliche und Unbekannte hörbar machen, das sind nur zwei Komponenten, die bei der Musik des Pianisten Erol Sarp und des Produzenten und Software-Entwicklers Lukas Vogel eine Rolle spielen. Mit Hilfe von präparierten, verfremdeten Klavieren und diversen Misch- und Sound-Gestaltungs-Techniken haben sie mit Entdeckergeist ihr Klangspektrum für das gemeinsame dritte Album "All The Unknown" gegenüber den Vorgängern erweitert und sind deshalb ihrem bisherigen Prinzip, keine Elektronik bei der ursprünglichen Entstehung der Klänge einsetzen zu wollen, untreu geworden.

    Zwei Flügel und ein Piano bilden die instrumentale Basis der Kompositionen. Dazu kommen jetzt noch Samples und Loops, die die Möglichkeiten des Duos erweitern, besonders im rhythmischen Bereich, wie der Sound-Tüftler Lukas Vogel betont. Die Klänge werden oft von Minimal-Art- und Klassik-Elementen durchzogen, wie schon der Opener "Howth" klar macht. Sich gegenseitig lockende, obendrein auftürmende und abschwellende Ton-Kaskaden sowie romantische Melodielinien verleihen dem Stück einen cineastischen Charakter, so dass man sich das Stück gut zur Untermalung von Naturfilmen vorstellen kann.

    Durch seinen geschmeidig tropfenden Rhythmus wirkt "What We See" wie ein Soft-Krautrock, der mit moderner Klassik geimpft wurde. Seitens der Schöpfer besteht eine Erwartungshaltung, wie mit dem Track umgegangen werden soll: ""What We See" ist eine Aufforderung, nicht immer dem ersten Eindruck den Vorrang zu geben, sondern sich auch Zeit zu nehmen für das, was zuerst verborgen liegen mag", gibt das Duo als Anregung mit auf den Weg.

    "Umeboshi" ist ein knapp einminütiges Intermezzo, das atmosphärisch durch Space-Sounds nach den Sternen greift und "All The Unknown" verarbeitet kraftvoll-entschlossene Akkord-Wiederholungen, die dynamisch variiert und zugleich rhythmisch verstärkt werden. Dadurch tricksen die Künstler sozusagen die subjektiv wahrgenommene Zeit aus.

    Das zweite Intermezzo "The Goat Paradox" basiert auch auf Minimal-Art-Abläufen, die sich ineinander zu verzahnen scheinen und "Four Rivers" bezieht belebend-hypnotische Einflüsse in den als Ausgangspunkt dienenden, unverfänglichen Pop-Rahmen ein. Der Track konserviert außerdem locker verspielten Jazz, wie er vom Tingvall Trio bekannt ist und hört sich deshalb an, als würde er Ausblicke in eine schillernde, erlebnisreiche Zukunft ermöglichen. Das hat die Wirkung von positiv gestimmter Corona-Bewältigungs-Musik, die gedämpft frohe Erwartungen zulässt.

    "Shorelines" bewegt sich mit swingender elektronischer Grundierung frei schwebend über blühende Landschaften hinweg. Direkt in den Sonnenauf- oder -untergang hinein. Je nach Neigung. Das Stück dringt unaufgeregt und leicht fließend ans Ohr. Die Töne gleiten nahezu unbeschwert dahin, sie prickeln erfrischend leicht wie Soda-Wasser und haben gleichzeitig eine ausgleichende Wirkung. Das ist Gebrauchsmusik für eine friedvolle, aber nicht einschläfernde Untermalung. Durch Manipulationen wird das Klavier für "Auberge" teilweise zum Saiteninstrument umfunktioniert. Wolkige Klangwände sorgen dafür, dass die experimentellen Einlagen nur ein Nebenschauplatz bleiben und das Hauptaugenmerk auf eine phantasievolle Traumreise gelegt wird.

    Bei "Organism" sind perkussive Elemente dazu da, um eine aufmunternde Stimmung zu unterstützen. Das Stück baut seine Dynamik letztendlich durch laute und leise sowie schnelle und langsame Passagen auf, die sich ständig abwechseln. Der Name ist bei "Silver" Programm: Flirrend blinken und klirren silbrige Piano-Akkorde, die von Bass-Spuren geerdet und im ständigen Taumel der scheinbar kontinuierlich wiederkehrenden Töne durch eine optimistische Haltung voran getrieben werden.

    Der Begriff Schwarzer Frost stammt aus der Seefahrt. Er bezeichnet die völlige Vereisung von Schiffen durch Nebel oder Nieselregen. Dieser Zustand kann im schlimmsten Fall dazu führen, dass ein Boot kopflastig wird und kentert. Ob der Track "Black Frost" dieses Phänomen akustisch nachbilden möchte, ist nicht überliefert, er beinhalt aber zumindest Tonfolgen, die kalt und frostig klingen.

    Bedrohlich und Unheil ahnend beginnt "Unrest", bevor ein mächtiger Bass die Situation klärt und dominant Macht demonstriert. Die Tasteninstrumente glätten danach die Wogen zugunsten eines kraftvollen, energischen Ablaufs, schaffen aber auch die Möglichkeit für besinnliche Momente. Der Raum scheint zu atmen, wenn "Mourning Express" ertönt. Pumpende Klänge verleihen der Komposition Leben und Bewegung. Die Keyboards verzieren ausgleichend und schwelgerisch, beeinflussen die sonstigen organisch anmutenden Anordnungen aber nicht wesentlich.

    Für die Grandbrothers bedeutet "All The Unknown" in technischer und musikalischer Hinsicht ein gewichtiger Entwicklungsschritt. Im Rahmen der Pop-Historie ergeben sich allerdings einige Vergleichsobjekte: Die Sounds von Vangelis, Mike Oldfield, Pink Floyd oder Terry Riley liegen als Inspirationsquelle bewusst oder unbewusst in der Luft, finden aber in dieser Zusammensetzung einen neuen Nährboden.

    "All The Unknown" scheint ein Übergangsalbum zu sein, welches den Grandbrothers zwar alternative Möglichkeiten, aber noch keinen konkreten Leitfaden für die Zukunft aufgezeigt hat. Die Musik versucht einen Spagat zwischen Geduld fordernder und anregender Minimal-Art sowie süffig produzierten Klangobjekten, die angenehme, verträumte Gefühle auslösen. Dieses Vorhaben wird keine der beiden erwähnten Erwartungen gänzlich befriedigen, aber die individuelle Klasse der Musiker führt dazu, dass letztlich auch niemand von "All The Unknown" enttäuscht sein wird.
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    Better Way Better Way (CD)
    08.01.2021
    Klang:
    4 von 5
    Musik:
    4 von 5

    Der Efterklang-Sänger auf dem Weg zu neuen Ufern.

    Casper Clausen ist nicht nur Mitglied des Electro-Pop-Projektes Liima, sondern vor allem mit der im Jahr 2000 gegründeten dänischen Gruppe Efterklang (was so viel wie Nachhall heißt) bekannt geworden. Dieses Trio lässt seinen Art-Pop mathematisch exakt erklingen, musiziert dabei aber auch sinnlich-entrückt. In dieser Tradition spielt sich auch der Solo-Einstand des Sängers ab. Unter eigenem Namen hantiert er gerne mit Gegensätzen und siedelt seine Kompositionen unter anderem zwischen wohlklingendem Anspruch und hymnisch verklärter Eingängigkeit an.

    Die erste Single-Auskopplung "Used To Think" beginnt mit stoisch-hektischen Krautrock-artigen Loops, die an solche Bands wie Neu! oder Kraftwerk erinnern. Erst nach etwa drei Minuten werden die gleichförmigen Takte milder gestimmt und von selbstbewusstem, sanft gedehntem Gesang umweht, so dass der mechanisch wirkende Eindruck eine menschliche Facette verliehen bekommt.

    Casper Clausen sucht das Risiko. Er versteht seine Kunst nicht als statisches Konstrukt, sondern forscht nach Verbindungen, die zumindest den Eindruck vermitteln sollen, in dieser Konstellation bisher unentdeckt gewesen zu sein. "Feel It Coming" ist solch eine Erfindung, die sich gängigen Mustern entzieht. Abenteuerlich werden hier windschiefe Sounds, energiegeladene Beats und geheimnisumwobene Gesänge montiert. Auf diese Weise entstehen Geräusche, die herausfordernd erscheinen, obwohl ein melodischer Grundgedanke erhalten bleibt. Das ist freigeistiger Pop, der mehr Klangmalerei als ausgestalteter Song ist.

    "Dark Heart" tritt nicht offensiv ins Bewusstsein, denn die Musik trägt einen Schleier, wirkt rauschhaft oder schlaftrunken oder wie ein benommener Moment zwischen Traum und Erwachen. Rhythmen kreiseln stoisch wie Gedanken im Fiebertraum und die Stimme taumelt träge dahin, ist leicht verfremdet, aber tapfer um Harmonie bemüht. Auch für "Snow White" werden Dauerschleifen so eingesetzt, dass die Musik irritierend und fremd wirkt. Erst mit dem Einsatz einer verwehten Trompete und dem melancholisch flehenden Gesang kehren warme Emotionen in das Stück ein. Brüche und gesangliche Verwerfungen sorgen jedoch immer wieder für seltsam-skurrile Wendungen in diesem rhythmisch unnachgiebigem Track.

    Elemente aus der anglo-amerikanischen und indigenen Folklore begleiten "Falling Apart Like You", das wie ein aus dem Rahmen gefallener Pop-Song erklingt, dem versehentlich die falschen Background-Spuren zugeordnet wurden. Ätherischer, teils hoher Gesang, schwirrende psychedelische Töne und grummelnd-blubbernde Hintergründe bestimmen die Klangfarben von "Little Words". Dieser Soundwall wird in eine Melodie eingepasst, die isoliert betrachtet leicht und locker klingen würde. Diese Collage-Technik macht den Reiz der Casper Clausen-Tracks aus: Avantgarde trifft sich mit Pop-Mainstream zu einer Gartenparty im LSD-Rausch. Das ist sonderbar, aber unterhaltsam.

    Die New Wave-Disco der 1980er Jahre lebt mit "8 Bit Human" wieder auf. Streiflichter von New Order oder The Sisters Of Mercy sorgen für bildhafte Erinnerungen. In der Mitte des Stückes kommt es zu einem abgründigen, destruktiven Zwischenspiel, bevor sich der Track wieder fängt und als ungeordnet erscheinender Pseudo-Power-Pop zu Ende geführt wird. Das finale "Ocean Wave" verbindet verträumte Space-Sounds, ausdauernde Minimal-Art-Takte im Science-Fiction-Look und sanft-introvertierten Gesang zu einer berührend-intimen Liebeserklärung an das Meer und an Lissabon, wo der Musiker derzeit lebt.

    Die Sound-Landschaften auf "Better Way" wurden von Peter Kember alias Sonic Boom in Szene gesetzt. Das Gründungsmitglied von Spacemen 3 kennt sich mit halluzinogenen und avantgardistischen Klängen aus, so dass er die Ideen von Casper Clausen verstehen und klangtechnisch sinnvoll zuordnen konnte. Clausen geht keine Kompromisse ein, besinnt sich auf seine Vorstellungskraft, scheut nicht das Experiment, bewahrt sich aber sein Pop-Verständnis, so dass die Songs nicht völlig aus dem Ruder laufen. Das macht sie sowohl für Freunde des anspruchsvollen Pop, wie auch für Entdecker, die zwischen ernster und unterhaltsamer Musik keine grundsätzliche Unterscheidung machen, interessant.
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    I Slept On The Floor Another Sky
    I Slept On The Floor (CD)
    02.01.2021
    Klang:
    4 von 5
    Musik:
    4 von 5

    Wenn Konfliktbewältigung auf Kreativität trifft, kann eine neue Wahrnehmung entstehen.

    Das 2013 gegründete Quartett Another Sky legt mit "I Slept On The Floor" nach der EP "Forget Yourself" aus 2018 endlich ihre erste lange Song-Kollektion vor. Die Band fand an der Goldsmiths University in London zusammen und besteht aus Jack Gilbert (Gitarre), Naomi Le Dune (Bass), Max Doohan am Schlagzeug sowie der Sängerin, Pianistin und Song-Autorin Catrin Vincent, die durch die Gründung der Kapelle ihrem sie bisher umgebenden Kleinstadt-Mief entfliehen wollte. In London geriet die junge Frau aber zunächst psychisch in einen Konflikt zwischen ihrem alten und dem neuen Leben. Die Verarbeitung der dadurch entstandenen Ängste und Zweifel spielten dann bei der Entstehung der Stücke eine gewichtige Rolle.

    Besonders die Stimme der Frontfrau ist ein markantes Erkennungszeichen im Gesamt-Gefüge, denn sie lässt sich geschlechtlich nicht immer eindeutig zuordnen und sorgt so für Irritationen bei manchen Beobachtern. Nun sind es grade diese androgynen Schwingungen, die für eine Besonderheit im Sound sorgen. Dabei ist es völlig unerheblich, wie und von wem sie erzeugt werden.

    Die Musiker stimmen grundsätzlich nachdenkliche, grau gefärbte Töne an. Es ist jedoch nicht nur Traurigkeit, sondern auch Wut, was in die neuen Lieder eingeflossen ist. Gleich der Opener "How Long?" ist durchzogen von Brüchen, lauten und leisen Passagen, sowie anheimelnden und verstörenden Klängen. Die Künstler sprechen davon, dass sie unter anderem durch "Spirit Of Eden" und "Laughing Stock" von Talk Talk beeinflusst wurden, was sich in den Anfangssequenzen des Openers durch schwebend-jazzige Töne widerspiegelt. Es folgen sich hervorhebende, spiralförmig drehende, schwirrende E-Gitarren in einem satten Rhythmus-Geflecht, die jäh abbrechen und einem erneuten Erblühen einer ruhigen Klang-Landschaft Platz machen. Danach setzt eine hohe Stimme ein, die hier wie die Vermenschlichung einer Klarinette klingt. Der unterlegte Hall verleiht ihr zusätzlich eine sakrale Wirkung.

    "Fell In Love With The City" beginnt als schlaksig-stoischer Independent-Rock, der an solch dunkle Post-Punk Kapellen wie Echo & The Bunnymen oder The Comsat Angels gemahnt. Und dann ist da wieder dieser auffallende, eigentümliche Gesang, der sich eindrucksvoll zurück meldet. Dieses Mal sind auch tiefere Frequenzen zu hören, die - wie wir ja inzwischen wissen - auch in der Kehle von Catrin Vincent entstanden sind. Diese Kombination wirkt so, als würden zwei Seelen in einer Brust wohnen. So wird veranschaulicht, wie Konflikte akustisch dargestellt werden können.

    "Brave Face" weist die hektische Betriebsamkeit einiger New Wave-Stücke von Siouxsie & The Banshees und auch den beschaulichen, orchestralen Pop von Coldplay auf. Zwei Seiten einer Medaille? Another Sky machen diese Verbindung jedenfalls instrumental und gesanglich möglich.

    Schrammelnde Gitarren sorgen dafür, dass das dramatisch-impulsive "Riverbed" stellenweise an U2 erinnert. Seinen Schwung erhält "The Cracks" durch einen abgewandelten Bossa-Nova-Rhythmus, der den Track ausdauernd begleitet und bei verschiedenen Stimmungswechseln den emotionalen Schlingerkurs unterstützt.

    Der künstlich verfremdete, gespenstisch-verdrehte Gesang erinnert beim kurzen Intermezzo "I Slept On The Floor" in seiner schmerzhaften intim-geschundenen Ausdrucksweise an Antony & The Johnsons. Die sowieso schon seltsame Stimme wird für "Life Was Coming In Through The Blinds" manchmal technisch so aufgewertet, dass der voluminöse Eindruck eines Chores entsteht. Schwebeklänge mit und ohne rhythmische Unterstützung bilden über weite Strecken das Fundament der Komposition, die mit hypnotischen Minimal-Art-Einlagen angereichert wird.

    Bemerkenswert, wie geschmeidig der Gesang bei "Tree" zwischen hohen und tiefen Tonlagen zirkuliert. Das verleiht dem Song einen Dynamik-Zuwachs, der instrumental noch durch den Wechsel zwischen intro- und extrovertierten Bestandteilen verstärkt wird. Vielleicht haben die Sirenen in Homer`s "Odyssee" einst so verführerisch und fordernd gesungen wie Catrin für "Avalanche". Zumindest transportiert der pumpende, latent aggressive Track eine wilde Entschlossenheit, die Respekt einflößt.

    Das Piano spielt beim relativ optimistischen "Let Us Be Broken" eine wichtige Nebenrolle. So dient es als Taktverstärker und spornt dazu an, das Licht am Ende des Tunnels schnellstmöglich zu erreichen. Die schwermütige Ballade "All Ends" suhlt sich im Anschluss in traurigen, fein gesponnenen Tönen und mag so gar keine Zuversicht zulassen. Zwischen Folk, Jazz und Romantik-Chanson bewegt sich dann "Only Rain", ohne dabei die klaren Konturen einzubüßen. Der Titel zeigt Haltung und biegt unverbraucht in die Zielgrade ein.

    Another Sky haben versucht, im Rahmen ihrer Ausdrucksmittel ein möglichst vielfältiges Album zu gestalten. Nun lässt sich trefflich darüber streiten, ob Abwechslung oder Homogenität zu mehr Intensität geführt hätte. Fest steht jedoch, dass die eher unkonventionellen, wagemutigen Stücke auf "I Slept On The Floor" einen stärkeren Eindruck hinterlassen. Aber hätten sie das auch getan, wenn alle Lieder extravagant gewesen wären? Oder hätte das eventuell zu einer Überforderung der Hörer geführt?

    Alles Spekulationen. Unterm Strich bleibt ein überdurchschnittlich interessantes Dream-, Psycho- und Art-Pop-Werk mit vielen guten Ideen, etwas Hausmannskost und einer bemerkenswerten Sängerin. Es soll sogar schon etliche neue Aufnahmen für ein zweites Album geben, das noch stilübergreifender gestaltet werden soll. Man darf also gespannt sein, in welche Richtung sich diese interessante Formation entwickeln wird.
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    Applause Balthazar
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    02.01.2021
    Klang:
    4 von 5
    Musik:
    4 von 5

    Eigenständiger und phantasievoller alternativer Pop!

    Die Belgier spielen einfallsreichen alternativen Pop mit gelungenen instrumentellen und melodischen Schlenkern. Gleich der Opener FIFTEEN FLOORS weiß durch einen einprägsamen Refrain zu überzeugen. Das ist der heimliche Hit des Albums. Der Song ist unterhaltsam und abwechslungsreich zugleich.

    Die Band hat einen enormen Ideenreichtum, denn die Lieder sind alle unterschiedlich aufgebaut. Die Band biedert sich bei keiner Modebewegung an und rochiert geschickt zwischen eingängigen Melodien und dem attraktivem Setzen von Duftmarken, die dafür sorgen, dass die Lieder nicht beliebig werden.

    Referenzen und Einflüsse findet man bei XTC um Andy Partridge und Colin Moulding und den BEATLES der Sergeant Pepper-Phase. Ansonsten ist die CD sehr eigenständig und lebhaft geworden. Die Produktion ist kräftig und sauber, aber nicht steril. Macht Spaß!
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    From The Start From The Start (CD)
    11.12.2020
    Klang:
    5 von 5
    Musik:
    4 von 5

    Was ein Umzug von Australien nach Schweden alles bewirken kann.

    Der Australier Ryan Edmond zog vor vier Jahren von seinem Heimatland nach Schweden um. Solch ein Wechsel von Klima und Kultur löst sicher etliche Gedankenspiele aus. Damals begann der Musiker auch damit, die jetzt als "From The Start" auf seinem ersten Album versammelten Lieder zu schreiben. Die Songs haben also einen langen Reifeprozess hinter sich und erzählen direkt und indirekt von den Unterschieden und Gemeinsamkeiten der beiden Länder, aber auch von den Herausforderungen des täglichen Lebens.

    Vier Jahre Erfahrung hat Ryan kompakt auf 25 Minuten Musik zusammengefasst. Die Platte beginnt mit einer Hommage an seine neue Heimat "Stockholm", für die er die weiten sandigen Strände Australiens gegen die malerischen Wälder und Berge Schwedens getauscht hat, wie er es ausdrückt. Der Multiinstrumentalist hat für sein ganzes Album einen vollen Band-Sound eingespielt, der aus dieser Ballade einen vollmundigen, erwachsenen Folk-Pop mit wehmütig-erfahrenem Charakter und entschlossenem, kräftigen Rhythmus werden lässt.

    Beim Stück "From The Start" wird dieser Klang durch Einsatz von Funk- und Reggae-Anklängen sowie gelegentlichen Ausflüge in den Beinahe-Falsett-Gesang variiert. "Perfect" kommt rhythmisch gleichförmig daher, was dem Mid-Tempo-Folk-Rock jedoch eine sonderbar-anziehende Wirkung verleiht. "Walk On The Wild Side" (Lou Reed) trifft auf "I Feel A Whole Lot Better" (The Byrds).

    Zwei schon von Ryan Edmond bekannte Stil-Elemente werden für "If She Knew" neu kombiniert: Ein un-karibischer, nordisch-kühler Reggae-Vibe und der Einsatz eines Kornetts. Edmond hat das Spielen des Trompeten-ähnlichen Instrumentes von seinem Großvater gelernt und er setzt dessen Töne mehr oder weniger dominant auf dem gesamten Werk ein. Der Track durchlebt coole und lebhafte Phasen, die von rhythmischen und aufwühlenden Gitarren-Passagen begleitet werden. Das ist psychedelischer Pop-Reggae, der von mentalen Problemen erzählt.

    "Take It Easy" ist keine Cover-Version des Eagles-Songs, aber auch ein ausgeruhtes Lied, das neben Folk- und Rock- auch Jazz-Elemente transportiert, dabei jedoch stets konzentriert und zurückhaltend bleibt. Auch wenn gelegentlich der Eindruck entsteht, das Stück könnte jeden Moment aus sich raus gehen. Ryan Edmond lässt für "Rollercoaster" seine Stimme vereinzelt sinnlich jauchzen und verleiht dem locker fließenden Song damit eine spezielle, liebliche Note. Die unbeschwerte Leichtigkeit des "Sky Song" wird bewusst durch ein nüchternes Kornett-Solo aufgeraut. Das tut dem Track gut, denn es lässt ihn nicht in Wohlklang sterben, sondern verleiht ihm Güte und Würde.

    "From The Start" ist ein schönes Singer-Songwriter-Album geworden, in dem hörbar viel Liebe, Arbeit und Einfühlungsvermögen steckt. Wer Künstler wie Bruce Springsteen oder Ryan Adams liebt, der sollte diesem jungen Talent zumindest eine Chance geben!
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    Too Slow To Disco Neo: The Sunset Manifesto Too Slow To Disco Neo: The Sunset Manifesto (CD)
    11.12.2020
    Klang:
    5 von 5
    Musik:
    4 von 5

    Eine neue, moderne Folge der "Daytime-Disco"-Reihe.

    Gestartet wurde die Serie "Too Slow To Disco" im Jahr 2014 unter dem Slogan: "A Compilation Series Of Late 70s Westcoast Yachtpop You Can Almost Dance To." In Folge eins fanden sich dann solche Interpreten wie The Doobie Brothers, Fleetwood Mac, Chicago oder Nicolette Larson. Sie trugen wohlklingenden, glatten Soft-Rock bei, der nicht aneckte, aber auch nicht zu süßlich war. Perfekte Musik zum Auto fahren, zum Entspannen oder um an der Pool-Bar einen kühlen Drink zu genießen.

    Alle beinharten Westcoast-Sound-Fans, die die Musik der Endsechziger- und frühen siebziger Jahre liebten, rümpften damals nur die Nase über diesen für sie weichgespülten Pop. Sie erkannten die musikalischen Leistungen nicht an, die in perfekten Harmonien, meisterlichen Instrumentalbeiträgen und klaren Lead-Stimmen lagen. Für sie war das Verrat am komplexen, psychedelisch beeinflussten Sound solcher Country-Folk-Pop-Pioniere wie Crosby, Stills & Nash, James Taylor oder Jackson Browne.

    Inzwischen hat es neben der Ursprungsidee - von der es bisher drei Folgen gibt - noch weitere Ableger des Konzeptes gegeben: "The Too Slow To Disco Ladies" (Volume 1 + 2), "Too Slow To Disco Brazil (Compiled By Ed Motta)" und "Too Slow To Disco NEO (Vol.1 En France)". Die letztgenannte Sparte wird jetzt mit "The Sunset Manifesto" fortgesetzt.

    Wer bisher nur die Beiträge aus der Serie kennen und schätzen gelernt hat, die nicht den Zusatz NEO enthalten haben, der wird sich eventuell mit der neuen Folge schwer tun. Denn diese Zusammenstellung aus sechzehn exklusiven, unveröffentlichten Stücken orientiert sich oft am aktuellen Electronic-Dance-Pop-Geschehen und hat auf den ersten Blick fast gar nichts mit den geschniegelten Hochglanz-Songs aus den 1970er Jahren zu tun. Die aktuellen Tracks kommen manchmal scheinbar unverbindlich daher, so dass sie im Zweifel auch als reine Hintergrundbeschallung taugen würden. Aber hat man das nicht auch über die Easy Listening-Musik der 1960er und 1970er Jahre gesagt? Und heute haben deren Vertreter wie Burt Bacharach, The Carpenters, Sergio Mendes oder Herb Alpert Kultstatus und ihre unaufdringliche, zwingende Professionalität wird in den höchsten Tönen gelobt.

    Das könnte in Zukunft vielleicht auch für die Musiker von Poolside gelten, die mit ihrem "I Feel High" (im Vibes4YourSoul Remix) einen hypnotischen Chillout-Track geschaffen haben, der sowohl funky wie auch cool ist. Das Duo gehört zu den Pionieren der "Daytime-Disco"-Bewegung mit Querverweisen zum Westcoast-Sound der 1960er und 1970er Jahre. So verfassten sie z.B. eine Cover-Version von Neil Young`s "Harvest Moon" und zum 25sten Todestag von Jerry Garcia erschien mit "Shakedown Street" eine Hommage an The Grateful Dead. Das Original des Stückes war schon auf "Too Slow To Disco, Vol. 3" enthalten.

    Auch die umtriebigen Holländer Kraak & Smaak - die mit einigen anderen Teilnehmern dieser Zusammenstellung vernetzt sind - überzeugen mit ihrem unterhaltsamen "Hotel Sorriso", in das sie sowohl Elemente alter Krimi-Soundtracks ("Die 2") wie auch R&B-Rhythmik einbauen. Die Macher der "Too Slow To Disco"-Reihe haben auch erkannt, dass man mit brasilianischen Takten wenig falsch machen kann. Entsprechend ist der Brasilectro "Do Beijo" des DJ und Pianisten Yuksek (alias Pierre-Alexandre Busson) hinsichtlich des Akzeptanz-Faktors ein Selbstläufer. Bei "Vulf`s Back Pocket Regroove" von Moods handelt es sich um eine Cover-Version des Stückes "Back Pocket" der Funk-Band Vulfpeck. In dieser Interpretation wird versucht, mit einer gewissen rhythmischen Ähnlichkeit zu "Another One Bites The Dust" von Queen zu punkten.

    Disco, Smooth-Soul und Rap verleihen "Is It True" von Glamour Hammer ein Allerwelts-Gesicht. Der Titel bietet so ziemlich alle Klischees auf, die der Mainstream der Black Music zu bieten hat und biedert sich hemmungslos an, um bei Top-40-Hörern anzukommen. Prep lehnt sich mit dem stampfend-monotonen Rhythmus von "Love Breaks Down" an "I Can`t Stand The Rain" von Ann Peebles an. Dem Song fehlt es jedoch insgesamt an einem gesunden Maß an Raffinesse, Charme und Coolness.

    "Heart And Soul" von Turbotito besitzt einen beinahe schläfrigen Takt, der allerdings für einen hypnotisch-suggestiven Sog sorgt. Das klingt dann in etwa so wie "Blue Monday" von New Order auf Valium. Gekonnt ist eben gekonnt, denn Filip Nikolic, der hinter dem Pseudonym Turbotito steckt, war eine Hälfte von Poolside. Hinter dem Namen Diskobeistet versteckt sich der norwegische Produzent und Multi-Instrumentalist Thor Christian Maast. Er nutzt für "Baner Vei" die eindringliche Kraft der Minimal-Art und sorgt so mit mechanischen und elektronischen Klängen für ein akustisch-psychedelisches Science-Fiction-Abenteuer. "Think About It" vermittelt den Eindruck, als würden Frequenzen aus David Bowies "Let`s Dance" verwendet werden. Die Produkt-Informationen bestätigen das jedoch nicht. Die Satin Jackets schaffen aber hier einen elegant-mondänen Disco-Soft Rock-Hybriden, der durch kühlen, aber dennoch sinnlichen Gesang die richtige Würze erhält.

    Funk-Bässe, Dub-Effekte, Chill Out-Gesänge und Philly Soul-Streicher verleihen "... At Any Moment" von Luxxury bei aller Gleichförmigkeit im Rhythmus ein abwechslungsreiches Gesicht. Space-Disco meets Electro-Soul-Pop ist dann die Divise bei "Mistakes" von dem deutschen Musiker Sebastian Stuetz, der sich Final DJs nennt. Seine Remixe wurden unter anderem von Stevie Nicks und Elton John in Anspruch genommen. Der Ablauf von "Mistakes" offenbart einen unterschwelligen Groove, der sich ab dem zweiten Hördurchgang hinterlistig im Gehörgang festsetzt. "Windsurf" von Kimchii und "Take Me Back" von Roosevelt werden von einem sonnig-milden, relaxten Flair getragen, der den Stücken auf den "Café del Mar"-Zusammenstellungen ähnelt.

    Der Synthesizer klingt bei "Imagination" von Knight One - wie sich Billy Burki aus den Niederlanden nennt - nach dem Jazz-Rock-Fusion-Sound der 1980er Jahre. Das hört sich aus heutiger Sicht schon beinahe altertümlich an, passt aber gut als Kontrast zu dem weichen Gesang und dem swingenden Schlagzeug. Das Ergebnis kann stilistisch auch als kultivierter, balladesker Art-Pop durchgehen.

    Elektronischer Dream-Pop und Soft-Rock sind die Hauptbestandteile von "4 Step" des Duos Private Agenda aus London und Berlin. Damit bilden sie eine moderne Form des Yacht-Rock an, der die ursprünglichen "Too Slow To Disco"-Zusammenstellungen zierte. Das Gespür für smarte, verschachtelte Melodien und Verwendung punktgenauer Hooklines ist dabei herausragend und macht "4 Step" zu einem Highlight auf dieser Zusammenstellung. Das gilt genauso für James Alexander Bright mit seinem elegant fließenden, durch sirrende elektrische Gitarren auffallenden "Under The Sun". Und somit sorgt der Track für einen anspruchsvollen Abschluss für alle, die eine Fortsetzung des anfänglichen Konzeptes erwartet haben.

    "Too Slow To Disco Neo Presents The Sunset Manifesto" ist eine uneinheitliche Werkschau eines Sub-Genres, das sich leicht zwischen alle Stühle setzen kann. Je nach Erwartungshaltung oder musikalischer Sozialisierung werden Stücke dabei sein, die beim ersten Hören auf Ablehnung stoßen werden. Wer verfügt schon über so ein breites Spektrum, das sowohl Soft-Rock wie auch Electronische Dance Music umfasst? Aber genau darin liegt auch die Stärke der Song-Auswahl: Wer möchte, kann seinen Horizont erweitern und lernen, dass es auch in bisher nicht wahrgenommenen oder abgelehnten Bereichen gute Musik geben kann. Es ist zwar nicht alles Gold, was hier zu glänzen versucht, aber ein paar Edelsteine sind auch darunter.
    Meine Produktempfehlungen
    • The Ladies Of Too Slow To Disco Vol. 2 The Ladies Of Too Slow To Disco Vol. 2 (CD)
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    • Too Slow To Disco Vol.3 Too Slow To Disco Vol.3 (CD)
    Seasonal Shift Calexico
    Seasonal Shift (CD)
    08.12.2020
    Klang:
    5 von 5
    Musik:
    4 von 5

    Eine Weihnachtsplatte von Calexico?

    Wenn Musiker ein Weihnachtsalbum aufnehmen, dann sind sie meistens künstlerisch auf dem absteigenden Ast. Natürlich gibt es rühmliche Ausnahmen wie das 2006 erschienene Werk "One More Drifter In The Snow" von Aimee Mann oder die "Christmas EP" von Low aus dem Jahr 1999, die mit ihren besinnlichen Beiträgen für anspruchsvolle Festtagsunterhaltung gesorgt haben. Und jetzt springen sogar die über jeden Zweifel erhabenen Calexico auf diesen meistens kommerziell sehr lohnenden Zug auf. Vielleicht trügt da der Schein. Die Songs sind nämlich schon im Juni 2020 als Ersatz für eine ausgefallene Tournee entstanden, wobei die Aufnahmen unter Mitwirkung einiger Gäste zwischen Europa, Mexiko und den USA zwecks Ausgestaltung hin und her geschickt wurden. Laut Aussage von Joey Burns handelt es sich bei "Seasonal Shift" eigentlich gar nicht um ein typisches X-Mas-Album, sondern einfach um Lieder, die gut zum Jahresabschluss passen. So kann man das zwar auch formulieren, aber trotzdem ist der Charakter der Platte festlich und feierlich. Viel wichtiger als die Bezeichnung und Zuordnung der Musik ist jedoch deren Güte und Relevanz. Braucht man sowas oder deckt man lieber den Mantel des Schweigens über diese Aktion?

    Nun ja, hier gibt es Songs, die klingen genau so empathisch und exotisch, wie man es von Calexico erwartet ("Heart Of Downtown", "Natures Domain", "Glory`s Hope", "Tanta Tristeza", "Peace Of Mind"). Andere haben einen typisch weihnachtlichen Charakter ("Hear The Bells", "Christmas All Over Again", "Seasonal Shift") oder sind - wie sagt man es freundlich? - kindlich naiv ausgefallen ("Mi Burrito Sanero", "Sonoran Snowball"). Dazu gibt es mit John Lennon & Yoko Ono`s "Happy X-Mas (War Is Over)" noch eine prominente Cover-Version, zu der auch ein offizielles Comic-Strip-Video erstellt wurde.

    Die besinnlichen Stücke "Christmas All Over Again" (im Original von Tom Petty) und "Seasonal Shift" klingen in diesem Kontext wie halbherzige Verlegenheitslösungen, die aufgrund der im Sommer entstandenen Idee das Christfest-Konzept zu stützen versuchen, aber nicht über genügend Tragkraft verfügen.

    Es finden sich allerdings auch beachtenswerte Stücke auf dem Album. Allen voran das geheimnisvolle und fremdartige "Heart Of Downtown", das auf geschmeidige Art und Weise Anmut und einen unangestrengten Weltmusik-Groove zusammen bringt. Als Gast fungiert hier der nigerianische Sänger Bombino, der musikalisch für die Überwindung der Kluft zwischen seiner Welt und der westlichen Zivilisation steht. Die Klammer, die die Kulturen künstlerisch miteinander verbindet, ist die Hoffnung, dass die Zeiten besser und die Menschen solidarischer und toleranter werden.

    Silbrig schimmernde, perlend-glitzernde Xylofon- und Marimbafon-Töne bringen "Glory's Hope" instrumental zum Leuchten und Glänzen. Das klingt dann nach klirrender Kälte und sternenklarem Himmel.

    "Peace Of Mind" und "Nature`s Domain" sind dagegen traditionsbewusste, wehmütige Country & Western-Balladen, die relativ unsentimental zu Tränen rühren können. "Peace Of Mind" entstand um zwei Uhr nachts, ist entschlackt und führt Joey Burns an die Anfänge der Calexico-Aufnahmen zurück, die 1996 als "Spoke" erschienen. Als Inspiration für "Nature`s Domain" dienten Kinderbücher, die Abbildungen von frostigen Landschaften und Tieren im Winterschlaf enthielten. Um den kühlen Eindruck zu untermauern, wurden Nylonsaiten durch Stahlsaiten ersetzt und im Verlauf der Entwicklung des Stückes stellten sich Gedanken zum Klimawandel ein, die die Stimmung drückten.

    Auch "Hear The Bells" und "Tanta Tristeza" transportieren melancholische Stimmungen, die die Hörer sofort in einen Zustand versetzen, der sie verträumt in wehmütigen Gedanken schwelgen lässt. Das ist ein Qualitäts- und Markenzeichen, dass etliche Songs von Calexico auszeichnen. "Hear The Bells" ist sowas wie der Schlüssel-Song des Albums, denn es geht darum, sich Zeit für Erinnerungen zu reservieren, um innezuhalten und die eigene Situation zu reflektieren. Weihnachtszeit = nachdenkliche Zeit.

    Joey Burns baute zusätzlich ein Zitat aus dem mexikanischen Volkslied "Cancion Mixteca" ein, das er 1993 in der Version von Ry Cooder auf dem "Paris, Texas"-Soundtrack hörte, als er nach Tucson zog. In dem Lied geht es um Sehnsucht und den Verlust der Heimat. Die portugiesische Fado-Sängerin Gisela João legt einen wohligen Grauschleier über "Tanta Tristeza" und Martin Wenk spielt dazu eine traurige Chet Baker-Gedächtnis-Trompete. Bonjour Tristesse!

    In Summe ist "Seasonal Shift" das erste Calexico-Werk, mit dem ich mich nicht voll identifizieren kann. Fünf nicht überzeugende Stücke von insgesamt zwölf Beiträgen bilden schon eine relativ hohe negative Quote, die man von Calexico bisher nicht kannte. Aber für Fans und Komplettisten ist die Platte aufgrund der sieben sehr guten Songs kein Fehlkauf und wer es harmonisch-behaglich mag und zu Weihnachten mal was anderes als sonst hören möchte, der macht mit "Seasonal Shift" nicht grundsätzlich etwas falsch.
    Meine Produktempfehlungen
    • The Thread That Keeps Us Calexico
      The Thread That Keeps Us (CD)
    • The Black Light (20th-Anniversary-Edition) Calexico
      The Black Light (20th-Anniversary-Edition) (CD)
    • Spoke Calexico
      Spoke (CD)
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    What Do You Desire Elis Noa
    What Do You Desire (CD)
    05.12.2020
    Klang:
    5 von 5
    Musik:
    3 von 5

    Bei Elis Noa wird Electro-Pop manchmal zur Kunstform erhoben.

    Es geht um nichts weniger als das Wesentliche: Was erwarte ich vom Leben? Bin ich glücklich oder habe ich mich nur mit meiner Situation arrangiert? Es geht in den Songs von Elis Noa also um (Innen-)Einsichten, Selbsteinschätzungen und Wünsche.

    Der Name Elis Noa war ursprünglich ein wohlklingendes Wortspiel, hat also keine wirkliche Bedeutung. Es gibt nämlich keine Person dieses Namens im Umfeld der Musiker. Elis Noa kommt aus Wien und wird seit 2016 von der Sängerin, Keyboarderin, Gesangslehrerin und Komponistin Elisa Godino sowie dem Saxophonisten, Keyboarder, Produzenten und Komponisten Aaron Hader geleitet. Das Projekt wird noch durch Angel Vassilev (Keyboards) und Michael Schatzmann (Schlagzeug) komplettiert.

    Die Künstler haben ein Konzept, denn sie möchten bedeutungsvolle Themen mit unterhaltend-reizvoller Pop-Musik verbinden. Dazu wählen sie ein luftig-raumfüllendes Ton-Gewand mit Schwerpunkt auf elektronischer Instrumentierung und hingebungsvollem Gesang.

    Der Spoken-Word-Beitrag "What Do You Desire (Part One)?" leitet das Album eindeutig ein: "How Does It Feel To Be Afraid?" lautet eine der Fragen, die von den Musikern in diesem Epilog aufgeworfen werden, um den interessierten Hörer mit Normen und Werten zu konfrontieren.

    Obwohl Synthesizer-Klänge bei "Nude" im Vordergrund stehen, hat der Titel eine warme, ja sinnlich-knisternde Ausstrahlung. Elisas Stimme agiert beweglich und klingt klar und ausdrucksvoll. Sie belebt dabei die Maschinen-Klänge und haucht ihnen erwartungsvolle Erotik ein.

    Zwischen Orient und Okzident ist "Tell Me I'm Lying" angesiedelt. Exotisch anmutende Klänge tauschen sich mit gemäßigten Club-Sounds aus und führen zu Schwingungen, die universell einsetzbar sind.

    "Still Nothing (Goddamn)" versucht sich in der Chillout-Zone anzusiedeln, scheitert aber letztlich daran, dass der Track keine besonderen Überraschungen bietet.

    Anders ist das bei "Love Letter". Für diese Ballade wird der Gesang der hohen Tonlagen ab und zu lautmalerisch eingesetzt. Das hört sich dann wie ein arabisches Blasinstrument an.

    "Devine" beginnt ruhig und langsam, versucht tendenziell auch in diesem Modus zu verweilen, wird aber mitunter durch pulsierende Synthesizer-Trommeln aus der Reserve gelockt.

    "Hideaway" verbindet das Schummrige einer Late Night-Jazz Piano-Nummer variabel mit der Lässigkeit eines coolen Electro-Pop und "Stay And Watch" knüpft da an, wo "Hideaway" aufgehört hat, wobei der Dance-Pop-Anteil allerdings wesentlich erhöht wird. "Take My Hand" setzt im Gegensatz dazu auf würdige Intimität, benutzt aber auch Effekthascherei in Form von Stimmen-Verzerrung, um sich nicht in Gefühlsduselei zu verlieren.

    Die Frage nach den Erwartungen in der Partnerschaft wird bei "What Do You Desire (Part Two)?" als Wortbeitrag aufgegriffen: Man plädiert für einen offenen, angstfreien Umgang miteinander. Die letzten zwei Minuten gehören "Try To Catch Me", einer raffiniert-subtilen Folk-Jazz-Ballade mit Weltmusik-Flair, die fein gesponnen, hypnotisch strukturiert und selbstbewusst umgesetzt wird.

    Elis Noa agieren vorsichtig, wenn es darum geht, Electro-Pop zur Kunstform zu erheben. Es gibt zwar einen philosophischen Überbau, die Musik kann sich aber nicht immer eindeutig von den aktuellen Konventionen der Club-Szene lösen. Aber es gelingt doch einige Male, ausgetretene Pfade zu verlassen (schließlich haben Elisa und Aaron Jazz studiert, sie können sich also in komplexen Strukturen bewegen). Dann zeigt Elis Noa Klasse, Eleganz, Feingefühl und Esprit.
    Jazz Is Dead 3: Marcos Valle Jazz Is Dead 3: Marcos Valle (CD)
    05.12.2020
    Klang:
    5 von 5
    Musik:
    5 von 5

    Jazz Is Dead = futuristisches Kopfnicken Richtung Vergangenheit.

    Adrian Younge und Ali Shaheed Muhammad haben grade einen produktiven Lauf: Im April 2020 kam unter ihrer Regie "Jazz Is Dead 001", eine Platte mit verschiedenen namhaften Musik-Größen, die zusammen mit aufstrebenden Talenten spielten, auf den Markt. Am 31. Juli 2020 folgte die physische Veröffentlichung einer Zusammenarbeit mit dem innovativen Jazz-Groove Vibraphonisten Roy Ayers ("Roy Ayers JID 002") und nun gibt es bereits das nächste Projekt in Form einer gemeinsam entwickelten Musik mit der brasilianischen Bossa Nova-Legende Marcos Valle.

    Der Name und die Idee JAZZ IS DEAD entsprang einer Konzertreihe aus dem Lodge Room in Los Angeles, die von dem Promoter Andrew Lojero konzipiert und organisiert wurde. Im Grunde handelte es sich dabei um Treffen zwischen verdienten und jungen Künstlern, was sich nun auf dem Label fortsetzt. Diese Veröffentlichungen werden von Ali Shaheed Muhammad (New Yorker DJ, Produzent und Gründer der HipHop-Formation A Tribe Called Quest) und dem Produzenten, Komponisten und Arrangeur Adrian Younge betreut. Aufgenommen wird immer rein analog in dem Ton-Studio von Younge.

    Die Ausgangslage und musikalische Ausrichtung der neuen Tribut-Reihe bezeichnet Ali Shaheed Muhammad gerne als "futuristisches Kopfnicken Richtung Vergangenheit". Es handelt sich also um Bewahrung und Belebung von Kulturgut. Die Einbeziehung von berühmten Musikern läuft dabei völlig unterschiedlich ab. So war Roy Ayers nur Gast auf dem ihm gewidmeten "Jazz Is Dead 002"-Werk, Marcos Valle wirkt dagegen auf "Jazz Is Dead 003" bei fast allen Tracks als Sänger mit und spielt Piano.

    Marcos Valle gehört neben Sergio Mendes (in dessen Band The Brazil `65 er über ein halbes Jahr Mitglied war), Antonio Carlos Jobim, Gilberto Gil, Caetano Veloso und João Gilberto in Brasilien zu den musikalischen Nationalheiligtümern. Schon mit sechs Jahren lernte der 1943 in Rio de Janeiro geborene Künstler Klavier spielen, mit zwanzig hatte er seinen ersten Hit im Zuge der zweiten Bossa Nova-Welle und als er 23 war, erschien seine erfolgreichste Komposition "Summer Samba", die 1968 in den U.S.A. bis auf Platz 2 der Charts kletterte und von der es über 180 Cover-Versionen gibt: Ende der 1960er Jahre erweiterte Valle seinen Sound um psychedelische Elemente, Jazz, Pop, Funk und Soul. Neben Auftragsarbeiten für Soundtracks und Telenovela-Jingles hatte der Brasilianer bis 1974 noch Zeit erübrigt, sechs weitere Psychedelic-Pop und -Soul-Werke aufzunehmen. So wie das selbst betitelte, betont ausgeruht-melodische Album mit dem "Bett"-Cover aus dem Jahr 1970: Bis 1980 lebte er dann in den U.S.A. und beschränkte sich auf das Produzieren von z.B. Sarah Vaughan und Airto Moreira. Die nebenbei gesammelten Erfahrungen mit Soul, Funk und Disco beeinflussten seine nächsten drei Alben, die aber keine großen Erfolge mehr waren. Die 1990er Jahre brachten dann mit dem aufkommenden Brazilectro und der Renaissance des Easy Listening die Bossa Nova wieder ins Rampenlicht und Bewusstsein der jungen Leute. Seitdem ist Marcos regelmäßig auf Tour und konnte 2013 sein 50jähriges Bühnenjubiläum feiern.

    Marcos Valle traf das erste Mal Anfang 2019 in Rio de Janeiro wegen der Organisation eines JAZZ IS DEAD-Konzertes auf Younge & Muhammad. Schon im Mai nahmen die Musiker dann per E-Mail Kontakt für die Produktion des vorliegenden Albums in Los Angeles auf. Valle war so angetan, dass er die Demos innerhalb von kurzer Zeit mit seinem Gesang bereicherte. Auf dem fertigen Werk sind jetzt acht Stücke enthalten, sieben davon mit Gesang.

    "Queira Bem" lebt vom zurückhaltend-engagierten Ensemblespiel, dem lässig groovenden Takt und dem in Lautmalerei vertieften, erzählenden Gesang. Der Song vereint kreative Spielfreude aus dem Jazz mit ausgeglichener Folklore, die die Bossa Nova beisteuert.

    Das swingende "Isso É Que Eu Sei" wird hauptsächlich von einem knurrend-kräftigen Bass und einem stabil agierenden Schlagzeug gestützt. Ein E-Piano begleitet den federnden Sound vorsichtig und durch eine Funk-Gitarre wird das vielschichtige Chanson partiell aufgewühlt. Die ganze Situation flankieren und umwehen dann noch liebliche sphärische Chöre. Marcos Valle singt dazu wie ein eleganter Verführer - sanft, aber zielgerichtet.

    "Oi" umgibt eine sinnliche Aura, die durch das verschleppte Tempo und die verschachtelten Instrumenten-Beiträge noch intensiviert wird. Das klingt dann wie der Prototyp einer entspannten Cocktail-Bar-Untermalung, ist aber so schön, individuell und zärtlich, dass sich jede Zuordnung zu Klischees von vornherein verbietet.

    Bei "Viajando Por Aí" erfolgt eine Verdichtung des Sounds. Marcos Frau Patricia Alvi zeigt sich als effektive, auffallende Duett-Partnerin und die Musiker brillieren dazu solistisch, achten dabei aber auf einen kompakten Gruppen-Sound. Die Nummer vermittelt kontrollierten Schwung, der sowohl Lebensfreude wie auch Coolness ausdrückt.

    "Gotta Love Again" kombiniert danach gesungene Worte mit Fantasie-Lauten. Die Begleitmusiker zeigen sich ebenso einfallsreich und lassen den Song sowohl gefühlvoll fließen wie auch spritzig aufkochen.

    Im Stück "Não Saia Da Praça" scheint der Gesang zunächst nicht mit den munteren Instrumenten synchron zu laufen. Dieses Stilmittel ist aber wohl gewollt, zumindest vermittelt es eine gewisse Extravaganz und Eigenständigkeit, die sich im Verlauf zu Gunsten eines flüssigen, voluminösen Ablaufs auflöst und den Track in ein flottes, geschmeidiges Umfeld überführt.

    "Our Train" ist der einzige Titel ohne Gesang. Der Rhythm & Blues-Samba wird mit Hilfe von Synthesizer- und Gitarren-Soli abwechslungsreich dargeboten. Aber dennoch vermisst man Marcos Stimme, die bei den restlichen Titeln jeweils das Sahnehäubchen auf der Glanzleistung der Musiker darstellte.

    Ein diskret angeschlagenes E-Piano sorgt bei "A Gente Volta Amanhã" für eine erwartungsvolle Stimmung. Valle nimmt sich dieser anspruchsvollen Aufgabe an, singt dazu konzentriert und nachdenklich, bevor aufdringliche, futuristisch klingende Synthesizer die nüchterne Atmosphäre zerreißen.

    "Jazz Is Dead 003" beinhaltet Musik, die aus dem Gedankengut der Vergangenheit gespeist, aber so aufbereitet wird, dass sie im Hier und Jetzt ihren Platz findet. Sie hört sich anregend wie auch aufregend an und wird sowohl kompetent wie auch phantasievoll umgesetzt.

    Dieser Bossa Nova-Jazz ist zwar intellektuell geprägt, aber durchgängig angenehm konsumierbar. Es macht einfach Spaß, dem Einfallsreichtum der Musiker zu lauschen. Dazu passt die makellose Produktion, die die Töne klar und transparent im Raum schweben lässt. Die richtungsweisende Ästhetik von "Jazz Is Dead 003" befreit den Jazz von unnötiger Kopflastigkeit und befördert ihn in einen Bereich der Musik, wo Spaß, Sensibilität und instrumentale Raffinesse eine entscheidende Rolle spielen.

    Jazz Is Dead ist ein vielversprechendes Label, das schon die nächste Veröffentlichung plant. Dann geht es um die Präsentation des brasilianischen Trios Azymuth, für das Marcos Valle mit seinem Instrumental-Titel "Azimuth" vom 1969er-Album "Mustang Cor De Sangue" Pate gestanden hat.
    Meine Produktempfehlungen
    • Jazz Is Dead 1 Jazz Is Dead 1 (CD)
    • Jazz Is Dead 2: Roy Ayers Jazz Is Dead 2: Roy Ayers (CD)
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    • Jazz Is Dead 5: Doug Carn Jazz Is Dead 5: Doug Carn (CD)
    Halluzinationen Halluzinationen (CD)
    05.12.2020
    Klang:
    5 von 5
    Musik:
    5 von 5

    Für Sophie Hunger ist "Halluzinationen" ein anderes Wort für Musik.

    Halluzinationen sind optische oder akustische Sinnestäuschungen, die durch Erkrankungen des Zentralen Nervensystems oder durch chemische Substanzen hervorgerufen werden. Sie können aber auch eine völlig neutrale Ursache haben. Einen wachen, vor Aktivität sprühenden Geist zum Beispiel. Der kann bei der in der Schweiz geborenen und derzeit in Berlin lebenden Künstlerin Sophie Hunger auf jeden Fall vorausgesetzt werden. Die 37 Jahre alte Frau ist mehrsprachig aufgewachsen und zeigte im Zuge ihrer bisherigen Veröffentlichungen ein ausgesprochenes Talent für unerwartete Wendungen und unkonventionelle Stilbrüche in der Musik.

    Das siebte Album "Halluzinationen" entstand an nur zwei Tagen in den berühmten Abbey Road-Studios in London. Und das wieder unter der Regie des Produzenten Dan Carey. Es knüpft also im Prinzip da an, wo die letzte Platte "Molecules" von 2018 aufgehört hat, für die allerdings ein Entstehungsprozess von sechs Wochen nötig war.

    Das aktuelle Werk wurde insgesamt sechs Mal mit fester Band ohne Overdubs eingespielt und eine Auswahl daraus fand jetzt den Weg auf den vorliegenden Tonträger. Ein Großteil der verwendeten Aufnahmen stammt aus dem vierten Take, also dem ersten Durchlauf am zweiten Tag, als die Produktion eigentlich schon im Kasten war und eine gewisse Anspannung in Lockerheit überging.

    Was diesen Liederzyklus mit dem Vorgänger verbindet, ist der auffallende, prägende Einsatz von elektronischen Instrumenten. Was die Musik vorrangig unterscheidet, ist der aktuelle, intensiv-attraktive Einsatz eines richtigen Schlagzeugs von Julian Sartorius, was wesentlich zur Lebendigkeit der Stücke beiträgt.

    "Liquid Air", der Titel des Openers, ist ein Begriff aus der Berliner Kneipen-Szene. Es handelt sich dabei um einen angesagten Pfefferminzlikör (auch "Berliner Luft" genannt), durch den das Thema "Nachtleben" nach dem Song "I Opened A Bar" von "Molecules" nochmal aufgegriffen wird. Als Untermalung bildet sich ein Funk-Swing heraus, der aufgrund seiner Brüche und Tempowechsel - verbunden mit kreiselnder Space-Age-Elektronik - ein packendes Wechselspiel aus Melodie-Seligkeit und rhythmischem Knistern aufbaut. Es lebe die Vielfalt!

    "Finde Mich" macht als zackiges Jazz-Chanson eine gute Figur. Das Piano bestimmt den treibenden Puls und das Schlagzeug spielt dazu elastische Figuren, die von Sophie gesanglich individuell unterschiedlich ausgepolstert werden. In der Lyrik begegnen sich die Begriffe "Wahrheit und Wahn", die die Komponistin in einen thematischen Zusammenhang gebracht hat. In einer besseren Welt wäre das Lied ein Hit!

    Mit dem Song "Halluzinationen" taucht die Musikerin wieder offensiv in ihre schon oft praktizierte kontrastreiche Welt ein. Die Musik beginnt mit eckig-zickigen Tönen, nimmt aber später nach Harmonie gierende Passagen auf, um sich im Anschluss wieder in einen Wechsel aus Unbequemlichkeit und Sympathie-Bedürfnis zu begeben. Textlich wird dieses Konstrukt mit Schilderungen, die sowohl Abscheu wie auch Begeisterung ausdrücken, garniert. Ein Hoch auf die gemischten Gefühle!

    Das pulsierend-quirlige Piano verbreitet im Track "Bad Medication" eine gewisse präzise Klarheit und autoritäre Ordnung, die im Allgemeinen der Klassik zugeschrieben wird. Die weiteren Beteiligten sind eifrig damit beschäftigt, die Stimmung kunstvoll aufzulockern, ohne Übermut walten zu lassen. Yin trifft auf Yang!

    Eine gewisse Eile befällt "Alpha Venom". Geräusche, die sich wie eine schnaufende Dampflok anhören, geben dem Electro-Pop zusätzlich den Anschein, rasch ein Ziel erreichen zu wollen. Dennoch gerät das Lied nicht aus den Fugen und wird diszipliniert zu Ende gebracht. Ein Triumph des Willens!

    Der nicht nur sprachlich merkwürdige Titel "Rote Beeten Aus Arsen" bezieht sich auf eine Suppe, die in dem geschilderten Zusammenhang von einer fiktiven, rationalen, desillusionierten deutschen Frau gekocht wird. Deren nicht grade schmeichelhaftes Psychogramm liegt dieser intensiven, romantisch-düsteren Piano-Ballade inhaltlich zugrunde. Die Seele kann ein dunkles Loch sein!

    Es folgt ein Kontrast: Das tanzbare, zweckoptimistische "Everything Is Good", will gute Laune unbedingt mit einer hüpfend-leichten Melodie erzwingen. Der Titel referenziert auf eine Zeichnung von David Shrigley, bei der drei Daumen überdimensional in die Höhe gestreckt werden. Humor ist, wenn man trotzdem lacht!

    Bei "Maria Magdalena" geht es um eine Prostituierte, die Sophie aus dem Fenster ihrer Wohnung beobachtete, was bei der pfiffigen Musikerin eine fantasievolle Vorstellung (oder nennen wir es "Halluzination") über ihre Motivationen ausgelöst hat. Der gewählte Jazz-Folk-Hintergrund hat Biss, lässt sich aber auch treiben und vermengt Elektronik und Akustik so eng, dass die Unterschiede irrelevant werden. Freiheit im Denken lässt alle Schranken fallen!

    Eine ähnliche Instrumentierung mit höherem Tempo gibt es bei "Security Check" zu hören. Der Jazz räumt dem Pop ein wenig mehr Platz als zuvor ein, bleibt aber spielbestimmend. Und wenn dann noch schaumige Schwebe-Klänge erklingen, verschmelzen Realität und Traum miteinander. Was wäre das Leben ohne Illusionen?

    Konzentration und Ruhe bestimmen "Stranger", das zunächst einsam am Piano mit eindringlichem Gesang versehen wird: Die Stimme wirkt dabei traurig, erzählt nüchtern oder transportiert sehnsüchtige Erwartungen. Erst gegen Ende sorgen ein himmlischer Chor und ein kaum merkliches Schlagzeug dafür, dass der Song die Bodenhaftung verliert und sich in der Unendlichkeit auflöst. Aber Alles ist mit Allem verbunden und so geht nichts verloren!

    Für Sophie Hunger ist "Halluzinationen" ein anderes Wort für Musik, wie sie im ZDF-Morgenmagazin am 27.08.2020 verriet. Wenn das so ist, dann sollen die Klänge also wie eine Droge wirken. Töne können sowohl geistige wie auch körperliche Impulse erzeugen, die gewöhnliche Musik-Erlebnisse vergessen lassen. Durch triviale und ungewöhnliche Einfälle, die manchmal unbedarft miteinander verheiratet werden, wird so für allerlei substanzielle Unterhaltung gesorgt.

    Für mich ist "Halluzinationen" das bislang überzeugendste Werk von Sophie Hunger geworden, denn ihr ist eine erfrischende Balance zwischen prickelnder Spontanität und gediegener Reife gelungen. Schade nur, dass die anregende Reise bereits nach 36 Minuten zu Ende ist.
    Meine Produktempfehlungen
    • Molecules Molecules (CD)
    • 1983 Sophie Hunger
      1983 (CD)
    • The Danger Of Light Sophie Hunger
      The Danger Of Light (CD)
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    Domestic (Limited Edition) Domestic (Limited Edition) (CD)
    05.12.2020
    Klang:
    5 von 5
    Musik:
    5 von 5

    Paul Armfield fragt sich: Was ist Heimat?

    Paul Armfield beschäftigt sich auf "Domestic" mit einer Frage, die schon seit längere Zeit kontrovers diskutiert wird: Was ist Heimat? Ist es das private Zuhause, der Ort in dem man ansässig ist oder das Land, zu dem man sich zugehörig fühlt? Oder handelt es sich dabei einfach um ein Wohlgefühl, das nicht unbedingt geographisch zugeordnet werden muss?

    Der in Birmingham geborene und auf der Isle Of Wight in Süd-Ost-England lebende Musiker berücksichtigt seit seinem ersten Album "Songs Without Words" von 2003 inhaltlich gerne das Innenleben der Menschen, ihre Gefühle, Wünsche, Neigungen und Schwächen. Aber die Zeiten sind so beunruhigend, dass es ohne die Einbeziehung von politischen und gesellschaftlichen Themen nicht mehr geht. Der Brexit, das Unvermögen von Regierenden, vernünftig für ihre Bürger zu sorgen, leere Sozialkassen, Ungleichbehandlung, Corona, Umweltzerstörung und Klimawandel sind ja schließlich Gründe genug, um schlaflose Nächte zu bekommen.

    Aber nicht nur die Welt steht vor einem Umbruch, auch Pauls privates Umfeld hat sich in den letzten Jahren gewandelt. Er gab seinen Buchladen auf und beendete sein Engagement in einem Kunstzentrum. Und nun sind auch noch die Kinder aus dem Haus. Das war ein schwerwiegender Einschnitt, weil dadurch ein Teil der Identität und des bisherigen Lebensinhalts wegfiel. Das brachte Denkprozesse in Gang, wobei Sinnfragen und Zielfindungs-Prozesse ausgelöst wurden. Daraus folgte unter anderem: Es war wieder Zeit, sich intensiver mit Musik zu beschäftigen.

    Aus den geschilderten, vielfältigen Beweggründen ist das siebente Werk "Domestic" ein besonders wichtiges Projekt des sanften Hünen. Die zehn neuen Lieder wurden in Stuttgart mit dem italienischen Gitarristen Giulio Cantore und den deutschen Musikern Johann Polzer (Schlagzeug) und Max Braun (Bass, Produktion) intim-zurückhaltend eingespielt.

    Paul Armfield hat als Solo-Künstler seinen persönlichen Ausdruck gefunden, der dem Folk verbunden ist, aber Genre-Grenzen ablehnt. Damit steht er in der Tradition von z.B. John Martyn oder Nick Drake. Er lernte aber auch von Lambchop oder den Tindersticks, wie eindringlich Musik mit wenigen Tönen sein kann. Diese Erkenntnis ist allerdings erst allmählich in ihm gereift: Der Folk-Noir-Gestalter, der jetzt über 50 Jahre alt ist, wuchs mit Musik im Spannungsfeld zwischen Frank Sinatra und Black Sabbath auf und spielte als Teenager zunächst Bass in einer Punk-Band. Nach und nach probierte er etliche Formen von Musik aus, verbrachte einige Zeit im Ostblock und kehrte dann in den 1990er Jahren in seine geografische Heimat zurück, gründete eine Familie, verkaufte Bücher, schrieb Songs und erweiterte erneut sein Musik-Verständnis.

    "Domestic" stellt in gewisser Weise einen Neuanfang in der Karriere des introvertierten Engländers dar, da seine letzte Veröffentlichung "Up Here" schon aus dem Jahr 2015 stammt. Es handelt sich bei der aktuellen Platte aber auch um eine Verdichtung der Fähigkeiten von Paul Armfield, die sich paradoxerweise in einem luftig-weitläufigen Sound kristallisieren. Die Konzentration auf die wesentlichen Bestandteile zeigt sich in einem inneren Halt und einem spannungsgeladenen Ausdruck der Lieder, der auf Erfahrung, Empathie und einen in sich ruhenden Geist hinweist. Letztlich zeigen die Tracks die prägenden Wertvorstellungen des Komponisten, Sängers, Gitarristen und Bassisten.

    Paul beschreibt die neuen Kompositionen als "Überlegungen zur Idee von Zuhause, dem Heimatort, der Zugehörigkeit und der Treue". Sie sind für ihn also eine besondere Herzensangelegenheit. Beim Opener "January" orientieren sich die Gitarren filigran im Raum und die Stimme nimmt vorsichtig abtastend ihre leitende Aufgabe war. Schließlich fügen sich die dadurch entstandenen dunkel schimmernden Sequenzen zu einer schlüssigen - wenn auch verschlungenen - rauschhaft-verträumten Folk-Jazz-Ballade zusammen.

    Auch das später auftauchende "Nowhere" erinnert an intim-kreative Westcoast-Hippie-Folk-Experimente. Dieses karg-romantische Stück bringt eine attraktive Gitarren/Bass/Schlagzeug/Keyboard-Zusammenstellung zu Gehör, die die Sinne betört und gleichzeitig die Konzentration auf das mysteriös knisternde, fragile Geschehen lenkt. Betrachtet wird der Rückzug aus Gemeinschaften, der die Gefahr mit sich bringt, dadurch irgendwann isoliert zu sein. Was unwillkürlich an den Brexit denken lässt.

    "I`m Not Here" ist die erste Single-Auskopplung und der einzige Song mit mehr als einem Wort im Titel. Es wird eine selbst gewählte Isolation geschildert, um dem Irrsinn der Gegenwart zu entgehen. Nichts hören, nichts sehen und nichts wahrnehmen, was von außen kommt, ist die Devise. Mit milder Ironie stellt Paul diese Alternative zum Umgang mit der Wirklichkeit zur Wahl. Dazu servieren die Musiker einen auf leisen Sohlen daher kommenden, unspektakulären Pop-Rock, der selbstzufrieden und genügsam erscheint.

    "You" ist tatsächlich das erste Liebeslied, das Paul für seine Frau geschrieben hat. Es beschreibt unaufgeregt tief empfundene Gefühle, die zart-elegant sowie geschmeidig fließend dargeboten werden. Das ist ein Liebesbeweis, der keine großen Gesten benötigt, sondern durch Aufrichtigkeit besticht und abgeklärt-ehrlich übermittelt wird. Das Stück macht einen warmherzigen, sanft-gnädigen Eindruck und ist romantisch gefärbt, ohne allzu kitschig zu wirken.

    "Home" ist das Schlüssel-Stück zur Einordnung des Heimat-Gedankens. Das Haus oder die Wohnung wird als Mikro-Kosmos des Daseins definiert. Die Musik bezieht seine meditative Wirkung aus einem beruhigenden Ablauf, wobei stützende Rhythmus-Impulse, die dem Bossa Nova entliehen sind, zugesteuert werden.

    Wird ein Vogel flügge, heißt es für ihn, das Nest zu verlassen und unabhängig zu werden. Dieses Lebensgefühl wird in "Fledgling" durch Töne symbolisiert, die teils innige Verbundenheit und teils positive Aufbruchsstimmung vermitteln. Genau das, was ansteht, wenn Kinder das Elternhaus verlassen.

    "Flagbearers" spaziert gemütlich-unaufgeregt im Walzer-Takt umher und versprüht eine Gelassenheit, die die Welt scheinbar in einen problemfreien Ort verwandelt. Dabei wird hier durch die Blume auf die spaltende Wirkung des Brexit hingewiesen und der Begriff der Nationalität hinterfragt.
    "Wrong" unterstützt ein Denkmodell, das konträre Meinungen zulässt und diese abwägt. Paul plädiert außerdem dafür, Fehler einzugestehen und gegebenenfalls zu korrigieren. Und schon wieder kommt der Brexit in den Sinn. Bei diesem Country-Folk überlagern sich manchmal die Instrumente, es bieten sich aber auch Szenen an, in denen die Töne nebeneinander stehen. Das führt trotz der melancholischen Grundausrichtung zu einer wachen Beweglichkeit.

    Bei "Heartache" wird es nochmal vielschichtig. Der Track beginnt als Jazz-Ballade mit flankierender Akustik-Gitarre. Dann setzt ein Raum füllender Gruppen-Sound ein, der einen coolen Tango/Surf/Swing-Mix erklingen lässt, der in ähnlicher Form auch von Calexico präsentiert werden könnte.

    Ein Hintergrund-Orgelpfeifen-Dauerton begleitet "Alone", bei dem dämmrig und gedämpft eine schwermütige, aber scharfsinniges Klima aufgebaut wird. Die Instrumentalisten lassen Jazz-Grooves und psychedelische Spritzer erklingen und Armfield singt dazu sanft und fürsorglich. Wie ein weiser, gutmütiger Schamane, der durch die Kraft seiner Worte heilen möchte.

    "Domestic" verdient es, konzentriert gehört zu werden, denn bei flüchtiger Betrachtungsweise könnten wichtige Details und musikalische Finessen überhört werden. Denn Paul Armfield macht Musik, die bei z.B. "I`m Not Here", "You" oder "Fledgling" unscheinbar empfunden werden kann. Dieser Eindruck wird dem Werk jedoch nicht gerecht, denn z.B. "January", "Nowhere", "Wrong", "Heartache" oder "Alone" geben dem Album darüber hinaus eine Ausrichtung, die den Folk weit aus seinen traditionellen Grenzen herausholt und ihm einen intellektuell-künstlerischen Anstrich verpasst.

    Diese Mischung sorgt für eine Lieder-Sammlung, die trotz der überwiegend gedankenverlorenen, getragenen Stimmung nicht langweilig wird. Der vollbärtige Menschenfreund füllt die Musik als ethisch-moralischer Taktgeber mit humanistischen Prinzipien aus und vertritt in dieser Rolle den Anstand und das gute Gewissen seiner Heimat.
    Meine Produktempfehlungen
    • Up Here Paul Armfield
      Up Here (CD)
    • Songs Without Words Songs Without Words (CD)
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    Øjeblikke Vi Husker (Moments We Remember) (in Deutschland exklusiv für jpc!) Øjeblikke Vi Husker (Moments We Remember) (in Deutschland exklusiv für jpc!) (CD)
    05.12.2020
    Klang:
    5 von 5
    Musik:
    5 von 5

    Hvalfugl sind die Zukunft des Piano-Trio-Jazz,

    Sind die Skandinavier die Kanadier Europas? Diese auf den ersten Blick merkwürdig erscheinende Frage drängt sich deshalb auf, weil kanadische Musiker häufig traditionelle, anerkannte Genres anders deuten als die dort schon etablierten Künstler. So klingen die Roots-Kompositionen von Blue Rodeo z.B. häufig etwas ausgefallener als die ihrer gleichgesinnten Kollegen aus den USA wie z.B. The Jayhawks, ohne deren Leistung schmälern zu wollen! Ähnlich ist es auch im Jazz. Vergleicht man die modernen Spielformen der sonstigen Kontinental-Europäer mit der Musik aus den skandinavischen Staaten, so sind deren Töne häufig an einem sphärisch-weitläufigen, Melodie-betonten Sound zu erkennen. Klarheit und Weite strömt oft aus diesen Klängen. Eigenarten, die aus dem Lebensstil, der Musikauffassung und der nationalen Kultur entstehen, manifestieren sich augenscheinlich in der Musik. Das ist auch beim dänischen Trio Hvalfugl (= Wal) aus Aarhus zu beobachten.

    "Øjeblikke Vi Husker" heißt das dritte Album der Formation und bedeutet "Momente, an die wir uns erinnern". Dreizehn davon erhalten eine Interpretation, die nicht nur von der Stammbesetzung, bestehend aus Jeppe Lavsen (Guitar), Jonathan Fjord Bredholt (Piano, Harmonium) und Anders Juel Bomholt (Bass), aufgenommen wurden. Auch die Gastmusiker Jakob Sørensen (Trompete), Lasse Jacobsen (Schlagzeug) sowie Gabriella und Rebecca de Carvalho e Silva Fuglsig (Cello) spielen eine gewichtige Rolle bei der klanglichen Ausgestaltung der ausgewählten Erlebnisse.

    Gleich beim Opener "Snefald Over Fjorden" (Schneefall über dem Fjord) erhalten wir eine genaue Vorstellung davon, wie die Musiker Eindrücke aus der Natur in Töne umsetzen. Die kristallklare Trompete versetzt dem Stück eine angenehme Kühle und diese Noten tanzen sinnbildlich wie Schneeflocken über der ruhigen, melancholischen Melodie dahin. Das hat kammermusikalische Züge, wirkt entspannend, bleibt aber trotzdem anregend. Klingt paradox, ist aber so. Oder anders ausgedrückt: Man stelle sich Pat Metheney auf Valium vor, der auf Johann Sebastian Bach trifft, nachdem der psychedelische Pilze genossen hat.

    Das Prinzip von Reinheit, verbunden mit melodischer Schönheit, setzt sich bei "Polardrømme" (Polare Träume) fort. Die sauberen E-Gitarren-Töne erzeugen unaufdringliche Minimal-Art-Muster und der Bass übernimmt phantasievolle Leitungs-Funktionen, die eigentlich von der Gitarre erwartet werden. Das Klavier träumt dazu einen wohltuenden Traum. Wo führt das hin? In eine gelassene Zufriedenheit, die den Geist wach und aufmerksam hält. "Funklende Blikke" (Funkelnde Blicke) setzt eine Dreifaltigkeit von Schwingungen um: Intellektuelles Improvisieren, melodisches Feingefühl und folkloristische Heiterkeit treffen hier zusammen. Das Cello-Duo sorgt dabei für den seriösen Rahmen, wobei die Ernsthaftigkeit nicht raumgreifend, sondern schmückend ist.

    Hübsch, gesittet und leichtfüßig findet "Forglemmigej" (Vergessen sie mich nicht) seinen individuellen Weg in einer Mischung aus Pop-Verständnis, Jazz-Gedächtnis und Klassik-Gewissen. Die Umsetzung bleibt unverkrampft und ist so lässig umgesetzt, wie es nur irgendwie in dieser Kombination möglich ist. Gitarre und Bass bilden für "Fraktaler" (Fraktale = geometrische Muster) ein Ton-Gerüst, das einen Nachhall wie das allmähliche Verklingen von Kirchenglocken hinterlässt. Das Piano sorgt bei diesem Gebilde für das Fundament, auf dem ein festes Gerüst errichtet wird.

    Was macht den besonderen Reiz aus, wenn man sich unter einem Viadukt befindet? Das man sich im Vergleich zu dem imposanten Bauwerk als Mensch klein und verloren vorkommt? Oder ist es das blanke Erstaunen über die technische Meisterleistung, die in der Konstruktion steckt? Wie dem auch sei: Die Musik zu diesem Ereignis versprüht bei "Under Viadukten" (Unter dem Viadukt) erhabene Demut und ehrfürchtige Bewunderung, indem sie zurückhaltende Eleganz und virtuoses Können ausstrahlt.

    Auch wenn Hvalfugl mit "Sommereufori" (Sommer-Euphorie) dem klassischen Piano-Trio-Sound nahe kommen, so hat die Gruppe gegenüber einem Großteil der Konkurrenz einen erheblichen Vorteil: Bei ihnen steht beseelte Harmonie gleichberechtigt neben ungebremster Kreativität. Die Balance zwischen Leichtigkeit und Schwermut bleibt stets gewahrt, so dass der Hörer nicht überfordert, aber dennoch stilvoll unterhalten wird. Das Stück besticht nicht unbedingt durch Innovation, schafft es aber, durch Kontinuität einen Wiedererkennungswert zu schaffen.

    "Dugvåde Asfaltstriber" (Tau-nasse Asphalt-Streifen) wurde als Ballade konzipiert, verbreitet Wehmut und besitzt mit der präzise und hell gespielten E-Gitarre ein Instrument, das für markante Farbtupfer sorgt. Der Einsatz des Harmoniums bringt in Teilbereichen eine spirituelle Sehnsucht in das Stück ein. "Regnen Falder Som Sne" (Der Regen fällt wie Schnee) bewegt sich auf verschlungenen Jazz-Pfaden, die sich durch wechselnde Tempi auszeichnen. Wobei der Track von einer leicht überblasenen, rauschenden Trompete begleitet wird, die grundsätzlich die Führung übernimmt.

    Für "Lysning" (Spielraum) wird die funkelnde E-Gitarre mit Hall versehen, was ihr in diesem kurzen Intermezzo eine psychedelische Ausrichtung verleiht. Das Harmonium greift diese Tendenz mit wolkig-verschleierten Tonfolgen auf. Und als sich diese Komposition grade zu entwickeln beginnt, ist sie auch schon wieder vorbei. Schade. Oder bildet sie etwa die Einleitung zu "Vandrer Mig Til Ro", das mit seiner traurigen Grundstimmung und den dominanten Celli an die Paul Winter Consort zu Zeiten von "Icarus" (1972) erinnert?

    Es bleibt wohlig, traurig und entspannt: "Hold Mig I Hænderne" (Halte mich in deinen Händen) sendet flehentlich-betrübte Signale aus, die zu Tränen rühren. So ergreifend sind sie und so empfindsam-überwältigend werden sie dargeboten. Wie die Adaption eines alten Volksliedes erscheint "Der Hvor Alting Ender" (Wo alles endet). Die Melodie hinterlässt einen altersweisen, bodenständigen Eindruck und die Instrumentierung sorgt trotz eines dominanten Bass-Solos für solide, urwüchsig-beständige Fundament.

    Die Künstler von Hvalfugl bewegen sich stilistisch auf dünnem Eis. Solch sanft-verträumte Klänge können leicht in pseudo-intellektuellen Kitsch abrutschen, wenn Schönklang im Gewand von sauberer Instrumentenbeherrschung zum Selbstzweck wird. Aber die Skandinavier beweisen Fingerspitzengefühl und guten Geschmack. Die Musik ist recht eingängig, präsentiert aber dennoch einige auffallende Momente. Sie ist sensibel, ohne in Gefühlsduselei zu verfallen und sie nutzt traditionelle Elemente, ohne dabei bieder zu wirken.

    In dieser Form sind das Trio und ihre Gefolgschaft die Zukunft des Piano-Trio-Jazz, weil die Musiker statt in starren Strukturen zu verharren, lieber bewusst (oder unbewusst) in dem weiten Spektrum anspruchsvoller Unterhaltungsmusik wildern und sich dabei keine kompositorischen Ketten anlegen lassen. Natürlich haben sie bestimmte Wertschätzungen und Vorlieben entwickelt, die in etwa zwischen populärer Kammermusik, bewährter Folklore, atmosphärischem Jazz und kunstvollem Pop angesiedelt sind. Diese stellen aber nur einen grundsätzlichen Rahmen dar, der gerne gesprengt werden darf. Das macht die Musik so flexibel, frisch und freundlich. Es entstehen kurzweilige kultivierte Klänge, was ein schönes, angenehmes und seltenes Erlebnis ist.
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    Dance Dance (CD)
    05.12.2020
    Klang:
    5 von 5
    Musik:
    4 von 5

    Album Nr. 7 des Jazz-Trios.

    Am Anfang war der Tanz. Als der Jazz um 1900 in den Südstaaten der USA von der afro-amerikanischen Bevölkerung zunächst als Ragtime entwickelt wurde, diente er dazu, den ausgelassenen Bewegungsdrang der Menschen zu befriedigen. Auch Dixieland und Swing zwangen die Menschen aufgrund des ansteckenden Schwungs auf die Tanzflächen. Der Bebop, der in den 1940er Jahren populär wurde, hatte da schon sehr viel mehr Improvisationsanteile und markierte den Anfang des intellektuell geprägten Modern Jazz. Seitdem gab es diverse Spielarten, die entweder eingängig oder komplex klangen. Beim Jazz gibt es bis heute keinen Stillstand: Es werden immer wieder Genre-fremde Stile eingebunden, Traditionen aufgearbeitet und verschiedene Instrumentierungen ausprobiert.

    Das Tingvall Trio bereicherte 2006 mit dem Studioalbum "Skagerrak" die gediegene, verspielte und neugierige Jazz-Szene. Nach einer dreijährigen Veröffentlichungs-Pause seit "Cirklar" ist "Dance" nun schon Studioalbum Nummer sieben. Dazwischen lagen Auszeichnungen und erfolgreiche Tourneen, die den Musikern einen guten, gefestigten Ruf einbrachten. Engagements neben der Trio-Arbeit erweiterten den Horizont und erschlossen neue Möglichkeiten. So arbeitete der schwedische Pianist Martin Tingvall mit Udo Lindenberg zusammen. Der deutsche Schlagzeuger Jürgen Spiegel nahm 2019 ein Album mit dem polnischen Pianisten Vladyslav Sendecki auf (Sendecki & Spiegel - "Two In The Mirror") und der Kubaner Omar Rodriguez Calvo (Bass) war ohnehin ständig ein gefragter Session-Musiker und Fotograf.

    Aber zum "tanzbaren Jazz" ließ sich der bisherige Output der international besetzten Formation trotz deutlicher Einflüsse aus Pop, Rock und Latin wirklich nicht zuordnen. Die Idee, Tanz-Rhythmen rund um die Welt einzusammeln, entstand bei der Probe zum neuen Stück "Cuban SMS". Die Künstler fühlten sich von der Komposition ungeheuer angeregt. Deshalb ging man musikalisch weltweit auf die Suche nach belebenden Zutaten und entdeckte im Orient, auf Jamaika, in Spanien und in Latein-Amerika spannende Takte, die zu weiteren Anregungen führten.

    Das transparente Klangbild der aktuellen Aufnahmen hilft dabei, auch kleinste Anspielungen an die Titel der Kompositionen herauszuhören oder zumindest zu erahnen. So lassen die feinen, hohen Piano-Töne am Anfang von "Tokyo Dance" an feingliedrige, japanische Miniaturen denken. Martin Tingvall erhöht hier die Dynamik, indem er wirbelnde, donnernde Klavier-Akkorde absondert, die in der Tradition eines McCoy Tyner stehen. Er kehrt aber immer wieder zu sanften Momenten zurück, die von Jürgen Spiegel im Hintergrund ständig unter Strom gehalten werden. Wie man sich denken kann, kommt auf ihn bei der Rhythmus-Gestaltung eine besondere Herausforderung zu, da Tänze nun mal in der Regel treibende Takte verlangen. Omar Rodriguez Calvo bleibt ganz cool und steuert wuchtig-gelassene Bassläufe bei.

    Ethnische Trommelklänge gehen bei "Dance" relativ schnell und elegant in swingende Jazz-Cluster über, so dass der Track den Tanz universell und nicht speziell betrachtet. Der melodische und fantasierende Anteil ist sogar deutlich höher ausgeprägt als die körperlich stimulierenden Anteile.

    Bei "Spanish Swing" ist der Name Programm. Der Titel wird mit tollkühner spanischer Folklore geimpft und prescht dadurch übermütig und ungebremst voran.

    Als Tanz gehört "Flotten" eher zu den langsamen Ausdrucksformen oder zum Ballett. Der Track erzeugt balladeske Windungen und lebt von den bewährten Wirkungsweisen des Tingvall Trio: Alle drei Musiker bekommen nämlich Raum, sich handwerklich auszuzeichnen und ergänzen sich dabei prächtig. "Riddaren" wirkt überwiegend heiter. Die Fröhlichkeit kommt jedoch von innen, ist bescheiden und nicht ausgelassen oder überschäumend. Hier tanzen die Gedanken, aber nicht die Extremitäten.

    "Cuban SMS" war also der Auslöser für die "Tanz-Idee". Und ja, der Titel macht ordentlich Tempo und die wild-ausgelassen klappernde Percussion trägt den Hörer gedanklich in die Karibik. Alle Beteiligten absolvieren ein hohes Energie-Pensum, was in Summe zu einem stark verdichteten, impulsiven Sound führt. Zwischen Thriller-Jazz und exotischer Verspieltheit pendelt "Arabic Slow Dance" und nimmt so auch die sinnliche Mystik des Bauchtanzes in sich auf.

    Das Piano läutet für "Puls" einen dynamischen Parforce-Ritt ein, bei dem das Stück ständig am Brodeln gehalten wird, auch wenn das Piano manchmal in ruhige Gefilde übergeht. Jürgen Spiegel bleibt auch dann aufmerksam und lässt es krachen, klacken und rumsen, als ginge es um sein Leben. Omar Rodriguez Calvo baut Spannung auf, ohne sich zu sehr in den Vordergrund zu spielen. Dabei behält er die Übersicht und hält alle Fäden zusammen.

    Einen direkten Bezug zum Tanz lässt sich bei "Det Lilla" nicht unbedingt sofort erkennen. Die Komposition trägt sowohl romantische wie auch als Tondichtung ausgeprägte Züge. Sie lädt somit in erster Linie zum Nachdenken und Innehalten ein. Reggae stand bei "Ya Man" als Taktgeber Pate und verleiht der Komposition dadurch eine gewisse Körperlichkeit. Interessant ist dabei der Gegensatz, der durch das kultiviert-verstandesmäßig aufgebaute Klavierspiel entsteht.

    Der "Bolero" gewinnt nur allmählich an Leidenschaft, groovt sich langsam auf einen strammen Tanzschritt ein und wächst mit der Steigerung der Vehemenz zu einem starken, selbstbewussten Stück heran. Die "Sommarvisan" (= Sommerlied) betitelte Komposition wartet mit einer Melodie auf, die leicht und eingängig wie ein Volkslied sein kann. Würde sie nicht durch freigeistige Auslegungen torpediert, verändert und umgekrempelt werden. "In Memory" ist ein traurig gestimmter Track. Durch die sensible Vortragsweise denkt man sofort ans Abschied nehmen oder es kommen sehnsuchtsvolle Erinnerungen in den Sinn.

    Nicht alle Stücke auf "Dance" suggerieren oder provozieren Bewegung. Manchmal geht es auch um fiktive Tänze oder einfach um das Leben als Tanz durch die Zeiten. Das Tingvall Trio hat eine Ebene des Zusammenspiels erreicht, bei dem sich die drei Akteure optimal ergänzen und offensichtlich blind verstehen. Die aktuelle Ausweitung des rhythmischen Spektrums hat ihnen augenscheinlich Spaß gemacht und mobilisierte zusätzliche Assoziationen.

    Jetzt würde ich mir bei allem Erstaunen über die virtuosen Fähigkeiten wünschen, dass das Tingvall Trio in Zukunft ihren Klangraum noch weiter ausweitet. Andere Mitspieler, neue Stil-Fusionen und ein Sprengen des üblichen, erwarteten Jazz-Rahmens könnte die Formation in ungeahnte Sphären katapultieren. Die Möglichkeiten dazu besitzen die Musiker allemal.
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    05.12.2020
    Klang:
    5 von 5
    Musik:
    4 von 5

    "Stop & Frisk" ist aggressiv, heftig und schwierig, aber auch anregend.

    Jazz ist Vielfalt. Jazz umfasst zahlreiche Ausdrucksformen: Neben traditionellem Dixieland findet man unter anderem sphärischen ECM-Jazz und nervenzerfetzenden Free-Jazz. Und welcher Jazz-Fan kann sich schon für alle Ausprägungen begeistern? Tribe ist ein Quintett, das vom Trompeter John-Dennis Renken, der auch für die Electronics zuständig ist, geleitet wird. Seine Formation hebt mal eben die Grenzen zwischen Jazz, HipHop, Dubstep, Pop und Rock auf und ist dabei abenteuerlustig, feurig und schwierig. Neben einem kraftvoll-explosiven Ensemble-Spiel gibt es auch immer wieder Demonstrationen der Fingerfertigkeit der Musiker zu hören.

    Der Titel "Stop & Frisk" bezieht sich auf das Recht der Polizei in den USA, jede Person ohne Grund anhalten und überprüfen zu dürfen. Das trifft erfahrungsgemäß besonders Menschen mit dunkler Hautfarbe. Mit diesem Missstand im Kopf hat die Gruppe das Eröffnungs-Stück wütend, freigeistig und brachial gestaltet. Der Bläsersatz, der neben John-Dennis Renken (Trompete) aus Angelika Niescier am Saxophon und dem Posaunisten Klaus Heidenreich besteht, spielt zunächst eckige, nervös-irritierende Fanfaren. Davon bleibt danach die Trompete über, die zu knallenden Schlagzeug-Break-Beats von Bernd Oezsevim ausufernde Improvisationen absondert. Der Sound erinnert in dieser Phase an den Jazz-Rock-Fusion-Sound von Miles Davis zu Zeiten von "Bitches Brew" (1970).

    "Meck" präsentiert den Gitarristen Andreas Wahl mit monoton-suggestiven Raumforderungs-Riffs, die jedoch rasch vom Bläser-Trio überlagert werden. Dies steuert gezügelte, kommunikativ zugängliche Töne bei und bringt das Stück so in eine recht melodische Ausgangslage. Im weiteren Verlauf sorgen einzeln eingesetzte Blasinstrumente für nahöstliche Exotik und freigeistige Enthemmung.

    "Dry Heat" agiert zunächst hektisch-nervös. Das äußert sich in Stakkato-haften Instrumenten-Einsätzen, die zunächst durch ein Posaunen- und dann durch ein Gitarren-Solo abgelöst werden. Danach geht es kurz mit einem druckvollen Ensemble-Sound weiter, bevor der Bass das Lead-Instrument wird und sich dann die Bläser wieder mit unterschiedlicher Intensität einmischen. "Einmal" ist überraschend lyrisch ausgefallen. Die Soli fallen nicht durch besonders übertriebene Exzentrik aus dem Rahmen und der Gruppensound swingt, wenn auch etwas neben der Spur. Aber das gehört zum Konzept.

    "XX" ist eines von drei Stücken, die John-Dennis Renken seiner Tochter gewidmet hat. Die Gitarre gebärdet sich hier anfangs wie ein wildes Tier, das sowohl an Ritchie Blackmore (Deep Purple) wie auch an Jimi Hendrix geschnuppert hat. Die Bläser-Sektion bringt Crime-Feeling ein, wobei das Tempo immer weiter heruntergefahren und die Stimmung immer friedvoller wird. Der Track endet dann mit etwa einer Minute Stille. "Quatschkopp" vermittelt tatsächlich den Eindruck von Gesprächen zwischen den Instrumenten. Mal wird durcheinander geredet, dann widersprüchlich argumentierend, später engagiert-aufbrausend oder beleidigt kommuniziert. Fun-Fact: Der Titel soll ziemlich gut den Charakter der Tochter von John-Dennis Renken beschreiben...

    Für "Löschversuch" wird das freie Spiel auf der E-Gitarre in den Mittelpunkt gerückt. Diese Auswüchse werden im Mittelteil der Komposition von einer ebenso dominanten Posaune verdrängt. Bis zum Schluss bleibt der Track dann überwiegend aggressiv und hektisch. Zu "Charlie`s Lullaby" berichtet John-Dennis Renken: " [Das Stück] habe ich geschrieben, weil Charlotte immer angefangen hat zu weinen, wenn sie meine Musik gehört hat, da musste etwas mit friedlichen Harmonien und Melodien her". Und so hören wir jetzt einen langsamen, sphärischen Track, bei dem die Blasinstrumente einen kühlen, weitläufigen Notenteppich ausbreiten und für eine ausgeglichene Atmosphäre sorgen. Dadurch hat die Tribe-Musik noch eine weitere Facette dazu bekommen.

    Über weite Teile kann man mit den Klängen auf "Stop & Frisk" - wie John-Dennis Renken ausgeführt hat - Kinder erschrecken, so wild und anstrengend sind sie. Glaubt man, den Sound zwischen Jazz-Rock und Free-Jazz erfasst und verdaut zu haben, dann kommen die Musiker schon wieder mit einer überraschenden Wendung um die Ecke. Immer hellwach und oft im Angriffsmodus rütteln sie an den Geduldsfäden und bringen unter Umständen Hörgewohnheiten tüchtig durcheinander. Auf diese Weise sorgt die Tribe-Truppe - je nach Auffassung - für anstrengende oder anregende Momente.
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    04.12.2020
    Klang:
    5 von 5

    Teil 2 des Jazz-Chanson-Pop-Mix von Inga Lühning & André Nendza.

    Auf der Homepage von Inga Lühning & André Nendza ist zu lesen: "Lühning & Nendza spielen Songs. Eigene. Und auch von Anderen. Auf eigene Art. Wagen einen Spagat von Degenhardt zu Michael Jackson. Und manches mehr. Lühning & Nendza spielen pur mit Stimme und Kontrabass. Und dann doch nicht so pur mit Loopern, E-Bass, Effekten und Bass-Schlitztrommel. Lühning & Nendza spielen Jazz, denn sie geraten sehr gerne auf improvisatorische Abwege. Und dann wieder zurück zu: Lühning & Nendza spielen Songs...". Das trifft es schon recht deutlich, denn wer sollte seine Kunst besser beschreiben können als die Künstler selbst.

    Ihre Ideen bringt das Duo jetzt schon zum zweiten Mal auf Tonträgern unter die Leute. Aber können die Musiker damit den in dieser Konstellation sonst oft üblichen verschnarchten Mief von steifer Kultur zum Zwecke der gesitteten Erbauung abstreifen? Hat ihr Eigen-/Fremdkompositions-Mix genügend Substanz, um eigenständig zu bestehen und auf hohem Niveau zu unterhalten, ohne konservativ zu wirken? Oder macht das Werk seinem Namen Ehre (Hodgepodge heißt soviel wie Mischmasch) und es hört sich wie ein unsortierter Gemischtwarenladen an? Wir werden sehen, beziehungsweise hören.

    "Hodgepodge Vol. 1" erschien 2017 und enthielt fünf Fremd- und sieben Eigenkompositionen. Dieses Verhältnis wurde auch bei der neuen Folge beibehalten. Sie beginnt mit einer Cover-Version von Shel Silversteins "The Ballad Of Lucy Jordan". Das Lied wurde durch eine zerschossen-kaputte Synthie-Pop-Fassung von Marianne Faithfull richtig bekannt. Hier geht es gesitteter zu. Inga singt sauber und harmonisch und André lässt seinen Bass wohlig grummeln. Der Schönklang wird durch rhythmische Loops und Effekte zwar ein wenig aus seiner Komfortzone geholt, behält aber trotzdem die Obrigkeit. Revolutionäre Auswüchse werden im Keim erstickt.

    Inga Lühnings "Healing Song" verwendet Minimal-Art-Takte, die mechanische und ethnische Töne zusammen bringen. Die makellose Stimme bringt dazu hoffnungsvolle Töne ein und so entsteht ein schöner Art-Pop-Song! Bassist André Nendza steuert dann mit "Until" eine Ballade bei, die sowohl im Jazz, wie auch im Pop angesiedelt ist. Beide Stile laufen sowohl zusammen, wie auch getrennt voneinander ab. Das wohl in diesem Zusammenhang unvermeidliche Bass-Solo stellt allerdings einen Bruch da, der nicht unbedingt erbaulich, zielführend und nötig erscheint.

    "Du kannst zaubern" ist die norddeutsche Übersetzung des Bap-Songs "Do kanns zaubere" von 1982. Die stimmliche Phrasierung und die Jazz-Chanson-Interpretation des Liedes erinnern an Lisa Bassenge & Nylon. Das Erfüllen von Hör-Erwartungen spielt hier jedoch keine Rolle, vielmehr werden nach Herzenslust verschiedene instrumentelle Begleitungen ausprobiert und spielerisch ein paar Gesangsspuren montiert.

    Franz Josef Degenhardt ist einer der Urväter des politischen, sozialkritischen Liedes in Deutschland, der seine Verse radikal und bissig formulierte. Er galt als einer der Sprecher der 1968-Generation und damit des Klassenkampfes und nahm im Laufe seiner Karriere insgesamt 32 Platten auf. Lühning & Nendza sind Fans des Barden und wählten für ihren aktuellen Mischmasch das Lied "Deutscher Sonntag" aus, bei dem der Text im Prinzip wichtiger als die Musik ist. Deshalb stellen die Jazz-Künstler das Wort in den Vordergrund und untermalen den gesellschaftskritischen Inhalt sachdienlich mit intellektuellen Noten.

    "Wie im Märchen am Ende" ist - wie auch die nächsten vier Tracks - wieder ein Eigengewächs, das versucht, Chanson, Jazz und Kunstlied in ein Pop-Gewand zu kleiden. So funktioniert Innovation. "Actually, Actually" und "Nice Little Sleep" können dagegen keine Akzente setzen. Zu durchsichtig und bekannt sind ihre Muster. "Alone" schafft es dann, sich aus einem drögen, nur vom Bass begleiteten Stück zu einem Track zu entwickeln, der die Abenteuerlust der Jazz-infizierten Joni Mitchell-Kompositionen atmet. Das rettet den Song - beinahe.

    Für "In deinem Licht" singt Inga Lühning flüssig wie kühles Wasser, ahmt mit ihrer Stimme das Hi-Hat-Becken eines Schlagzeugs nach und legt später noch einen wolkig-schwebenden Background-Chor oben drauf. Diese Form des Pop-Jazz wird hierzulande viel zu selten praktiziert. Bitte mehr davon! "Kreise" ist die deutsche Fassung von "Windmills Of Your Heart", einem Chanson von Michel Legrand, das unter anderem 1969 von Dusty Springfield und 1999 von Sting gesungen wurde. Die bittere Süße und anklagende Strenge des Gesangs wird hier von einem akademisch-trockenem Bass-Solo aufgelöst, um nicht zu sagen zerstört. Die Alltagsbeobachtungen von Sven Regener sind immer zeitlos und unpeinlich. Davon kann man sich bei "Am Ende denke ich immer nur an dich" von Element Of Crime ein Bild machen. Die Lühning & Nendza-Deutung stellt bei dem Lied Pop-Chanson und Jazz-Scat-Gesang nebeneinander dar. Der Komposition schadet dies nicht, bringt sie aber auch nicht weiter.

    Inga Lühning & André Nendza sind erfahrene, hochkompetente Musiker. Keine Frage. Inga veröffentlichte zum Beispiel schon zwei eigene Platten, war in China und Äthiopien Kulturbotschafterin für das Goethe Institut, stand mit Marla Glen und den Fantastischen Vier auf der Bühne, sang 2019 in "Gottschalks große 80er Jahre Show" im Background für Paul Young und Nick Kershaw und ist Teil von "Andreas Schnermann`s Poetry Clan". André Nendza studierte in Köln und Hilversum Musik, arbeitete unter anderem mit Jazz-Größen wie Dave Liebman, Kenny Wheeler, Dave Pike und Charlie Mariano zusammen, ist auf über 70 Tonträgern zu hören und ein gern gesehener Gast auf diversen Jazz-Festivals. Darüber hinaus unterrichtet er an Hochschulen und heimste schon hochrangige Auszeichnungen ein. Vor den Leistungen der beiden Musiker kann man nur den Hut ziehen.

    Deswegen sind meine kritischen Anmerkungen wahrscheinlich nur kleinkarierte Sichtweisen eines Musikhörers, der eine etwas andere Erwartungshaltung mitbringt. Sie kratzen jedenfalls nicht an dem Können des Duos: "Hodgepodge Vol. II" verfolgt im Grunde genommen ein interessantes Konzept, das zu einer ungewöhnlich-herausfordernden Mischmasch-Zusammenstellung führt. Aber der entscheidende, durchgängige Schritt in Richtung Innovation, musikalischem Abenteuer und Bruch mit Konventionen fehlt. Die Künstler verlassen den Weg des Entdeckens und Forschens, um im vermeintlich sicheren Hafen zu ankern. Mehr Mut zu Neuland und zum Experiment hätte auch mehr individuelle Eigenständigkeit bedeutet.

    Ich wünsche mir von solchen Projekten immer neue Ausprägungen, alternative Kombinationen und eine Erweiterung des eigenen Horizontes. Das ist aber wahrscheinlich nicht unbedingt in letzter Konsequenz das Anliegen der beiden Musiker. Deswegen geht unser Anspruch hier manchmal auseinander. Das soll aber in keiner Weise das herausragende handwerkliche Können schmälern, welches hier demonstriert wird.
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