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    LittleWalter Top 25 Rezensent

    Aktiv seit: 03. September 2010
    "Hilfreich"-Bewertungen: 1129
    480 Rezensionen
    I Am My Mother Black Sea Dahu
    I Am My Mother (CD)
    14.03.2022
    Klang:
    4 von 5
    Musik:
    4 von 5

    Fabeln sind Lehrstücke über menschliches Denken und Verhalten. Also besteht „I Am My Mother“ aus akustischen Fabeln.

    In einigen Gegenden sind Fabelwesen tief im kollektiven Bewusstsein verwachsen. In Bayern ist es der Wolpertinger und in der Schweiz gibt es den Dahu, eine Art Gämse, die vorne kurze und hinten lange Beine hat.

    Die Schweizer Geschwister Janine (Lead-Gesang, Gitarre, Streichinstrumente), Vera (Gesang, Gitarre) und Simon (Gesang, Cello) Cathrein haben zunächst unter der Bezeichnung Josh Musik gemacht und 2012 ihre Platte "The Kids Of The Sun" herausgebracht. Ab 2018 firmierten sie sich um und leisten seitdem ihrem Schweizer Fabelwesen unter dem Band-Namen Black Sea Dahu Tribut. Nach "White Creatures" aus 2018 erscheint nun am 25. Februar 2022 das zweite Album "I Am My Mother".

    Der Familienverbund, der durch Nick Furrer (Schlagzeug), Pascal Eugster (E-Bass) und Ramon Ziegler (Keyboards) ergänzt wird, fühlt sich in einem Gespinst aus drogenvernebeltem Psychedelic-Folk, exzentrischem Alternative-Rock und seltsam verschobenem Art-Pop wohl. Die gesangliche Ausdrucksform erinnert dabei in ihrer anrührenden Betroffenheit oft an Jeff Buckley oder Rufus Wainwright. Pearls Before Swine um Tom Rapp, Kevin Ayers, David Crosby und Midlake sind weitere Eckpfeiler, die die Einordnung des Sounds vorstellbar machen, aber dennoch die Wirklichkeit nicht gänzlich im Detail beschreiben helfen. Denn Black Sea Dahu sind eigen: eigensinnig, eigenartig, eigenständig.

    Der Opener "Glue" beschäftigt sich mit dem Wert von Gedanken, Erfahrungen und Erinnerungen: Gedanken sind flüchtig, sie ändern sich durch emotionale Einwirkungen und Erfahrungen. Gedanken sind Leim, meinen Black Sea Dahu in "Glue". Auch Erfahrungen führen nicht immer dazu, dass der gleiche Fehler nicht noch einmal gemacht wird, sonst würde sich Geschichte nicht ständig wiederholen. Erinnerungen verblassen, können im Falle einer Demenz-Erkrankung sogar völlig verloren gehen. Der Song zu diesen Überlegungen gerät in einen seltsam torkelnden Walzer, wobei Traum und Wirklichkeit nicht mehr auseinandergehalten werden können. Der flehentlich-groteske, sich an der Grenze zum Nervenzusammenbruch bewegende Gesang verstärkt die bizarre, erschütternde Stimmung dabei noch.

    Schwebeklänge versuchen, "Human Kind" die Bodenhaftung zu entziehen, aber ein stoischer, trockener und karibisch beschwingter Rhythmus arbeitet regelmäßig dagegen an. Gezupfte Akustikgitarren legen unterdessen die Basis für eine teilnahmsvoll-bedächtige Erzählweise.

    "One And One Equals Four" beginnt mit der Aussage: "Es gibt einen Ozean zwischen dir und mir, der nicht überwunden werden kann". Das beschreibt die ganze Tragik einer Liebesbeziehung, die vor einer Zerreißprobe steht. Entsprechend ist der Song ein Paradebeispiel für eine erschütternde Ballade, bei der das Innerste nach außen gekehrt wird. Dahinter verbirgt sich die Hoffnung, dass der Seelenstriptease Linderung verschafft oder vielleicht sogar zu einer Lösung der verfahrenen Situation führt. Das in Moll gestimmte Piano verströmt Trauer, der Gesang nimmt diesen Eindruck auf und windet sich mal gefasst, mal winselnd um die Noten. Nostalgische Streicherklänge erhöhen den Sentimentalitätsfaktor, aber ein abgespecktes, Becken-loses Schlagzeug und flatternde Flöten-Töne, die sich wie ein aufgescheuchter Vogelschwarm anhören, sichern den Track gegen den drohenden Abgrund ab. Aufflackernde psychedelische Gitarren- und Synthesizer-Klänge verschaffen nur einen kurzen, milden rauschhaften Trost, die Tristesse setzt sich ungeachtet dessen fort. „In meiner Welt gibt es kein 1+1=2! So einfach ist es eben nicht. Die Dinge gehen nicht auf, und ich versuche, das mit meiner Musik zu erzählen“, erklärt Janine Cathrein den Song-Titel, dessen Gleichung nicht aufgehen mag.

    "Transience" vermittelt grüblerische Impressionen vom Tournee-Leben, bei denen die Sehnsucht nach dem Partner gegen die Liebe zur Musik hinsichtlich der Wertigkeit abgewogen wird. Die Musik erhält bei diesem Vergleich den höheren Rang. Eine folkloristische Akustik-Gitarre, sanfte Piano-Klänge, ein warm rauschendes Harmonium, eine aus dem Nichts erscheinende kompakte Rhythmus-Einheit, eine neugierig stichelnde E-Gitarre und eine Stimme, die um Vertrauen und Aufmerksamkeit wirbt, das sind die wesentlichen Bestandteile dieser würdig-erhabenen, pastoral anmutenden Musik.

    "Make The Seasons Change" ist das lebhafteste Stück des Albums. Es schlüpft aus einem Kokon, bestehend aus jenseitig anmutenden Tönen und tritt mit schnell pulsierenden Takten ins aktive Leben ein. Auch der Gesang bricht aus der Melancholie aus, jubiliert, macht sich frei, gebärdet sich ab und zu sogar übermütig-wild und daher gerät das Stück zu einem Befreiungsakt aus dem Trübsinn, bei dem die E-Gitarren abschließend die weitere Richtung vorgeben: Vorwärts ins Licht.

    "Affection" spielt romantische, klassische Klaviermusik gegen exotische Weltmusik in Verbindung mit Surf-Sounds aus, wobei alle Bestandteile ihre Daseinsberechtigungen haben und sich final betrachtet gegenseitig befruchten.

    Der Name des Tracks "I Am My Mother" klingt erst einmal seltsam. Im Laufe des Textes versetzt sich Janine jeweils in eine andere Person aus der Familie und zeigt prägende Bezugspunkte der gegenseitigen Verbindung auf. Das vertrackte Stück dehnt den Begriff der Pop-Musik in Richtung Freak-Folk aus und gibt der bisherigen Klang-Palette somit noch eine weitere Orientierung mit. Neben Harmonie wird noch Zügellosigkeit und Spieltrieb kultiviert, so dass der Song durch diese Reibungspunkte originelle Reize absondert.

    Was für ein interessantes Hör-Abenteuer, das sich zwar manchmal am Rande der Verzweiflung bewegt, aber dennoch eine inspirierende Wirkung entfacht, weil die Grautöne authentisch wirken und sympathisch verschroben unterfüttert werden. Die Deutung der Texte ist übrigens nicht immer klar in eine Richtung abzugrenzen. "I Am My Mother" ist eine Platte über Empathie, Akzeptanz und die Kunst, die Schönheit im nie endenden Tanz zwischen dem Hässlichen und dem Erhabenen zu erkennen. Es geht darum, seine Wurzeln und seinen Platz in einer Welt zu finden, die immer im Wandel ist. Es geht um Handlungsfähigkeit und Selbstermächtigung. Es geht um alle Arten von Beziehungen: Liebe, Familie, Gesellschaft… Aber im Grunde ist es ein leidenschaftlicher und offener Liebesbrief an die Musik", erklärt die Gruppe ihre Beweggründe.
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    Sisyphys Rock Bedroom Eyes
    Sisyphys Rock (LP)
    14.03.2022
    Klang:
    4 von 5
    Musik:
    4 von 5
    Pressqualität:
    4 von 5

    Power-Pop aus Schweden: Bedroom Eyes erweisen sich mit "Sisyphus Eyes" als würdige Hüter des Genres.

    Jonas Melker Alexander Jonsson wurde am 6. April 1983 in Föllinge, Schweden, geboren und tritt seit 2006 als Power-Pop-Inkarnation unter dem Namen Bedroom Eyes auf. Jonas Jonsson schreibt die Songs und singt. Ihm zur Seite stehen Markus Eriksson (Gitarren und Tasten), Kim Fastesson (Gitarren), Emil Fritzson-Lindquist (Schlagzeug) und Mattias Andersson (Bass). Mit "Sisyphus Rock" erscheint am 25. Februar 2022 das dritte Album des Projektes mit acht neuen Liedern, die live in einem Studio, das sich in den Wäldern Schwedens befindet, aufgenommen wurden.

    Wie kann der Begriff "Power-Pop" beschrieben werden? Die Bezeichnung wurde erstmalig von Pete Townshend 1967 geprägt, um den damaligen Stil von The Who zu beschreiben. Er lebte in den 1970er Jahren wieder auf, um für die Musiker, die sich nach der Trennung der Beatles an deren Musik orientierten, einen Oberbegriff zu finden. Zu den Vertretern dieser Richtung zählten unter anderem Todd Rundgren, die von Paul McCartney geförderten Badfinger, die Raspberries um Eric Carmen oder Big Star, bei denen Alex Chilton nach seiner Box Tops-Zeit Mitglied war. Ende der 1970er und in den 1980er Jahren gab es durch Bands wie The Knack ("My Sharona"), The Romantics ("Talking In Your Sleep"), Cheap Trick ("I Want You To Want Me") und Blondie ("Hanging On The Telephone") kurzzeitig eine Power-Pop-Hitphase. In den 1990ern kam es im Alternative- und College-Rock zu einem Revival, welches Formationen wie The Posies, Urge Overkill, Teenage Fanclub, Fountains Of Wayne oder Redd Kross hervorbrachte. Mit "Bohemian Like You" von The Dandy Warhols gab es dank des Einsatzes in einem Werbespot im Jahr 2000 einen weiteren Hit im Power-Pop-Stil.

    Trotz des breiten Interpretations-Spektrums gibt es eine Schnittmenge, die für viele Songs des Genres gilt: Oft sind die Lieder gitarrenorientiert, besitzen clevere Melodien mit Ohrwurmqualität und werden von jugendlich-leidenschaftlichem Gesang getragen, der überschäumende Gefühle transportiert. Der emotionale Überschwang der Teenager-Jahre wird quasi akustisch wiederbelebt.

    Den Schweden um Jonas Jonsson ist offenbar bewusst, welche Tendenzen und Entwicklungen der Power-Pop im Laufe der Jahrzehnte genommen hat, denn sie fahren ihre Fühler aus, um aus bekannten und verborgenen Ecken des Genres den passenden Nektar für ihre Bedürfnisse saugen zu können. Der Inspiration folgt die fruchtbare Erkenntnis, welche Bestandteile zur Umsetzung der eigenen Kreationen beitragen können.

    "Streaming My Consciousness" gehört zu den Pop-Rockern, die sich langsam ins Hirn fressen, zunächst jedoch erst einmal einen abwartenden Eindruck hinterlassen. Aber mit zunehmender Laufzeit steigen Druck und Intensität an. Die Gitarren schwingen sich zu stabilisierenden Soli auf, die die süße Melodie mit spritzig-sprühenden Duftmarken durchziehen.

    "Sisyfuzz" verkörpert den Pop-Punk der bewährten Buzzcocks-Schule. Harmonie und Schärfe liegen dicht beieinander und die elektrisch verstärkten Saiten sorgen mit himmelsstürmenden, vor Leidenschaft berstenden Akkorden für pure Energie. Leider ist der Song schon nach eineinhalb Minuten vorbei, grade als die Band richtig loslegen und abheben wollte. Ein Hit, der leider abgewürgt wird.

    Mehrere Faktoren beeinflussen "The Dark Between The Stars" wesentlich: Lieblicher Gesang, ein strammer Rhythmus, eine knurrende Lead-Gitarre, die bellt, aber nicht beißt und weiche Hintergrund-Klang-Wolken, die nach künstlichen Flöten oder Mellotron-Tönen klingen. Diese zwischen weich und hart angesiedelte Kost mag es sich mit niemandem verderben, weder mit den Freunden eingängiger Pop-Musik, noch mit der Fraktion, die treibend-lebhafte Klänge erwartet. Genau deshalb dümpelt der Track unentschieden zwischen Power und Pop dahin.

    Das Stück "Paul Westerberg" ist eine Würdigung für den Sänger und Gitarristen der Replacements aus Minneapolis, die ihre Hochphase Mitte- bis Ende der 1980er Jahre hatten. Sie wurden damals dem College-Rock zugerechnet, bei dem sich bekanntlich viele Power-Pop-Einflüsse identifizieren ließen. Westerberg hat auf seiner Homepage schon registriert, dass es diesen Song gibt, der ihm gewidmet ist. Er kommentiert das Ereignis so: "Der Text: "Du hast einen neuen Freund, habe ich gehört, wenn du einen Ersatz brauchst, bin ich dein Paul Westerberg" ist so charmant. Ich persönlich weiß nicht, ob ich einen berühmt-schrulligen Einsiedler als Freund haben möchte, aber jedem das Seine, oder?". Jedenfalls schlüpfen Bedroom Eyes hier in die Rolle der Replacements und lassen sich zu Ehren des Leaders auf deren zackigen, Punk- beeinflussten Garagen-Rock ein, den sie mit einem Bubble-Gum-Pop-Refrain ausstatten, der vielversprechende akustische Widerhaken aufzuweisen hat. Die Hormone schlagen Purzelbäume.

    Die Ballade "One Of Those Things" fühlt sich in diesem Gefüge wie ein Fremdkörper an, weil sie so anheimelnd und sanft daherkommt. Zu viel leichter Pop, zu wenig zupackende Power. Noise-Rock-Feedback-Gitarren lassen bei "Kim" das Krach-Pendel dann zur anderen Seite ausschlagen, aber der ausgleichende Gesang federt die aggressiven Drohgebärden freundlich ab. Die Gitarren beruhigen sich wieder, beherbergen zwar noch ein raues Kratzen, lassen sich jedoch wohlwollend auf eine melodische Unterstützung ein und werden erst in der vorgezogenen Ausblendung nach drei Minuten wieder gegen den Strich gebürstet. Dann ist noch immer nicht Schluss, denn das Stück nimmt nach einer Minute Feedback-Taumel nochmal für eine Minute Fahrt auf, bis dann der wirkliche Fade-Out einsetzt.

    "Store Blå" (= großes blau) wird in dem schwedischen Dialekt Jämska gesungen und von einem schnellen synthetischen Break-Beat eingeleitet. Danach übernehmen vital-hypnotische Schwingungen das Geschehen, bevor die wieder sympathisch-gutmütig klingende Stimme von Jonas Jonsson den Song in Richtung Mainstream lenkt, was dem von Schrammel-Gitarren angeführten, eingängigen Rock-Pop-Sound zugute kommt.

    Zum Abschluss gibt es mit "Here Comes Godot" noch einen kraftvoll-euphorisch tönenden Rocker, der aus dem Repertoire des aus Maryland stammenden Tommy Keene sein könnte. Die großartige, leider viel zu früh verstorbene Leitfigur des Power-Pop hat einige Vorzeigealben, wie zum Beispiel "Based On Happy Times" aus 1989, hervorgebracht. "Here Comes Godot" hat alles, was einen deftig zupackenden, melodisch hoch attraktiven Song ausmacht: Mächtig angeheizte, druckvoll-erregte Gitarren, ein zielstrebiger Rhythmus, der jedes Tempo und jede Schwankung mitmacht und ein Gesang, der große Leidenschaft und unbändige Lebensfreude ausdrückt.

    Wie schön, dass Power-Pop-Verehrer immer noch nicht ausgestorben sind! Auf "Sisyphus Rock" wird vieles richtig umgesetzt, was die Faszination des belebenden Musik-Stils ausmacht. Es wird jede Menge Spaß verbreitet, den auch die Musiker bei ihren spontanen Aufnahme-Sessions gehabt haben werden. Zumindest kann man das Lachen am Ende von "Here Comes Godot" so deuten. Die Songs zaubern ein Lächeln ins Gesicht, lassen mindestens einen Fuß wippen und an stürmische Jugendzeiten denken. Was für ein herrlicher gedanklicher Jungbrunnen! Hätte Sisyphus diese Musik bei seinem Frondienst gehört, hätte er den Stein mit Leichtigkeit und einem Pfeifen auf den Lippen den Berg hoch gerollt und die Sage müsste umgeschrieben werden.
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    Oui Urge Overkill
    Oui (CD)
    20.02.2022
    Klang:
    5 von 5
    Musik:
    5 von 5

    Voller Tatendrang: Urge Overkill haben auch nach 11 Jahren Pause mit "Oui" nichts von ihrer Bedeutung verloren.

    Veröffentlichungen aus Nostalgie-Gründen führen in der Musik häufig zu fragwürdigen Ergebnissen, da sie häufig wegen der Verklärung vergangener Zeiten oder aus Geldmangel passieren. Urge Overkill, die sich nach einer Textzeile aus "Funkentelechy" von Parliament benannten, wurden 1986 in Chicago von Nash Kato (Gesang, Gitarre), Eddie "King" Roeser (Gesang, Gitarre, Bass) und dem Schlagzeuger Pat Byrne gegründet. Sie gehörten in den neunziger Jahren zum Non plus Ultra des alternativen Power-Pop und College-Rock. Ihre Popularität wurde dadurch angeheizt, dass sie 1991 auf der "Nevermind"-Tournee von Nirvana der Opening-Act waren und weil ihr "Girl, You`re A Woman Now" - eine Cover-Version des Neil-Diamond-Songs - im Soundtrack von "Pulp Fiction" auftauchten.

    Insgesamt brachte die Gruppe von 1989 bis 1995 fünf Alben raus, danach war Funkstille. 2011 gab es mit "Rock & Roll Submarine" ein Reunion-Werk, das nahtlos an den beachtlichen Vorgänger "Exit The Dragon" anknüpfen konnte. Und jetzt kommt natürlich die Frage auf, ob solch ein überzeugender Anschluss mit "Oui" wieder gelingen konnte. Die Stimmen von Roeser und Kato haben natürlich seit den 1990igern eine andere Färbung erhalten. Sie sind sonorer, weniger lässig, dafür brüchiger, vom Leben gezeichnet und damit charaktervoller als früher. Aber diese Entwicklung fügt sich großartig in die neuen Songs ein.

    "Freedom!" ist ein Wunsch, ein Aufschrei und eine Anweisung zugleich. Es handelt sich hier tatsächlich um eine Cover-Version des erstmals 1984 veröffentlichten Wham!-Songs, geschrieben von George Michael. Urge Overkill nähern sich dem gutgelaunten Original mit etwas Distanz und dosierter Härte an. Aber es kocht unter der Oberfläche und so vermittelt die neue Variante zwar Respekt, aber dennoch eine ruppigere, kraftvollere Sichtweise.

    "A Necessary Evil" sollte ursprünglich "It`s Killing Me" heißen und dreht sich um Kommunikation in einer Beziehung: Nicht alles muss ausdiskutiert werden, es ist auch in Ordnung, Dinge offen zu lassen, lautet das Credo. Nicht nur Soul- oder Funk-Stücke können grooven, das funktioniert auch im Rock und macht diesen treibenden, swingenden Bubblegum-Track zu einem unwiderstehlichen Ohrwurm. Und häufig ist der Groove auch der Schlüssel dazu, dass ein Song den Zahn der Zeit gut übersteht.

    "Follow My Shadow" ist auch ein solcher Evergreen-Kandidat, der darüber hinaus das kompakt-stabile Format von "Sister Havana" besitzt. Deftiger Druck, melodische Finesse und jede Menge Hooklines steuern den Track unnachgiebig in Richtung Ziellinie, als würden sie von starken Magneten angezogen.

    "How Sweet The Light" hat eine große persönliche Bedeutung für Nash Kato. Mitte der 2000er Jahre war er ausgebrannt, pleite und verzweifelt. Irgendwann stellte er sich die Frage, für welche Dinge es sich lohne, am Leben zu bleiben und auf Basis dieser Überlegungen entstand der Song, der auch Tom Petty gut zu Gesichte gestanden hätte. Southern-Rock und klirrender Gitarren-Pop gehen eine aufreizende Allianz ein, die den Song diskret vibrieren lässt.

    Im Gegensatz dazu hört sich "I Been Ready" an, als wäre das robuste Grunge-Pop-Stück in Zusammenarbeit mit J Mascis von Dinosaur Jr entstanden. Brachiale Gewalt trifft auf Pop-Süße. "A Prisoner's Dilemma" wechselt in kurzer Zeit vom hymnischen College-Rock zum wogenden Boogie-Blues und verbindet dann beide Richtungen nahtlos miteinander, um später noch etwas Pop-Jazz-Flair einfließen zu lassen.

    Wuchtig und kompromisslos legt der temperamentvolle Blues-Rocker "Forgiven" los. ZZ Top treffen gedanklich auf George Thorogood und sorgen für einen stürmischen Auftritt. "Totem Pole" schaltet dann ein paar Gänge zurück und geht deshalb als kraftvolle Ballade durch, bei der der Schmuse-Faktor gegen Null geht.

    "Litany" zeigt auf, wie es sich anhört, wenn sanftmütiger Pop mit bissigen Hard-Rock-Elementen bombardiert wird. Plötzlich entsteht dadurch ein feuriger Hybrid, der irgendwann vor Erregung zu bersten droht. Für "I Can't Stay Glad@u" wird ein Zustand herbeigeführt, bei dem der Song in einer coolen Folk-Rock-Situation mit souveränem Power-Pop gleichgestellt wird.

    "Won't Let Go" setzt alles auf eine Karte und klotzt mit zähflüssigem, bulligem Crazy-Horse-Garagen-Rock laut drauflos, um durch Imponiergehabe für Aufsehen zu sorgen. Das stoische, gelassen rumpelnde "Snow" eignet sich vorzüglich als Rausschmeißer. Spätestens danach ist man von "Oui" so elektrisiert, dass umgehend der Repeat-Knopf gedrückt wird.

    "Oui" ist überhaupt kein nostalgischer Aufguss geworden und fügt sich qualitativ hochwertig in die Diskografie von Urge Overkill ein. Die Songs verfügen über genügend Energie und Leidenschaft, um das Album, das keinen Durchhänger zu beklagen hat, in einem Rutsch mit Genuss und hohem Spaßfaktor durchhören zu können. Comeback gelungen, bitte mehr davon! Zu "Oui" kann also ohne Einschränkung ja gesagt werden!
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    Solace Solace (CD)
    20.02.2022
    Klang:
    5 von 5
    Musik:
    5 von 5

    "Trost brauchen wir alle", meinen Sendecki & Spiegel und erschufen deshalb ein "Therapie-Album" zur Überbrückung von trostlosen Zeiten.

    Vladyslav Sendecki (Piano) & Jürgen Spiegel (Schlagzeug, Percussion) sind herausragend virtuose Musiker, das steht außer Frage. Ob man sich mit ihrer Art der Verkörperung von modernem Jazz arrangieren kann, steht allerdings auf einem anderen Blatt. Dazu benötigt man nämlich grundsätzlich offene Ohren und den Mut, sich mit den Ideen künstlerisch begabter Musiker auseinandersetzen zu wollen, auch wenn dies ab und zu ins Land der Improvisation führen kann. Wenn diese Voraussetzungen gegeben sind, kann eigentlich nichts mehr schief gehen, denn wie gesagt, die Fähigkeiten des Duos sind außergewöhnlich. Nach "Two In The Mirror" aus 2019 legen die Musiker jetzt nach und präsentieren 13 neue Einspielungen, die sich auf 63 Minuten Laufzeit verteilen.

    Musik ist gut für den Körper und Balsam für die Seele. Das weiß jeder, der sich in akustischen Reizen verlieren kann, sie als Genuss begreift und für den Klänge unverzichtbar für sein Leben sind. Dieses Zusammengehörigkeitsgefühl ist natürlich noch um ein Vielfaches höher bei Personen, die professionell mit Musik zu tun haben und in irgendeiner Form davon leben. Was grade außerordentlich schwierig ist. Und deshalb brauchen nicht nur der ehemalige Pianist der NDR Bigband, Vladyslav Sendecki und der Percussion-Mann und Produzent Jürgen Spiegel eine Überbrückungs-Hilfe und vor allem Beistand. Aus diesem Grund heißt das neue Werk auch "Solace", was Trost bedeutet.

    Die Musiker sprechen davon, dass sie das Album auch für sich selbst als Therapie aufgenommen haben. Es soll positive Stimmungen verbreiten, auch Nostalgie darf gerne aufkommen, aber die Musik ist natürlich noch viel breiter aufgestellt, so dass ein schillerndes Spektrum an Gefühlen aufgeworfen wird. Und es ist immer wieder erstaunlich, welche Klangvielfalt zwei Instrumentalisten aufbauen können, wenn sie ein Gespür für Zeit, Tonmodulation und die Abhängigkeit von Dynamik, Tempo und Lautstärke verinnerlicht haben.

    Auch der Tanz ist ein Sinnbild für freien Ausdruck, gelebte Körperlichkeit, feinsinnige Anmut und rhythmische Eleganz. Als Mitglied des Tingvall Trio hat sich Jürgen Spiegel bereits 2020 mit seinen Kollegen Martin Tingvall (Piano) und Omar Rodriguez Calvo (Kontrabass) auf dem Album "Dance" mit dem Thema befasst. Spiegels Komposition "Ballerina" greift diese Assoziationen wieder auf und das Duo verarbeitet spielerisch Eindrücke im Hinblick ihrer Vorstellungen über eine Ballerina. Demnach ist die Tänzerin galant, äußerst beweglich, zügig und auch mal verinnerlicht unterwegs - so ist jedenfalls die Musik aufgestellt.

    "New York Streets" ist eine nachtblaue Ballade, die zu später Stunde in verräucherten Clubs laufen könnte. In Zeiten, wenn nur noch ein harter Kern übermüdeter Einzelgänger anwesend ist. Das Stück findet nach einer nachdenklichen Periode aus dem Blues heraus. Dazu werden spritzige Piano-Akkord-Wechsel aufgefahren, um die Nachtschwärmer wach und bei Laune zu halten. Die eingestreuten Improvisationen stören dabei die ursprüngliche, getragene Melodie nicht, so dass das Stück jeden, der sich seiner Melancholie hingeben möchte, durch belebende Faktoren stützt.

    "Contemplation" hält, was der Name verspricht. Besinnung, Einkehr und innere Konzentration sind angesagt. Solch eine Assoziation wird durch tropfende und perlende, mit Pausen durchzogene und liebevoll gestreichelte Piano-Töne sowie zarte und absichernde Schlagwerk-Zutaten erreicht. Die Vortrags-Bezeichnung "Furioso" steht für ein leidenschaftlich bewegtes Musik-Stück. Sendecki & Spiegel begegnen dieser Aufforderung mit einer Komposition, die sich wellenartig auszubreiten scheint. Wobei die Höhe der Wellen variiert und auf diese Weise ein organisch auf und ab schwellender, akustischer Seegang simuliert wird.

    Trost spenden kann grundsätzlich nur eine Person, die Kraft, Zutrauen, Mut, Wärme und Zuversicht ausstrahlt. Deshalb laufen die vom Stück "Solace" übermittelten Emotionen auch aus Sicht eines Trostspendenden ab, der verständnisvoll und weise ist. Der Trostsuchende kann sich also an den beschriebenen Tugenden laben und daran genesen. Sendecki verbindet Mitgefühl und Hoffnung mit seinen Aktionen und Spiegel ist dabei der treue Begleiter, auf den man sich in jeder Situation blind verlassen kann. "Just A Few Chords" wirkt dagegen hastig, gereizt und impulsiv. Die Musiker treiben sich gegenseitig voreinander her, ohne dass zu erkennen ist, wer letztlich bei dieser furiosen Jagd im Vorteil ist.

    Die Cover-Version von Peter Gabriels "Don't Give Up" aus 1986 war bereits ein Höhepunkt auf der "Two In The Mirror"-Tournee. Im Song geht es um einen Mann, der arbeitslos geworden ist und sich dadurch gegenüber seiner Familie und der Gesellschaft wertlos fühlt. Beim Original singt Kate Bush die Duett-Stimme, die den Protagonisten anfleht, nicht aufzugeben und ihm versichert, dass es Menschen gibt, die an ihn glauben und ihn unterstützen. Die Noten, die aus Kate Bushs Kehle fließen, sind flehentlich und ermutigend, so dass sie in dieser bedrückenden Situation das Selbstwertgefühl wieder herstellen kann. Bei der Sendecki & Spiegel-Variante gibt es keinen Gesang, der die Rolle des Vermittlers übernimmt. Deshalb deuten die Jazz-Stars die Aussage des Liedes auch etwas anders. Neben einer gewissen Traurigkeit schwingen in ihrer Interpretation auch Wut und Trotz mit. Das ist durchaus authentisch und nachvollziehbar, denn es war damals unter anderem die schwierige wirtschaftliche Lage in Großbritannien unter Premierministerin Thatcher, die die Menschen zornig machte und in Notlagen brachte, was Gabriel zu dem Thema inspirierte.

    Bei "Still I Rise" schlägt nicht nur der Rhythmus Purzelbäume. Das Stück sprudelt hervor wie ein klarer Gebirgsbach, der sich talwärts seinen eigenständigen Weg suchen darf. Spritzige Percussion-Fills assistieren dabei munter dem plätschernden Piano auf dem Weg ins Meer. Der "Letter To Myself" ist eine intime Angelegenheit geworden. Das innige Zwiegespräch zwischen Klavier und Schlagzeug gleicht einer Meditation, die nicht nur nach innen gerichtet ist, sondern eine nach außen gelenkte Strahlkraft besitzt, die die Hörerschaft in diese persönlichen Betrachtungen mit einbezieht.

    Der Begriff "Partita" kommt aus der klassischen Musik und hat im Laufe der Jahre mehrere Bedeutungen erhalten. So steht er für eine Folge von Variationen über eine populäre Melodie, wird als Bezeichnung für ein Instrumentalstück benutzt oder beschreibt die Abfolge von Instrumental- oder Orchesterstücken, die ohne längere Pausen hintereinander gespielt werden. Das Wort ist also ein Synonym für eine Suite. Hier sind die Grenzen zwischen Klassik und Jazz allerdings fließend, denn diese Einteilungen und damit die Bedeutung des Begriffes "Partita" ergeben sich eher zufällig, abhängig davon, welchen Erfahrungsschatz der Einzelne beim Hören mit einbringt. Romantik steht allerdings im Vordergrund der Komposition.

    "Punk Talk" hat wenig mit Punk-Rock im engeren Sinn zu tun. Zwar ist das Tempo hier relativ hoch und der Rhythmus scheppert, es fehlt jedoch eine richtig aufmüpfige Haltung, um diesem Gebilde außerordentlich anarchisch-abtrünnige Verhaltensweisen zuordnen zu können. Eine musikalische Revolution findet nicht statt, bahnt sich höchstens im Geheimen an. Die Musiker haben aber hörbar ihren Spaß an dieser überwiegend ausgelassenen Spielweise.

    "Exhibition" ist da schon freizügiger, verzichtet aber im Wesentlichen auf eine führende Melodie, nährt sich stattdessen von losen, experimentellen Darstellungen, ohne dabei verschroben-verschreckend zu sein. Wir haben es hier mit einer unkonventionellen Haltung zu tun, die Raum für Erkenntnisgewinne und Fantasien schafft.

    "Little People" steht zum Abschluss der Platte stellvertretend für viele Einflüsse auf "Solace": Durch leichtflüssige Träumereien, ernsthafte Kunstaussagen, verspielte Klangabenteuer und eine perfekte Abstimmung der instrumentalen Zuordnungen wird ein Klang-Modell erschaffen, dem das Korsett "Jazz" schon längst zu eng geworden ist. Zum Glück gibt es noch keine Marketing-Schublade, mit der solch eine schöne, geistreiche Musik abgestempelt und damit reduziert werden kann.

    "Solace", aufgenommen in dem neu gebauten Konzertsaal JazzHall in Hamburg, ist wieder ein audiophiles Erlebnis geworden. Die Töne kommen klar und räumlich voneinander abgegrenzt, in einem natürlich ausgewogenen Sound aus den Lautsprechern. Aber nicht nur der Sound ist besonders, auch die Interaktion zwischen den Musikern ist noch feinfühliger geworden. Es ist absolut brillant, welche harmonische Synthese die Musiker eingehen. Sie agieren, als wären sie telepathisch miteinander verbunden, absolut schwerelos, logisch, innig, reif und kreativ stellen sie sich aufeinander ein. Sie klingen wie eine Person, die alle Instrumente gleichzeitig spielt, so selbstverständlich zusammengehörig klingt das. Perfekte, intuitiv beseelte Interaktion hat also zwei Namen: Sendecki & Spiegel.
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    Ants From Up There (CD)
    20.02.2022
    Klang:
    4 von 5
    Musik:
    5 von 5

    Black Country, New Road können mit "Ants From Up There" einen enormen Reifeprozess nachweisen, der der Gruppe ungeahnte Möglichkeiten eröffnet.

    Das Septett Black Country, New Road aus London veröffentlichte am 5. Februar 2021 ihr erstes Werk, das passenderweise "For The First Time" hieß. Fast auf den Tag genau ein Jahr später gibt es nun unter dem Titel "Ants From Up There" den Nachfolger zu diesem aufregend-ungestümen Erstlingswerk. Da stellt sich natürlich die Frage, ob die Newcomer-Band ihr Pulver schon verschossen hat oder ob sie qualitativ an die Leidenschaft des Vorgängers anknüpfen kann.

    Mit dem "Intro" hinterlassen Black Country, New Road schon mal eine turbulente Einführung. Minimal-Art-Bläser-Sätze lösen Alarm aus, der Bass brummt angetan und das Schlagzeug wird kräftig bearbeitet, so dass alle Sinne geschärft und erregt sind.

    "Chaos Space Marine" breitet dann über die wachgerüttelten Zuhörer und Zuhörerinnen ein Füllhorn an Einflüssen aus: Schräges Musiktheater, der smarte Pop-Charme von Devine Comedy, die seriöse Ernsthaftigkeit von David Bowie, die bei seinen dramatischen "Baal"-Aufnahmen von 1981 zu Tage trat, eine barocke Geige, ein Boogie-Woogie Klavier, rasante Balkan-Folk-Jazz-Wettläufe - alle diese Elemente spielen eine Rolle in der attraktiv-berauschenden Aufführung.

    Der beschaulich-wohltuende, Bass-fundierte Dark-Americana-Sound von "Concorde" entwickelt sich unter Berücksichtigung von erzählerischen Verzögerungen langsam zu einem bewegten, lauten, fordernden, kniffligen Art-Rock, bei dem sich der Gesang von Isaac Wood allmählich vom leisen Flüstern zum entrüsteten Rufen steigert.

    Unter niedergeschlagenem Gesang bäumt sich die pompöse Ballade "Bread Song" wiederholt dramatisch und wuchtig auf, um nach einem eruptiven Höhepunkt unter längerer Beteiligung eines klackernden und stampfenden Rhythmus endgültig in sich zusammenzufallen. Die Spannung ist dehnbar, über leise Sohlen wird sie langsam aufgebaut und schließlich am Köcheln gehalten.

    Bekanntlich ist "Good Will Hunting" ein Drama, zu dem Matt Damon und sein Kumpel Ben Affleck ein Drehbuch geschrieben haben. Der dazugehörige Film kam 1997 in die Kinos, der Song hat aber inhaltlich nichts damit zu tun. Die Komposition beginnt wie das "Intro" mit einem kurzen Signalton, um dann bewusst eine etwas sperrige und ruckelige Wahrnehmung abzusondern, bei der sich sowohl der anarchische Blues eines Captain Beefheart wie auch der provokante Post-Punk von The Fall als Vergleiche anbieten.

    Im Jahr 2020 wurden Black Country, New Road als Live-Stream dem Haldern Pop-Festival zugeschaltet. Bei dieser Veranstaltung entstanden die Grundlagen für das Stück "Haldern", das akustischen, modernen, freigeistigen Jazz mit Minimalismus und impulsiven Rock-Rhythmen vereint.

    Das kurze Instrumental-Stück "Mark’s Theme" beginnt mit einem melodisch-selbstverliebtem Saxophonsolo, das in einen blumig-ästhetischen, sentimental veranlagten Kontext überführt wird, der keinen Raum für Krawall bereit hält. Die Komposition ist schließlich eine Hommage an den Onkel von Saxophonist Lewis Evans, der 2021 an COVID verstarb.

    Auch "The Place Where He Inserted The Blade" ist jemandem gewidmet, nämlich Bob Dylan. Isaac Wood sagt dazu: "Ich fing an, dieses Stück als Antwort auf "I've Made Up My Mind to Give Myself to You" (aus "Rough & Rowdy Ways" von 2020) zu schreiben, bzw. wurde stark davon inspiriert. Das ganze seltsame, bluesige, entspannte Ding, bei dem alle Instrumente ineinander übergehen, hat mich sehr angesprochen."

    Feinsinnige Träumereien, die von Piano, Gitarre und Flöte in den Raum gehaucht werden, leiten "The Place Where He Inserted The Blade" sanftmütig und transparent ein. Der Song vermittelt ein Füllhorn an konträren Emotionen: Schmerz und Freude, Begeisterung und Niedergeschlagenheit, Mut und Unsicherheit gehören dazu. Isaac Wood singt so engagiert, als hinge sein Leben davon ab, möglichst überzeugend zu sein und er vermittelt seine Worte entsprechend gefühlsbetont, drastisch und dringlich.

    Black Country, New Road bewegen sich auf einem Terrain, in dem sie ihre Schöpfungen selbstbewusst zu einer stolzen, verschwenderisch-überschwänglichen Kunstform erheben. Dazu gehört auch das neunminütige "Snow Globes". Das Stück verfügt über eine dreiminütige instrumentale Einführung, die mit einem monotonen Grund-Takt, unter ständiger Hinzunahme von Instrumenten, in den Hauptteil des Songs überleitet. Anschließend geht es kontinuierlich mit demselben Rhythmus-Prinzip weiter, wobei sich das Schlagzeug eine Weile frei bewegen darf, was der Komposition eine wohltuend-auffrischende Unruhe verleiht. Zum Ende hin gibt es versöhnliche Töne, die den Track gemächlich ausklingen lassen.

    "Basketball Shoes" ist die Grundlage und Blaupause für das gesamte Werk, wie sich Isaac Wood ausdrückt. Über 12 Minuten lang hat sich das Septett Zeit gelassen, um dieses Epos zu zelebrieren. Solch einen Monster-Track würde man eigentlich unter "Progressive Rock" ablegen, ohne sich weiter darum zu kümmern, wäre er von übertriebenen Tempo-Wechseln und verschwurbelten Solo-Demonstrationen geprägt. Aber so einfach macht es uns das Musiker-Kollektiv nicht. Das Gebilde ist zwar verschachtelt und kompliziert, aber seine lyrischen Feinheiten und die stürmisch-wilde Energie löst es aus einer selbstgefälligen Sicht heraus und identifiziert Art-es als Punk. Spontanität siegt über arrogant-besserwisserisches Kalkül. Es lebe die Leidenschaft!

    Kürzlich wurde bekannt gegeben, dass der Frontmann Isaac Wood - dessen honorige Stimme schon mal an Kurt Wagner von Lambchop erinnert, die Gruppe verlassen hat, um sich persönlich neu zu ordnen. Das geschah also noch kurz vor der Veröffentlichung von "Ants From Up There", die für den 4. Februar 2022 vorgesehen ist. Zweifellos hinterlässt er eine große Lücke, aber die britischen Alleskönner haben genug Format, um diesen Verlust auszugleichen. Die verbliebenen sechs Mitglieder (Tyler Hyde (Bass), Lewis Evans (Saxophon), Georgia Ellery (Geige), May Kershaw (Keyboards), Charlie Wayne (Schlagzeug) und Luke Mark (Gitarre)) haben zumindest angekündigt, dass sie weiter gemeinsam Musik machen wollen.

    Die Band mag es gerne vielfältig und ausladend. Dennoch wird es bei "Ants From Up There" weder wirr und unausgegoren, noch gibt es Langeweile. Die Tracks wurden abwechslungsreich und fesselnd arrangiert und bieten deshalb jede Menge Entdeckungs-Futter an. Die Musik vermittelt den Eindruck, dass sehr viel Zeit mit der Abstimmung zugebracht wurde. Und zwar hinsichtlich des Ablaufs und der Wirkung der einzelnen Kompositionen aufeinander, sowie auch mit der Anordnung untereinander. Das Werk wirkt wie eine bewusst herausfordernd angelegte, kühne Inszenierung, die in 10 voneinander abhängigen Abschnitte unterteilt ist. "Ein sich wiederholendes musikalisches Motiv, das sich von "Intro" bis zum abschließenden "Basketball Shoes" durch das Album zieht, spielt eine Schlüsselrolle bei der Schaffung des Klebstoffs, der die Platte zusammenhält", kommentiert das Ensemble diese Annahme.

    Das Album ist entspannter als sein Vorgänger. Die dort zur Schau gestellte Wut und der Drang zu Experimenten ist etwas in den Hintergrund geraten, obwohl es weiterhin vertrackt zusammengesetzte Song-Strukturen gibt. Liegt die ausgewogene Gestaltung eventuell daran, dass die Aufnahmen letzten Sommer in der Idylle der Isle Of Wight in einer harmonischen Atmosphäre stattfanden? Oder hat sich die Gruppe einfach nur musikalisch weiterentwickelt und suchte einen Sound, der mehr Entfaltungsmöglichkeiten bereithält?

    Wichtig ist schließlich das Ergebnis und das bringt einen Zugewinn. Die Band orientiert sich weiterhin nicht an Trends oder aktualisiert vordergründig Retro-Sounds, sondern beschreitet künstlerisch unabhängig im Teamwork erarbeitete Wege. Und das ist ein Gewinn für jeden, der an gewichtiger und gleichzeitig unterhaltsamer Musik interessiert ist. Black Country, New Road heben ab, um die Pop- und Rock-Musik zu revolutionieren. Ob sie unter den erschwerten Vorzeichen weiter durchstarten können, wird sich zeigen. Mit den neuen Songs präsentieren sie sich jedenfalls leidenschaftlich wie eh und je. Nur die Perspektiven haben sich verschoben, Aggression und Provokation sind nun nicht mehr die Hauptbestandteile in der Klangpalette. In Punkto Einfallsreichtum präsentiert sich das Ensemble mit "Ants From Up There" auch deshalb besonders überraschend, verwegen und originell - was will man mehr?
    Meine Produktempfehlungen
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    Laurel Hell Mitski
    Laurel Hell (CD)
    20.02.2022
    Klang:
    4 von 5
    Musik:
    4 von 5

    Mit "Laurel Hell" verschafft sich Mitski eine kreative Möglichkeit, um Widersprüche zu verarbeiten.

    Wenn jemand im Alter von Mitte zwanzig schon in über einem Dutzend Orte gelebt hat, dann gibt es aus den vielen Erfahrungen heraus bestimmt eine Menge zu erzählen und es hat sich eventuell eine eindeutige, stabile Weltsicht gebildet. Ein Beispiel für solch eine Biografie ist Mitski Miyawaki, die 1990 als Tochter eines amerikanischen Vaters und einer japanischen Mutter in Japan geboren wurde. Der Wunsch, sich als Musikerin beweisen zu wollen, blühte nach dem Abitur auf, das in der Türkei absolviert wurde. Erste Songs entstanden daraufhin.

    Während ihres Musikstudiums erschienen dann die ersten beiden Veröffentlichungen ("Lush", 2012 und "Retired In Sad, New Career In Business", 2013), welche orchestralen Piano-Pop mit Pathos beinhalteten und sich in etwa an Tori Amos oder Kate Bush orientierten. "Bury Me At Makeout Creek" zeigte 2014 eine aggressivere Seite unter der Einbeziehung von lauten, verzerrten Gitarren. Das vierte Studioalbum "Puberty 2" aus 2016 ergänzte den Sound um elektronische Elemente und präsentiert sich relativ ausgewogen zwischen intimer Zurückhaltung und aufmüpfiger Dringlichkeit.

    Vor der Veröffentlichung von "Be The Cowboy" in 2018 warnte Mitski über soziale Medien und in Interviews allerdings ihre Fans vor dem Album, weil sie für dieses Projekt die Perspektive der Außenseiterin aufgegeben hatte. Nichtsdestotrotz scheute sich die Künstlerin nicht, ihre Klangwelt nochmals anzupassen und auf einen erhöhten Synthesizer-Einsatz zu setzen. Der Rock-Einfluss sank und der Pop-Anteil wurde angehoben. Und nun gibt es mit "Laurel Hell" ein waschechtes Synthie-Art-Pop-Werk mit Verweisen auf den 1980er-Jahre-Dance-Sound zu hören. Die Platte besteht aus Song-Beispielen, die Down- oder Up-Tempo genauso wie Zerbrechlichkeit und Freude berücksichtigen. Wer Vergleiche sucht: Joan As Policewoman oder Goldfrapp sind auf ähnlichem Gebiet zuhause.

    "Laurel Hell" geht mit "Valentine, Texas" los. Der Song verbreitet eine sakrale Stimmung, der Gesang ist tieftraurig und die Synthies bauen mächtig rauschende und triumphierende Klangwände auf. Der Ausdruck "Working For The Knife" gilt als Metapher für belastend-quälende Kräfte, welche zum Beispiel Krankheiten, das Alter oder der Kapitalismus aus Sicht von Mitski sein können. Dazu gibt die Musikerin folgenden Kommentar ab: "Es geht darum, von einem Kind mit einem Traum zu einem Erwachsenen mit einem Job zu werden, und das Gefühl zu haben, dass man irgendwo auf dem Weg zurückgelassen wurde. Es geht darum, mit einer Welt konfrontiert zu sein, die deine Menschlichkeit nicht anzuerkennen scheint, und keinen Ausweg zu sehen". Die Ballade zeichnet sich durch eine starke, von der Stimme emotional modulierte Melodie aus, die von bedrohlichen wie auch optimistisch erscheinenden Synthesizer Klang-Schwaden verziert wird. Ab und zu tauchen auch griffige Riffs einer elektrischen Gitarre im Klangbild auf, die dem bauschigen Tongemälde etwas Schärfe verleihen.

    "Stay Soft" ist ein Plädoyer für die Empfindsamkeit und dafür, sich gegen alle Widerstände treu zu bleiben. Ein swingender Soul-Jazz-Groove sorgt in diesem Zusammenhang für optimistische Töne und aufmunternde Rhythmen. Monotonie wird für "Everyone" zum vorherrschenden instrumentalen Stilmittel erhoben. Der Rhythmus läuft stoisch klopfend und tropfend ab, selbst die schwebend-surrende Hintergrunduntermalung vermittelt einen statischen Charakter. Mitski versucht verzweifelt, gegen den Trott anzugehen und transportiert mit ihrer Stimme etwas Leben und Wärme in diese unwirtliche, starre Welt.

    "Heat Lightning" dreht sich um eine Form der Bewältigung von Partnerproblemen. Quälende Gedanken, die sich bei Schlaflosigkeit tief ins Hirn fressen, lassen Schwierigkeiten manchmal überdimensional anwachsen. Da hilft es, zum Selbstschutz - zumindest für die Nacht - vor den Schwierigkeiten zu kapitulieren, um Frieden zu finden. Das Stück beginnt tröstend, kleine Wallungen lassen kurz Furcht aufflammen, aber es bleibt überwiegend ruhig und bedächtig - wie bei einem Wiegenlied für Erwachsene.

    "Ich brauchte Liebeslieder über echte Beziehungen, die keine Machtkämpfe sind, die man gewinnen oder verlieren kann. Ich brauchte Lieder, die mir helfen, anderen und mir selbst zu verzeihen. Ich mache die ganze Zeit Fehler. Ich will nicht den Eindruck erwecken, dass ich ein Vorbild bin, aber ich bin auch kein schlechter Mensch". So fasst Mitski ihre Motivation für die Entstehung von therapeutisch wirksamer Musik zusammen.

    Bei "The Only Heartbreaker" wird die eben angedeutete schwerwiegende Grauzone beschrieben, die bei einer Trennung entstehen kann. Der Verlassene sieht sich als Opfer, die Person, die die Trennung beschlossen hat, wird vom Umfeld in der Regel als schuldig angesehen. Häufig liegt die Wahrheit über die Ursachen des Bruches irgendwo in der Mitte. In dem Lied geht es um die Person, die in den Augen der Öffentlichkeit die Beziehung zerstört hat. Unter einem stumpfen "Aerobic-Disco-Takt" entstand hier - mit nachdenklich-nüchternem Gesang unterfüttert - ein flotter Pop-Song mit unwiderstehlicher Ohrwurm-Garantie, der die Schuldgefühle, die im Text angedeutet werden, mit Optimismus kaschiert. Das ist bisher der einzige Song, bei dem Mitski einen Co-Autor hatte. Und zwar Dan Wilson, Gründungsmitglied von Trip Shakespeare und Semisonic, der auch "Someone Like You" gemeinsam mit Adele geschrieben hat. Mitski hatte sich festgefahren und schon einige Versionen von "The Only Heartbreaker" eingespielt, aber ihr fehlte die Überzeugung, sich für eine Variante zu entscheiden. Wilson half, die gedanklichen Knoten zu entwirren und einen gemeinsamen, schwungvollen Abschluss zu finden. Ob dabei vielleicht ein weniger auffälliges Rhythmus-Gerüst einen Mehrwert gebracht hätte, darüber lässt sich vortrefflich streiten.

    ""Love Me More" hat von allen Songs auf dem Album die meisten Änderungen erfahren. Es war mal zu schnell, mal zu langsam, und irgendwann war es sogar ein Country-Song im alten Stil. Schließlich, ich glaube, weil wir "Der Exorzist" gesehen hatten, dachten wir an Mike Oldfields "Tubular Bells" und experimentierten damit, ein Ostinato über den Refrain zu legen. Als wir das Ostinato immer weiter entwickelten, um es über die Akkordfolgen zu legen, begannen wir zu hören, wie der Track klingen sollte". Soviel zur Entstehungsgeschichte dieses Liedes, in dem es nicht vorrangig um eine Liebesgeschichte, sondern um die Folgen geht, die die Entscheidung, Künstlerin zu werden, für Mitski mit sich gebracht haben. Musikalisch bleibt der Track blass, hat einen zu eiligen Disco-Beat, so dass sich Gefühle in dieser Hektik nicht wohlig ausbreiten können, was auch zu einem Verstolpern der Melodie führt, die sich nicht richtig entfalten kann.

    Auch "Should’ve Been Me" widmet sich der Untreue und betrachtet den Umstand, wie es ist, wenn alles versucht wurde, die Beziehung zu retten, dies aber trotz aller Liebe nicht gelang. Ein künstlicher Motown-Sound-Takt lässt den lockeren Pop-Song dann eher nach Phil Collins als nach den Klassikern der Supremes, der Four Tops oder der Temptations klingen. "There’s Nothing Left For You" umweht die dunkle Färbung von "Streets Of Philadelphia" (Bruce Springsteen). Dem Song fehlt es trotzdem an ergreifender Tiefe, weil Mitski zu viel Süße in ihren Gesang legt und damit an Glaubwürdigkeit einbüßt.

    "I Guess" behält sich vor, eintönig sein zu wollen, was - sofern es gewollt ist - ein mutiger Kunstgriff ist, der aber zu kontroversen Sichtweisen führen kann. "That’s Our Lamp" hinterlässt keinen bleibenden Eindruck, weil das Lied wild-romantisch und belebend sein möchte, sich aber relativ ereignislos zwischen den mit wenig Durchschlagskraft dargebotenen, unterschiedlichen Gefühlsebenen verfängt.

    "Laurel Hell" entstand während der pandemischen Isolation in Zusammenarbeit zwischen Mitski und ihrem Produzenten und Multiinstrumentalisten Patrick Hyland. Grundsätzlich wollten die Beiden ein stimulierendes, kontrastreiches Werk, das ernste Inhalte abbildet, erschaffen. Der Scharfsinn dieser Vorstellungen stellt sich durch Diskrepanzen innerhalb der Songs ein. Besonders bei den düsteren Liedern gibt es eine gewinnbringende Wechselwirkung zwischen melancholischem Gesang und strammem Rhythmus. Eine feierlich-herausfordernde Spiritualität, ausgelassen-belebende Party-Takte und eine sinnlich-begeisterte Pop-Sensibilität ziehen sich durch einige Stücke und sorgen dort für erquickliche Abwechslung. Gemäß des Album-Titels, der für ein undurchdringliches, gleichartig aussehendes Dickicht steht, versucht Mitski mithilfe von Klängen, die dieses Sinnbild reproduzieren, sich aus ihren gedanklichen Wirrungen, Konflikten und Widersprüchen zu befreien. So entstand Musik mit einer therapeutischen Wirkung für die Künstlerin, die auch für die Hörerschaft einigen Mehrwert zu bieten hat.
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      Be The Cowboy (CD)
    Sidelines Wild Rivers
    Sidelines (CD)
    20.02.2022
    Klang:
    4 von 5
    Musik:
    4 von 5

    Mit der Erinnerung ans Erwachsenwerden gelingt Wild Rivers mit "Sidelines" auch erwachsen klingender Pop.

    In diesen unruhigen Zeiten wäre es schön, wenn es Musik geben würde, die einen starken, aufrechten, mitfühlenden und wissenden Eindruck vermitteln könnte, welche gleichzeitig den Ohren schmeichelt und niveauvoll unterhält. Was, sowas gibt es tatsächlich und wird am 04. Februar 2022 der Öffentlichkeit präsentiert? Wild Rivers heißt das Trio aus Toronto, Kanada, das genau diese Erwartungen erfüllt und mit "Sidelines" ihr zweites Album nach "Wild Rivers" aus 2016 vorlegt. Die verarbeiteten Themen drehen sich bei der Rumpf-Besetzung von Khalid Yassein (Gitarre, Gesang, Klavier), Devan Glover (Gesang) und Andrew Oliver (Leadgitarre, Synthesizer) um das Erwachsenwerden, haben aber auch allgemeingültige Bedeutung, so dass neben einem weise-abgehangenen Pop, Rock und Folk für Genießer auch hilfreiche Denkanstöße abgeleitet werden können.

    Von besonders gebildeten Menschen erwartet man häufig, dass sie den totalen Durchblick haben und intellektuell die Welt, so wie sie wirklich ist, durchblicken und erklären können. Aber häufig sagen diese Leute: "Je mehr ich sehe, desto weniger weiß ich darüber". Das zeigt, wie komplex die Wirklichkeit sein kann und offenbart eine authentische Demut zu dem, was der menschliche Geist in der Lage ist zu erfassen und dem, was noch alles verborgen bleibt.

    In "More Or Less" wird genau dieser Gedanke im Hinblick auf die Entwicklung vom unbekümmert agierenden Jugendlichen zum verantwortungsbewussten Erwachsenen aufgegriffen. Der Song transportiert zunächst Sehnsucht, die sich im geschlechterübergreifenden Duett-Gesang materialisiert, dann setzt ein straffer Rhythmus ein, der den Track aus der romantisierenden Ecke holt und mit der nackten, ungeschönten Realität konfrontiert. Ein E-Gitarren-Solo gibt kraftstrotzend die Richtung an und der Refrain "The More I See, The Less I Know About It" wird zum wegweisenden Mantra.

    Wer ist dieser "Freund", der am Anfang von "Bedrock" beschrieben wird: "Ich habe diesen Freund, den ich gerne auf meinen Schultern trage. Er sieht mir sehr ähnlich. Ich hatte irgendwie gehofft, wir würden uns auseinanderentwickeln, wenn wir älter werden. Aber er wird furchtbar schwer." Handelt es sich um ein Geheimnis, welches nicht ans Tageslicht gelangen darf oder um ein schlechtes Gewissen, das belastend auf den Schultern liegt? Beides ist möglich, aber klar wird das nicht und das ist gut so, denn auf diese Weise bleibt die Geschichte angenehm rätselhaft. Der knackige Power-Pop, der dieses Mysterium begleitet, hätte auch ganz formidabel ins Repertoire von Tom Petty & The Heartbreakers gepasst.

    Bei "Long Time" geht es darum, was der Anruf einer vergangenen Liebe auslösen kann. Der Verstand sagt dir, dass du darüber hinweg bist, deine Gefühle können dich aber in eine prekäre Lage bringen. Der Ausgang dieser Überlegungen bleibt hier im Ungewissen. Sängerin Devan Glover stattet die Ballade mit einem süßen Schmelz aus, der manchmal in schmalzige Gefilde abdriftet. Auf eine übertriebene Süße hätte gerne verzichtet werden können, denn der Song ist in den Passagen überzeugend, in denen er einen aufrechten Gemütszustand ohne besondere Hervorhebung ausdrückt.

    "Stubborn Heart" offenbart melodische Qualitäten, welche an die Beatles oder an Fleetwood Mac denken lassen. Daraus machen Wild Rivers auch keinen Hehl: "Wir mögen es, unsere Lieblingsteile aus jedem Genre zu nehmen und sie zusammenzufügen und zu sehen, was funktioniert und was sich gut anfühlt", gibt Devan offen zu, wenn sie über die Beschreibung der Entstehung der Wild-Rivers-Kompositionen berichtet. Und ein guter Ohrwurm ist ein guter Ohrwurm und "Stubborn Heart" ist ein guter Ohrwurm.

    Der in sich gekehrte und gleichzeitig auch rhythmisch aktive Country-Folk von "Amsterdam" spiegelt eine Stimmung wider, die Aufbruch und Umbruch offenbart. Im Lied geht es um eine Frau, die nach Europa ziehen wollte, um mit ihrem Freund keine Fernbeziehung mehr führen zu müssen. Eines Tages, aus dem Nichts, sagte er alles am Telefon ab. "Ich stellte mir all die Dinge vor, auf die sie sich gefreut hatte, und begann, einen Song aus ihrer Perspektive zu schreiben. Deine frühen 20er sind so ein hartes Übergangsalter. Du kommst aus deiner Jugend und wirst in die reale Welt verstreut, und es heißt untergehen oder schwimmen. Oft schmiedet man Pläne und stellt sich diese Realität vor, die sich nicht so entwickelt, wie man es erwartet hat, und diese Art der Verwüstung fühlte sich wie eine wirklich rohe und nachvollziehbare Emotion an, aus der ich schöpfen wollte", erzählt Songwriter Khaled Yassein über seine Song-Idee.

    Ein Zweifel an der aktuellen persönlichen Situation und die Suche nach einer angemessenen, Glück verheißenden Lebensform bestimmen "Weatherman". Die Musiker fabrizieren rund um diese zwiespältigen Überlegungen einen eindeutig und klar strukturierten Pop-Song, der genauso gut ins Ohr geht wie "Stubborn Heart". Hit-Alarm!

    "Untouchable" ist ein bedächtiger Folk-Song, der von Khalid Yassein zunächst sachte zur akustischen Gitarre vorgetragen wird. Als dann aber eine singende elektrische Gitarre, der herzschlagförmige Rhythmus und die wehenden Keyboards einsetzen, kommt Fleisch ans karge Ton-Gerüst und das Lied lebt ausdrucksstark auf. Wer denkt, es ginge jetzt erst richtig los, der wird enttäuscht: Das Stück wird keine 3 Minuten alt.

    Gemischte Gefühle bestimmen "Better When We're Falling Apart". Eine Hass-Liebe zermürbt die beschriebene Partner-Situation und so kommt man zu dem Schluss, dass es trotz der noch zweifellos vorhandenen gegenseitigen Gefühle besser ist, sich zu trennen ("Wir sind ausgelaugt und drehen uns im Kreis"). Stimmungsmäßig wird das Lied ohne große emotionale Ausbrüche als cooler Soft-Rock abgewickelt und endet in einem abrupten Schluss.

    Produzent Peter Katis (The National, Interpol, Sharon van Etten) lässt den Folk-Song "Neon Stars" so klingen, als wäre er im Freien am Lagerfeuer entstanden. Er hinterlässt einen Eindruck von Weite und Klarheit. Zwei Stimmen, eine akustische Gitarre und sparsame Fills einer E-Gitarre genügen, um die Luft knistern zu lassen. Die gegenseitige Zuneigung, die das Paar einmal verbunden hat, überträgt sich eins zu eins auf die Noten und lässt hoffen, dass sie wieder zueinander finden.

    Noch intimer, flehender und voller Begehren läuft "Safe Flight" ab. Ein im Gegensatz zu den anderen Arrangements eher bombastisch wirkendes Klang-Spektrum versucht, sich über den Gesang zu stülpen, wird aber durch das schleunige Ende des Stücks davon abgehalten.

    Danach breitet sich erbarmungslos Stille aus. Eben noch haben die Gefühle Purzelbaum geschlagen und nun wird man wieder auf seine eigenen Empfindungen zurückgeworfen. Das nennt man brutale Realität. Und um den Umgang mit dem wahren Leben handelt es sich ja schließlich auch bei diesem Quasi-Konzept-Album. Mit poetischen Texten, die den Bezug zur Umgangssprache nicht gänzlich verloren haben und mit Musik, die ihren Anker beim klassischen Pop-Song sucht, gelingt es den Musikern, ein Werk abzuliefern, welches einige zeitlos attraktive Lieder zu bieten hat. Die Stücke sind in der Lage, ihre stimulierende Wirkung authentisch auszubreiten. Und darum geht es doch eigentlich immer in der Pop-Musik.
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    Shoals Palace
    Shoals (CD)
    23.01.2022
    Klang:
    4 von 5
    Musik:
    4 von 5

    Angst isst die Seele auf - wenn man ihr nicht die Bedrohlichkeit nimmt.

    Palace bewegen sich in einer Parallel-Welt der Musik-Richtungen, denn sie sind nicht eindeutig zu greifen. Die Musiker bauen Versatzstücke, die sich quer durch die Pop-Kultur ziehen, in ihren Sound ein und wirken dabei sowohl zugänglich wie auch verschlossen.

    Die 2012 in London gegründete Band Palace ist nicht mit dem Ensemble gleichen Namens von Will Oldham (alias Bonnie "Prince" Billy) zu verwechseln. Das englische Quartett besteht derzeit aus dem Frontmann Leo Wyndham (Gesang, Gitarre) sowie Rupert Turner (Gitarre), Will Dorey (Bass) nebst Matt Hodges (Drums, Percussion) und setzt sich auf "Shoals", dem dritten Album der Formation, mit dem Thema Angst und ihre Auswirkungen auf die Menschen auseinander. Die Künstler kapitulieren allerdings nicht vor diesem mächtigen Gefühl, sondern arrangieren sich mit dem oft zur geistigen und körperlichen Blockade führenden Zustand. Die beklemmende Emotion wird angenommen und als etwas zutiefst Menschliches und Normales akzeptiert.

    Die Gruppe gibt dazu folgende Stellungnahme zu Protokoll: "Shoals" ist eine Platte über die Konfrontation mit unseren eigenen Ängsten und Befürchtungen. Durch die Pandemie wurden wir mehr denn je mit uns selbst konfrontiert, ohne dass wir uns ablenken konnten, und sahen plötzlich, wer wir sind, in der rohesten Form. Sie hielt uns einen Spiegel vor, der uns unsere Fehler und Unvollkommenheit vor Augen führte und uns zwang, unser wahres Ich zu sehen. Das Album symbolisiert, wie unser Geist schöne und gefährliche Tiefen haben kann, wie der Ozean. Unsere Ängste und Gedanken sind wie Fischschwärme, die sich ständig von Ort zu Ort bewegen und verschieben: Chaotisch, oft unzähmbar und unberechenbar."

    Leo Wyndham spricht in diesem Zusammenhang sogar davon, dass die Lieder schon fast eine Art Liebesbrief an die Angst darstellen, der mit "Never Said It Was Easy" beginnt. Das Lied zeigt sich als wiegender, beruhigter Electro-Pop-Blues und gibt damit einen entschleunigten Grundtakt vor. Sänger Leo Wyndham scheut sich nicht, dazu auch im hohen Tonbereich unterwegs zu sein, was der Musik Zerbrechlichkeit, Demut und Intimität verleiht.

    Aufgrund der gerne verwendeten sentimentalen Töne, die genussvoll ausgebreitet werden, klingen die Kompositionen im Grunde nach Pop für Ambient-Sound- oder Radiohead- oder Pink Floyd-Bewunderer. Die episch-ätherischen Sounds, die oft durch viel Hall einen übersinnlich-geheimnisvollen Eindruck hinterlassen, docken im Umfeld von Blues, Soul, Gospel oder Folk an, wodurch die Lieder ihre Erdung erhalten. "Shame On You" vereinigt den Dark-Wave solcher Bands wie Echo & The Bunnymen mit sonnig-gelassenen Beach Boys-Harmonien und den von Rhythm & Blues durchzogenen Psychedelic-Rock-Ideen von Arthur Lee`s Love.

    Für "Fade" kehrt Palace ihre aggressive, hart rockende Seite hervor. Die Gitarren schlagen dafür monotone Riffs und treibende Akkorde an. Dem Gesang wird der Grauschleier genommen und so bringt "Fade" frischen Wind in den Ablauf.

    Die Schwerkraft ist die schwächste Elementarkraft im Universum. Und trotzdem sorgt sie dafür, dass sich die kosmischen Elemente zuverlässig auf ihren Bahnen bewegen. Das Stück "Gravity" definiert sich sowohl über Space Sounds wie auch über seinen starken Hippie-Folk-Rock-Rhythmus in Verbindung mit sehnsüchtig leidendem Gesang. Im Sinne der Gravitationswirkung wird der Komposition durch ihre konsequent beibehaltene Energie eine verlässliche Richtung ermöglicht. Leo Wyndham meint zur Bedeutung des Liedes: "In "Gravity" geht es um die perspektivische Erkenntnis unserer eigenen Unwichtigkeit, weil wir alle nur Atome aus Luft und Wasser in einem unendlichen Universum sind. Es sind diese ernüchternden nächtlichen Gedanken, die uns in einem Zustand der Paranoia wachhalten können, in dem wir an unserem eigenen Zweck und Platz zweifeln."

    Jubilierend, schmachtend und flehend wird der Wunsch "Give Me The Rain" übermittelt. Den Song begleitet eine funkelnde Gitarrenspur, die dafür sorgt, dass das Begehren hoch in den Himmel getragen wird. Der idyllische Folk von "Friends Forever" bekommt danach eine seidige elektrische Legierung verpasst, bei der schon mal der angedickte Garagen-Rock in der Tradition von Neil Young & Crazy Horse aufblitzt. Ansonsten bemühen sich die Musiker jedoch, den Track sanft schwingen zu lassen.

    Leo Wyndham hegt eine Verbundenheit zum Meer. Sie taucht nicht nur im Album-Titel "Shoals" (= Untiefen) und in der Cover-Gestaltung auf, sondern zieht sich mehr oder weniger deutlich durch einige Songs. Auch "Killer Whale" ist dafür natürlich ein Beispiel. Dem Namen zum Trotz sind hier allerdings keine gewalttätigen Klänge zu hören. Mit exotischen Tönen, die aus einem japanischen Tempel zu stammen scheinen und Drums, die sich anhören wie leere Schuhkartons, verschafft sich Palace einen Klangraum, in dem sie ihre betörend-ergreifenden Töne wie leichte Federn fliegen lassen.

    Zu "Lover (Don't Let Me Down)" gibt es folgende Aussage: Der Song handelt von der Angst vor Verlust. Es geht darum, dass wir die eigenen Ängste in Schuldzuweisungen verwandeln und die Person, die wir dabei am Ende angreifen, ist oft die Person, die wir am meisten lieben und der wir vertrauen. Das Lied entwickelt sich langsam aus einem Instrumenten-Cocktail, der sich wie zufällig hingetropft anhört, zu einem sich in der Dynamik steigernden, abwechslungsreichen Power-Pop, der gar nicht erst versucht, seine spritzigen Country-Folk-Wurzeln zu verbergen.

    "Sleeper" kommt gar nicht schläfrig daher, sondern beherbergt einen unruhigen Takt, der durch den eifrigen Gesang etwas geglättet wird. Dennoch tritt die Nervosität stets zutage, erst zum Ende hin legt sich die Anspannung. Bei der Ballade "Salt" wird auf überraschende, belebende, aber trotzdem unaufdringliche Soundeffekte gesetzt. Das Stück erfährt dadurch eine hörspielartige Aufwertung.

    Der Track "Shoals" beginnt als quirlige Ton-Schleife, entwickelt sich dann aber flugs zu einem mit Effekt-Spielchen durchzogenen, komplexen Art-Pop. ""Where The Sky Becomes The Sea" ist ein Song über den herzzerreißenden Gedanken, nach dem Tod von dem geliebten Menschen getrennt zu sein, sich aber eines Tages an einem Ort jenseits des Meeres wiederzufinden, für immer vereint", sagt Leo Wyndham zu dem in Wohlklang schwelgenden Folk-Song mit Neigung zu üppiger Schwärmerei.

    Es brauchte mehr als einen Durchlauf, bis die Songs auf "Shoals" ihre einnehmende Wirkung entfalten konnten. Im Alltags-Geschehen funktionierte das nicht. Erst am Abend, wenn sich die Dunkelheit wie ein verfremdender Schleier auf die reale Landschaft gelegt hatte, konnte die leichte Melancholie in Kombination mit rhythmischen Frischzelleninjektionen die angemessene Aufmerksamkeitsspanne erhöhen. Und dann passierte die Wandlung: Aus einem bisher durchschnittlichen Höreindruck wurde ein interessanter Lauschangriff, der seine verlockenden Duftstoffe hinterließ. Die Musik wurde also mit der für sie passenden Zeit verknüpft, so dass ihre emotionale Reife überspringen konnte.

    Die Erkenntnis über die Stärke dieser Klänge gelang erst über die Nutzung einer zweiten Chance. "Untiefe" ist demnach ein passender Titel für das Album, denn diese Bezeichnung hat eine Doppelbedeutung: Sie steht für eine geringe Wassertiefe genauso wie für eine große Tiefe. Und so unterschiedlich verhält es sich auch mit der Wirkung der Musik: Sie kann für seicht oder für komplex gehalten werden, je nach der Aufmerksamkeit, mit der man sich ihr widmet. Und sie wird intensiver, je mehr Zeit man ihr gönnt.
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    Shake The Disease Shake The Disease (CD)
    15.01.2022
    Klang:
    4 von 5
    Musik:
    4 von 5

    Blow erzeugen auf "Shake The Disease" aufreizende, unter Umständen sogar heilsame Klänge, die nicht verschreibungspflichtig sind.

    Wo ein Anfang ist, muss auch ein Ende sein. Und so ist zu vermelden, dass sich die Formation Blow aus Frankreich schon vor der Veröffentlichung ihres zweiten Albums "Shake The Disease", das am 14. Januar 2022 erscheint, aufgelöst hat. Quentin Guglielmi (Texte und Gesang), Thomas Clairice (Synthesizer und Bass) und Jean-Etienne Maillard (Gitarre) geben interne Differenzen für das Aus an, erklären aber auch, dass sie weiterhin unabhängig voneinander schöpferisch tätig sein wollen. Dennoch ist die Trennung bitter, denn das neue Werk präsentiert klug durchdachte, saftig produzierte Kompositionen mit Schwung und Tiefgang. Diese Kombination versprach interessante Zukunfts-Aussichten.

    "Meguro" ist ein Stadtteil von Tokyo. Dazu lässt sich jedoch weder aus dem kryptischen Text noch aus dem offiziellen Video zu dem Lied eine Verbindung ableiten. Der Song hört sich an, als würden Rhythmen und Melodie eine schlüpfrige Vereinigung von Sinnlichkeit und Leidenschaft anstreben. Der Bass rumort wie ein brunftiger Stier, die Gitarre kitzelt erotisch, schemenhaft wehende Synthesizer-Töne bringen Romantik ins Spiel und der Gesang vermittelt Vertrauen und verspricht ausgelassenen Spaß. Ein perfekter Schlafzimmer-Sound!

    Ein satter Bass, stimulierende Funk-Riffs, kitschig hervorgehobene, spitze, kreischende und klickende Gitarren sowie kribblig-aufregende Dynamik-Schwankungen lassen "Special" zu einem raffiniert-fordernden Dance-Track anschwellen. "Full Delight" pulsiert danach regelmäßig in forschem Tempo und wird dabei von einem erfrischend aufspielenden Schlagzeug als Taktgeber unterstützt, so dass sich die anschmiegsame Melodielinie nur schwer gegen diese eingeschwungenen, eilig voranschreitenden Gegebenheiten durchsetzen kann. Letztlich gibt es ein Remis zwischen der ausgeglichen-ruhigen Stimmlage und den sich sportlich-ausdauernd bewegenden Instrumental-Passagen.

    Für "Lost Your Soul" wird in einen desillusioniert-gleichgültigen Gesangs-Modus gewechselt. Die gedrückte Stimmlage bewegt sich entlang des Falsett und das vokale Tempo bleibt durchgehend langsam, wobei der Refrain gebetsmühlenartig wiederholt wird. Auf diese Weise entsteht ein Track, dessen Rhythmus sich zwar aufbäumt, aber zwangsweise an die Kette genommen wird, so dass er sich nicht aufmunternd auswirken kann. Die Melodie mag sich auch nicht so richtig behaupten und entfalten. Aufgrund der irritierenden Fremdartigkeit ist das Stück allerdings hörenswert, weil es ungewöhnlich gegenläufig konstruiert ist.

    "Keep On Fighting" beinhaltet eine deutliche Referenz an Daft Punk, Nile Rodgers-Gedächtnis-E-Gitarren-Akkorde inbegriffen. Der Song hat einen Killer-Groove, ist mit Hook-Lines gespickt und wirkt so euphorisierend, dass er das Lustzentrum des Gehirns lange Zeit blockiert, wenn er einmal gezündet hat. Ein Hit! "One Life" liebäugelt damit, die Gunst der Hörerschaft durch nüchterne Sachlichkeit zu erlangen. Das Tempo scheint gedrosselt zu sein, jedenfalls wird das Stück nicht von der Leine gelassen, damit der Club zum Kochen gebracht werden kann. Der Bass blubbert angenehm, das Schlagzeug swingt fröhlich, Synthesizer malen entweder sphärische Schäfchenwolken in den Äther oder geben munter ploppende Töne von sich. Und der Gesang streicht unauffällig-ausgleichend sowie versöhnend über das sachlich-lockere Geschehen hinweg.

    Mit einer Rhythmik, die aufgrund ihrer afrikanischen Wurzeln an Paul Simons "Graceland" erinnert, betätigt sich "Free Fallin" als mild gesonnener, weltmusikalischer Electro-Pop-Botschafter, der vermitteln, aber sich nicht in den Vordergrund drängen möchte. "Duality" ist ein kurzes instrumentales Zwischenspiel, das wie ein unvollendeter Track klingt, dem noch kein Gesang zugeordnet wurde.

    Der Song "Shake The Disease" gleitet quasi auf einer weichen, samtenen Noten-Oberfläche dahin. Ohne Ecken und Kanten verkörpert die Musik einen glatten Soft-Soul-Sound, der sich durch die einfühlsamen Harmonie- und Duett-Gesänge von Anna Majidson kuschelig anpasst, aber doch eine gewisse Distanzierung ausstrahlt. Diese Reibungen lassen das Lied bei allem Sanftmut unter der Oberfläche knistern. Mit "Scarlett Crush" verhält es sich ähnlich, auch wenn hier die Taktung etwas vehement-offensiver ausgelegt ist.

    "Otherline" erinnert an den sperrigen Soul und Psychedelic-Rock von Lewis Taylor, der sein unkonventionelles Erstlingswerk 1996 veröffentlichte und mit diesem ebenso wie mit seinem zweiten, erst vier Jahre später erschienenen Werk "Lewis II" leider kommerziellen Schiffbruch erlitt. Künstlerisch sind die Alben allerdings vom Feinsten. Break Beats, geheimnisvolle Fills und eine Stimme, die zu einem gebrochenen Mann zu gehören scheint, lassen "Otherline" auf eine kunstvolle Weise skurril, zerrissen und extravagant erscheinen. "Suicide Love" verbindet zum Schluss meditative, hingebungsvolle Momente mit aufblühend-hellen Bestandteilen, so dass ein absichtlich in sich verwickeltes und verdrehtes Erscheinungsbild entsteht.

    Blow erfinden die elektronische Pop-Musik auf Funk- und Soul-Basis nicht neu, sie legen aber mit "Shake The Disease" ein Zeugnis darüber ab, was alles in diesen Verbindungen an Möglichkeiten steckt. Das Trio beschränkt sich in ihrer Sinnsuche nicht nur auf den Party-Aspekt, sondern bringt auch eine Ebene der ernsthafteren Soundgestaltung mit ein. So entsteht ein Treffen von entgegengesetzten Kräften, die dem Yin & Yang entsprechen, was sowohl die Texte wie auch die Musik kennzeichnet. Deshalb kann das Album nicht nur als Spaß-Verstärker herangezogen werden, es funktioniert auch prächtig als ein Alltagsbegleiter, der unterschiedliche emotionale Ebenen vermittelt. Vielleicht können durch diese unterschiedlichen Stimulationen wirklich Krankheiten abgeschüttelt werden. Einen Versuch ist es auf jeden Fall wert. Schade nur, dass sich die Band trotz dieses überzeugenden Werkes getrennt hat, aber jedes Ende ist schließlich auch ein neuer Anfang!
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    Windflowers Efterklang
    Windflowers (CD)
    25.12.2021
    Klang:
    4 von 5
    Musik:
    5 von 5

    "Windfowers" erzeugt eine Anziehungskraft, die einer aparten Stimulation entspricht.

    "Windflowers" badet in Wohlklang. In kunstvollem, leidenschaftlichem Wohlklang wohlgemerkt. Die erzeugten Töne sind jedoch nicht als Kalkül zur Erzielung von kommerzieller Gewinnmaximierung gedacht, sondern als populäre Kunstform zu verstehen. Es sind herzerwärmende Klänge, die mal romantisch verspielt, mal pittoresk verschlungen und auch druckvoll-hypnotisch dargeboten werden. Oft vermitteln sie eine zartschmelzende Pop-Sensibilität, wobei aufmunternde Rhythmen entweder unauffällig zur Unterstützung der komplexen Schwingungen dienen oder sie bringen einfach nur das Herz zum hüpfen. Dieses Konstrukt passt sehr gut zum beginnenden Herbst. Die Tage werden kürzer und statt einer wohligen Sonneneinstrahlung können jetzt oszillierende Sounds die Funktion eines Gemüt-Schmeichlers übernehmen. Herbstmusik muss nicht zwangsläufig grau und traurig klingen, denn auch im goldenen Oktober gibt es nicht nur trübe, sondern auch noch warme Tage.

    Frei vom Druck eines Veröffentlichungstermins schuf das Kern-Trio der dänischen Efterklang, bestehend aus Casper Clausen (Gesang), Mads Brauer (Tasteninstrumente) und Rasmus Stolberg (Gitarre), über siebzig Song-Vorlagen, aus denen das siebte Volle-Länge-Studioalbum seit "Tripper" aus 2004 entstand. Die Kompositionen wurden im Studio je nach Gefühlslage durch wenige Gäste begleitet, die als Stimmen, Rhythmus-Ergänzung oder Streicher- und Bläser den Ausdrucks-Rahmen erweiterten. Efterklang spielen Musik, die sowohl Balsam für die Seele, soundmalerische Klangtapete, rhythmische Herausforderung oder auch zugängliches Experiment sein kann. Das mag eigenartig klingen, sofern man nicht bereit ist, Pop als Kunstform anzuerkennen. Wenn diese Einstellung jedoch keine gedankliche Hürde darstellt, dann ist die eben getroffene Zuweisung selbstverständlich. Durch die Reihenfolge der Tracks ergibt sich eine symphonische Tondichtung mit einem speziellen Flow, der wie bei einem Mix-Tape aus dem Gesamtgebilde ein neues musikalisches Wesen erschafft.

    Die Hi-Hats klickern hell und schnell, der Bass rumst heftig dazwischen und der Synthesizer lässt leise Schwebe-Sounds anklingen. Casper Clausen singt "Alien Arms" mit Empathie und formt die Töne dabei bedächtig und wohlüberlegt. Er lässt sie gedeihen und wehen, so dass sie lange nachhallen. Dieser Klang-Zauberkasten hält noch weitere ungewöhnliche künstliche und akustische Töne bereit, so dass der Song durch seine sphärischen Klänge in Kombination mit den Jazz-Grooves einen ganz eigenen, wertig-eingängigen Future-Pop-Charme verbreitet.

    "Beautiful Eclipse" nähert sich zunächst beruhigenden Ambient-Klängen an, erfährt dann aber eine Wendung hin zu romantischem Art-Pop, wobei der Synthesizer unablässig Hilfe suchende Signale funkt. Die Instrumente arbeiten mit unterschiedlichen Tempi, so dass sich verschachtelte Ebenen ergeben, die aber dennoch nicht wirr, sondern anregend-harmonisch ihre Sogwirkung entfalten. Der Sound vermengt Kammermusik mit etwas Balkan-Folk zu einem Minimal-Art-Science-Fiction-Soundtrack-Eindruck.

    Eine hohe Stimme, kurz vor dem Falsett, holt die Hörer(-innen) bei "Hold Me Close When You Can" ab und entführt sie in eine melancholische, elegische Zwischenwelt, wobei nur schwer zu unterscheiden ist, ob die geschilderte Liebesbeziehung nur Wunschdenken ist, sich an einem Sehnsuchtsort abspielt oder einen Teil eines Traum-Gebildes darstellt. "Lady Of The Rocks" greift diese neblig-melancholische Stimmung auf und trägt sie als märchenhaftes instrumentales Intermezzo weiter.

    Manipulierte, Roboter-artige Stimmen und ein monotoner Drum-Machine-Takt drücken "Dragonfly" einen künstlich-kühlen Stempel auf. Clausens sensibler Gesang löst die distanzierte Haltung zunächst wieder auf. Weitere monotone, technisch klingende Zutaten sorgen aber immer wieder für Reibung und einen gewollten Kontrast zwischen Mensch und Maschine.

    Der elegante Hypno-Pop "Living Other Lives" bekommt durch einen flotten, gleichbleibenden Takt seinen unwiderstehlich groovenden Schwung verpasst. Raffiniert positionierte, unterschwellige Afro-Beat-Klänge sorgen daneben noch für ein fremdartiges Gewürz in der Ton-Suppe. Der liebliche, zum Chor erweiterte Gesang hält dieses lebhaft pulsierende Etwas verlässlich zusammen.

    Ein Xylophon setzt leuchtend-blinkende Eckpunkte und der automatische, kraftvoll klackende Rhythmus symbolisiert die Eintönigkeit langer Autobahn-Fahrten, was bei "Mindless Center" zu einem Minimal-Art-Trance-Sound führt, der an "Music For 18 Musicians" von Steve Reich denken lässt. Die vertraut-einfühlsamen Gesänge versöhnen mit dem stoischen Ablauf und entlohnen mit Eintracht und Sinnlichkeit. Der schwermütige Electro-Pop-Song "House On A Feather" verbindet danach schwirrende Streicher mit einer künstlichen Vocoder-Stimme, was in Summe zu einer niedergeschlagen-entrückten Space-Age-Ballade führt. Der Titel des Abschluss-Songs "Åbent Sår" bedeutet "Offene Wunde". Das Lied wird von dem schwedischen Ambient-Techno-Produzenten Axel Willner, der sich The Field nennt, mit schwebenden, tropfenden und pochenden Klängen in Szene gesetzt. Ambient trifft hier tatsächlich auf Techno.

    Die ersten Blumen, die den dänischen Waldboden im Frühling bedecken, sorgen für Aufbruchstimmung, diese Pracht ist aber nur von kurzer Dauer. Dieses Naturphänomen wird Windblumen genannt. Die Efterklang-"Windflowers"-Art-Pop-Sammlung ist nicht schnell vergänglich, aber ähnlich bunt und berauschend für die Sinne. "Windflowers" ist nicht so wagemutig-abenteuerlich und angriffslustig wie "Better Way", das Solo-Werk von Casper Clausen vom Januar 2021, aber dafür kombiniert die Platte die selten eingesetzten Gegensätze Eingängigkeit und Komplexität zu einem nachhaltig bewegenden Hörgenuss.
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    In Translation Peter Hammill
    In Translation (CD)
    19.12.2021
    Klang:
    4 von 5
    Musik:
    5 von 5

    Die Kunst der kreativen Übersetzung.

    Ein Mann der Superlativen! Seit 1969 erschienen bisher 52 Solo-Alben und 16 Werke mit Van Der Graaf Generator. Nun veröffentlicht Peter Hammill mit "In Translation" seine - wenn ich mich nicht verzählt habe - 53. Platte unter eigenem Namen und seine erste, die ausschließlich Fremdkompositionen enthält. Peter "übersetzt" seine Lieblingsstücke, die eigentlich nicht in den Dunstkreis des Musikers zu passen scheinen, in eine individuell angepasste Welt- und Kunst-Sicht. Er entlockt den Vorlagen ihre Geheimnisse, stützt sich auf deren Qualitäten, sediert die Besonderheiten und interpretiert die Kernaussagen der Originale auf eigentümliche Weise. Ist das Ergebnis dann noch als Cover-Version zu bezeichnen oder handelt es sich schon um eine Transformation in ein anderes Kulturgut?

    Obwohl Hammills Musik von jeher höchsten qualitativen und kreativen Ansprüchen genügte, ist sie bisher über den Status eines Insidertipps nicht herausgekommen. Außer in Italien. Vielleicht trägt der englische Musiker aus Bath auch deshalb als Dank und Würdigung eine Sportjacke mit der Aufschrift "Italia" auf dem Cover-Foto seines aktuellen Werkes. Die Platte "Pawn Heart" von Van Der Graaf Generator aus 1971 war nämlich in Italien ein Nummer 1-Hit. Die Band wurde daraufhin empfangen und hofiert wie Pop-Stars. Aus heutiger Sicht unfasslich, denn der innovativ-freie Art-Rock ist alles andere als Massen- und Charts-tauglich.

    Aber zurück zu Hammill: Fünfzig Jahre nach dem Erscheinen seiner ersten Solo-LP "Fools Mate" kam am 14. Mai 2021 ein Werk heraus, das von März bis Dezember 2020 unter Corona-Bedingungen entstanden ist. Die Krisenstimmung hatte negative Auswirkungen auf das Verfassen eigener neuer Songs, aber was aus Beschäftigungsdrang entstand, wurde zu einer ausgedehnten Suche nach Einflüssen und Prägungen, die allesamt außerhalb des Art-Rock-Universums des Künstlers angesiedelt sind. Eine spannende Arbeits-Erfahrung begann sich zu manifestieren, die allerdings umfangreiche Vorarbeiten benötigte. So haben nur drei Songs im Ursprung einen englischen Text, alle anderen wurden von Peter übersetzt. Dann mussten Arrangements ausgedacht und alleine im eigenen Heimstudio eingespielt werden. "Ich habe mein Bestes getan, um den ursprünglichen Autoren und Interpreten treu zu bleiben und gleichzeitig meine eigene Art von Platte zu machen. Zumindest meiner Meinung nach sind sowohl die Thematik dieser Songs als auch ihr emotionaler Tenor stark mit der Zeit verbunden, in der wir gerade leben", schätzt Peter seine Arbeit ein.

    Zu jedem Song hat er Anmerkungen im Booklet hinterlassen, die Hintergründe zur Auswahl erläutern und die im folgenden Text bei passender Gelegenheit zitiert werden. Beinahe schüchtern und unsicher tastet er sich an "The Folks Who Live On The Hill" aus dem Musikfilm "High, Wide, And Handsome" aus dem Jahr 1937 heran. Im selben Jahr wurde die sentimentale Ballade von Bing Crosby aufgenommen, sie erlangte aber besondere Beachtung in der anmutig-sensiblen Version von Peggy Lee, die 1957 erschien.

    Für Hammill ist die Begegnung mit dieser Musik eine Kindheitserinnerung, die gemischte Gefühle auslöste. Denn die zur Schau gestellte "gemütliche Vertrautheit" der Peggy Lee-Version wird sowohl durch Vorfreude auf ein schönes Leben wie auch von Zukunftsängsten begleitet. Beruhigend-wehmütige Streicher-, Bläser- und Harfen-Töne hüllen den Text dazu in einen wohlig-weichen Kokon ein. Peter Hammill greift für seine Interpretation diese wolkig-melancholische Stimmung auf und reichert sie durch eine nüchterne, gezupfte halbakustische Gitarre, schwirrende Synthesizer-Töne und ein würdevolles Piano an. Die widersprüchliche Gefühlslage des Songs drückt Hammill durch seine flexible Stimmlage aus, indem er sowohl melodramatisch wie auch vertrauensvoll agiert.

    Es ist also nicht nur an der Trainingsjacke mit der Aufschrift "Italia" - die Hammill auf dem Cover-Foto trägt - zu erkennen, dass er eine Liebe zur italienischen Lebensweise entwickelt hat. Die Auswahl der Song-Autoren aus Italien zeigt zudem, dass ihm auch die Kultur des Landes am Herzen liegt. 1979 wurde der italienische Chansonnier Fabricio de André entführt und vier Monate lang festgehalten. Nach seiner Freilassung komponierte er "Hotel Supramonte" im Stil eines ruhigen Leonard Cohen-Liedes.

    Die aktuelle Fassung berücksichtigt den Horror der Gefangenschaft durch gespenstische Hintergrund-Klänge. Die Dankbarkeit, mit dem Leben davon gekommen zu sein, wird durch optimistisch-unbeugsamen Gesang und eine kraftvolle E-Gitarre ausgedrückt.

    Der Ursprung von Astor Piazzolas "Oblivion" ist ein instrumentaler Tango, der durch dessen gefühlvolles Akkordeon-Spiel aber dennoch irgendeine traurige Geschichte erzählt. Hammill baut seinen hinzugefügten Text auf das Vergessen als böswilliges Wesen auf, das darauf wartet, unsere Erinnerungen und damit eigentlich auch unsere Persönlichkeit auszulöschen. Für die Übersetzung eines adäquaten musikalischen Ausdrucks des Kidnapping-Horrors setzt er dabei auf verzweifelten Gesang, der sich in einem schwindelig-schwankendem Chanson-Noire windet und quält.

    "Ciao Amore" vom italienischen Singer-Songwriter Luigi Tenco hat einen sehr bitteren Nachgeschmack erhalten: Das Lied war 1967 für den renommierten San Remo Festival-Preis nominiert, ging aber leer aus. Am Morgen danach fand man Luigi Tenco tot in seinem Hotelzimmer. Es gab zwar einen Abschiedsbrief, die genaue Todesursache konnte jedoch nicht geklärt werden, denn es blieben noch Fragen offen. "Das Lied selbst handelt von der Reise eines contadino (Bauern) von seinem Bauernleben auf der „weißen Straße“ in die entfremdende Welt der Großstadt - eine Reise, die viele in Italien, vor allem von Süden nach Norden, unternommen haben. In der Metropole angekommen, wird der Protagonist von der seltsamen Moderne der Welt entfremdet, weiß aber, dass er nicht zurück kann, nicht zu seinem alten Leben, nicht zu seiner alten Liebe. Die Originalversion ist merkwürdig optimistisch, da sie für den Erfolg im Songwriting-Wettbewerb und in den Charts ausgelegt war. Hier habe ich mir erlaubt, den Refrain dramatisch zu verlangsamen und an dem Punkt, an dem die Hoffnung verloren ist, in eine Moll-Tonart zu schicken", erläutert Hammill die inhaltlichen Zusammenhänge und seine Vorgehensweise.

    Auch die Erinnerungen an "This Nearly Was Mine" aus dem Broadway-Musical "South Pacific" von 1949 reichen in die Kindheit zurück, denn die Plattensammlung von Peters Eltern bestand zu einem großen Teil aus Musicals. Hammill überführt die süßliche Theatralik in eine von Keyboards getragene Ballade, die zwar auch eine gehörige Portion Überschwang mitbringt, diesen aber so ausgestaltet, dass er sowohl als Parodie wie auch als traditionsbewusstes Stilmittel angesehen werden kann.

    „Après un rêve“ ist ein klassisches Lied für Solostimme und Klavier von Gabriel Fauré, das im Jahr 1878 veröffentlicht wurde. Es geht darin um die Sehnsucht des Träumers, nach dem Erwachen wieder in den Schoß der Scheinwelt zurückkehren zu wollen. Aus der - wie Peter sich ausdrückt - "etwas zu stark parfümierten" Vorlage wird das leicht störrische Kunstlied "After A Dream", das ansatzweise bei den Brecht/Weill-Moritaten der 1930er Jahre zuhause ist.

    "Das Gefühl von direktem Fatalismus kommt hier voll zur Geltung, und ich habe mein Bestes getan, um in diesen Geist einzutreten, obwohl meine eigenen Tage mit Whisky und Zigaretten jetzt weit hinter mir liegen. Ich hoffe, ich habe diesem Stück die nötige stolze Intensität verliehen", erklärt der britische Art-Rock-Künstler seinen Umgang mit "Ballad For My Death" von Astor Piazzolla (Originaltitel: "Balada para mi muerte (1968)). Hammills Interpretation kommt wahrscheinlich dem nahe, was auch Nick Cave aus der Ursprungs-Idee gemacht hätte: Eine brennende Ballade mit brachialer Dramatik, unnachgiebig starkem Ausdruck und aufopferungsvoller Hingabe.

    Peter Hammill berichtet, dass er schon mal als "die Shirley Bassey des Undergrounds" bezeichnet wurde. Da passt es ins Bild, dass er das ursprünglich italienische Chanson "I Who Have Nothing", welches die walisische Pop-Diva der 1960er und 1970er Jahre bereits 1963 aufnahm, jetzt neu verfasst hat. Peter betont "die Tatsache, dass es sich wirklich genauso um das Lied eines Stalkers wie eines verlassenen oder verlorenen Liebhabers handeln kann", weswegen er nicht die opulente Oberfläche, sondern den unheimlichen Charakter des Stückes darstellen wollte. Das gelingt sogar, ohne den attraktiven Pop-Appeal des Originals zu vernachlässigen.

    "Il Vino" von Piero Ciampi aus 1971 habe eine "Fellini-artige Ästhetik", meint Hammill und findet, dass dieses Aroma auch "In Translation" "als Ganzes durchdringt". Vorbildfunktion hatten dabei Hal Willners Nino Rota-Interpretationen auf "Amarcord". Das Trinklied "Il Vino" fällt schon deshalb in der aktuellen Darstellung aus der Rolle, weil sowohl instrumental wie auch vokal der Zustand des betrunken seins als Stilmittel verwendet wird, was den Song wanken und stolpern lässt.

    "Kunst ist das Einzige, was man braucht, um sich zu erhalten, das einzig Wichtige im Leben für einen Ästheten wie den Sänger", erklärt der Van Der Graaf Generator-Vordenker die Überzeugung, die seinem Wirken zu Grunde liegt. "Lost To The World" (im Original: "Ich bin der Welt abhanden gekommen") von Gustav Mahler war der Ausgangspunkt für die Idee, "In Translation" zu realisieren. "Die Geschichte des Rückzugs aus der Welt ist natürlich passend für diese Zeit", findet Peter und überträgt das traurig-schöne Ursprungs-Beispiel in ein exzentrisches, verschrobenes Art-Pop-Stück.

    "In Translation" erschließt ein neues Level in der langen Karriere von Peter Hammill. Zum ersten Mal ist er hauptsächlich Beobachter, Analytiker und Übersetzer und nicht in erster Linie der erschaffende Künstler. Diese Rolle füllt er mit derselben Vehemenz und Überzeugungskraft aus, wie die des individuellen Ton-Dichters. Somit ist das Album ein weiteres Highlight in der an Meisterwerken nicht armen Diskographie des mittlerweile 73jährigen Art-Rock-Veteranen.
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    Ein Kommentar
    Anonym
    02.11.2023

    TOP-Rezension.........

    .......lieber Heino! ! ! ! !
    ich komm trotz vieler Versuche nicht richtig klar mit diesem Album......warum?????

    mein pH ist der mit ,,A Louse is not a Home''....!

    Old R.
    Frank Popp Ensemble Presents: Under Covers Frank Popp Ensemble Presents: Under Covers (CD)
    08.12.2021
    Klang:
    4 von 5
    Musik:
    5 von 5

    Musiker unterschiedlicher Stilrichtungen verwirklichen ihre Vorstellung eines Frank Popp Ensemble-Tracks und tragen mit individuellem Charme zu der bunten Mischung und einer spannenden Würdigung bei.

    Man soll die Feste feiern wie sie fallen! Das hat sich auch das Frank Popp Ensemble gedacht, dessen zweite Single "Hip Teens Don`t Wear Blue Jeans" am 12. November 2001 erschien, dann 2003 im Rahmen der Verwendung für eine Coca-Cola-Werbung ein veritabler Radio-Hit war und nun sein 20jähriges Ersterscheinungs-Jubiläum begeht.

    Zu diesem Anlass hat Frank Popp persönlich 21 Formationen dazu eingeladen, einen Titel aus dem Popp-Universum zu covern, was zu recht unterschiedlichen Betrachtungsweisen geführt hat: Der ehemalige Teenage Fanclub-Sänger und Bassist Gerry Love eröffnet die Hommage-Show mit dem sinnlich-coolen Latin-Psychedelic-Soft-Rock "The World Is Waiting", der stellvertretend für Eleganz, Rausch und Erotik steht.

    Die unverwüstlichen The Posies haben als glühende Big Star-Verehrer so einige Power-Pop-Evergreens entworfen. Sie sind seit 1986 im Geschäft und "Live Wire" zeigt sie wieder in bestechender Form. Ein hämmerndes Piano macht Druck, kurze, hart angeschlagene E-Gitarren-Riffs zerreißen die Luft, polternde Bass/Drums-Kaskaden lassen den Rhythmus brodeln und der Lead-Gesang bleibt bei aller Energie überlegen und gelassen. Melodie und Refrain werden zu einer unwiderstehlich harmonisch kribbelnden Bubblegum-Pop-Versuchung kombiniert.

    Das Damen-Trio 24/7 Diva Heaven ist ein Newcomer am Riot-Girl-Firmament, denn grade erst im März 2021 erschien ihr Debüt-Album "STRESS". Eine dröhnende Rhythmus-Kombination - wie sie in ähnlicher Form auch bei den White Stripes nicht ihre aufpeitschende Wirkung verfehlt - wird zur Erkennung von "Magic Birds" und lässt bei entsprechender Lautstärke die Därme vibrieren. Nach verhaltenem Anfang erscheinen dann zwar nicht magische, aber wilde Raubvögel am Firmament. Es kracht, quietscht und scheppert, was das Zeug hält und der so entstandene Hard-Rock-Punk klingt zusätzlich wie eine Verneigung vor den Runaways um Joan Jett.

    Die Hardcore-Punks von Hammerhead aus Bonn spielen schnell und aggressiv auf, so dass "Gettin' Down" wie ein Schlag ins Gesicht wirkt. Aber dennoch bleibt der Song so differenziert, dass er eigentlich als Rock & Roll mit Stacheldraht ums Herz durchgeht. Mit Hammerhead als Einheizer gibt es zumindest keine Energiekrise.

    Love Machine aus Düsseldorf haben in diesem Jahr das herrlich skurrile Album "Düsseldorf-Tokyo" herausgebracht und im Rahmen der Popp-Verneigung nehmen sie sich den Hit "Hip Teens Don't Wear Blue Jeans" vor. Nur: Wiedererkennen kann man ihn kaum. Höchstens dann, wenn man textsicher ist oder auf den Refrain achtet. Dieser Funk-Space-Rock sprengt alle Erwartungen und ist wohl auch deshalb so erfrischend und positiv verrückt geworden.

    Als "A Dark Disco Project" bezeichnet sich Maria Ghoerls aus Berlin. Die Formation verstärkt sich für "Leave Me Alone" um Aydo Abay, dem Gründer der Alternative-Rock-Bands Blackmail und Ken. Aber was heißt hier eigentlich Formation? Hinter dem Synonym Maria Ghoerls versteckt sich niemand geringeres als Frank Popp persönlich. Gothic-Wave-Vibes im Herzschlag-Rhythmus bestimmen den schleppenden Groove und New Order-Gitarren sowie Kraftwerk-Synthesizer sorgen für eine 80er Jahre-Retro-Verzierung. So entstand ein Klang, der bekannte Muster bedient, aber in dieser Zusammensetzung dennoch neu erscheint.

    Wow! Der HipHop-Rock von "Scarecrow Kids" der Fünf Sterne Deluxe geht trotz bremsender Rap-Einlagen mächtig ab, so dass der Titel die Tanzfläche zum Kochen bringen kann. Erobique alias Carsten Meyer lässt es da mit "Enough" gediegener und gesitteter angehen. Sein gelöster Bossa Nova-Easy Listening im Stil von Esquivel oder Sergio Mendes kommt gepflegt und sauber daher.

    Auch die Acid-Jazz-Jünger von Corduroy Industries wissen, wie man elegant unterhält. "Belly Bossanova" reiht sich ansatzlos hinter Erobique ein und verbreitet ein genauso charmant-gelassenes Brasilien-Flair. Eine weitere Variante des Titels kommt vom Duo Cobra Killer aus Berlin, die eine Möglichkeit sahen, ihren harten Electro-Hardcore-Punk mit Bestandteilen von lieblichem Pool-Bar-Sound zu verfremden. Beide Komponenten neutralisieren hinsichtlich der Wirkungsweise, so dass eine undefinierbare Masse übrigbleibt.

    Der Ska-Sound der Liga der Gewöhnlichen Gentlemen erinnert stimmungsmäßig an die gutgelaunten Madness und so wird "Hurry Up" zum spaßig-unbeschwerten Zwischenspiel. "Breakaway" ist im Original ein hinreißender, orchestral arrangierter, cool groovender, schmachtender Mid-Tempo-Soul-Track. Der Alternative-Pop-Musiker Nathan Joseph White aus London nennt sich Whitey und macht daraus ein von psychedelisch-sakralen Orgel-Klängen unterlegtes, dunkles, tapsendes Chanson.

    BTM zerlegen dasselbe Stück in seine Einzelteile und setzen es als fieses Metal-Punk-Monster mit wütend-rotzigem Gesang wieder zusammen. "Hey Mr. Innocent" der vierköpfigen Frauen-Punk-Band Östro 430 konserviert die Neue Deutsche Welle in der Phase, als sie noch nicht trottelig-albern war. Monotone Drums, ein fetter Bass, billige Synthie-Fills und freche Stimmen vermitteln das unbekümmerte Gefühl von Do-It-Yourself-Dance-Punk.

    Das Stück "High Voltage" wurde im Film "Password: Swordfish" (mit Halle Berry und John Travolta) verwendet. Die US-amerikanische Electro-Pop-Künstlerin Angie Reed lässt den Track nicht so heftig rhythmisch überkochen wie es bei der Vorlage des Frank Popp Ensembles der Fall war. Ihr Ansatz besteht darin, die geheimnisvolle, Angst schürende Komponente hervorzulocken und mit spleenig-unberechenbaren Elementen zu verknüpfen.

    Hinter Ascii Disko verbirgt sich der Hamburger Produzent und DJ Daniel Holc. Der ursprünglich frankophile, erotisch aufgeladene Easy Listening-Song "Foncé Dans Le Coeur" wird von ihm lediglich mit einem Dance-Beat und Sound-Effekten unterlegt. Außerdem streckt er ihn von fünf auf über acht Minuten. Das bringt alles allerdings keinen wesentlichen Mehrwert. Den ehemaligen Motown-Soul-Klang von "You've Been Gone Too Long" verwandelt der Entertainer Bernd Begemann auf seine ureigene, freundlich-eingängige Weise in einen leichtfüßig-sympathischen Pop-Swing.

    Hypnotische Trommeln, unnachgiebig schmirgelnde E-Gitarren, dezente Fake-Bläser und elektronische Space-Klänge sorgen bei "A Lifetime In A Day" mitsamt dem lasziven Gesang bei Suzan Körcher's Suprafon für eine beschwörende Stimmung. Im Original kam der Song als nicht minder eindringlicher, verführerischer Psychedelic-Pop daher. "Nothing To Gain" hat Power-Pop-Qualitäten, die sowohl in den 1960er Jahren Hit-Chancen gehabt hätten (zum Beispiel in einer Version von The Monkees), wie auch ins Repertoire der New Wave-Helden Blondie passen würden. Zeitloser Goodtime-Teenage-Pop eben.

    Splinter aus den Niederlanden (nicht das englische Duo gleichen Namens, das in den 1970er Jahren von George Harrison für sein Dark Horse Label unter Vertrag genommen wurde), tritt in dieselben Fußstapfen, fügt eine quengelnde E-Gitarre hinzu, flirtet mit kurzen Funk-Riffs und hebt das Energielevel noch etwas an. So wird eine schützenswerte Musik-Tradition schwungvoll am Leben gehalten. Space Chaser aus Berlin verwandeln den tanzbaren R&B-Beat von "Mullet King" in einen aggressiven Thrash-Speed-Metal, der atemlos hetzt und unbarmherzig dafür sorgt, dass klanglich keine milden Zugeständnisse gemacht werden.

    Exotischen, effekthaschenden Easy-Listening Sound bietet "The Thing Demands" vom Frank Popp Ensemble. Die Progressive-Rocker von The Cosmic Dead aus Glasgow ändern den Klang und erschaffen ein neunminütiges Space-Rock-Monster, dessen ausufernde Ton-Tentakel sie nur schwer unter Kontrolle halten können.

    Frank Popp ist ein Ausbund an schöpferischer Intelligenz. Unglaublich, welche stilistische Bandbreite er abdeckt! Vom Mod-Sound der Swinging Sixties über Soul-Pop-Grooves und Power-Pop bis hin zu psychedelischen Klängen finden sich etliche Schattierungen in seinen Liedern wieder. Und wenn man dann noch weiß, dass er im legendären Düsseldorfer Punk-Schuppen Ratinger Hof auflegte und auch als Hardcore-Punk- und Metal-Band-Veranstalter gearbeitet hat, dann verwundert es nicht, dass auch diese Klänge Einzug in den Tribute-Sampler gefunden haben. In Anlehnung an das berühmte "Sgt. Peppers Lonely Hearts Club Band"- Cover der Beatles gestaltete der gelernte Grafik-Designer und DJ die Verpackung der aufklappbaren Doppel-CD und gibt in einem 6seitigen Booklet Kommentare zu den ausgewählten Songs und Künstlern ab.

    Es ist kaum anzunehmen, dass alle Interpretationen für jeden Fan den gleichen Stellenwert haben werden, aber letztlich kommt es doch immer auf die Intensität und den Einfallsreichtum bei der Umsetzung an. Diese Zusammenstellung ist ein Musterbeispiel an ungebremster Spielfreude und ausgelassenem Spielwitz. Trotz unterschiedlichen Ausrichtungen demonstriert die vorliegende Würdigung des Frank Popp Ensemble einen reizvollen Flow mit vielen Überraschungen, der dafür sorgt, dass es richtig Spaß macht, alles nacheinander durchzuhören, weil man stets gespannt auf die nächste Idee ist.
    Meine Produktempfehlungen
    • Ride On Ride On (CD)
    • Frank Popp Ensemble-The World Is Waiting Frank Popp Ensemble-The World Is Waiting (CD)
    Triggerwarnung Sarah Lesch
    Triggerwarnung (CD)
    08.12.2021
    Klang:
    4 von 5
    Musik:
    5 von 5

    Es lebe der Protestsong, es lebe die Poesie!

    Jede menschenfreundlich denkende Person könnte sich fragen: Feminismus, muss das denn überhaupt sein? Die Gleichberechtigung zwischen Mann und Frau ist ja wohl selbstverständlich! Aber leider sieht die Realität anders aus, denn etliche Leute sind evolutionstechnisch noch in der Steinzeit hängen geblieben und benötigen diesbezüglich Nachhilfe. Die kommt inhaltlich für ewig Gestrige und Ignoranten unter anderem von Sarah Lesch.

    In Form einer Fabel wird bei "Die Löwin" von einem tapferen, lebenserfahrenen Tier berichtet, das durch zahlreiche Kämpfe zwar angeschlagen, aber längst nicht wehrlos geworden ist. Wenn es Dinge gibt, für die es sich zu kämpfen lohnt, kann sie immer noch ungeahnte Kräfte freisetzen. Auf sanft gleitenden Pfoten bewegt sich "Die Löwin" filigran-kunstvoll vorwärts, lässt sich nicht in die Karten schauen und weiß neben delikaten Country-Jazz-Momenten auch mit hoffnungsvollen, erwachsenen Pop-Harmonien zu gefallen.

    Mit einem aufmunternden Country-Twang schwingt sich "Es schläft ein Lied" zu einem unsentimentalen Love-Song mit offensichtlich traurigem Ausgang empor ("Es schläft ein Lied in mir, das liebt den Moment. Und es hält nicht sein Wort. Es stirbt mit mir im Augenblick. Und es lebt in Erinnerung fort"). Zwischenzeitlich ziehen tatsächlich zwei über grüne Wiesen tanzende, unbekümmerte Menschen in Gedanken vorüber, genauso wie es blumig im Text dargestellt wird ("Als wir einst tanzten im goldenen Garten. Als wir so taumelnd und träumend und wartend. Voll Übermut und voll Gefühl. Und die Angst vor dem Abschied blieb still").

    Wie bei einem uralten Country & Western-Song, der ergreifend-schwermütig und schicksalhaft von Land & Leuten berichtet, wird bei "Unten am Fluss" der Tod eines Menschen feinfühlig in tröstende Worte gefasst. Die Mundharmonika vermittelt Einsamkeit, der Rhythmus hält die getragenen Gefühle auf verhaltene Weise zusammen, die Geige weint bittere Tränen und der Chor verstärkt diese süße Schwere durch wohlig ergriffene Ton-Schauer. Sarah Lesch wirkt gefasst, ist von Dankbarkeit durchflutet und kann deshalb trotz des traurigen Anlasses mit fester Stimme singen.

    "Licht" beleuchtet klug und poetisch persönliche und gesellschaftliche Verhaltensmuster, um dabei ohne erhobenen Zeigefinger geschickt formulierte Lösungen anzubieten, die ebenso logisch wie auch weise sind. Ganz aktuell sind dabei zum Beispiel diese Aussagen: "Wo alle Schuld sind, ist es keiner und wo keiner eine Schuld will, muss es einer sein – zum Trost gibt’s dann Applaus. Und wer weiß, wem sie dann helfen, wenn es eng wird auf Station. Und wer hier Gott spielt für ´nen schlechten Stundenlohn?". Oder: "Wir zieh’n uns Werte an wie Kleidung, doch wie werden Werte wahr? Und wo ist Frieden nur ein goldnes Accessoire? Wer die Geschichte nicht erinnern will, der muss sie wiederholen. Solang bis alles wieder früher besser war". Hier gibt es jede Menge lebensnahe Lyrik zum Anfassen, die täglich im Radio gehört werden sollte. Der stimmungsvoll begleitende, unaufgeregte Country-Folk-Pop ist wie gemacht als Vehikel für die nachdenklich stimmenden Statements.

    Ganz harter Tobak wird bei "Schweigende Schwestern" geboten. Nämlich eine eindringlich, gruselig-realistische Geschichte über sexuelle Gewalt und männliche Überheblichkeit, die tief unter die Haut geht. Eine Form von Late-Night-Jazz nach "Swordfishtrombones"-Vorbild von Tom Waits bildet den schmuddelig-abgründigen Hintergrund zu diesem hochbrisanten Thema, das schon viel zu lange zu wenig Aufmerksamkeit erlangt hat.

    Vielleicht geht es bei "Ich trag dich nach Haus" um Verständnis und Hilfe für eine liebenswerte, depressive Person, vielleicht aber auch um einen sehr sensiblen Menschen, der seinen Geistesverwandten gefunden hat. Egal, was der Kern der Lyrik ist, man spürt jedenfalls jede Menge Einfühlungsvermögen, Vertrauen und Anerkennung. Das alles drückt Sarah mit ihrem bedingungslos die Sinne öffnenden Gesang aus und so wird aus dem Barock-Folk-Pop - auch wegen des entschlossen formulierten Refrains - eine suggestive, fesselnde Ballade.

    Mit Unterstützung von munteren Ska-Rhythmen gibt es bei "Drunter machen wir’s nicht" ordentlich gepfefferte Kritik an eingefleischten Geschlechterrollen: "Und wie schön, dass du auf dieser Welt bist. Ja, du hast dein Geschlecht nicht gewählt. Aber du hast Verantwortung für dein Verhalten. Hat Mami dir das schon erzählt?". Klartext mit Niveau, der nicht nur im Feminismus-Bereich Gültigkeit besitzt, sondern generell Anwendung finden sollte.

    Eine kecke Gypsy-Swing-Untermalung steht bei "Löwenzahn im Wind" als Synonym für die Befreiung von gedanklichem und konditioniertem Ballast, um ein neues, beschwingt-befreites Leben zu beginnen: "Wie lang lass ich mich noch klein halten. Und wieviel lass ich mir noch nehmen? Bis ich lächelnd die Zahl meiner Wünsche sage, ohne mich dafür zu schämen".

    Diskriminierung und Gewalt gibt es auf vielen Ebenen und sie richten sich je nach politischem und sozialem Umfeld gegen unterschiedlichste Bevölkerungsgruppen. Besonders verbreitet ist sie gegen Personen, die schon aufgrund ihres Aussehens nicht ins herkömmliche Erscheinungsbild passen, wie zum Beispiel die Drag Queens. "Die Geschichte von Marsha P. Johnson" handelt von solch einem Menschen, der nur wegen seiner Auffälligkeit sein Leben verlor. Die Gesellschaft ist erst dann eine bessere, wenn man nicht mehr über Gleichberechtigung sprechen muss und wenn sexuelle Gewalt geächtet wird. Zeit wird`s! Die dem Text folgenden Klänge verbinden geschmeidig New-Orleans-Funeral-Jazz-Melancholie mit intimer Folk-Besinnlichkeit.

    Für das wortlose "Aus dem Staub" können die Instrumentalisten nochmal beweisen, wie dynamisch und dabei ausdrucksstark und feinfühlig sie agieren können. So wurde auch aus diesem Stück eine überzeugende Ton-Landschaft, die gut und gerne als Wirkverstärker für einen romantischen Film eingesetzt werden könnte, ohne dabei kitschige Klischees zu bedienen.

    Der Begriff "TRIGGERWARNUNG" kommt aus der Trauma-Theorie und bezeichnet die Auslösung von bestimmten Reizen, die bei einem traumatisierten Patienten wieder die schrecklichen Situationen ans Licht bringen, die er erleiden musste. Sarah Lesch setzt solche Trigger-Punkte ein, um Aufmerksamkeit für Missstände hervorzurufen. Sie geht dabei bei aller Brisanz oft behutsam vor, sie überzeugt mit Fakten und Belegen, statt stumpf anzuklagen. Sie sucht und verarbeitet emotionale Bezugspunkte, statt ihre vorhandene Wut rauszuschreien. Sie setzt auf Lichtblicke für Gegenwart und Zukunft, statt sich der Vergangenheit zu ergeben. Sie appelliert an die eigene Stärke, statt sich denunzieren zu lassen.

    Sarah Lesch wurde 1986 in Thüringen geboren, wuchs im schwäbischen Tübingen auf und lebt jetzt in Leipzig. Die Musikalität kommt nicht von ungefähr, denn ihr Vater ist auch Musiker, wenn auch eher im Schlager- und Volksmusik-Metier tätig. Aber da der Apfel bekanntlich nicht weit vom Stamm fällt, trat sie zumindest von der künstlerischen Neigung her in seine Fußstapfen und veröffentlichte 2012 unter dem Künstlernamen Chansonedde ihr erstes Solo-Album "Lieder aus der schmutzigen Küche", gefolgt von drei weiteren Veröffentlichungen zwischen 2015 und 2020. Für das sechsminütige Lied "Testament", dass sie für ihren Sohn schrieb, gewann sie 2016 den Protestsongcontest in Wien. Im selben Jahr erlangte sie den 2. Platz beim von Udo Lindenberg initiierten Panikpreis.

    Ihre Motivation zieht Sarah Lesch unter anderem daraus, dass sie ohne vorgegebenes Ziel die Dinge ausdrücken möchte, die sie beschäftigen und aus ihr raus müssen. Die Themen sollen dann nach Möglichkeit musikalisch individuell und neuartig verpackt werden. Intuition und Kreativität gehen also bei "TRIGGERWARNUNG", das am 19. November 2021 erschien, Hand in Hand. Die vielseitige Musikerin kultiviert ihren gediegenen, universellen Americana-Chanson-Sound mit weitsichtigen, humanistischen deutschen Texten. Aber Worte sind ein scharfes Schwert. Bei Sarah Lesch trennen sie zwischen Lüge und Realität. Die Song-Poetin ist also - ganz im Geiste von Reinhard Mey - als vorurteilsfreie Beobachterin unterwegs. Das Land braucht mehr solcher anständig-intelligenten Dichter(innen) und Denker(innen), die veraltete, verkrustete Weltbilder aufbrechen und ad absurdum führen!

    Das klingt dann auch musikalisch absolut überzeugend und zeigt sich in einem flexiblen, wahrhaftigen und klaren Sound, der zum Beispiel an die Cowboy Junkies erinnert, was als großes Kompliment und nicht als Plagiatsvorwurf gemeint ist. Die Lieder auf dem fünften Werk "TRIGGERWARNUNG" zeichnen sich durch eine schlüssige Beobachtungsgabe, eine filigrane, der emotionalen Sachlage angepasste Instrumentierung und einem unaufgeregten, souveränen, themenabhängig angepassten Gesang aus. Mit anderen Worten: Hier wird gute und anspruchsvolle Unterhaltung geboten!
    Meine Produktempfehlungen
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    Time Flies Ladyhawke
    Time Flies (CD)
    19.11.2021
    Klang:
    3 von 5
    Musik:
    3 von 5

    Ladyhawke, die Unentschlossene. Findet sie nun mit "Time Flies" ihre eigentliche, endgültige künstlerische Identität?

    Es ist wie es ist, machen wir uns also nichts vor: Madonna, Cher, Miley Cyrus, Rihanna und Britney Spears haben ihren kreativen Höhepunkt längst überschritten und spielen in der Landschaft der nimmersatten Chart-affinen Konsumenten keine herausragende Rolle mehr. Ihre Vormachtstellung als Vorzeige-Pop-Queens haben sie verloren und sie wurden von frischen, frechen und talentierten Ladys wie Billie Eilish, Dua Lipa, Taylor Swift und Lana Del Rey entthront.

    Neues Futter braucht das Hit-Radio! Da kommt Ladyhawke grade rechtzeitig, um sich ihre Pfründe zu sichern. Aber hat sie es wirklich ausschließlich auf hohe Chart-Positionen abgesehen oder will sie künstlerisch mehr erreichen als die vielen anderen Retorten-Sängerinnen, die im Hinblick auf schnelles Geld dem Mainstream-Publikum zum Fraß vorgeworfen werden und ihre Seele verkaufen?

    Ladyhawke wurde als Philippa Margaret Brown 1979 in Neuseeland geboren und hat ihren Künstlernamen aus dem Film "Ladyhawke" (gespielt von Michelle Pfeiffer) von Richard Donner aus 1985 entliehen. Von 2001 bis 2003 spielte Philippa als Pip Brown Leadgitarre und sang im Background der Wellingtoner Punk-Band Two Lane Blacktop, die sich an The Stooges, MC5 und The Clash orientierten. 2004 trat sie der Art-Pop-Band Teenager bei, die bis 2007 hielt. Danach zog sie nach London und nannte sich fortan Ladyhawke, was auch der Name ihres ersten Solo-Albums von 2008 war, das hauptsächlich vom 1980er Jahre-New Wave-Sound und Synthie-Pop dominiert wurde.

    Der Nachfolger "Anxiety" (2012) zeigt ein anderes Gesicht, er ist massiver und verleibt sich den elektronischen Alternative-Rock der 1990er Jahre ein. 2013 folgte ein Umzug nach Los Angeles und 2016 kam mit "Wild Things" das dritte Werk heraus, das einen eingängigen, wieder elektronischeren, druckvollen Pop-Sound präsentiert.

    Nach der Geburt ihrer Tochter und überstandener Hautkrebs-Erkrankung übergibt Ladyhawke am 19. November 2021 "Time Flies" mit elf Songs dem Licht der Öffentlichkeit: Wird die sich anschmeichelnde, eingängig-unkomplizierte, aber Ohrwurm-taugliche Ballade "My Love" noch durch einen kräftigen Beat aus der Melancholie gezogen, so führt der erbarmungslose, überbetonte Bass bei "Think About You" dazu, dass die ergänzende, platziert gesetzte Rhythmik etwas zu kurz kommt und die im Grunde genommen attraktive, abwechslungsreiche Melodieführung durch Gimmicks verharmlost wird. Weniger Pomp, Glimmer und Effekte und ein eher akustisches Arrangement hätten diesem Song besser zu Gesicht gestanden.

    Der Song "Time Flies" klingt wie ein Mid-Tempo-Folk-Song, der in ein Electro-Pop-Gewand gesteckt wurde und "Mixed Emotions" schafft es auf den Tanzboden. Pop-, Funk- und Disco-Elemente bilden eine Klammer, die den Track zu einem Allrounder für unterschiedlichste Radio-Formate macht. Für "Guilty Love" wird ein harter, stampfender Rhythm & Blues-Groove einbezogen, dem kurze, verzerrte E-Gitarren-Akkorde zur Seite stehen. Nach ein paar Verschnaufpausen wird der Track immer wieder saftig und kräftig hochgefahren.

    Bevor die Ballade "Take It Easy Mama" zu süßlich zu werden droht, bekommt sie einen ordentlichen Tritt in den Hintern, gönnt sich aber auch Auszeiten, die melodisch fein gestrickt werden. Im Gegensatz dazu bietet "Loner" nur biedere Hausmannskost: Die Melodie ist fade, der Gesang eintönig und die billigen Synthie-Töne, die für schmückendes Beiwerk sorgen sollen, klingen wie aus einer 80erJahre-Mottenkiste. Aus dieser Dekade scheint auch "Adam" zu kommen: Romantischer, eintöniger Synthie-Pop, der damals den New Romantics wie Spandau Ballet oder Duran Duran zugerechnet worden wäre.

    Im Spannungsfeld zwischen Ballade und Power-Pop scheint sich Ladyhawke sehr wohl zu fühlen, denn "Reactor" balanciert beide Seiten ausgewogen aus und kann dadurch als dynamisch abgestufter Pop-Song gefallen. Der Refrain von "Walk Away" klingt wie ein Abzählreim, passt aber trotzdem gut zu dem flotten, rhythmisch agilen Lied, das eine Party-Stimmung durchaus anheizen kann. "Love Is Blind" zeigt auf, dass Ladyhawke auch ernsthafte Pop-Musik überzeugend auskleiden kann. Der Song erfüllt noch nicht die höchste Qualitätsstufe, zeigt aber einen alternativen Weg für sie auf.

    Ladyhawke sollte sich entscheiden: Möchte sie auf Teufel komm raus in die Charts, dann sollte sie sich einen angesagten Produzenten suchen, der sie punktgenau auf Mainstream-Format zuschneidet. Dann bleibt natürlich ihr zweifellos vorhandenes Talent auf der Strecke, weil sie unter diesen Bedingungen etliche Kompromisse eingehen müsste. Möchte sie sich künstlerisch weiterentwickeln, dann sollte sie sich einen Produzenten suchen, der sie mit anspruchsvollen Songs ins rechte Licht rückt und auf einen effektbeladenen, künstlich aufgedonnerten Sound verzichtet. Oder möchte sie vielleicht einen Weg zwischen Kunst und Pop suchen, dann sollte sie sich einen Produzenten ihres Vertrauens mit ganz viel Einfühlungsvermögen finden, der ihr den Sound verpasst, der ihre Persönlichkeit individuell herausstellt.

    Philippa Margaret Brown hat schon viele Genres ausprobiert, war aber bisher wankelmütig, was das Herauskehren eines eigenen Stiles angeht. Ihr Karriereweg verläuft im Zickzack, ist nicht kontinuierlich und weist auf kein eindeutiges Ziel hin. Aber noch ist alles möglich: Zwar ist "Time Flies" ein neuer Gehversuch mit ansprechenden Ansätzen, der sich unspezifisch zwischen allen Stühlen bewegt und deshalb offen lässt, wo es eigentlich künstlerisch hingehen soll. Aber bei einem erneuten Anlauf könnte es gelingen, mit verinnerlichten Werten zu einem spezifischen Sound zu finden.
    Retrospect In Retirement Of Delay: The Solo Recordings Retrospect In Retirement Of Delay: The Solo Recordings (CD)
    19.11.2021
    Klang:
    3 von 5
    Musik:
    4 von 5

    Hasaan Ibn Ali: Ein visionär-virtuoser Piano-Hexer zwischen Tradition und Improvisation.

    Die Veröffentlichung von Hasaan Ibn Alis "Retrospect In Retirement of Delay: The Solo Recordings" deckt Aufnahmen von einer fast vergessenen, überaus talentierten Persönlichkeit des Jazz auf, die aufgrund einer Verkettung von unglücklichen Umständen nicht den Bekanntheitsgrad und Ruhm erlangen konnte, die es verdient gehabt hätte. Solche tragischen Geschichten gibt es immer wieder im Musik-Business, man denke nur an die Folk-Musiker Jackson C. Frank und Phil Ochs, deren Karrieren auch in Katastrophen endeten.

    Der etwa 1949 zum Islam konvertierte Hasaan Ibn Ali wurde 1931 als William Henry Langford jr. in Philadelphia (Pennsylvania, USA) geboren und wuchs als Sohn einer Hausfrau und eines Kochs auf. Das Klavierspielen brachte sich William als Kind selber bei. Als Vorlage dienten ihm einige Boogie-Woogie-Platten. Schon mit 15 Jahren hatte der eifrige Musiker seinen ersten Auftritt in einer Big-Band. Er stürzte sich in die Verbesserung seines Spiels, probte wie besessen und konnte mit seinem unorthodoxen Konzept, bei dem melodische Fetzen mit freiem Spiel zu einem gefühlvoll aufwühlenden Klang verbunden werden, sogar John Coltrane, Sonny Rollins und McCoy Tyner beeinflussen.

    Zu Lebzeiten wurde nur das Album "The Max Roach Trio featuring The Legendary Hasaan" im Jahr 1965 veröffentlicht. Das Jahr 2021 brachte jetzt ein Revival des Jazz-Pianisten zutage. Zuerst wurde das lange als verschollen geglaubte zweite Studio-Album aus 1965 veröffentlicht, das damals aufgrund von Hasaans Verurteilung wegen Drogenbesitzes nicht auf den Markt kam. Das in Quartett-Besetzung eingespielte Werk wurde im März unter dem Namen "Metaphysics: The Lost Atlantic Album" im März herausgebracht.

    Am 19. November erscheint nun "Retrospect In Retirement of Delay: The Solo Recordings". Das ist eine Sammlung von Probe-Aufnahmen, die zwischen 1962 bis 1965 an der University of Pennsylvania oder in verschiedenen Wohnungen mitgeschnitten und vom Institut Of Jazz Studies, einem Spezialarchiv der Bibliotheken der Rutgers University am Newark Campus, für eine Veröffentlichung zur Verfügung gestellt wurden.

    Es gibt bei dieser Ausgrabung 14 Fremd- und 7 eigene Kreationen zu hören. Bei den Fremdkompositionen bediente sich Hasaan ausgiebig beim "Great American Songbook". So hat er unter anderem "Falling In Love With Love" und "Lover" von Richard Rodgers & Lorenz Hart, einem Broadway-Songwriter-Team aus den 1920er und 1930er Jahren ausgewählt. "Falling In Love With Love" findet sich unter anderem auch im Rat-Pack-Repertoire wieder. Mal schwungvoll (Sammy Davis jr, 1963) und mal verliebt schmachtend (Frank Sinatra, 1946) dargeboten.

    Ibn Ali nähert sich zunächst der ruhigeren Variante an, lässt die Melodie erkennbar, aber eigenwillig anklingen, um dann über harte und schnelle Tastenschläge eine leicht exzentrische Demontage zu erreichen. Diese eingängigen und provokanten Passagen wechseln sich über die 7 Minuten Laufzeit hinweg ab. "Lover" wurde unter anderem von Peggy Lee Anfang der 1950er Jahre als eine rhythmisch aktive Ballade interpretiert. Hasaan lebt sich in seiner 15minütigen Fassung umfangreich aus. Das Prinzip von Zuckerbrot (= melodische Tupfer) und Peitsche (= rasende Attacken) wird wirkungsvoll stimulierend angewendet, wobei die Töne mächtig aufgebauscht voran preschen. Der Cecil Taylor-artige Geschwindigkeitsrausch überwiegt allerdings gegenüber der Harmonie.

    Außerdem gibt es noch zwei Vertonungen von Irving Berlin-Songs. Berlin ist der Verfasser von solchen Gassenhauern wie "Cheek To Cheek" oder "Puttin` On The Ritz". Hier gibt es jedoch "They Say It’s Wonderful" aus dem Musical "Annie Got Your Gun" zu hören. Diese rührselige Ballade wurde unter anderem auch von Frank Sinatra (1946), Doris Day (1960) und Johnny Hartman mit John Coltrane (1963) vertont. Die Ibn Ali-Variante stammt aus 1962 und greift die Romantik der Vorlage immer wieder auf, lässt sich aber nicht auf Gefühlsduselei ein, sondern sucht einen Ausweg daraus durch Dynamiksprünge. Das zweite Berlin-Lied heißt "How Deep Is The Ocean" und wurde zum Beispiel 1946 von Billie Holiday als swingender Blues und 1961 vom Bill Evans Trio als verspielter Bar-Jazz umgesetzt. Hasaan respektiert den Ursprung der Komposition, durchzieht sie indessen mit dramatischen Ausbrüchen und flinken Akkorden, so dass sie ein unruhig-aufgeregtes Antlitz erhält.

    "Yesterdays" ist eine Schöpfung von Jerome Kern (Musik) und Otto Harbach (Text) aus 1933. Hasaan spürt der Nostalgie nach, die tief im Original steckt, findet aber immer wieder Wege hinaus aus der Melancholie. Die Ballade "It Could Happen To You" von Jimmy Van Heusen (Musik) und Johnny Burke (Text) aus 1944 geriet zur Steilvorlage für etliche Künstler, die ihr Repertoire um eine ruhige, cool swingende Nummer erweitern wollten. Dazu zählen Miles Davis und Chet Baker genauso wie Chic Corea und Keith Jarrett oder Frank Sinatra und Robert Palmer. In über 13 Minuten zelebriert Hasaan eine Sichtweise, die weit über süßliche Vergangenheitsverherrlichung hinaus geht. Und das, obwohl seine Töne sehr wohl vergangene Zeiten aufleben lassen, weil sie von Klängen gespeist werden, die an frühe Jazz-Aufnahmen erinnern. Dennoch entledigt er sich immer wieder dem Verdacht, musikalisch rückwärts orientiert zu sein, weil seine Interpretation einfach zu widerspenstig ist.

    Zu den weiteren Cover-Versionen gehört der aufsässige Big-Band-Track "Off Minor" (1957) von Thelonious Monk, mit dem Hasaan Ibn Ali oft verglichen wird. Diese Version ist gegenüber dem Original kaum wiederzuerkennen, weil sie stürmischer und vertrackter ausfällt. "Cherokee" von Ray Noble and his Orchestra aus Großbritannien ist ein Swing-Tanz-Titel aus 1938. Hasaan nimmt dem Track seine harmonische Beschaulichkeit und überführt ihn in eine nervös-aufgeladene, störrische Welt, die so gar nicht zum Tanzen einlädt. Auch "Body And Soul" von Johnny Green aus dem Jahr 1930 ist eine Jazz-Standard-Ballade, die zuerst von Louis Armstrong aufgegriffen wurde. Das Lied wird bis heute häufig interpretiert, wie von Billie Holiday (1940), John Coltrane (1960) und Tony Bennett & Amy Winehouse (2011). Die hier aufgeführte Fassung hört sich wie die lebendige Untermalung zu einem Stummfilm an, bei dem sich die Ereignisse überschlagen.

    "On Green Dolphin Street" von Bronislaw Kaper (Musik) und Ned Washington (Text) wurde 1947 für das verfilmte Historien-Drama "Green Dolphin Street", das auf einer Novelle von Elizabeth Gouge beruht, entwickelt. Die berühmteste Interpretation des Stückes dürfte die Version von Miles Davis auf der Bonus-Disc von "Kind Of Blue" aus 2008 sein, welche 1959 entstand. Hasaans Fassung stammt aus 1964 und ist aufschäumend und über 10 Minuten lang. Der harte Anschlag erinnert an McCoy Tyner und die lyrische Gelassenheit der Miles Davis-Nummer fehlt hier vollständig.

    "Bésame Mucho" (= Küss mich oft) ist ein 1941 von der mexikanischen Komponistin Consuelo Valesquez geschriebener und gesungener sentimentaler Bolero, der sich zum Evergreen gemausert hat. Erwartungsgemäß hat Ibn Ali nicht so eine romantisch-harmonische Sicht auf den Song, er spielt ihn dramatisch, was an den russischen Komponisten Rachmaninow erinnert. Aber auch ein gewisser sprudelnder Improvisationsspaß kommt dabei nicht zu kurz. Der Foxtrot "Sweet And Lovely" von Gus Arnheim, Charles Daniels und Harry Tobias aus dem Jahr 1931 hat damals die Menschen in Scharen auf die Tanzböden gelockt. Das vermag Hasaan Ibn Ali nicht. Zu extravagant und fernab des Foxtrots agiert der Pianist, so dass aus der stimmungsvollen Nummer nun ein wunderliches, der Avantgarde nahestehendes Stück geworden ist.

    Schon aus 1929 stammt das bluesige Jazz-Stück "Mean To Me" von Fred Ahlert (Musik) und Roy Turk (Text), das nicht nur in kleiner Besetzung, sondern auch mit großen Orchestern vertont wurde, wie zum Beispiel von Judy Garland (1957) oder von Ella Fitzgerald & Nelson Riddle (1961). Bleibt anfangs die Melodie erkennbar, wird es bei Hasaan bald darauf ruppiger und es wird auch noch aufs Tempo gedrückt.

    Zeitlich noch weiter zurück geht es mit dem gefühlvoll-süßlichen "After You’ve Gone" von Turner Layton (Musik) und Henry Creamer (Text), denn das Lied stammt aus dem Jahr 1918 und wurde im selben Jahr von Marion Harris, der ersten weißen Frau, die Jazz und Blues sang, aufgenommen. Es ist klar, dass das Lied bei Hasaan Ibn Ali ganz anders klingt, obwohl auch eine gewisse kitschige Versponnenheit mitschwingt. Es fehlen aber auch hier nicht die eiligen Tonfolgen, die Brüche und die Dynamik- und Tempowechsel, so dass das Original im Laufe der siebeneinhalb Minuten immer weniger wiederzuerkennen ist.

    Von seinen eigenen Stücken (wobei "Arabic Song" ein kurzer, wortloser Singsang und "Extemporaneous Prose-Poem" die Rezitation eines Gedichtes ist) fällt das zweiteilige "True Train" als besonders vielfältig hinsichtlich der abgebildeten Stimmungen auf. Von besinnlich bis wild ist alles dabei. "Atlantic Ones" setzt ganz auf Geschwindigkeit und erhöhte Thriller-Spannung. "True Train" und "Atlantic Ones" sind jeweils in zwei unterschiedlichen Takes auch auf "Metaphysics: The Lost Atlantic Album" in energiegeladenen, kreativ umtriebig agierenden Quartett-Besetzungs-Variationen zu finden. Beim moderat lyrischen "Off My Back Jack" wird Hasaan von Alan Sukoenig, dem Kurator dieser Wiederentdeckung, erst wieder daran erinnert, wie der Titel eigentlich abläuft und "Untitled Ballad" wird seinem Namen beinahe gerecht. Hier singt der Pianist sogar ein paar Worte zu der spritzig-emotionalen Komposition.

    1972 brach in Hasaans Elternhaus ein Feuer aus, bei dem seine Mutter verbrannte und sein Vater aufgrund der Brandfolgen nicht wieder das Bewusstsein erlangte. Hasaan verkraftete den Verlust nicht, deshalb verbrachte er seine letzten Jahre in einer Nervenheilanstalt, wo er 1980 starb. Zum Glück sind trotz aller Widrigkeiten in Hasaans Leben wenigstens ein paar Aufzeichnungen seiner variationsreichen Musik erhalten geblieben. Freunde und Musiker-Kollegen sprachen davon, dass es noch viel mehr Aufnahmen gab, die aber durch das Feuer im Elternhaus oder durch Diebstahl verloren gingen. Sie hätten wahrscheinlich noch weitere Facetten des visionären Ausdrucks von Hasaan Ibn Ali offenlegen können.

    Die Doppel-CD "Retrospect In Retirement of Delay: The Solo Recordings" wurde aufwändig aufbereitet. In einem Papp-Schuber, der mit Detail-Infos zu den Einspielungen versehen ist, stecken die beiden CDs. Dazu gibt es ein 40-Seiten starkes Booklet mit Kommentaren, Entstehungs- und Lebensgeschichten, sowie seltenem Foto-Material und handschriftlichen Briefen. Die Tonqualität ist hinsichtlich des Umstands, dass sie von privaten Magnetband-Aufnahmen stammen, sehr gut. Es gibt nur wenige Aussetzer und kaum Verzerrungen. Ansonsten haben sie mehr Dynamik, als man eigentlich von solchen Amateur-Mitschnitten aus den 1960er Jahren erwarten darf. Die Toningenieure haben also ganze Arbeit geleistet.

    Die Stücke der Doppel-CD in einem Rutsch durchzuhören, fordert Durchhaltevermögen und Konzentration, denn sie sind intensiv, teilweise schwierig zu verdauen und erfordern den Mut, sich auf einen Künstler einzulassen, der seinen eigenen Kopf ohne Rücksicht auf Kompromisse durchsetzt. Das ist spannend, manchmal dissonant, aber immer geistreich unterhaltend, denn hier wird ein außergewöhnlich engagierter, virtuoser, visionärer Jazz-Musiker präsentiert.
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    First Noel First Noel (CD)
    14.11.2021
    Klang:
    5 von 5
    Musik:
    3 von 5

    Alle Jahre wieder! Wie untermalt man kultiviert und sinnvoll die besinnliche Weihnachts-Zeit?

    Jetzt ist sie wieder ganz nah, die mit den meisten Emotionen beladene oder sogar überladene Zeit des Jahres. Für manche befriedigt sie eine Sehnsucht, manche denken nur mit Grausen an sie. Genauso verhält es sich mit der Musik zum Fest der Feste: Manchen kann es gar nicht kitschig-gefühlsduselig genug sein, andere wenden sich mit Magenschmerzen ab, wenn sie an die nächste Christmas-Songs-Offensive denken.

    Es gibt tatsächlich nur wenige Festtags-Aufnahmen, die einen guten Ruf bei anspruchsvollen Musikliebhabern haben, wie "One More Drifter In The Snow" von Aimee Mann aus 2006 oder die "Christmas EP" von Low aus 1999. Die meisten Veröffentlichungen mit Weihnachtsmusik sollen offensichtlich nur das jährliche Versprechen nach Behaglichkeit und Gemütlichkeit bedienen, sind aber so oberflächlich, belanglos und aufgebraucht, dass sie ihr Pulver schnell verschossen haben oder sich sowieso nur als sinnentleerte Rohrkrepierer erweisen.

    Mit "First Noel" befindet sich der Trompeter Ibrahim Maalouf in guter Gesellschaft zu seinem Kollegen Till Brönner, der auch aus gutem Grund am 16. November 2021 sein "The Christmas Album" veröffentlichen wird, um den Markt der Sentimentalitäten zu erweitern und zu befriedigen. Bei diesen Gedanken setzt auch Ibrahim Maalouf an, dessen X-Mas-Werk am 5. November 2021 der Öffentlichkeit präsentiert wurde. Genau rechtzeitig also, um noch auf den Auslagen der Plattenläden vor dem Weihnachtsgeschäft präsent zu sein. Maalouf hat eine Auswahl von Evergreens, durchzogen von in unseren Breiten weniger bekannten Stücken sowie drei neue, exklusive Kompositionen ausgewählt. Die Einspielungen wurden zusammen mit François Delporte (Gitarre), Frank Woeste (Klavier) und Sofi Jeannin (Chorleiterin) sowie 8 Sängerinnen und Sängern umgesetzt.

    Ibrahim Maalouf wurde 1980 in Beirut (Libanon) als Sohn einer Pianistin und eines Trompeters geboren. Beide Instrumente gehören auch zum Repertoire des Künstlers, der mit seinen Eltern als Kind vor dem Bürgerkrieg in einen Vorort von Paris floh. Talent und Ehrgeiz ließen ihn schon als Teenager zu einem renommierten Musiker heranwachsen, der nicht nur klassische Werke aufführte, sondern sich auch für arabische Folklore, Soundtracks, (Elektro)-Pop, französische Chansons, Soul und HipHop interessierte. Heute hat er schon eine glänzende Karriere hinter sich, mit Gastauftritten für z.B. Sting, Melody Gardot, Amadou & Mariam oder Juliette Gréco. Ganz zu schweigen von seinen eigenen Tonträgern, die ihn als Kenner von atmosphärisch dichten Sounds ausweisen, die sich nicht nur bei den erfolgreichen Filmmusik-Projekten für z.B. "Red Rose" (2014), "Yves Saint Laurent" (2014) und "Radiance" (2017) bewährt haben. Darüber hinaus betätigte sich der vielbeschäftigte Künstler auch noch als Trompetenlehrer.

    Ibrahim Maalouf ist ein Trompeter, der sich für "First Noel" ausschließlich im tonalen Bereich bewegt, also eher mit dem melodischen Chet Baker als mit dem frei aufspielenden Miles Davis zu vergleichen ist. Experimente sind hier jedenfalls nicht zu erwarten. Maalouf spielt sauber, fließend, trotzdem mit Abstufungen im Klangbild und mit viel Gefühl. Immer wieder erstaunlich, was aus diesem im Grunde genommen "starren" Instrument rauszuholen ist. Wenn Ibrahim seine melodisch fließenden Trompetenklänge verbreitet, dann legt sich Ruhe und Behaglichkeit über den Raum, ein Zustand, der gerne für die Feiertage angestrebt wird. Von daher wird das grundsätzliche Ziel einer Weihnachtsplatte erfüllt, denn wir haben es traditionell mit einer relativ festgelegten Erwartungshaltung zu tun, wenn es um die Beschallung der Weihnachtszeit geht.

    Zu den ausgewählten, allgemein bekannten Weihnachts-Liedern gehören "Have Yourself A Merry Little Christmas" und "Mon beau sapin" (= "O Tannenbaum"), die in getragenem Tempo dargeboten und mit Glöckchen, gedämpfter Piano-Begleitung, sphärischen Chor-Gesängen oder glasklaren, tropfenden E-Gitarren-Tönen ausgestattet werden, um für eine heimelige Stimmung zu sorgen. Das swingende "Let It Snow! Let It Snow! Let It Snow!" lässt die Schneeflocken in Gedanken munter durcheinander tanzen und "The First Noel" wurde als hymnische Ballade angelegt. Dann gibt es noch "Silent Night", wo engelsgleiche Sängerinnen durch ihre Stimmen einen Kokon von immateriell erscheinenden Schwingungen erzeugen und "Jingle Bells", das in seinen zwei Minuten von einem leichten, unkomplizierten Swing begleitet wird. "White Christmas" gehört eigentlich in das Great American Songbook, zumindest wurde das Lied von Irving Berlin geschrieben, bekam einen Oscar und führte in der Version von Bing Crosby zur weltweit meistverkauften Single. Ibrahim Maalouf verwaltet dieses Erbe und spielte eine respektvolle Variante ein.

    Zu den weniger gebräuchlichen Melodien gehören "Il est ne le divin enfant", bei dem ein inniges, romantisches Zwiegespräch zwischen Piano und Trompete mit "Engels-Chor"-Begleitung stattfindet. Beim sanftmütigen "O Holy Night" werden Gitarre, Piano und Trompete durch den Chor in himmlische Gefilde geführt und sind dabei nahezu gleichberechtigt unterwegs. Für "Petit papa noel" sondert die Trompete traurige, graue Töne ab und das Piano bestärkt diese Sentimentalität, so dass der Track eine gedrückte Stimmung hinterlässt.

    Ibrahim Malouf baut auch klassische, christlich geprägte Kirchenlieder in seinen Reigen ein: "Ave Maria" wurde 1852 von Charles Gounod auf Basis des Präludium Nr. 1 in C-Dur aus Johann Sebastian Bachs "Wohltemperiertem Klavier" komponiert und erhielt 1859 den Text des lateinischen Gebets "Ave Maria" zugewiesen. Das Lied wird seitdem traditionell bei Beerdigungen und Hochzeitsmessen verwendet, hat sich aber auch mehr und mehr für die Vertonung von christlichen Advents-Gottesdiensten durchgesetzt. Auch Ibrahim gestaltet diese Komposition feierlich und würdevoll. Das "Ave Maria" von Franz Schubert hat eine andere Melodie als die Gounod/Bach-Komposition, die aber eine ähnlich andächtig-demütige Kraft versprüht, was auch in der neuen Fassung zum Tragen kommt. Man spürt, dass es für den Trompeter eine besondere Herausforderung und ein Reiz ist, diesen klassischen Vorlagen gerecht zu werden. "Adeste fideles" wird häufig in der englischen Variante unter dem Namen "O Come All Ye Faithful" vertont. Der Ursprung des Songs stammt schon aus dem 18. Jahrhundert. Auch "First Noel" präsentiert sich als sakral-geistliches Kirchenlied. "Hark! The Herald Angels Sing" ist auch ein englisches Weihnachtslied, das sich allerdings bis zum Jahr 1739 zurückverfolgen lässt. Es bezieht sich auf die Ankündigung der Geburt von Jesus. Der libanesisch-französische Trompeter hat der Komposition seine ehrfürchtige Stimmung gelassen und die Laufzeit auf etwas über eine Minute beschränkt. "God Rest Ye Merry, Gentlemen" ist sogar noch älter und geht mindestens auf das 16. Jahrhundert zurück. Entsprechend atmet das Stück den Geist des Zeitalters der Renaissance, wobei es hier überwiegend im modernen Schliff und luftig erklingt.

    Es sind diese etwas abseitigen Kompositionen, die sich hervortun und für eine relativ abwechslungsreiche Auswahl sorgen. So wie das libanesische "Shubho lhaw qolo", das sich wie ein Sergio-Leone-Western-Soundtrack anhört, bei dem leichte arabische Elemente eingeflossen sind. Oder "Holly Jolly Christmas", ein flotter Jazz-Swing mit rhythmischer E-Gitarre und füllendem Piano. Auch "Santa Claus Is Coming To Town" bekommt ein Old-Time-Jazz-Klima verordnet. "We Wish You A Merry Christmas" ist in England so populär, dass es dort eigentlich als Folk-Song gilt. Dem wird durch ein Arrangement unter Einbeziehung einer akustischen Gitarre im Ansatz Rechnung getragen.

    Aber es gibt auch nicht ganz so alte Vorlagen: "Winter Wonderland" wurde vom US-amerikanischen Dirigenten, Pianisten und Komponisten Felix Bernard komponiert und vom US-amerikanischen Komponisten Richard B. Smith getextet. Die erste Aufnahme ist von Richard Himber and His Ritz-Carlton Orchestra und stammt aus dem Jahr 1934. Das Lied erfreut sich bis heute einer großen Beliebtheit und wurde von über 200 verschiedenen Musikern aufgenommen, unter anderem 1960 von Ella Fitzgerald, 1964 von Doris Day und 1987 von den Eurythmics. Ibrahim Maalouf macht daraus ein Stück, das von sakralen Tönen eingeleitet und dann von jazzig-brasilianischen Klängen aufgefangen wird. "Light A Candle In The Chapel" zelebriert ergreifend und bedächtig unter Verwendung eines esoterischen Überbaus eine Stimmung, bei der jegliche Anspannung abfällt. Im Original ist dies ein Song von Frank Sinatra, den er 1942 mit der Tommy Dorsey Band in New York als Big-Band-Schnulze im Stil von Glen Miller interpretierte.

    "I'll Be Home For Christmas" war 1943 ein Top-Ten-Hit für Bing Crosby und Elvis nahm den Track 1957 auf. Maalouf erlaubt sich eine dynamische, nach hinten raus relativ ausgelassene Jazz-Version. "It's Beginning To Look A Lot Like Christmas" kommt aus dem Jahr 1951 und erhielt damals durch Perry Como und Bing Crosby einen hohen Bekanntheitsgrad. Eine weitere populäre Version ist von Michael Bublé aus dem Jahr 2011. Die aktuelle Variante klingt wie ein Pop-Song, dem der Gesang fehlt. "What A Wonderful World", das 1967 von Louis Armstrong zelebriert wurde, ist kein klassisches Weihnachtslied, aber eine Generationen und Kulturen verbindende Hymne eines großen Entertainers und Trompeters. Ganz vorsichtig und bedächtig tritt Ibrahim mit Demut in diese großen Fußstapfen. Die jüngste Adaption auf "First Noel" dürfte "All I Want For Christmas Is You" von Mariah Carey sein, das 1994 ursprünglich als pompös aufgeblasener, schwungvoller Pop-Song dargeboten wurde. Ibrahim Maalouf nimmt das Tempo raus und macht daraus einen Late-Night-Jazz mit Weihnachts-Verzierung.

    Die drei neuen Kompositionen stammen aus der Feder von Ibrahim Maalouf und runden das festlich geschmückte Bild ab: "Noel For Nael" hat er für seinen in 2021 geborenen Sohn geschrieben. Der Track vermittelt die Ruhe und Behaglichkeit eines Schlafliedes. Die gleiche Stimmung verbreitet auch "Christmas 2009", während "The Last Christmas Eve" jede Menge Ergriffenheit transportiert, so dass anzunehmen ist, dass Ibrahim den Track zum Gedenken an seine verstorbene Großmutter geschrieben hat.

    "First Noel" ist dem Easy Listening-Jazz zuzurechnen, steht also für gepflegte Unterhaltung. Das Werk nervt nicht - wie viele andere X-Mas- Veröffentlichungen - mit penetrant aufgesetzter Fröhlichkeit oder schmalztriefender Gefühlsduselei, es traut sich aber auch nicht, aus der grundsätzlich besinnlich besetzten Stimmung auszuscheren, die am Weihnachtsfest traditionell so viele Räume füllt. Deshalb kann man das Album zwar gut im Hintergrund als Berieselung laufen lassen, wenn aber Weihnachts-Musik gesucht wird, die die Sinne nachhaltig anregt oder die auch außerhalb der Weihnachtszeit nicht unpassend wirkt, dann sollte vielleicht doch eher zu Aimee Mann oder Low gegriffen werden.

    Die aufgebaute Gefühlswelt von "First Noel" ist zweckgebunden auf das Weihnachtsfest zugeschnitten, was die Möglichkeiten von Ibrahim Maalouf einengt, er kann deshalb gar nicht richtig zeigen, was in ihm steckt. Dies wird unter anderem ganz prächtig auf dem Vorgänger "40 Melodies" demonstriert, bei dem sich Maalouf als fantasievoller, virtuos aufspielender, Genre sprengender Duett-Partner zeigt, der jeder Komposition ein individuelles Muster mitgibt.

    Ein Vergleich zwischen "40 Melodies" und "First Noel" macht deshalb Sinn, weil es die unterschiedliche Herangehensweise des Künstlers verdeutlicht. Der brillante Musiker dient auf “First Noel” der Vorgabe, eine festliche Atmosphäre zu erschaffen, auf die er sich fokussiert. Auf “40 Melodies” kann er seine Kreativität voll entfalten, weil keine "Erwartung" vorgegeben ist. Das führt zu einer hohen Flexibilität, für "First Noel" erschafft er hingegen Homogenität. Maalouf hält hier inne, konzentriert den Klang auf einen feierlichen, friedlichen Wohlfühlaspekt. Der Sound scheint stellenweise von jeglichem körperlichen Ballast befreit zu sein und erhält dadurch eine weich gezeichnete Unschuld. Das ist eine angemessene Form, Weihnachtslieder zu interpretieren und deshalb kann "First Noel" ein sinnvoller Begleiter für die Festtage sein, weil die Töne nicht übertrieben schmalzig und gradlinig präsentiert werden. Das Album war für Ibrahim Maalouf eine Herzensangelegenheit, denn 2021 wird das erste Weihnachten ohne seine geliebte Großmutter Odette sein.

    Fazit: Künstlerisch verkauft sich Maalouf unter Wert, weil ihn die Erwartungshaltung für ein extra für die Festtage zugeschnittenes Werk in seinen Möglichkeiten zu sehr einschränkt und das Ergebnis relativ berechenbar ist, so dass die Töne auch als Gebrauchsmusik Anwendung finden könnte. Das wäre wohl nicht unbedingt im Sinne des Künstlers und würde ihm auch nicht gerecht werden. Wenn man ihn jedoch mit anregend-spannender Unterhaltung erleben möchte, dann sollte ohne Bedenken zu z.B. "40 Melodies" gegriffen werden. Da stellt Ibrahim Maalouf noch eindrucksvoller unter Beweis, was für ein vielseitiger, ausdrucksstarker Musiker er ist.
    Meine Produktempfehlungen
    • 40 Melodies 40 Melodies (CD)
    Julius Meskerem Mees
    Julius (CD)
    13.11.2021
    Klang:
    4 von 5
    Musik:
    4 von 5

    Meeskerem Mees profitiert von der Macht ihrer Stimme und dem Zauber ihrer Persönlichkeit.

    Die Begriffe sensibel oder einfühlsam werden bei eher akustisch ausgerichteten Musikern und Musikerinnen inflationär benutzt, um eine eventuell vorliegende intensive Wirkung zu beschreiben. Ob ein Künstler wirklich in der Lage ist, die Barriere zwischen Ohr und Gefühlszentrum zu durchbrechen und somit einen Schwall an Gefühlsregungen auslösen kann, zeigt sich häufig dann, wenn er sparsam, fragil und auf sich selbst gestellt agiert und dennoch auf ganzer Linie überzeugt, ohne zu langweilen. Nick Drake konnte das, John Cale, Nick Cave und Neil Young haben eindrucksvoll bewiesen, dass sie über diese Gabe verfügen und nun schickt sich auch Meskerem Mees an, ganz heimlich still und leise das Herz von Menschen zu betören, die sich an luftig-leichten, intimen Songs erfreuen können.

    Die in Gent (Belgien) lebende 22jährige Frau vermag alleine aufgrund ihrer charmant-sympathischen Persönlichkeit, ihrer ehrlichen, sauberen Stimme und dem bestimmenden Klang ihrer gezupften akustischen Gitarre zu bewegen. Dann kommen noch die ausgezeichneten selbst komponierten Lieder mit sprachgewandter Lyrik dazu und zu guter Letzt fügt Febe Lazou noch vielsagende Cello-Töne ein, die den Songs genau die richtige Wendung, Erhöhung oder Betonung verpassen, um sie aufrecht und schillernd aussehen zu lassen. Das Erstlingswerk "Julius" klingt deshalb nicht nach einer suchenden Musikerin, sondern nach einer gestandenen Künstlerin klingt, die genau weiß, was sie will.

    Los geht es mit "Seasons Shift", das neben "Joe", "Astronaut" und "The Writer" schon vorab als Single veröffentlicht wurde. "Seasons Shift" erzählt die Geschichte einer Liebe, die sich allmählich zersetzt, weil der Partner unter ständigen Gefühlsschwankungen leidet. Meskerem schlüpft dabei in die gefestigte Rolle, weil sie schon über die gröbsten Verletzungen hinweg ist, aber trotzdem weint das Cello von Febe Lazou dicke Tränen, die zeigen, dass der Schmerz groß gewesen sein muss. Auch "Parking Lot" beschreibt eine festgefahrene, im wahrsten Sinne des Wortes toxische Beziehung ("Wir nehmen am Wochenende Drogen, weil das alles ist, was wir je gekannt haben"), die durch ein sensibles Gothik-Folk-Arrangement wirkungsvoll und transparent in Szene gesetzt wird.

    Bei "The Writer" geht es um einen Schriftsteller, der "über Einsamkeit und Ängste und andere Arten von Elend" schreiben kann, aber nicht über die Liebe, weil er sie für "ein grausames und bösartiges Spiel" hält. Es zeigt sich aber, dass er in Wirklichkeit arrogant und selbstverliebt ist, weshalb er nicht zu einer freundschaftlichen Beziehung fähig ist. Die Begleitung dazu klingt beinahe naiv und einfach wie bei einem Kinder- oder Volks-Lied, gleitet aber durch Meskerems gesangliches Gespür für wichtige, veredelnde Nuancen nie ins Banale ab. Das verwehte Cello am Ende des Stücks beseitigt letztlich alle Bedenken: Hier hat man es doch mit einem gelungenen, in sich stimmigen Lied zu tun.

    Meeresrauschen und Möwengeschrei leiten zusammen mit traurigem Cello-Gestreiche den Song "Blue And White" ein. Meskerem löst die sich aufbauende trübe Stimmung schlagartig durch positiv gestimmten, teils mehrstimmigen Gesang, sprudelndem Picking und einer lebhaften Melodie auf. Auch wenn Febe Lazoon dann nochmal graue Wolken produziert und ein Piano für Nachdenklichkeit sorgt, überwiegt schließlich der Optimismus. Der Text vermittelt, dass es manchmal ganz einfach sein kann, sich von trüben Gedanken abzulenken ("Spring auf einem Bein und jetzt spring auf beiden Beinen. Und sag mir, wie lustig, wie lustig du dich tief drinnen fühlst").

    Im Blues findet man häufig verschleierte sexuelle Anspielungen. So auch bei "I`m A King Bee", das Slim Harpo 1957 erstmals aufnahm ("Ja, ich kann Honig machen, Baby. Lass mich reinkommen"). Das Lied wurde dann später noch von den Rolling Stones (1964) und sogar von Pink Floyd (1965) aufgenommen. Auch im Live-Repertoire der Doors kann die Komposition gefunden werden.

    "Queen Bee" von Meskerem Mees ist da weniger anzüglich, spielt aber stattdessen mit der Assoziation einer Familiengründung. Auch der Rock & Roll bekommt bei dieser Folk-Nummer einen Verweis ab, deshalb kann das ganze Konstrukt durchaus als Referenz oder eventuell auch als Persiflage verstanden werden. "My Baby" ist ein Requiem für einen toten Menschen. Ist es wirklich ein Baby oder ein Freund, dem hier gehuldigt wird? Dem Thema angemessen läuft das Stück getragen, in sich versunken ab, wobei Meskerem Haltung bewahrt und gefasst durch die Geschichte führt.

    Bei "Man Of Manners" wird es sozialkritisch. Was macht es mit einem jungen Mann, wenn er beim Militär gedrillt wird? Man sagt ihm, er wird "ein Mann mit Manieren" werden. In Wirklichkeit verliert er seine Individualität und "verkauft seinen Willen". Wenn es das nur wäre, er gefährdet auch seine Gesundheit und sein Leben, wenn es schlecht läuft. Meskerem widmet sich dem Thema Krieg nicht so krass, wütend und anklagend wie Bob Dylan in "Masters Of War". Sie klingt im Gegensatz zu ihm eher versöhnlich, spricht aber trotzdem die Perversität der menschenverachtenden Manipulation und Verführung deutlich an.

    "Joe" beschreibt eine Alltagssituation: Boy meets Girl, dann die Phase der intensiven Verliebtheit, später sucht der Junge die Freiheit und das Mädchen bleibt enttäuscht, aber immer noch verliebt zurück. Traurig, aber nicht hoffnungslos berichtet die Protagonistin davon und lässt ihrer Gitarre den Raum, den sie braucht, um dabei die Geschichte gefühl- und verständnisvoll zu umgarnen.

    Was denkt ein Astronaut, wenn er ohne Halt durch den Weltraum schwebt? Bei "Astronaut" hat der Raumfahrer ein Foto dabei, das unterschiedliche Vertreter der Menschheit zeigt. Er nimmt war, dass er als "Weltraumsegler" geboren wurde und ihn trägt die tiefe Überzeugung, dass ihn der (Sonnen)-Wind nach Hause bringen wird. Das ist ein schönes Bild, welches unseren privilegierten, aber auch fragilen Zustand im Universum verdeutlicht. Darüber hinaus wird klar, was uns als Menschen besonders auszeichnet, nämlich unser Durchhaltewillen, wenn es mal nicht so läuft, wie es sollte. Der untermalende Barock-Pop ist weder überschäumend optimistisch, noch bedrückend-pessimistisch. Er lässt zunächst eine emotionale Einordnung offen. Aber nach 2 Minuten erfolgt der Wechsel hin zu kämpferischeren Tönen. Ein aus Multi-Track-Stimmen von Meskerem bestehender Chor bestätigt nochmal die "Weltraum-Geburt" und bestätigt die Abhängigkeit der Individuen von kosmischen Abläufen.

    In "A Little More About Me" geht es weniger um die Offenbarung von persönlichen Eigenarten als um Kommunikation. "Es gibt eine Vielzahl von Dingen, die ich dem Mann meiner Träume gerne sagen würde. Es gibt eine Vielzahl von Dingen, die ich dem Mädchen seiner Träume gerne sagen würde" und "Es gibt eine Vielzahl von Dingen, die ich dem Mann von nebenan gerne sagen würde", heißt es da nämlich. Es dreht sich also um das gegenseitige Verstehen und Kennenlernen, was Vorurteile abbauen und damit für mehr Toleranz sorgen kann. Im schunkelnden Walzer-ähnlichen Takt erzählt Meskerem ihre Moritat und begleitet sich selbst an einer akustischen Lagerfeuer-Gitarre. Cello und Klavier stimmen noch ein, schunkeln und schwelgen dann mit.

    Was bedeutet es, wenn man meint, einen Menschen "zu kennen"? Ist er dann ein bekanntes Gesicht, hat man viel mit ihm zu tun oder weiß man tatsächlich, was in ihm vorgeht? Auch Meskerem Mees stellt sich diese Frage in "Song For Lewis" und kommt unter anderem zu dem Schluss: "Alle meine Freunde denken, ich sei unvernünftig. Ich liebe sie, obwohl sie nicht wissen, was ich fühle". Das heißt, man gibt nie alles preis, was einen bewegt. Mit seinen Dämonen muss man oft alleine fertig werden. Meskerem und Febe Lazou bilden hier eine Einheit, wenn es darum geht, ein Gefühl des mit sich im reinen zu sein hervorzurufen.

    Wird in "Where I'm From" ein alternatives Paradies beschrieben? Zumindest taucht eine Umwelt auf, die frei von Vorurteilen und Not ist. Wünschen wir uns nicht alle solch einen Zustand ? Warum bemühen wir uns dann nicht, in diese Richtung zu denken und zu handeln? Es liegt an uns, an jedem Einzelnen, ob diese Vision Fiktion bleibt oder Wirklichkeit werden kann. Durch schrammelnde Akkorde schafft Meskerem eine gewisse Dringlichkeit für ihre Aussagen, bevor beklemmende Cello- und Querföten-Töne die Stimmung in Richtung Moll drücken. Nach einem gewollten Bruch werden alle Instrumente umgestimmt und lassen eine zuversichtliche Atmosphäre anklingen.

    Es ist eine essentielle Aussage über das Leben: Wir werden alleine geboren und sind auch auf unserem Weg in den Tod allein. "How To Be Alone" beschäftigt sich damit, was beim Sterben tröstend ist, kann das Unvermeidliche aber auch nicht schön reden. Spielende, ausgelassen fröhliche Kinder im Hintergrund des Liedes stehen für das, was schützenswert und immens wichtig für eine gesunde, blühende Gesellschaft ist. Meskerem Mees singt mit lieblich-betörender Stimme und gibt dem Track mit abgestufter Dynamik zum Abschluss des Albums noch einen Moment des Innehaltens mit.

    Einen Teil der Magie zwischen Hörer(-innen) und Musiker(-innen) macht es aus, wenn die dargebotene Kunst nicht in Frage gestellt und sie als wahrhaftig und nachvollziehbar oder erhellend wahrgenommen wird. Die Musik von Meskerem Mees ist einfühlsam, lyrisch, klar strukturiert und wesentlich reifer, als es ihr Alter vermuten lässt. Ihre Texte gehen dabei weit über die übliche Kalenderblatt-Psychologie hinaus. Sie behandeln persönliches genauso wie sozialkritisches, bleiben dabei aber nachvollziehbar und bedienen auch poetische Erwartungen. Die Künstlerin reiht sich scheinbar mühelos in die Garde der aktuellen Qualitäts-Folk-Künstlerinnen ein, die unter anderem von Laura Marling, Bedouine, Charlene Soraia, Sophie Zelmani, Ane Brun oder Joan Shelley besetzt wird.

    Aber es bleibt noch eine Frage unbeantwortet: Wer ist Julius? Ist das tatsächlich der Esel, der auf dem Cover-Foto abgebildet ist oder vielleicht doch ein Sinnbild für einen Ex-Freund? Wer es auch immer sei, er kann sich glücklich und geehrt schätzen, dass ihm dieses sehr gelungene Debut-Album gewidmet worden ist.
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    • Song For Our Daughter Laura Marling
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    • Waysides Bedouine
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      Over And Even (CD)
    Illusions & Realities Illusions & Realities (CD)
    13.11.2021
    Klang:
    4 von 5
    Musik:
    4 von 5

    Das Levitation Orchestra verbindet spirituellen Jazz mit Soul-Gespür und Kunstverstand.

    In den 1970er Jahren gab es eine Fülle von unterschiedlichsten Jazz-Fusionen: Herbie Hancock, Chick Corea, Miles Davis, John McLaughlin, Oregon oder Weather Report waren einige der prominenten Vertreter, die dem Jazz ein neues Gesicht gaben und ihm durch Klassik-, Weltmusik-, Funk-, Rock-, Soul-Beigaben sowie frei improvisierten Passagen in der Tradition von Ornette Coleman, Charles Mingus oder Sun Ra einen offenen Charakter verschafften. In diesem Fahrwasser bewegt sich auch das Levitation Orchestra, das einen sehr weit gefassten Begriff der Stil-Mixe auslebt, wobei auch eine starke spirituelle Ausprägung zum Tragen kommt, wie sie beispielsweise Alice Coltrane (die Witwe von John Coltrane) in ihren Werken auslebte.

    Mit aktuell 14 Mitgliedern und 10 verschiedenen Instrumenten handelt es sich bei dem Musiker-Kollektiv aus London wahrlich um ein recht üppig ausgestattetes Orchester mit breit gefächerten Ausdrucksmöglichkeiten, wobei zwei Stimmen das Instrumentalgeflecht wohltuend auffächern. "Illusions & Realities" ist das zweite Werk der schlagkräftigen Gruppe, nach "Inexpressible Infinity" aus 2019. Das Album erscheint als LP am 29. Oktober 2021 und als CD am 12. November 2021.

    "Illusions & Realities" beginnt mit dem zweiteiligen Stück "Life Is Suffering / Send And Receive Love Only": Die von Natur aus wie ein Instrument aus einer anderen Welt klingende Harfe wird hier feingliedrig und kristallklar gezupft, so dass sie einen höchst filigranen Eindruck hinterlässt. Sie eröffnet für die weichen Geigen- und Flötentöne, die die Stimmung wie mit Seide überzogen ausfüllt, bevor ein satter Rhythmus für straffe Konturen sorgt. Die Sängerin und Multiinstrumentalistin Plumm aus Südlondon gibt dann mit ihrer markanten, herb-leidenden Stimme, die sowohl von Nina Simone wie auch von Janis Joplin beeinflusst ist, ein eindeutiges Statement ab: "Ich vertraue meiner Erfahrung, auch wenn sie seltsam ist." Sie stellt damit das Bauchgefühl als Ratgeber über den Verstand. Nach dem Gesangsbeitrag übernimmt eine verträumte Querflöte die Führung und bringt das Tempo allmählich zum Erliegen.

    "Listen To Her" bekommt seine eigentliche Inspiration aus der asiatischen und afrikanischen Folklore. Diese Inhaltsstoffe hinterlassen allerdings nur flüchtige Duftmarken, so dass noch Raum für weitere Abenteuer bleibt. Der wilde, verrückt-vertrackte Progressive-Rock von Van Der Graaf Generators "Pawn Hearts" aus 1971 findet ebenso seinen Anklang wie auch ein Bass-dominiertes Spiel in Erinnerung an Charles Mingus, das von den wütend-provozierenden Spoken Words der Londoner Sängerin Dilara Aydin Corbett begleitet wird. Danach spielen sich der musikalische Leiter Axel Kaner-Lidstrom an der Trompete und die Tenor-Saxophone die solistischen Bälle zu.

    "Spiral (Die, Die, Die)" beschreibt einen Thriller-Jazz der besonders aufwühlenden Art: Zunächst wird Angst und Fluchtverhalten ausgedrückt, dann folgt die eigentliche Verfolgung, worauf Verwirrung eintritt und ein paar Schockakkorde ausgesendet werden. Statt eines eindeutigen Endes bleibt der Ausgang der Story allerdings offen.

    Für "Delusion" wird medizinisch als fachliche Ansprache erläutert, welche Verletzungen Wahnvorstellungen hervorrufen können. Vorher gibt es noch einen von Plumm versöhnlich gesungenen Abschnitt in einem turbulenten Big-Band-Taumel, bei dem die Begriffe Verwirrung, Klarheit, Fantasie, Illusion und Realität nebeneinander gestellt und als mögliche Wahrnehmungsmöglichkeiten angesehen werden. Danach übernimmt ein überhebliches, teils unbeherrscht agierendes Saxophon den Ton und drängt die anderen Teilnehmer in die Statistenrolle. Das gilt, bis Plumm mit menschlicher Wärme die Strenge auflöst und die Musik kurzzeitig wieder ausgleichend gestimmt ist. Aber dann legt sich eine bedrohliche Dramatik auf das Geschehen, die von den Geigen in ein orientalisch anmutendes Intermezzo übergeleitet wird. Auch diese Stimmung ist nicht von Dauer, es folgt dann die schon angesprochene Lesungs-Sequenz, die mit arabischem Flair ausklingt.

    Die nächste mehrteilige Komposition heißt "Child" und ist in vier Abschnitte eingeteilt. "Part I" ist ein hingebungsvoller, von einer ruhigen E-Gitarre getragener Track, der Kontakt mit dem Weltraum aufnimmt und von geistlich geprägten Chorstimmen dorthin begleitet wird.

    Das instrumentale "Part II" fühlt sich nicht nur im psychedelisch groovenden sondern auch im weltmusikalisch geprägten Jazz wohl, was zu einem globalen Musikverständnis führt.

    "Part III" lässt dann wieder die in mystische Gefilde gleitende Harfe erklingen. Die leitende Geige ist hier sowohl romantisch wie auch alarmierend gestimmt, so dass der Track eine esoterisch angehauchte und eine aufregende Rolle übernimmt. Die Spoken Words verleihen dem Track zusätzlich eine beschwörende Komponente.

    "Part IV" steht wieder voll auf dem Boden der Tatsachen. Zunächst wird die aufgebaute Spannung aufgelöst. Friedlich-beschwingt geht es los, aber nach fünf von acht Minuten Laufzeit wendet sich das Blatt. Das bislang kooperative, beinahe handzahme Saxophon begehrt mehr und mehr auf, erkämpft sich Freiräume und stachelt die übrigen Mitspieler zu energischen Aktionen an.

    Elemente der dramatischen modernen Klassik vermitteln die über eine lange Zeit tonangebenden Streicher bei "Between Shadows". Das reicht von elegischer Trauer über schillernde Meditation bis hin zu prickelnd-improvisierter Tondichtung.

    "Many In Body, One In Mind" könnte das Motto des Ensembles sein, denn die Akteure legen es stets darauf an, eine spannende Gesamtleistung abzuliefern, wobei jeder Musiker eine Möglichkeit erhält, sich auszudrücken. Das gilt besonders für dieses Abschluss-Stück, das eine furiose Reise durch alle bisher durchlaufene Stile und Formen darstellt. Diese Zusammenfassung ist ein Aushängeschild für die Möglichkeiten, die in der Formation stecken. Durch ihre vielfältigen instrumentellen und stimmlichen Optionen ist ein Ende des Abenteuers noch lange nicht absehbar und lässt für die Zukunft noch einige Abstecher in unzugängliche Bereiche offen.

    Das Levitation Orchestra bringt Schwung und Bewegung in die teils verkrustete Jazz-Landschaft. Die Musik deckt Bedürfnisse nach Anregung, Harmonie, Überraschung und handwerklich ausgefeilter Technik ab und kann somit jedem empfohlen werden, der sich anspruchsvoll unterhalten lassen will. Die Inspirationen aus der Vergangenheit sorgen im Zusammenspiel mit Musikformen wie HipHop oder modernem R&B für ein Gefühl des Aufbruchs und der Suche nach einer individuellen Handschrift, die sich dem strengen Diktat einer eindeutigen Stilzuordnung entzieht. Das Levitation Orchestra ist auf dem besten Wege, dieses Ziel zu erreichen.
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    The Future Nathaniel Rateliff
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    07.11.2021
    Klang:
    4 von 5
    Musik:
    4 von 5

    Was wird die Zukunft bringen? Das fragt sich Nathaniel Rateliff mit sorgenvollem und auch hoffnungsvollem Blick. Musikalisch lässt er allerdings keine Fragen offen: Die Zukunft gehört ihm!

    "The Future" ist nach "Nathaniel Rateliff and The Night Sweats" (2015) und "Tearing At The Seams" (2018) das dritte Studio-Album des Sängers und Komponisten Nathaniel Rateliff, welches mit seiner Formation, dem Septett The Night Sweats eingespielt wurde.

    Rateliff ist in vielen Genres zuhause, greift Referenzen aus unterschiedlichsten Einflüssen ab und hält vielfältige Assoziationen bereit. Egal ob Soul, Rhythm & Blues, Country, Folk, Roots-Rock oder Pop, der Mann macht keine Kompromisse. Seine Interpretationen sind frei von billigem, amateurhaftem Kitsch. Das ist der pure, ursprüngliche heiße Stoff, der die Seele glühen und den Körper zucken lässt.

    Obwohl der eröffnende Track "The Future" jede Menge Country-Wehmut enthält, verbrüdert er sich alsbald mit den Segnungen des Southern-Soul und gerät so zu einer saft- und kraftvollen Ballade, die beweist, dass die Verbindung von "weißen" und "schwarzen" Musik-Stilen zu besonders emotionalen Erlebnissen führen kann. Gesanglich bindet das Stück Merkmale von zwei Giganten der Pop-Musik ein: Rateliff dehnt manche End-Silben quengelig-genervt wie Bob Dylan und schreit seinen Frust gequält-gurgelnd raus wie John Lennon. Assoziation: "Up On Crickle Creek" (The Band, 1968)

    Bei "Survivor" geht es krachend und energisch zur Sache. Ein mächtiger Funk-Rock-Takt sorgt für gewaltigen Druck, der gesanglich teils ausgleichend aufgefangen, teils aggressiv und aufgebracht verstärkt wird. Satte Bläsersätze vermitteln dem Song dann noch eine souveräne, lässige, tanzbare Eleganz. Assoziation: "Howlin` For You" (The Black Keys, 2010)

    "Face Down In The Moment" durchzieht eine sakrale Gospel-Stimmung, die von schwelgenden Chören, sanft unterstützenden Bläser-Fanfaren und rauschenden Hammond-Orgel-Tönen noch verstärkt wird. Assoziation: "Hallelujah" (Leonard Cohen, 1984)

    "Something Ain’t Right" entpuppt sich danach als gemütlicher Retro-Rhythm & Blues mit romantischem Pop-Herz. Assoziation: "The Blues" (Randy Newman, 1983)

    Ein beschwingter Jazz-Rhythmus treibt nach verhaltenem Beginn "Love Me Till I’m Gone" an. Bei dem Track lässt sich Nathaniel Rateliff jedoch nicht durch den Schwung aus der Ruhe bringen. Er zieht seine individuellen Kreise, wobei der Stil-durchkreuzende Sänger durch einige emotionale Höhen und Tiefen geht. Abwechselnd finden neben sachlichen Erläuterungen auch angespannte Erregungen und zornige Ausbrüche statt. Assoziation: "Saint Dominic`s Preview" (Van Morrison, 1972)

    Verspielt und cool geht es bei "Baby I Got Your Number" zu, wobei sich Nathaniel zwischendurch in einer speziellen Kreation des lautmalerischen Scat-Gesangs übt. Seine Mitstreiter erzeugen unterdessen einen entspannten, karibisch angehauchten Cocktail-Jazz. Assoziation: "You Don`t See Me" (Al Jarreau, 1975)

    Elegant, mit ansteckendem Smooth-Soul-Groove ausgestattet, umgarnt "What If I" die Gehörgänge. Das Stück erscheint gleichzeitig souverän, aufrichtig und sympathisch. Wie gemacht für das Kultur-Radio. Assoziation: "Nothing Ever Happens" (Del Amitri, 1989)

    Wie ein gebändigtes Funk-Monster gebärdet sich "I’m On Your Side". Es ist zwar domestiziert, wartet jedoch auf seine Chance, aus der Deckung zu kommen und die Herrschaft zu übernehmen. Das passiert aber nicht, die Bestie bleibt weitestgehend unter Kontrolle und verströmt seine animalische Kraft, die sich für mehr Solidarität und Toleranz einsetzt, nur unterschwellig. Assoziation: "25 Or 6 To 4" (Chicago Transit Authority, 1969)

    "So Put Out" wildert im Gebiet von pechschwarzem Rhythm & Blues und zackigem Funk, ist nicht unbedingt ungestüm, aber dennoch scharf wie Chili und bissig wie eine Cobra. Assoziation: "I Can Only Give You Everything" (Nick Waterhouse, 2012)

    Folk und Reggae treffen für "Oh, I" aufeinander und verbreiten eine trügerische Latin-Sound-Stimmung. Assoziation: "Do You Want My Job" (Little Village, 1992)

    Der Motown-Sound aus Detroit, der in den 1960er Jahren Formationen wie The Supremes, The Temptations oder die Four Tops hervorgebracht hat, bildet die Grundlage des stampfenden, mitreißenden "Love Don’t", einem Appell an die Liebe. Der Track hält seinen schweißtreibenden Takt über 5 Minuten hinweg aufrecht und The Night Sweats stacheln Nathaniel Rateliff immer wieder zu ungestümen Ausbrüchen an. Assoziation: "Uptight (Everything`s Alright)" (Stevie Wonder, 1965)

    Nathaniel Rateliff brauchte eine Pause vom unsteten Rock & Roll-Leben, den Zwängen des Musik-Business und den Schattenseiten des Erfolges. Deshalb nahm er 2020 das von Harry Nilsson inspirierte Solo-Album "And It`s Still Alright" auf, dass ihn als nachdenklichen Singer-Songwriter zeigt. Denn er musste nicht nur das Ende seiner Ehe, sondern auch den Tod seines Freundes Richard Swift verarbeiten. Nun hat sich Rateliff wieder in den Schoß seiner eingespielten, verlässlichen Stammformation fallen lassen, was ihm hörbar gut tut. Denn mit dieser Unterstützung kann er sich ungehemmt artikulieren, gefühlvoll sein, aber auch richtig aus sich raus gehen, wenn es nötig ist.

    Nathaniel Rateliff and The Night Sweats regen an. Sowohl die Frage nach der Einordnung der Songs in die Pop-Historie, wie auch die Aktivierung der Hypophyse, die für die Produktion von Glückshormonen zuständig ist. "The Future" mag auf den ersten Blick nur Retro-Sounds aktivieren, in Wirklichkeit werden aber zeitlose Songwriter-Tugenden präsentiert, die die Musik zu einem Ganzkörper-Erlebnis machen.

    Der Produzent Bradley Cook (Bon Iver, The War On Drugs, Hiss Golden Messenger) hat dafür gesorgt, dass Nathaniel bei seinen Kompositionen nicht nach Songs für Solo- oder Band-Alben unterscheidet, sondern einfach die stärksten als aktuelle Bestandsaufnahme für "The Future" auswählt. Das hat sich ausgezahlt, denn es gibt tatsächlich kein Füll-Material auf dem Werk. Nathaniel Rateliff and The Night Sweats gehört die Zukunft, auch wenn sie musikalisch aus der Vergangenheit schöpfen.
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    What Then? David Keenan
    What Then? (CD)
    26.10.2021
    Klang:
    5 von 5
    Musik:
    5 von 5

    Der Ausnahmemusiker David Keenan präsentiert sein zweites Werk.

    Es gibt Neuigkeiten vom ungestümen, poetischen, gefühlsbeladenen irischen Singer-Songwriter David Keenan. Er begibt sich mit einem autobiographischen Hintergrund auf Spurensuche und beleuchtet unter anderem Situationen, die für ihn richtungsweisend waren. Mit "What Then?" legt David Keenan nach "A Beginner`s Guide To Bravery" aus 2020 sein zweites Album vor. Es klingt jedoch nicht nach einem Newcomer, der noch seinen Weg sucht, sondern nach einem schlüssigen Gesamtkonzept eines erfahrenen, etablierten und souveränen Musikers, das keinerlei Spuren von Unsicherheit aufweist.

    David Keenan betätigt sich bei "What Then Cried Jo Soap" als beseelter Prediger, der diesem Hypno-Blues, der über eine sensible Country-Seite verfügt, mit seinem beschwörenden, leidenschaftlichen Gesang exakt die Portion Exzentrik vermittelt, die den Song sowohl angriffslustig wie auch zugänglich erscheinen lässt. Der Rhythmus imitiert einen Chain-Gang-Arbeits-Takt und die Dynamikwechsel, die von beschwichtigend bis aufwühlend reichen, tragen zur Extravaganz bei - ein Markenzeichen des Iren. Zum Inhalt des Tracks sagt David: "In diesem Lied geht es um die Sehnsucht nach Sinn und Bedeutung im eigenen Leben. Das sind menschliche Kämpfe, die wir alle nachempfinden können - wir sind alle Jo Soap - verstärkt wie nie zuvor durch das große Trauma, das unser aller Leben seit Beginn der Pandemie auf unzählige Arten beeinflusst hat."

    "Bark" verfügt über eine Qualität, die sich mit den Ruhmestaten von Tim Buckley auf "Greetings From L. A." messen kann: Schwelgende Streichinstrumente agieren losgelöst vom sonstigen Geschehen, wobei teilweise ein gehetzter Eindruck, dann wieder eine ausgleichende, Ruhe anstrebende Stimmung hinterlassen wird. Das sorgt für Verwirrung und fordert die Hörerschaft heraus, sich auf einen ungewissen Ablauf einzulassen. "Beggar To Beggar" arrangiert sich mit deutlichen, unmittelbar wirkenden Zutaten: Das Grundgerüst besteht aus einer milden Folk-Pop-Melodie und gewinnenden, wohlgesonnenen Streicher-Arrangements, was zusammen mit Davids engagierter Soul-Stimme für eine unsentimentale, stolze Ballade sorgt.

    Von Sehnsüchten zerrissen fleht Keenan in dem wolkig-verschwommenen "Philomena": "Tell Me Your Story", obwohl er ansonsten lange als nüchterner Erzähler auftritt. Zum Ende hin steigert sich die Intensität nach und nach bis es zur Implosion kommt. Die oft aufgebracht zitierten "Peter O’Toole’s Drinking Stories" enthalten intime Aussagen, die wie eine wilde Beichte ungefiltert, ungeniert und unverschämt herausgeschleudert werden. Die Texte umranken unruhige Folk-Rock-Töne, die ständig unter Strom zu sein scheinen.

    Für "Hopeful Dystopia" baut der agile Musiker ein aufwändiges Art-Pop-Gebilde auf, das Dramatik, Erlösung, Harmonie und ungehemmte Lebensfreude skizziert. Entsprechend des Titels "The Grave Of Johnny Filth" ist hier eine melancholisch-erregte Lesung mit stichelnden Rhythmen und ergriffen kondolierenden Streichern zu erwarten. "The Boarding House" entführt in eine Broadway-Musical-Welt, die es so nie gegeben hat. Das Stück transportiert genau wie die Vorlagen aus "West Side Story" von Leonard Bernstein oder "Rhapsody In Blue" von George Gershwin starke Gefühlsregungen, allerdings in verschwommenen Polaroid-Farben.

    Die orchestral aufgewertete Folklore von "Me, Myself And Lunacy" mag oberflächlich romantisch angelegt sein, erhält durch seine raffinierte, feinnervig-sensible Aufmachung aber eine scharfsinnig-spannende Ausrichtung. "Sentimental Dole" beinhaltet das Feuer des Flamenco als dosiert eingesetzten Antrieb und die Unmittelbarkeit des Folk als Transportmittel für die Aussagen. Instinkt und Intellekt treffen so befruchtend aufeinander. Mit "Grogan’s Druid" legt David Keenan eine locker erscheinende Folk-Pop-Nummer nach, die ihre Kraft aus der Ruhe und Gelassenheit schöpft.

    David Keenan ist ein getriebener, von seinen Dämonen gejagter, äußerst ausdrucksstarker Musiker, der auf der Suche nach Harmonie und Liebe ist. Seine Bedürfnisse möchte er befriedigen, indem er sich mit seiner Vergangenheit auseinander setzt, sie verarbeitet und auf diese Weise Konflikte auflöst. Dieser Prozess setzt Energie und Kreativität frei, die er mit "What Then? " in bemerkenswert aufrüttelnde und intime Songs gießt.

    Man stelle sich den jungen, grimmigen, souligen Van Morrison in Kombination mit dem poetischen Rebellen Jim Morrison und dem hyper-sensiblen, nach neuen Ausdrucksformen suchenden Tim Buckley vor, dann entsteht ein ungefährer Eindruck von dem, was einen bei "What Then?" erwartet.

    Im dokumentarischen Konzertfilm "Alchemy & Prose" spricht Keenan davon, dass er seine künstlerische Freiheit dazu nutzt, die Welt zu erkunden und die erlangten Erfahrungen durch Songs an seine Fans zurückzugeben. Man hilft sich also gegenseitig dabei, emotional und intellektuell zu wachsen. Was für eine komfortable Win-Win-Situation!
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    A Estranha Beleza Da Vida Rodrigo Leão
    A Estranha Beleza Da Vida (CD)
    15.10.2021
    Klang:
    5 von 5
    Musik:
    5 von 5

    Die Betörung der Sinne erfolgt durch das Verständnis der seltsamen Schönheit des Lebens.

    Der portugiesische Musiker und Komponist Rodrigo Leão ist mit seinem neunzehnten Volle-Länge-Werk (wieder einmal) der seltsamen Schönheit des Lebens auf der Spur. Er lässt seine Kompositionen gerne wie einen Film ablaufen, mit Haupt- und Nebendarstellern, die phantasievolle Geschichten erzählen, welche unterschiedliche Gefühlsebenen offenbaren. Dabei entstehen dann wie selbstverständlich seltsame, schöne, ungewöhnliche und auch vertraute Tondichtungen, die speziell, aber auch eingängig sein können. "A Estranha Beleza da Vida" ist voll von solchen Gebilden, die durch ihren eigentümlichen Charme lange Schatten werfen, die nachhaltige Höreindrücke gewährleisten.

    Die russisch-stämmige, in Kanada lebende Singer-Songwriterin Michelle Gurevich, die auch schon unter dem Namen Chinawoman Musik gemacht hat, leiht ihre laszive Alt-Stimme - die stellenweise an Chrissie Hynde von den Pretenders erinnert - der Eröffnungsnummer "Friend Of A Friend". Die kurzen Akkorde der Geigen weisen Elemente der modernen Klassik auf und tragen zum Tanz-Rhythmus bei. Die Streich-Instrumente könnten sich aber genauso in einem Kaffeehaus-Orchester wohl fühlen. Wenn sie ihre schwelgenden Töne absondern, scheinen sie den Soundtrack für einen romantischen Film abzubilden, der von Pop-Leichtigkeit gespeist wird. Diese gegenläufigen Tendenzen tragen zur Eigenartigkeit dieses Songs bei, der sowohl agile wie auch versonnene Momente aufweist.

    Mit "A Sala" erschafft Rodrigo eine Klangebene, für die der Begriff Easy Listening wie geschaffen ist, so entspannend und zugänglich legen sich die Töne auf die Hörnerven. Auch "Sibila" hat die Ruhe weg: Tropfend, klopfend und klingelnd erinnern die Schwingungen an das rhythmisch bestimmte Schulwerk von Carl Orff, wobei hier ein indisches Harmonium die bedächtige Melodieführung übernimmt.

    Für "Who Can Resist" suhlt sich Kurt Wagner von Lambchop mit seinem knurrigen Bariton im nostalgischen Cabaret-Jazz. Dabei füllt er seine Rolle als erhabener Schnulzensänger voll aus. Zur Unterstützung breiten die Instrumente eine sentimentale Atmosphäre vor ihm aus. Bei "45 Segundos" ist der Name Programm, denn das todtraurige, von Streichinstrumenten aufgeführte Stück hat (fast) genau diese Länge.

    Die portugiesische Sängerin Débora Umbelino, die sich Surma nennt, verleiht dem geisterhaften Klanggebilde "O Ovo do Tempo" durch ihren sphärischen Gesang eine eindringlich-gespenstische Note. Die fragile und klangmalerische Begleitung übernehmen ausschließlich Synthesizer und ein akustischer Stand-Bass. Die spanische Sängerin Martirio kennt sich im Flamenco aus und gibt der dunklen Calexico-Style-Ballade "Voz de Sal" danach eine leidend-folkloristische Färbung mit.

    "Introdução nº 8" klingt wie die Einleitung zu einem Film mit tragisch geprägtem Inhalt, während "A Valsa da Petra" spritzig-perlend und schunkelnd doch eher eine genießerische, frankophile Lebensart in den Vordergrund rückt. Bei "O Maestro" hat der Tango deutliche Spuren hinterlassen, was den Track mondän und lustvoll erscheinen lässt, wogegen "Old Happiness" getragen und schwermütig nach ernster "Hochkultur" klingt und "Janeiro 2021" ausgleichend, hell und harmonisch aufgestellt ist.

    Das Licht des Polarsterns soll Orientierung geben und so sorgt auch "Estrela do Norte" für eine klare Ausrichtung auf ein ergriffen-besinnliches musikalisches Thema. Der Gitarrist, Komponist und Produzent Suso Sáiz war ein Pionier der New Age-Musik in Spanien und hat den Track "A Estranha Beleza da Vida" durch eine idyllisch-neblige Klanginstallation geprägt, die Alltagsgeräusche genauso wie Space-Sounds enthält. Schönheit liegt im Auge des Betrachters und muss nicht unbedingt nur positiv gestimmt sein.

    Kunst ist manchmal eine ernste, trockene Angelegenheit. Nicht so bei Rodrigo Leão, denn weil seine Kompositionen so vielfältig dargeboten werden, kommt keine Langeweile auf und weil er nicht provozieren möchte, klingen seine Werke so würdevoll. "A Estranha Beleza da Vida" feiert das Leben in all seinen Facetten und zelebriert eine akustische Weltreise. Die Platte überzeugt durch Einfühlungsvermögen und formvollendete Arrangements. Ein besonderer Triumpf der seltsamen Schönheit des Lebens!
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    A Liberdade A Liberdade (CD)
    15.10.2021
    Klang:
    4 von 5
    Musik:
    5 von 5

    "A Liberdade" fügt die Rodrigo Leão-Werke "O Método" (2020), "Avis 2020" (2020) und "A Estranha Beleza da Vida" (2021) zu einem sinnvollen Gesamtpaket zusammen.

    Rodrigo Costa Leão Muñoz Miguez oder kurz Rodrigo Leão ist eine Künstlerinstitution in Portugal. Bevor er Mitte der 1980er Jahre Gründungsmitglied und Keyboarder der Weltmusik-Kapelle Madredeus wurde, spielte er schon ab 1982 Bass in der New Wave-Band Sétima Legião, die stark vom düsteren Klang von Joy Division beeinflusst war, sich aber auch traditioneller Folklore verschrieb, der sie einen modernen Pop-Anstrich verlieh. Das Gedankengut, dass die Aufhebung von Stilgrenzen einen Mehrwert bei der Gestaltung von Kompositionen hervorbringt, war also schon immer ein Grundpfeiler in der Musik von Rodrigo Leão. Wobei seine Zutaten ständig verfeinert und ergänzt wurden.

    Ab 1993 gab es dann auch Solo-Veröffentlichungen, die ihm weltweite Anerkennung und etliche Auszeichnungen einbrachten. Seine Kompositions-Mixtur beinhaltet sowohl Einflüsse aus der modernen Klassik wie auch vielfältige cineastische Züge, traditionelle portugiesische Fado-Sequenzen, Elektronik-Gefrickel und Minimal-Art-Einschübe sowie diverse Pop-Bausteine. Alles fein abgestimmt, geschmackvoll angerichtet und künstlerisch wertvoll aufbereitet.

    Rodrigo Leão nahm im Jahr 2017 "Life Is Long" gemeinsam mit dem aus Australien stammenden und in New York lebenden, introvertierten Singer-Songwriter Scott Matthew auf. Die dort vorgestellten Klänge bestanden zum großen Teil aus melancholischem Pop kammermusikalischer Prägung, mit überschäumendem Pathos beim Gesang und Feingefühl bei der instrumentellen Inszenierung. Das Werk ist ein weiteres Beispiel dafür, wie sensibel der Portugiese aus Lissabon Gastmusiker- und -stimmen in seine Klangvorstellungen aufnimmt. Sie werden stets so überzeugend integriert, als wären sie die einzige und optimale Wahl für den jeweiligen Track.

    Dieses Prinzip setzt sich auch bei "O Método" fort, dem dienstältesten Werk der "A Liberdade"-Trilogie, dessen Ideenfindung schon bei der 2017er-Tournee zu "Life Is Long" begann, dessen Ergebnis aber erst 2020 veröffentlicht wurde. Um neue Einflüsse aufzunehmen, wurde der italienische Komponist und Pianist Federico Albanese als Produzent engagiert, welcher minimalistisch-ätherische Arrangements bevorzugt.

    Rodrigo Leão vermittelt seinen Hörerinnen und Hörer mit "Ideia 1" die Befriedigung des tiefen Verlangens nach Ruhe und Geborgenheit. Die Klarinette wirbt für Vertrauen, das Piano übt sich in Gelassenheit und ein Synthesizer-Akkordeon führt uns mit wellenartigen Tönen gedanklich ans Meer.

    Bevor der kindliche Gesang von Rodrigos Tochter Sofia bei "A Bailarina" mit ausgedachten Worten einsetzt, hört man noch ein Summen, das nach einer gestopften Trompete klingt. Die "Tänzerin" tanzt bei dem Stück auf verschiedenen Hochzeiten: Was gedankenversunken beginnt, mündet in einem unschuldig wirkenden Kinderlied-Kontext, begleitet von einem Jugend-Chor, bevor das Lied langsam an pulsierendem Rhythmus gewinnt. Eine sehnsüchtige Geige versucht, die einsetzende stimulierende Wirkung abzuschwächen, aber der Track wird zu einem pochenden Electro-Pop mit sanfter Seele aufgebauscht.

    Der Produzent Federico Albanese beschäftigt sich viel mit Neo-Klassik und Ambient-Sounds. Er hat unter anderem dazu beigetragen, dass der Track "O Método" trotz des Einsatzes eines klassischen Streichquartetts einen unverkrampften Anstrich bekommen hat.

    "The Boy Inside" präsentiert den Sänger Casper Clausen von Efterklang. Wenn man so will, ist er ein Geistesverwandter von Rodrigo Leão, wenn es darum geht, eine Kunstform zu entwickeln, die Pop, Klassik und Avantgarde so miteinander vereint, dass die einzelnen Genres ihre Bedeutung verlieren und in einem neuen Verständnis von anspruchsvoll-ästhetischer Musik aufgehen. In diesem Fall werden die Töne aus Geheimnissen, Unbehagen und Ruhelosigkeit gespeist, wie es Rodrigo Leão ausdrückt.

    "Transporte" transportiert pure schwebende Ambient-Klänge, die sich ganz langsam dynamisch steigern. Sie enden jedoch, bevor sie aggressiv zu werden drohen. Ein ähnlicher Schwebezustand begleitet "Red Poem". Der Song findet aber letztlich eine rhythmische Auffrischung und der Gesang der ausdrucksstarken Sopranistin Ângela Silva verwandelt das Stück ohne Anstrengung in klangliches Gold.

    Das verwunschene Spaghetti-Western-Flair von "O Cigarro" wird von weichen, wolkigen Chor-Gesängen in Traumlandschaften entführt, bevor der russische Lead-Gesang der Geigerin Viviena Tupikova eine desillusionierte Strenge über die friedlichen Klänge legt. Der optimistische Grundton kann sich deshalb nie vollständig entfalten. Die bedrückende Stimmung von "O Convite" wird durch federnd-wabernde elektronische Loops aufgeweicht, so dass die traurige Gefühlslage ihren beherrschenden dunklen Einfluss ein wenig einbüßt.

    "Loutolim" ist der Name einer Kirche in Goa (Indien), dessen Chor Rodrigo inspiriert hat. Das Stück lässt eine gewisse "Twin-Peaks"-Seltsamkeit aufkommen. Genau wie in Teilen des von Angelo Badalamenti geschriebenen Soundtracks für die Mystery-Thriller-Serie von David Lynch aus den 1990er Jahren, entsteht auch hier eine geheimnisvoll-undurchsichtige Atmosphäre.

    Wogende Keyboard-, Chor- und Streicher-Passagen geben dem Stadtbild von "Dresden" einen lebendig-beweglichen Anstrich. Es herrscht in dieser Momentaufnahme allerdings kein buntes Treiben, sondern eine übersichtliche, ruhige Beschaulichkeit. "Lula Mistério" lässt musikalisch keinen Zweifel darüber aufkommen, dass sich hinter dem Titel ein unbehagliches Mysterium versteckt. Zu dramatisch laufen die Sequenzen ab, um an eine harmlose Situation denken zu können. Gefahr lauert an jeder Ecke, sie zeigt jedoch nicht ihre Gestalt und schlägt nicht zu.

    "Parte 1" erzeugt auf eine sich nach und nach steigernde Weise eine Spannung, die furchteinflößende Gegebenheiten vor dem geistigen Auge entstehen lässt. "O Método" ist sowohl eine milde Streicheleinheit wie auch eine attraktive Stimulation für die Sinne. Der Höreindruck ist wie barfuß laufen auf unterschiedlichen Untergründen: Man hat bestimmte Vorstellungen davon, wie sie sich anfühlen mögen, aber erst der Versuch macht klug. So ist es auch hier: Theoretisch gibt es eine Vorstellung davon, wie sich kammermusikalischer Weltmusik-Electronic-Pop wohl anhören mag, aber wie raffiniert-beseelt solch eine Verbindung umgesetzt werden kann, vermittelt nur der Selbst-Hör-Versuch.

    Die neun Stücke der "Avis 2020"-EP sind von den Klängen der Natur inspiriert worden und wurden bisher ausschließlich digital veröffentlicht. Die daheim von Rodrigo mit Synthesizer und Gitarre eingespielten Klänge finden jetzt endlich bei "A Liberdade" den richtigen Rahmen und eine zweckmäßige, nützliche Verwendung.

    "Transporte 20" klingt tatsächlich wie die Untermalung einer Natur-Dokumentation, wenn die Kamera über faszinierende Landschaften fliegt: Besonnen, fließend-schwebend, beobachtend und die Schönheit der Bilder einfangend.

    Dieser erhabene, in sich ruhende Aspekt zieht sich auch bei "A Primeira Ideia" fort. Ätherisch verwehte Stimmen und ein paar sehr langsame Keyboard-Tupfer reichen, um Töne in pure Schönheit und Anmut zu verwandeln.

    Vogelgezwitscher, Synthesizer-Zirpen und -flirren sowie wenige gezupfte fremdartige Töne, fertig ist das meditative Klang-Mosaik von "Terra de Barro". Die Noten perlen bei "O Jasmim" wie Regentropfen nieder, bevor eine akustische Gitarre und ein Klavier einen vitalen Klassik-Folk-Sound erzeugen.

    "O Piano de Maio" ist eine Piano-Solo-Nummer, bei der ein zügiges, fröhliches, plätscherndes Spiel von lähmender Tragik abgelöst wird. Die elektronische Spielerei "Gatos às Voltas" löst dann Erinnerungen an Glockenspiele aus.

    Für "Tempo de Espera" werden Outdoor-Aufnahmen von scheinbar rückwärts laufenden Tongebilden überlagert und Oboen-artige Schwingungen erzeugen als Kontrast echohafte Wohlfühl-Momente. "Os Sobreiros" scheint klirrende Kälte vertonen zu wollen und bei "Caminhos de Avis" baut das Piano erregte Abläufe auf, die anschließend romantisch verklärt werden.

    "Avis 2020" beinhaltet neun Miniaturen, die wie zufällig zusammengewürfelt erscheinen. Wie spontane Ideen, die gesammelt wurden, um eigentlich irgendwann als Einleitungen, Zwischentöne oder Abschlüsse für noch unfertige Alben zu dienen. Skizzen, die es wert sind, nicht verloren zu gehen, aber bei ihrer Entstehung noch keinen festen Zweck erfüllten.

    Bei "A Estranha Beleza da Vida" erfolgt die Betörung der Sinne durch das Verständnis der seltsamen Schönheit des Lebens. Der portugiesische Musiker und Komponist Rodrigo Leão ist mit seinem neunzehnten Volle-Länge-Werk (wieder einmal) der seltsamen Schönheit des Lebens auf der Spur. Er lässt seine Kompositionen gerne wie einen Film ablaufen, mit Haupt- und Nebendarstellern, die phantasievolle Geschichten erzählen, welche unterschiedliche Gefühlsebenen offenbaren. Dabei entstehen dann wie selbstverständlich seltsame, schöne, ungewöhnliche und auch vertraute Tondichtungen, die speziell, aber auch eingängig sein können. "A Estranha Beleza da Vida" ist voll von solchen Gebilden, die durch ihren eigentümlichen Charme lange Schatten werfen, die nachhaltige Höreindrücke gewährleisten.

    Die russisch-stämmige, in Kanada lebende Singer-Songwriterin Michelle Gurevich, die auch schon unter dem Namen Chinawoman Musik gemacht hat, leiht ihre laszive Alt-Stimme - die stellenweise an Chrissie Hynde von den Pretenders erinnert - der Eröffnungsnummer "Friend Of A Friend". Die kurzen Akkorde der Geigen weisen Elemente der modernen Klassik auf und tragen zum Tanz-Rhythmus bei. Die Streich-Instrumente könnten sich aber genauso in einem Kaffeehaus-Orchester wohl fühlen. Wenn sie ihre schwelgenden Töne absondern, scheinen sie den Soundtrack für einen romantischen Film abzubilden, der von Pop-Leichtigkeit gespeist wird. Diese gegenläufigen Tendenzen tragen zur Eigenartigkeit dieses Songs bei, der sowohl agile wie auch versonnene Momente aufweist.

    Mit "A Sala" erschafft Rodrigo eine Klangebene, für die der Begriff Easy Listening wie geschaffen ist, so entspannend und zugänglich legen sich die Töne auf die Hörnerven. Auch "Sibila" hat die Ruhe weg: Tropfend, klopfend und klingelnd erinnern die Schwingungen an das rhythmisch bestimmte Schulwerk von Carl Orff, wobei hier ein indisches Harmonium die bedächtige Melodieführung übernimmt.

    Für "Who Can Resist" suhlt sich Kurt Wagner von Lambchop mit seinem knurrigen Bariton im nostalgischen Cabaret-Jazz. Dabei füllt er seine Rolle als erhabener Schnulzensänger voll aus. Zur Unterstützung breiten die Instrumente eine sentimentale Atmosphäre vor ihm aus. Bei "45 Segundos" ist der Name Programm, denn das todtraurige, von Streichinstrumenten aufgeführte Stück hat (fast) genau diese Länge.

    Die portugiesische Sängerin Débora Umbelino, die sich Surma nennt, verleiht dem geisterhaften Klanggebilde "O Ovo do Tempo" durch ihren sphärischen Gesang eine eindringlich-gespenstische Note. Die fragile und klangmalerische Begleitung übernehmen ausschließlich Synthesizer und ein akustischer Stand-Bass. Die spanische Sängerin Martirio kennt sich im Flamenco aus und gibt der dunklen Calexico-Style-Ballade "Voz de Sal" danach eine leidend-folkloristische Färbung mit.

    "Introdução nº 8" klingt wie die Einleitung zu einem Film mit tragisch geprägtem Inhalt, während "A Valsa da Petra" spritzig-perlend und schunkelnd doch eher eine genießerische, frankophile Lebensart in den Vordergrund rückt. Bei "O Maestro" hat der Tango deutliche Spuren hinterlassen, was den Track mondän und lustvoll erscheinen lässt, wogegen "Old Happiness" getragen und schwermütig nach ernster "Hochkultur" klingt und "Janeiro 2021" ausgleichend, hell und harmonisch aufgestellt ist.

    Das Licht des Polarsterns soll Orientierung geben und so sorgt auch "Estrela do Norte" für eine klare Ausrichtung auf ein ergriffen-besinnliches musikalisches Thema. Der Gitarrist, Komponist und Produzent Suso Sáiz war ein Pionier der New Age-Musik in Spanien und hat den Track "A Estranha Beleza da Vida" durch eine idyllisch-neblige Klanginstallation geprägt, die Alltagsgeräusche genauso wie Space-Sounds enthält. Schönheit liegt im Auge des Betrachters und muss nicht unbedingt nur positiv gestimmt sein.

    Kunst ist manchmal eine ernste, trockene Angelegenheit. Nicht so bei Rodrigo Leão, denn weil seine Kompositionen so vielfältig dargeboten werden, kommt keine Langeweile auf und weil er nicht provozieren möchte, klingen seine Werke so würdevoll. "A Estranha Beleza da Vida" feiert das Leben in all seinen Facetten und zelebriert eine akustische Weltreise. Die Platte überzeugt durch Einfühlungsvermögen und formvollendete Arrangements. Ein besonderer Triumpf der seltsamen Schönheit des Lebens!
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    Superblue Superblue (CD)
    10.10.2021
    Klang:
    4 von 5
    Musik:
    4 von 5

    Kurt Elling hat keine Zeit für Stillstand.

    Kurt Elling - ein Künstler der Superlative. Er gewann die renommierte Kritiker-Wertung der "Downbeat"-Jazz-Fachzeitschrift für den besten männlichen Sänger des Jahres zwischen 2000 und 2021 ganze unglaubliche 17-mal. Und das bei solch starker Konkurrenz wie Gregory Porter oder Theo Bleckmann. Hinzu kommen alleine 10 Grammy-Nominierungen für das beste Jazz-Gesangs-Album und noch diverse weitere Auszeichnungen. Das zeigt seine Einzigartigkeit, seine Anerkennung, sein immenses Talent und seine beständige Qualität. Stilistisch ist er kaum zu fassen: Das Great American Songbook gehört genauso zu seinem Repertoire wie Prosa-Lesungen und freie Improvisationen. Auf Grund seines vier Oktaven umfassenden Baritons klingt alles, was er von sich gibt, unangestrengt und so, als wären seine Möglichkeiten noch lange nicht ausgeschöpft. Seine Stimme reift wie guter Wein und wird von Jahr zu Jahr ausdrucksstärker.

    Größere Aufmerksamkeit erhielt der Künstler aus Chicago erstmals 1995 mit seinem Album "Close Your Eyes". Seitdem scheute er auch keine Abstecher in Jazz-fremde Gefilde und arbeitete grade für "SuperBlue" mit dem Fusion-Sound-Gitarristen und Produzenten Charlie Hunter sowie dem Keyboarder DJ Harrison und dem Schlagzeuger Corey Fonville von der Jazz-HipHop-Funk-Rap-Rock-Soul-Band Butcher Brown zusammen. Seine Kollegen konnte er jedoch für die Aufnahmen nicht persönlich treffen, über einen Online-Austausch brachten sie trotz der räumlichen Distanzierung jede Menge Energie, Dynamik und Druck in die aktuelle Musik ein, die aus Eigen- und Fremdkompositionen besteht.

    Der Album- und Song-Titel "SuperBlue" stammt ursprünglich vom Jazz-Trompeter Freddie Hubbard aus dem Jahr 1978. Elling hat einen Text dazu verfasst und greift den kraftvoll rollenden Jazz-Groove auf, lässt ihn langsamer laufen und nutzt die zähe Masse für eine ausgiebige Demonstration seiner gesanglichen Variationsfähigkeit.

    Mit dem knackigen, mondänen Funk-Jazz "Sassy" verfassten The Manhattan Transfer 1991 eine Hommage an die Jazz-Sängerin Sarah Vaughan. Die neue Version ist zickiger, angriffslustig und rhythmisch spritziger angelegt. Die Eleganz des Originals ist einer latenten Aggressivität gewichen.

    "Manic Panic Epiphanic" ist eine Ensemble-Leistung, die einen entspannten Ablauf in den Mittelpunkt des geschmeidigen Smooth-Soul stellt, der durch knackige Funk-Spritzer belebende Reize verordnet bekommt. Gesanglich gesellen sich Gospel-Anklänge ("He`s Got The Whole World In His Hands") zu Soft-Rock-Falsett-Stimmen, die mit Swing-Ansätzen in Konkurrenz stehen.

    Für "Where To Find It" bildete das Stück "Aung San Suu Kyi" von Wayne Shorter (ex-Weather Report) die Vorlage. Das Stück wurde nach der Politikerin aus Myanmar benannt wurde, die sich für eine gewaltlose Demokratisierung einsetzte. Kurt Elling baute das Gedicht "Animal Languages“ von Chase Twichell ein und phrasiert so souverän-selbstbewusst wie Frank Sinatra. Der neu entstandene Song gerät zu einer vollmundigen Komposition mit hypnotischen Takten, überraschenden Fills, manchen pfiffigen Wendungen und einem weichen, cremigen Flow.

    Wie selbstverständlich gleitet der unnachgiebig drängende Funk von "Can’t Make It With Your Brain" in ein selbstbewusstes Jazz-Chanson über und berücksichtigt auch noch provokativen Sprechgesang sowie wohlige West-Coast-Folk-Rock-Background-Stimmen.

    "The Seed" ist ein Song des R&B-Musikers Cody ChesnuTT, der sich durch seine Vielfältigkeit auszeichnet. Neben HipHop-Beats gibt es eine Funk-Rock-Gitarre, Folk- und Psychedelic-Soul-Zitate und eine feine Pop-Melodik zu hören. Abgrenzungen zwischen "schwarzer" und "weißer" Musik werden hier ad absurdum geführt. Die HipHop-Band The Roots nahm das Lied als "The Seed (2.0)" mit ChesnuTT als Sänger und Gitarrist in einer krachend-brodelnden Fassung neu auf. Nun gibt es auf "SuperBlue" eine frische Interpretation der Kurt Elling-Formation, die wesentlich aufgeräumter und ausgefeilter als die Vorlagen rüber kommt, auch wenn auf ein stacheliges Gitarren-Solo nicht verzichtet wurde.

    Mit "Dharma Bums" würdigt Kurt Elling den Schriftsteller Jack Kerouac zu seinem 100. Geburtstag. Neben Allen Ginsberg und William S. Burroughs war er einer der führenden Beat Generation-Autoren der 1950er Jahre. Sein Ruhm stützt sich hauptsächlich auf den Roman "On The Road", einer ekstatischen Reisebeschreibung voll von Sex, Drogen und Jazz. Als musikalisches Vehikel für ihre Hommage nutzen die Musiker überwiegend coolen Jazz-Pop, wie er auch auf "Aja" von Steely Dan zu hören ist.

    Aus dem von Tom Waits auf "Real Gone" (2004) zitierten "Circus" machen Elling & Co. einen schnellen Funk, wobei der Text auch hier gesprochen und nicht gesungen wird. Eine vertane Chance, denn mit einer Gesangslinie wäre aus dem Song noch viel mehr herauszuholen gewesen.

    Das verträumte, instrumentale "Lawns" von Carla Bley hatte Kurt Elling schon 2018 auf "The Questions" als "Endless Lawns" mit eigenem Text als ruhige, unbeugsame, neunminütige Ballade aufgenommen. Jetzt interpretiert er das Stück mit seinen neuen Mitstreitern nochmal in ähnlicher Form und Intensität.

    Das einminütige Outro "This Is How We Do" fasst dann nochmal die Haupt-Elemente von "SuperBlue" zusammen: Groove und Empathie.

    Kurt Elling hat mit seinen Mitstreitern eine schlagkräftige Truppe zusammen bekommen, die ihn auf allen Wegen und Abwegen souverän begleitet und sowohl für einen strammen Rhythmus wie auch für eine kreative, sensible Untermalung sorgt. Egal was Elling anpackt, man darf stets Qualität auf hohem Niveau von ihm erwarten. Er ist eben eine Klasse für sich. Seine überlegene Präsenz beweist er auch auf "SuperBlue", wo sich der Sänger agil, engagiert, cool und clever darstellt. Mittelmäßigkeit und Stillstand haben bei Kurt Elling sowieso keine Chance!
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    10.10.2021
    Klang:
    4 von 5
    Musik:
    4 von 5

    Die Kinfolk-Reihe von Nate Smith zeigt Lebenslinien und -stationen auf, die in erinnerungswürdige Töne gegossen werden.

    "Kinfolk: Postcards From Everywhere" war das zweite Album des Schlagzeugers, Produzenten und Songwriters Nate Smith. Es hat jetzt auch schon wieder vier Jahre auf dem Buckel. Mit "Kinfolk 2: See The Birds" erscheint jetzt der Nachfolger des Grammy-dekorierten Vorgängers. Kinfolk bedeutet Verwandtschaft. Smith lässt seine Verwandtschafts- und Entwicklungserfahrungen musikalisch Revue passieren und hat sie als Album-Trilogie angelegt.

    "Kinfolk" widmete sich der Kindheit, "Kinfolk 2" beleuchtet die Jugend. Als Teenager lebte Nate in Chesapeake, Virginia und die Erlebnisse aus dieser Phase stehen vor seinem geistigen Auge auf und lassen eingebrannte Erinnerungen an das städtische Treiben, markante Orientierungspunkte und die Hackordnung an der Highschool lebendig werden. Nate fühlte sich dort als Außenseiter, aber die Musik gab ihm Trost, Halt und Orientierung. Seine Helden waren unter anderem Prince und Michael Jackson. Außerdem entdeckte er damals HipHop und Neo-Soul für sich.

    "Kinfolk 2: See The Birds" transportiert neben diesen Einflüssen jede Menge Jazz-Variationen, hält sich dabei aber nicht an elitär geprägte Muster, sondern wildert auch bei Rock, Pop und Avantgarde. Nate Smith meint, dass die neuen Kompositionen den Enthusiasmus und die Inbrunst einer jugendlichen Garagenband verkörpern, sie scheren sich nicht um Regeln, sind furchtlos und streben nach Freude.

    "Altitude" sorgt für eine Einleitung, die sich wie ein Inhaltsverzeichnis oder ein Überblick über das zu erwartende Repertoire anhört. Durch das glasklar perlende Xylophon von Joel Ross und den lautmalerischen Scat-Gesang von Michael Mayo erhält diese Visitenkarte durch die Einbeziehung von Stilmitteln, die ansonsten weitgehend vom aktuellen Jazz-Radar verschwunden sind, eine spezielle, neugierig machende Färbung.

    Harte BreakBeats und ein angriffslustiger Rap von Kokayi lassen "Square Wheel" zunächst aufrührerisch klingen, bevor Michael Mayo mit seinem versöhnlichen Gesang die Wogen glättet. Gleichzeitig schaltet der Sound von eckigem HipHop auf manierlichen Smooth-Jazz um. Dieses Wechselspiel wiederholt sich noch mehrfach. Plötzlich übernimmt aber ein empört klingendes, zunehmend freier aufspielendes Saxophon den Ton, wobei die Rhythmus-Abteilung vertrackt, vehement und spritzig dagegen hält.

    Beim Zwischenspiel "Band Room Freestyle" führt der Rapper Kokayi wieder ein großes, energisches Wort und über einen Bass-betonten Takt wird ständig der gleiche alarmierende Tusch gespielt, der einem Weck-Laut gleich kommt. In "Street Lamp" fließen allerlei Klänge ein, die ins kollektive Jazz-Bewusstsein gelangt sind und sich dennoch wie spontane Eingebungen anhören. Die Schattierungen berücksichtigen unter anderem freundlich-zurückhaltende Momente, erzählend-improvisierte Gitarren-Passagen, ein torkelnd-unentschlossenes Piano-Solo von Jon Coward und vehemente rhythmische Arbeiten, die sich allerdings nicht aufdrängen.

    Bei "Don't Let Me Get Away" trägt Stokley Williams, der ehemalige Sänger und Schlagzeuger der Band Mint Condition, zur gesanglichen Geschlossenheit bei. Der Song groovt mild-elegant und verbreitet eine besänftigende Stimmung, die frei von Aggressionen ist. Für "Collision" steuert die Geigerin Regina Carter jauchzende und sehnsuchtsvolle Töne bei. Das Stück trägt kammermusikalische Modern-Jazz-Züge und erinnert deshalb an den transkulturellen Sound von Oregon, dem Jazz-World Music-Klassik-Ensemble um Ralph Towner.

    Mit sphärischen Hintergrundgeräuschen und einem brodelnd-zischenden Schlagzeug-Solo leitet das kurze "Meditation (Prelude)" zu "Rambo: The Vigilante" über, das mit Vernon Reid, dem ehemaligen Gitarristen von Living Colour, einen musikalischen Helden von Nate Smith präsentiert. Dem gehetzten Schlagzeug und dem missmutig grummelnden Bass stehen Synthesizer-Schwebeklänge entgegen. Das Saxophon von Jaleel Shaw führt ein isoliertes Eigenleben und Vernon Reid stört mit seiner E-Gitarre auch brachial einen möglichen melodischen Song-Aufbau, so dass der Track keine Ruhe finden kann.

    Amma Whatt, die American-Idol-Finalistin aus 2012 übernimmt für "I Burn For You" den sinnlichen Lead-Gesang. Jaleel Shaws Saxophon deckt tonal und atonal einige Ausdrucksmöglichkeiten ab und prägt dadurch das instrumentale Gesicht dieser spannenden Art-Pop-Landschaft. Das aus dem Opener "Altitude" bekannte und bewährte Team Joel Ross (Vibraphon) & Michael Mayo (Stimme) kommt auch beim Stück "See The Birds" zum Einsatz. Wiederum gibt es eine interessante Abwägung zwischen Eingängigkeit und Spieltrieb zu hören, wobei der Pegel eindeutig in Richtung Pop ausschlägt.

    Die Gästeliste wird für "Fly (For Mike)" um Brittany Howard, der wuchtig-voluminösen Stimme der Alabama Shakes, komplettiert. Hier haucht sie einen schmirgelnden Soul, der sich so eindringlich um die Noten rankt, als würde sie mit jedem Atemzug einen Teil ihrer Seele freilegen. Dieser Late-Night Jazz ist an Intensität kaum zu übertreffen und setzt einen Schlusspunkt, der Lust auf ein ganzes Album voll mit solchen Edel-Balladen macht.

    Das Album zeigt einen um Unabhängigkeit bemühten und nach Eigenständigkeit strebenden Musiker, der einige beachtliche Schöpfungen auf den Weg gebracht hat. "Kinfolk 2: See The Birds" ist ein Sammelsurium an Sounds und überfließenden Ideen, das jugendlichen Drang und schöpferische Freiheit sehr gut symbolisiert. Ein nahtloses Durchhören erfordert allerdings ein entsprechend breites musikalisches Interessen-Spektrum. Würde Nate Smith ein schlagkräftiges, hochkarätiges Song-orientiertes Werk mit Sinn für Melodie und Experiment zusammenstellen, was seine Ideen verdichtet, dann sollte er in Zukunft in einem Atemzug mit Jazz-Pop-Crossover-Größen wie Gregory Porter genannt werden.
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    I'll Be Your Mirror: A Tribute To The Velvet Underground & Nico I'll Be Your Mirror: A Tribute To The Velvet Underground & Nico (CD)
    24.09.2021
    Klang:
    4 von 5
    Musik:
    4 von 5

    Andy Warhols langer Schatten.

    Die 1960er und 1970er Jahre haben zahlreiche herausragende Alben und wegweisende Bands hervorgebracht. Dazu gehören natürlich die Beatles und Rolling Stones, aber auch The Doors, The Byrds, Buffalo Springfield, Van Der Graaf Generator, Little Feat, The Stooges, Steely Dan oder The Band. Nicht zu vergessen The Velvet Underground, die Hausband aus dem The Factory in New York, wo der Pop-Art-Künstler Andy Warhol seine Studios und Ateliers beherbergte.

    The Velvet Underground wurde 1964 gegründet und bestand zunächst aus Lou Reed (Gitarre, Gesang), John Cale (Bass, Bratsche, Keyboards, Gesang), Angus MacLise (Schlagzeug, Percussion) und Sterling Morrison (Gitarre). 1965 wurde MacLise gegen Maureen "Moe" Tucker ausgetauscht, die bis 1971 blieb. Außerdem kam auf Wunsch von Warhol noch die als Schauspielerin, Muse und Fotomodell tätige Nico aus dem Warhol-Dunstkreis dazu, die 1938 als Christa Päffgen in Köln zur Welt kam. Ein illustrer Haufen aus ernsthaften Künstlern und Amateuren, die in die Subkultur des "Big Apple" eintauchten und deren unterschiedliche Persönlichkeiten zur Einzigartigkeit der Gruppe beitrug.

    So absolvierte Cale ein Klavier- und Bratschen-Studium und arbeitete mit den Avantgardisten John Cage und LaMonte Young zusammen. Lou Reed hatte sich auch schon vor Gründung des Ensembles etabliert: Nach seinem Englisch-Studium arbeitete er nämlich als Songschreiber für Pickwick Records. Der literarisch interessierte Hobby-Musiker setzte sich nebenbei mit experimentellen Klängen auseinander und traf in diesem Zusammenhang zufällig auf Cale. Die Beiden beschlossen, ihre Erfahrungen und Ideen in ein gemeinsames Projekt münden zu lassen. Maureen Tucker brachte sich das Schlagzeug spielen selbst bei und kam nur durch Zufall zu den Velvets, weil sich der Gitarrist Sterling Morrison - ein Kollege von Reed bei Pickwick Records - nach dem Ausstieg von Drummer MacLise an die Schwester seines Kumpels Jim Tucker erinnerte.

    Der Bandname The Velvet Underground leitet sich übrigens von dem gleichnamigen Buch von Michael Leigh ab, das vom abseitigem Sexleben der amerikanischen Mittelschicht handelt. Aber nicht nur gesellschaftliche Belange, sondern auch die halbseidene New Yorker Underground-Szene und der Einfluss von Drogen prägten in hohem Maße viele Songs der visionären Musiker. Das Debut-Album "The Velvet Underground & Nico" wurde 1966 aufgenommen und kam 1967 im Frühling vor dem "Summer Of Love" in die Läden. Es erwies sich als der böse Gegenentwurf zur vorherrschenden Love & Peace-Hippie-Kultur. Statt bunter Träume drohten Horror-Trips.

    Das Cover der Platte wurde von Andy Warhol gestaltet: Die berühmte Banane, die sich abziehen ließ und unter der Schale rosa war. Das Werk erwies sich trotzdem zunächst als kommerzieller Flop, gilt aber heute zu Recht als eines der einflussreichsten Rock-Alben aller Zeiten, weil es viele Spielarten vorwegnahm. Dazu gehören unter anderem New Wave, Punk-, Glam- oder Noise-Rock.

    Den Opener "Sunday Morning" hatte Lou Reed eigentlich für Nico geschrieben. Er übernahm den Lead-Gesang dann aber doch kurzfristig selbst, für sie blieb nur noch etwas Hintergrund-Geträller über. Das Lied war dem Album als letzter Beitrag nachträglich zugewiesen worden, weil sich das ursprüngliche Veröffentlichungsdatum verschob und der Produzent Tom Wilson (Bob Dylan, Simon & Garfunkel, Frank Zappa) unbedingt noch einen Titel für eine erfolgsversprechende Single haben wollte. Alle anderen Songs wurden übrigens von der Band produziert, obwohl auf der Rückseite des Covers "Produced By Andy Warhol" steht. Das war nur ein Marketing-Trick, damit sich die Plattenfirma nicht zu sehr in den Entstehungsprozess einmischte.

    "Sunday Morning" ist ein Wolf im Schafspelz, denn musikalisch gibt sich das Lied lieblich und harmonisch, obwohl es inhaltlich von Paranoia handelt. Die Zeile "...es gibt immer jemanden, der Dich beobachtet" könnte eigentlich auch von George Orwells "1984" inspiriert sein und wirkt aus heutiger Sicht sogar prophetisch, denn in der Welt der Smartphones ist man nirgends mehr vor einer Verletzung der Privatsphäre sicher. Der Sound des Stückes wird vordergründig von einem Glocken-Piano bestimmt, das genauso klingt, wie es heißt. Das bedeutet, es erzeugt glockenhelle Töne, die John Cale einspielte und die einen kammermusikalisch-ernsthaften, wie auch unschuldig-frischen Effekt hervorrufen. Die mit Hall versehene Stimme von Reed bildet einen hintergründig beunruhigenden und rätselhaften Kontrast dazu. Generell geht es hier aber gesittet, harmonisch und eingängig zu. Die Interpretation von Michael Stipe (ex-R.E.M.) unterstreicht den ursprünglichen, am klassischen Kunstlied orientierten Ansatz mit einem verweht-romantischen Oboen-Intro und greift die wehmütige Stimmung des Originals solide auf.

    "I’m Waiting For The Man" erfährt eine trockene, minimalistische, schroffe, gehetzt-kaputte musikalische Umsetzung und enthält eine radikale Schilderung der Dealer/Konsument-Beziehung mit schmerzhaft-aggressiver Ausrichtung. Matt Berninger von The National bringt nicht die Dringlichkeit der Velvet Underground-Hymne in seine Sicht der Dinge ein, was hoffentlich damit zu tun hat, dass er bezüglich des Konsums von harten Drogen keine Erfahrung gesammelt hat. Seine Fähigkeit, scheinbar nicht zu vereinbarende Gegensätze in Gleichklang zu bringen, wendet er wieder einmal vorbildlich an. Er übersetzt kantige Songstrukturen dergestalt, dass sie emotional intensiv und trotzdem cool klingen.

    Nico intoniert das eindringliche Chanson "Femme Fatale" mit einer Stimme, die nicht durch Umfang, sondern durch ihren Charakter besticht. Ein Markenzeichen, dass auch Hildegard Knef, die größte Sängerin ohne Stimme - wie Ella Fitzgerald sie nannte - ausmachte. Nico offenbart sowohl die dunkle Seite der Seele, wie auch eine zurückhaltende sensible Weiblichkeit. Bei ihren Solo-Werken "The Marble Index" (1969) und "Desertshore" (1970) verbreitete sie nach ihrem Ausstieg bei The Velvet Underground eine unfasslich bittere, deprimierende, morbide Hoffnungslosigkeit, die im Pop ihresgleichen sucht. Sharon Van Etten macht in Begleitung von Angel Olsen als Gast-Sängerin aus der Vorlage eine betont langsame, bittersüße, von sanften Streichern durchzogene Late-Night-Jazz-Nummer, die den gesamten Schmerz der Welt auf sich zu vereinen scheint.

    Für "Venus In Furs", das von der Sado-Maso Novelle "Venus im Pelz" von Leopold von Sacher-Masoch von 1870 inspiriert ist, lässt John Cale seine Viola beängstigend und schrill heulen und jaulen. Maureen Tucker spielt stoisch die Bass-Drum und fügt etwas Tamburin-Geschepper hinzu. Das ungeschliffene Kratzen der trockenen E-Gitarre wirkt in diesem Mix wie ein ungebetener Gast, der sich frech und besserwisserisch einmischen will. Lou Reed möchte souverän, gar überlegen klingen, gleitet jedoch manchmal gesanglich in Gefilde ab, die Unsicherheit verraten. Andrew Bird & Lucius verwandeln den Track in einen mystischen Gothic-Folk, bei dem Birds Geige den psychedelisch-weltmusikalischen Rahmen spannt und die New Yorker Indie-Pop-Band Lucius für den verwunschen-betörenden Sound zuständig ist.

    Mit der Wahl von "Run Run Run" fühlen sich Kurt Vile & The Violators hörbar wohl. Der Ursprung von Reed, Cale & Co. verkörpert hingegen einen bösen Mersey-Beat mit stacheligem Rhythm & Blues-Herz, der nach Gewalt und Ärger riecht. Kurt Vile ist mit seinem psychedelischem Garagen-Rock gar nicht so weit weg von der originalen, gehetzten Power-Pop-Stimmung. Er zündet mit seinem schwungvollen, ungebremsten Glam-Rock-Boogie den Nachbrenner und versprüht dadurch jede Menge Spielfreude in Gedenken an T. Rex um Marc Bolan.

    Beim monoton klingelnden Piano-Sound der Folk-Rock-Ballade "All Tomorrow’s Parties" bringt John Cale seine Minimal-Art-Erfahrungen ein. Die Psychedelic-Rock-Gitarre hört sich an, als wäre sie aus "Eight Miles High" von den Byrds ausgeliehen worden. Tucker schlägt einen Takt, wie von einer Sträflings-Galeere und Nico singt selbstbewusst gegen die Erwartungshaltung an, Frauen-Stimmen müssten lieblich, wohlklingend und voluminös sein. Die verfremdeten Gesänge, die bei der Hörspiel-artigen Umsetzung von St. Vincent & Thomas Bartlett auftauchen, lassen zweifellos an Laurie Anderson denken. Vielleicht soll dieser Track auch eine Hommage an die Witwe von Lou Reed darstellen.

    "Heroin" ist eine in Noten gegossene Beschreibung des Drogen-Konsums, angesiedelt zwischen Faszination und Abscheu. Der Song wankt zwischen leise und laut sowie harmonisch und chaotisch, trägt versöhnliche und ekstatische Züge. Dieses Verzerrungs-Monster befindet sich bei Thurston Moore (Sonic Youth) und Bobby Gillespie (Primal Scream) in bewährten Noise-Rock-Händen. Bei ähnlichem Song-Aufbau setzen sie auch heftige Feedback-Töne ein, klingen dabei aber nicht so radikal, wie The Velvet Underground.

    2018 brachte die New Yorker Künstlerin Mikaela Mullaney Straus, die sich King Princess nennt, eine Version von "Femme Fatale" raus. Auf dieser Zusammenstellung ist sie mit "There She Goes Again" vertreten, das sie als flotten Power-Pop ausdrückt und dabei recht nah am Original bleibt. Der Song wurde bei seiner Erstveröffentlichung als lässig schwingender, das Tempo-variierender Pop-Song gestaltet. Er kam ohne schräge Zutaten oder krachende Wendungen aus. Die einnehmende Oberfläche kaschiert das ernste Thema des Liedes, denn es geht inhaltlich um Prostitution. The Velvet Underground bedienten sich beim markanten Haupt-Gitarrenriff übrigens ungeniert bei Marvin Gayes "Hitch Hike" aus 1962.

    Bei den Aufnahmen zu "I’ll Be Your Mirror" verlangte die Band von Nico, sie möge doch zart und introvertiert singen. Nico gab aber bei jeder neuen Aufnahme immer wieder aggressive Töne von sich. Der daraufhin aufkeimende Streit führte zum Nervenzusammenbruch der Sängerin und als Ultimatum wurde ihr noch eine letzte Chance gegeben, die Vorgaben einzulösen. Sie nutzte diese dann für eine perfekte Kulisse. Hätte das nicht geklappt, wäre der Song vielleicht nicht auf dem Album gelandet, zumindest nicht mit Nicos Gesang. So hören wir ein beinahe konventionelles Liebeslied mit einer Stimme, die teils ausdruckslos, teils flehend eine frostige, eigensinnige Ausstrahlung verbreitet. Die Faszination der Reduzierung treibt fragile Blüten. Courtney Barnett begleitet sich bei ihrer Aufbereitung zur akustischen Gitarre und benutzt als Taktgeber helle Schellen. Fun Fact: The Velvet Underground verwenden ein Gitarren-Riff, das an "You Really Got Me" von The Kinks aus 1964 erinnert. Barnett benutzt es auch und bringt somit den Rock & Roll ans Lagerfeuer.

    "The Black Angel’s Death Song" besteht aus Cales quietschender Bratsche, einem summenden Bass, einer stumpf schrammelnden E-Gitarre und Reeds Sprechgesang. Ab und zu bläst Cale dann noch ins Mikrophon. So bizarr und gleichförmig, wie sich die Beschreibung anhört, ist das Stück auch - also nichts für schwache Nerven. Die irische Post-Punk-Band Fontaines D.C. ersetzen die Viola durch E-Gitarren-Feedback und baut beharrliche Schlagzeug-Rhythmen ein, versuchen aber auch, eine kompromisslos provozierende Stimmung zu erzeugen. Das Stück gab einen Vorgeschmack darauf, was von The Velvet Underground an Reizüberflutung und Schräglage auf dem Folgealbum "White Light/White Heat" von 1968 noch zu erwarten ist.

    Das derbe, nervenaufreibende "European Son" wird häufig übergangen, da es sehr anstrengend anzuhören ist. Dieses wüste, kakophonische Underground-Hillbilly-Stück hat Lou Reed seinem Mentor, dem Schriftsteller Delmore Schwartz, gewidmet und weil der keine Texte in Rockmusik mochte, gibt es nach einer von sieben Minuten keinen Gesang mehr. Das Stück zeigt auf, woher Iggy Pop für seine Stooges manche Anregungen erhalten hat. Dabei brauchte er damals etwa ein halbes Jahr, um von "The Velvet Underground & Nico" vollends überzeugt, ja sogar besessen zu sein. Das zeigt, dass es sich nicht um leichtgängigen Stoff handelt, sondern um Musik, die man sich zum Teil schwer erarbeiten muss. Grade deswegen ist Iggy Pop genau der Richtige, um zu demonstrieren, warum "European Son" für ihn und seine musikalische Entwicklung immens wichtig war. Als Partner hat er den gleichgesinnten Sänger und Gitarristen Matt Sweeney (der unter anderem auch mit Bonnie "Prince" Billy musizierte) an seiner Seite, der diese rasante Höllenfahrt, die von einem unnachgiebig schnellem Bass, spitzen Schreien und Feedback-Salven durchzogen ist, unterstützt.

    Die Interpretationen der Velvet-Underground-Klassiker sind stilistisch offen, teils wagemutig, teils ehrfürchtig. Das heißt, manche orientieren sich stark am Original, andere wiederum deuten die Ursprungsfassung neu. Beides ist angemessen und sagt zunächst nichts über die Originalität oder Qualität aus. Eine Inspiration kann schließlich zur würdevollen Nachahmung oder zu abgeleiteten, wegführenden Ideen führen. Wobei ein reines Nachspielen, das so dicht wie möglich am Original sein will, keinerlei künstlerischem Anspruch genügt. Solch eine Reproduktion findet hier allerdings nicht statt, schließlich sind die versammelten Musiker allesamt für ihre Kreativität bekannt, sie haben eben nur unterschiedliche Herangehensweisen und Wahrnehmungen. Was diese Zusammenstellung uneinheitlich, aber auch spannend macht.

    Gut, nicht alle Versionen sind leicht verdaulich, aber das ist auch nicht der Anspruch, den man an "The Velvet Underground & Nico" haben konnte und an "I`ll Be Your Mirror" haben sollte. Es handelt sich schließlich um eine Hommage einiger Künstlerinnen- und Künstler, denen das Album sehr viel bedeutet, ihnen die Ohren als Erweckungserlebnis geöffnet oder sie dazu gebracht hat, selbst Musiker (-in) zu werden. In diesem Sinne ist "I'll Be Your Mirror: A Tribute To The Velvet Underground & Nico" als eine Bestandsaufnahme und Widmung an den unerschrockenen Pioniergeist von The Velvet Underground zu sehen und aufgrund seiner Bandbreite auch repräsentativ und gelungen.
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