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    LittleWalter Top 25 Rezensent

    Aktiv seit: 03. September 2010
    "Hilfreich"-Bewertungen: 1112
    472 Rezensionen
    Burnt Tongue Burnt Tongue (CD)
    23.02.2023
    Klang:
    4 von 5
    Musik:
    5 von 5

    Jetzt erst recht! Ian Fisher möchte mit seinen sensiblen Liedern Mut machen.

    Wo nimmt dieser Mann nur alle seine Ideen her? Ian Fisher ist nicht nur ein fleißiger Komponist mit einem großen Repertoire, sondern er bringt alles mit, was einen talentierten Musiker auszeichnet: Ein feines Händchen für eigenständige, geschmeidige Melodien und anziehende Refrains, sowie ein Gespür für interessante Arrangements und poetische Texte mit konkreten Hintergründen, die es zu erforschen gilt. Und alle diese Komponenten werden dann noch von einer charmanten und markanten Stimme zusammengehalten.

    Erste Überlegungen zur Verwirklichung der Ideen für "Burnt Tongue", die zwischen 2019 und 2022 entstanden, gab es bereits im Winter 2020: Eigentlich sollten die neuen Songs als Home-Recordings veröffentlicht werden, doch dann gab es die glückliche Fügung, dass Ian seinen durch das Projekt Tour Of Tours bekannten Kollegen Jonas David als spirituellen Partner und Co-Produzenten gewinnen konnte. Die beiden Künstler bauen auf dem weitläufig-eindringlichen Sound des letzten Studio-Albums "American Standards" aus 2021 auf, erweitern das musikalische Ausdrucks-Spektrum aber noch durch andere delikate Instrumentierungen und raffinierte Ausgestaltungen.

    Zehn Songs und drei kurze Instrumental-Titel haben es schließlich auf "Burnt Tongue" geschafft: Entwurzelung und der Wunsch nach Veränderung, aber auch ein Schrei nach Hilfe prägen unter anderem inhaltlich den Song "I'm Burning". Fisher betätigt sich als dokumentarischer Erzähler, der seine Emotionen nicht unterdrücken kann oder will und deshalb auch sentimentale Passagen zulässt. Das Ganze spielt sich in einem malerischen Rahmen ab, der exotischen Weltmusik-Folk, sphärischen Ambient-Country und entspannten Smooth-Jazz einbezieht. Das Stück tariert nachdenkliche und selbstsichere Momente elegant aus, so dass ein leicht schwingender, mondän-entrückter Klangeindruck entsteht.

    Für "How Far" werden schwirrend brummende Töne als Hintergrund-Dekoration herangezogen. Dadurch wird die Konzentration manchmal von der lieblich-leichten Folk-Pop-Ausrichtung abgelenkt. Wieder geht es thematisch darum, dass jemand seine Wurzeln verloren hat und gegen seinen Selbsthass ankämpft.

    Jeder Mensch verabscheut seine Schwachstellen. Es ist deshalb eine sinnvolle Lebensleistung, sich mit ihnen zu arrangieren, um sie akzeptieren zu können. Das ist eine der lyrischen Botschaften des behutsam gesungenen "Achilles' Heel". Der angedeutete Break-Beat-Takt schabt und kratzt an der hübschen, sanften Melodie, kann die Harmonie aber nicht wesentlich stören. Die Fusion von gediegener Holprigkeit und weichem Wohlklang führt zu einer Neutralisierung des unrunden Einflusses und der klebrigen Süße, so dass ein interessanter Pop-Song mit Kanten und Liebreiz entsteht.

    Hilflosigkeit ist ein sehr bedrückendes Gefühl. Besonders, wenn man einem geliebten Menschen nicht so beistehen kann, wie man möchte. "Meine Hände auf ihren Schultern von hinten. Als könnte ich sie beschützen. Aber ich kann es nicht. Als ob ich ein Feuer aus Asche machen könnte", heißt es in "Fire Out Of Ash". Für diese Situation wird ein sehnsüchtiger, wehmütiger Country-Sound entwickelt, bei dem die Pedal-Steel-Gitarre dicke Tränen weint und die Betroffenheit zu reiner Schönheit gedeiht.

    Der Gesang für "One Way Out & No Way Back" wurde künstlich auf historisch getrimmt und hört sich an, als würde er aus einem alten Grammophon kommen. Die traditionelle Country & Western-Begleitung bleibt dezent im Hintergrund und unterstützt die traurige Stimme dabei, eine größtmögliche Empathie zu erzeugen. Es geht hier schließlich darum, sich zwischen einer Beziehung oder der persönlichen Freiheit zu entscheiden.

    Mit "Driftwood & Tires" erschafft Ian Fisher einen sehnsüchtig-liebevollen Track, bei dem elektronische und akustische Töne eine friedvoll-ausgeglichene Verbindung eingehen. Ian erzählt eine Geschichte aus seiner Jugend, die zum Titel "Burnt Tongue" geführt hat: Als er mit seinen Freunden versuchte, am Ufer des Mississippi mit nassem Treibholz ein Feuer zu machen, entzündete sich der Dampf des verwendeten Zündstoffs und verbrannte sein Gesicht.

    Die Liebe einer Mutter verblasst nie. Diese Messlatte setzt der Protagonist in "A Mother’s Love" als Maßstab für seine Beziehungen an. Dringlich leidende Töne der Pedal-Steel-Gitarre deuten einen entstehenden Konflikt an, die Gefühlslage befindet sich aber überwiegend im Gleichgewicht. Eine Leidenschaft für sinnliche, bitter-süße Klänge wurde schon unter anderen Voraussetzungen von Michael Dinner in seinem Referenz-Werk "The Great Pretender" aus dem Jahr 1974 in Vollendung zelebriert und kommt auch bei "A Mother’s Love" formvollendet zu Ehren.

    Für die sanft-beschwingte, Trost spendende Rockabilly-Ballade "I'll Be There" kann ein Maximum an mitfühlender Freundlichkeit aufgeboten werden: "...und wenn du das Gefühl hast, du fällst, dann ist hier eine Hand. Ich werde da sein, wenn du mich brauchst". Wohl dem, der solche Freunde hat!

    "If I Show I Do I Do" steigt in die Untiefen menschlicher Beziehungsprobleme ab. Es steckt indessen jede Menge positive Energie in dem Song, was sich in einer beweglichen Lebendigkeit äußert. Die Stimmung sprudelt trotzdem nicht vor Glück über, weil Ian gesanglich auf die Bremse tritt. Aber der unbändige Optimismus lugt dennoch an jeder Ecke hervor.

    Sollte man das Kind in sich unterdrücken, wenn man älter wird? In "Quiet Down Boy In Me" zwingt sich der Protagonist dazu, scheint damit aber nicht zufrieden zu sein. Ganz langsam bewegt sich der Soundtrack zu diesem Befinden voran und bildet dadurch einen behaglich-gütigen Schlusspunkt unter einem hervorragenden, schlüssig abgestimmten Singer-Songwriter-Album, das - wie schon erwähnt - noch durch drei atmosphärisch dichte, kurze Instrumental-Titel ("Skit 3", "Skit 6", "Skit 11") verfeinert und pikant abgerundet wird.

    Neben Ian Fisher (Gesang, akustische Gitarre, Produktion) wirkten noch Jonas David (Produktion, Gitarre, Schlagzeug, Keyboards, Horn), Ryan Thomas Carpenter (Keyboard, Banjo, Bass), Richard Case (Pedal-Steel Gitarre, Gitarre), Salvo Seucces (Klarinette, Saxophon, Marimbaphon, Vibraphon) und Salvo Puma (Gitarre bei "Achilles' Heel") an den Aufnahmen mit.

    "Burnt Tongue" hinterlässt einen homogenen Eindruck, bei dem ruhig ablaufende Lieder und eine Mischung aus überlieferten und eigenwilligen Klangfarben vorherrschen. Die Einspielungen fanden auf Sizilien statt und damit zum ersten Mal in einer Studio-Atmosphäre, die Ian glücklich machte. Deshalb wohl die unverkrampfte, feinfühlige Grundstimmung, die eine besondere kreative Ausgeglichenheit ermöglichte. Den introvertierten Liedern werden durch den verführerischen Schmelz in Ians Stimme - der ähnlich auch bei Joey Burns (Calexico) oder Daniel Romano zu finden ist - Milde und Güte verliehen, so dass die Melancholie einen tröstenden Aspekt vermittelt.

    Es gibt allerdings auch eine nach Erkenntnis suchende Seite in den Stücken, die durch das Cover-Bild, bei dem sich Farben wild miteinander vermengen, symbolisiert wird. Eine solche Sicht wird auch durch die Texte vermittelt: Ian Fisher charakterisiert die Inhalte seiner Lieder nämlich als "Themen, mit denen sich viele von uns in diesen seltsamen Zeiten auseinandersetzen mussten. Sie beinhalten die Navigation durch neue Lebensumstände und die Auseinandersetzung mit uns selbst und unserer Vergangenheit. Das führt zu einer ehrlichen Einschätzung des Zustands, in dem wir uns befinden, und ist ein hartnäckiger, menschlicher Aufruf zum Mut, weiterzumachen".

    Der in dem 4.000-Seelen-Kaff Ste. Genevieve in Missouri aufgewachsene und seit 2008 in Europa lebende Ian Fisher ist mit der Plattensammlung seines Vaters groß geworden. Darin befanden sich möglicherweise auch solche innovativen und unkonventionellen Songwriter wie Van Dyke Parks, David Ackles oder Tom Rapp (Pearls Before Swine). Zumindest verwirklicht der Wahl-Europäer mit "Burnt Tongue" ein reifes, kreatives Gesamtbild mit beeindruckenden, zu Herzen gehenden Songs auf höchstem Niveau, die im Pop-, Folk- und Country-Umfeld angesiedelt sind!
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    Dream House JW Francis
    Dream House (CD)
    23.02.2023
    Klang:
    4 von 5
    Musik:
    4 von 5

    "Dream House" enthält 12 gesungene Liebesbezeugungen an Menschen, die JW Francis über seine Fans kennengelernt hat.

    Das Projekt "Dream House" des New Yorker Singer-Songwriters JW Francis ist schon 3 Jahre alt und spricht für den freundlichen Charakter des Alternative-Pop-Musikers. Ab damals schaltete er jedes Jahr sechs Wochen vor dem Valentinstag in sozialen Netzwerken eine Anzeige. Man möge ihm den Namen seines Lieblingsmenschen und den Grund der Liebe nennen, dann würde er für diese Person einen Song verfassen.

    Bei dieser Aktion gingen im Laufe der Jahre über 300 Anfragen ein und alle Songs auf "Dream House" stammen aus diesen Auftragsarbeiten. "...einige wurden überarbeitet, um mehr aus dem Leben des Künstlers zu erzählen, andere sind genauso geblieben, wie sie ursprünglich geschrieben wurden. Letztendlich ist dies ein Album über die Sorge um andere und die Art und Weise, wie wir sie ausdrücken", erklärt JW Francis das Konzept des Werkes.

    Man muss nicht unbedingt alles tierisch ernst nehmen und kann trotzdem ernstzunehmende Pop-Musik produzieren. Dieses Motto passt zu JW Francis, der für "Dream House" 12 Songs aufgenommen hat, die manchmal auch eine humorig-unbekümmerte Komponente transportieren, ohne dabei albern zu sein. Eine Fähigkeit, die auch Jonathan Richman famos umsetzen konnte. Ein treffender Beleg für diese Fusions-Leistung ist "Going Home To A Party". Der Track versprüht eine fröhliche Ausgelassenheit, ist aber gleichzeitig raffiniert-vertrackt aufgebaut, so dass der vergnügte Optimismus nicht in dumpfe Albernheit umschlägt. Diese Balance muss man erst einmal hinbekommen!

    Der monoton vorwärts peitschende Rhythmus, der schnoddrige Gesang und die lebhaften Gitarren können nicht darüber hinwegtäuschen, dass "Casino" einen ernsten, problembehafteten Inhalt transportiert. Der Protagonist ist verzweifelt: "Ich brauche die Welt, viel mehr als irgendjemand mich in ihr braucht", gibt er zu Protokoll. Wie kommt er darauf? "Ich bin in einem leeren, dunklen Casino verschwunden. Ich verspielte alles...Und niemand weiß, dass ich immer noch pleite bin und Versprechen breche", gibt er zu und erzählt näselnd, wie leicht angetrunken, von seiner Seelenqual. Die Musik fungiert dazu als zweckoptimistischer Halt und erfüllt diese Funktion ausgezeichnet.
    Wenn das kein Liebesbeweis ist! Den Goldschatz, der im "Dream House" versteckt ist, würde der Verehrer für eine Umarmung seiner Liebsten eintauschen. Die genüsslich ausschweifend arrangierte Ballade wartet mit einem Stimmungsbild auf, das genauso berauschend wie berührend ist.

    Der Gesang und der Ablauf von "Our Story" klingt, als ob eine Fusion aus Lou Reed und Bob Dylan angestrebt werden sollte. Aber soll es eine Hommage oder eine witzig gemeinte Parodie sein, das ist hier die Frage. Musikalisch handelt es sich um einen hypnotischen Folk-Pop mit Hang zu oft wiederkehrenden Abläufen.

    "Swooning" hört sich gar nicht nach Ohnmacht, sondern eher nach Ekstase an. Vielleicht ist die Ekstase in diesem Fall die Vorstufe zum Zusammenbruch. Der Track macht jedenfalls ordentlich Tempo und verarbeitet knackige Rockabilly-, tanzbare Disco- und stoische New Wave-Takte (einschließlich fiepsender Billig-Synthesizer-Töne), so dass ein stürmisch-rockender Cocktail entsteht.

    "Keep It Cool, Steve" ist ähnlich flott wie "Swooning" unterwegs und wirkt fast schon hektisch. Klackende, klatschende und stampfende Rhythmen treiben das Stück an und bei aller dadurch verursachten Nervosität versucht die Stimme lässig zu bleiben. Es wird ein akustisches Roadmovie abgebildet, bei dem zwei Männer auf der Flucht sind. Geschwindigkeit, Adrenalin und gespielte Coolness sind dabei die Hauptzutaten. Das schwül-erotische "All Night Long" wurde betont öde, gleichförmig und minimalistisch gestaltet und besteht nur aus der Zeile "All Night Long".

    Welch schöne Vorstellung, die in "Dream Big" geäußert wird: "Was wäre, wenn jeder die gleichen Träume hätte. Jede Nacht und wir könnten sie am Morgen besprechen." Vielleicht würde diese Übereinstimmung die Menschen näher zusammenbringen, sowie Hass und Streit verringern. Es gäbe dann schließlich eine Wahrnehmung, die uns alle verbindet. Eine Utopie, natürlich. Aber eben auch ein reizvoller Gedanke. In diesem exotischen Pop-Sound spielt eine Gitarre, die an den schwirrenden Sound von Hawaii angelehnt ist und deshalb Leichtigkeit vermittelt, eine Hauptrolle.

    In "I Wanna Be Your Basketball" befinden sich Bestandteile vom sonnigen kalifornischen Pop und von scharfer New Wave, was zu einem frischem, aber auch gefühlvollen Sound führt. Der Song hält stur und hartnäckig seinen impulsiven Takt, bemüht sich aber gleichzeitig um einen angenehmen Ablauf. Es lebe der bereichernde Kontrast!

    Man stelle sich folgende Situation vor: Jack Johnson und Damon Albarn (Blur, The Good, The Bad & The Queen, Gorillaz) schreiben gemeinsam Songs. Entspannt-sonniger Folk träfe dann eventuell auf raffiniert getakteten Afro-Pop. So in etwa hören sich nämlich "Take Me Away" und "You’re Changing" an.

    Minimal-Art-Bubblegum-Pop ist ein Etikett, das auf "Sweet As A Rose" passt. Ein gleichartiger Rhythmus und eine gefällige Melodie finden hier nämlich munter zueinander. Die Auftragskompositionen für "Dream House" ergeben ein Album, das von der positiven Ausstrahlung ihres Schöpfers lebt. Fast alle Lieder verfügen über eine erfrischende, zuversichtlich gestimmte Basis, über die JW Francis seine gesanglichen Beiträge ausbreitet, die melancholisch, fröhlich oder nüchtern-sachlich ausgerichtet sein können. Dieses Zusammenspiel erfolgt nahtlos, ohne Brüche oder unstimmige Verrenkungen. Es kommt auf erstaunliche Weise im richtigen Verhältnis zueinander, was zusammengehören soll. Den Kitt dafür bilden die soliden, am kultivierten Pop geschulten Kompositionen, bei denen in der Regel zuerst die Musik und dann erst der Text vorhanden ist. JW Francis, der seine Musik als "lofi jangle dream slacker bedroom pop" bezeichnet, ist ein kundiger Musiker mit einem untrüglichen Gespür für Songs, die sowohl originell wie auch gefällig sind. Und das ist eine schwierige Gratwanderung.
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    Shifting Frank Popp
    Shifting (LP)
    27.01.2023
    Klang:
    5 von 5
    Musik:
    5 von 5

    Endlich gibt es neue Retro-Sounds des Frank Popp Ensembles!

    Hört man die bisher veröffentlichten drei Alben vom Frank Popp Ensemble, so kann man kaum glauben, dass die musikalischen Wurzeln des Ensemble-Chefs beim Hardcore-Metal und Punk liegen. Wo sich doch der Output des Projektes eher am Northern Soul und 60`s-Pop orientiert, sehr melodisch ist und mitreißende Refrains enthält. Die Werke "Ride On" von 2001 und "Touch And Go" aus 2005 legen ihre Schwerpunkte auf tanzbaren Soul, R&B, Bossa Nova, Jazz, Funk, Rockabilly und Space-Age-Pop. "Receiver", das erstmals 2009 erschien, lässt überwiegend eine schwungvolle Rhythmus-Fraktion und treibende E-Gitarren sprechen, liegt stilistisch also eher im rockenden Power-Pop-Bereich. Das sind allerdings nur auf den ersten Blick sich ausschließende Gegenentwürfe zum ungestümen, aggressiven, provokanten Heavy Metal und Punk.

    Eine mutige, kontrastreiche Vielfalt zeigt sich auch bei den weiteren Tätigkeiten von Frank Popp, denn er war zudem auch als DJ, Grafik-Designer und Konzert-Promoter aktiv. Diese bunte Interessenlage wirft die Frage auf, welches die drei absoluten Lieblingsalben von Frank Popp sind und welche Musik aktuell im Laufe des Tages und abends, wenn Entspannung angesagt ist, bei ihm läuft: "Auweia, das ist so unglaublich schwer. Zu meinen absoluten Lieblings-Alben gehören "Man-Made" von Teenage Fanclub, "It's A Shame About Ray" von den Lemonheads und "Static Age" der Misfits. Ich könnte dir aber wahrscheinlich 963479 mal die Frage anders beantworten. Zur Entspannung höre ich die Byrds, Turin Brakes "The Optimist LP", Bohren & Der Club Of Gore, Jimi Hendrix oder Mojave 3 "Excuses For Travellers".

    2021 wurde Frank Popps musikalische Abenteuerlust für das "Under Covers"-Album von vielen Freunden des Ensembles aufgegriffen, was teilweise zu sehr eigenwilligen Interpretationen seiner Songs führte. In einem Interview, das LOST & FOUND: MUSIK OHNE GRENZEN schriftlich mit Frank Popp führte und dessen Inhalte diese Rezension erhellend bereichern, bestätigt der Künstler, dass "Under Covers" die Initialzündung zum Comeback war: "In der Tat hat die Arbeit an "Under Covers" zum finalen Motivations-Schuss beigetragen. Das Gefühl, nach langer Zeit wieder eine Platte zu veröffentlichen, hat mich Ende 2021 dann endlich dazu bewegt, es anzupacken". Gab es denn vor den Arbeiten für "Shifting" schon Aktivitäten, die zu fertigen Songs führten: "Nein, ich bin Anfang 2009 nach Berlin gezogen und hatte dann erstmal kein Interesse, eigene Musik zu komponieren. Ich habe mich stattdessen intensiv mit meiner neuen Heimat auseinandergesetzt und sie kennengelernt, bin extrem vielen neuen Menschen begegnet und habe dann mit beziehungsweise für andere Künstler gearbeitet, junge Bands aufgenommen und produziert. In dieser Zeit sind aber auch Songskizzen bei Sessions entstanden die sich nun auf "Shifting" finden. Die meisten Songs sind aber im Januar 2022 entstanden".

    Das neue Werk "Shifting" hält 15 neue Lieder bereit, die sich nahtlos in den bisherigen Frank-Popp-Ensemble-Sound-Kosmos einfügen. In der Besetzungsliste tauchen bekannte Namen, wie der der Sängerin Sam Leigh-Brown auf, die dem Ensemble schon von Anfang an angehört, aber es finden sich auch neu integrierte Musiker darunter. Wie zum Beispiel Jesper Munk, der in seiner relativ jungen Karriere schon eine beachtliche Wandlung vollzogen hat. Von ruppigen Blues-Nummern ("Courage For Love", 2015) bis zu elegant arrangierten Pop-Balladen ("Happy When I`m Blue", 2018) war es für ihn nur ein kleiner Schritt. Andere Künstler bekommen solch eine Grätsche oft nicht überzeugend hin, bei ihm ist die Metamorphose aber schlüssig gelungen.

    Auf "Shifting" ist er mit vier Beiträgen als Sänger und/oder Texter vertreten. "Jesper habe ich im Berliner Club "Urban Spree" kennengelernt, wo ich seit vielen Jahren aktiv bin, und wusste zuerst nicht, dass er Musik macht. Als ich einen Post seiner Band PDOA sah, in dem erwähnt wurde, dass er schon lange eigene Musik veröffentlicht, kam ich auf seine soulig/bluesigen Aufnahmen und war sofort hysterisch begeistert, da ich schon lange mal mit einer männlichen Stimme etwas machen wollte. Ich hab ihn gefragt und er kam dann Anfang Februar nach Spanien zur Session", erzählt Frank Popp über den Beginn der Zusammenarbeit.

    Beim mild groovenden, durch allerlei Tonspuren vollmundig und reichhaltig ausgestattete Adult-Sixties-Pop "Out Of Town" wird der ehemals raue, kantige Blues-Rocker Jesper Munk zum gefühlvollen Crooner. "Torn Up" bietet schnell getakteten Motown-Soul an, den Jesper als Shouter mit energischer Dynamik unwiderstehlich für den Tanzboden aufbereitet.

    Der zackige Rhythm & Blues "Born To Lose" ist ganz schön hitzig, transportiert aber auch schwelgende Momente. Das verschafft Herrn Munk die Möglichkeit, gesangliche Varianten einzubauen: Die scheinbar von Sandpapier aufgerauten, also grundsätzlich auf Krawall gebürsteten Stimmbänder bemühen sich um Harmonie, was zu einer interessanten Zwitterlösung führt. Und so erläutert Frank die inhaltliche Botschaft des Songs: "Der Text bezieht sich auf absurde Szenerien und Bewegungen während der Coronakrise und in der ersten Strophe wird eigentlich klar, wer angesprochen wird: "FALSE HEROES IN UNIFORMS, STRANGE FOLKS OUTTA THEIR MINDS. MY WORLD IS EASY WITHOUT YOU". Es wird hier keine einzelne Person, geschweige denn Ex-Geliebte erwähnt. Der Song ist eher politisch, wenn man so will. ;)“. Enttäuschung und Wut, aber auch die Bemühung, Beherrschung zu bewahren, sind gesanglich allgegenwärtig. Anders geht es bei "Your Heroes" zu: Der mit satt knackigen Surf-Riffs und klatschenden Rhythmen ausgestattete, balladeske Psychedelic-Folk verwendet zu Beginn eine E-Piano-Sequenz, die an "Riders On The Storm" der Doors erinnert. Die Stimme sendet zudem dunkel-mysteriöse Signale aus, die den Song psychopathisch erscheinen lassen.

    Die Sängerin Anna Glahn ist dreimal prominent vertreten. So verleiht sie dem cool swingenden Chanson "See It Coming" zugleich Würde und Eleganz. Daneben stellt sie ihre Vielseitigkeit noch mit dem geschmeidigen, gepflegten Soul-Pop "Sad But True" und dem von gutgelaunten Keyboards und Bläsern getragenen Disco-Sound von "Dragonaut" unter Beweis.
    Lucy Kruger & The Lost Boys ist ein Art-Pop-Noise-Projekt aus Berlin. Deren in Südafrika geborene Frontfrau macht aus "Drifting" eine sinnlich-erotische Versuchung mit romantisch vernebelten und mysteriös rauschenden Mellotron-Schwaden, die klingen, als wären sie von "Nights In White Satin" der Moody Blues geborgt worden.

    "Veil" ist eine von Weltmusik und "Velvet Underground & Nico" inspirierte Psychedelic-Jazz-Nummer, die zusätzlich mit Space-Sounds und der verführerischen Stimme von Lucy Kruger angereichert wurde. Ein zugleich anziehendes wie ideenreiches Vergnügen.

    Aydo Abay, der Gründer der Alternative-Rock-Bands Blackmail und Glen hatte für "Under Covers" zusammen mit Frank Popp (unter dem Pseudonym Maria Ghoerls) eine Gothik-Wave-Version von "Leave Me Alone" im Stil der Sisters Of Mercy entwickelt. Bei "Sweet Remedy", einem drängenden, lebhaften Funk-Pop, kommt die lieblich-freundliche Stimme von Aydo Abay sehr gut zur Geltung, was ihn als attraktiven, genüsslich agierenden Herzensbrecher ausweist. Den sowohl melancholisch geprägten, wie auch schwungvollen und sauber strukturierten Acid-Folk-Jazz "Vertigo" überzieht der sympathische Sänger mit einem zuckerfreien, klaren Schmelz.

    Die bewährte, flexible gesangliche Begleitung von Sam Leigh-Brown kommt bei der federnden Funk-Pop-Cover-Version des ursprünglich anklagenden, aber optimistisch geprägten und von beschwichtigenden Streichern umsäumten Bobby "Blue" Bland-Protest-Songs "Ain` t No Love In The Heart Of The City" von 1974 sowie bei der dunklen, langsamen Breitwand-Pop-Hymne "Under The Sea" wirkungsvoll wie eh und je zur Geltung.

    Mit "Pierdete" (was so viel wie "hau ab" auf Spanisch heißt) gibt es dann noch ein Lied mit lebhaften brasilianischen Rhythmen. Wie auch bei anderen Liedern auf "Shifting", schlummern unter der positiv gestimmten Oberfläche nachdenkliche Inhalte. Es geht hier um die Befreiung aus einer toxischen Beziehung. Mit Hilfe von Schlagwörtern und deren persönliche Einschätzung (wie zum Beispiel: "Schmerz - Bleib weg von mir. Freude - Besser für mich.") werden die bisherigen Probleme den zukünftigen Erwartungen gegenübergestellt. Dann ist da noch "Save Me Saturday" mit der Gast-Sängerin Kat Ott (von 24/7 Diva Heaven): Ein rockender Disco-Pop, der stilistisch auch auf "Receiver" gepasst hätte, aber im aktuellen Kontext aufgrund seiner störrischen Robustheit wie ein kleiner, vielleicht bewusst gesetzter Stachel wirkt.

    So unterschiedlich die Entwürfe auch sein mögen, ein Faktor vereint alle Tracks: Das ist ein nützlicher und effektiver Groove. Er treibt bei einigen Stücken die Leute auf die Tanzfläche und verhindert bei den ruhigeren, introvertiert veranlagten Tracks, dass sie in Tristesse versinken.

    Willkommen zurück, Frank Popp Ensemble! Mit "Shifting" ist ein Comeback gelungen, das alle Fans da abholt, wo "Touch And Go" 2005 aufhörte. Es gibt also frisches, qualitativ hochwertiges Futter für alle Mod-Jünger, Groove-Pop-Begeisterten und Liebhaber von Vintage-Sounds. In diesem Zusammenhang darf auch eine Renaissance des Mellotrons gefeiert werden. Dieses Anfang der 1950er Jahre entwickelte Tasteninstrument kommt mehrfach zum Einsatz und sorgt mit seinen flauschigen Schwebe-Tönen für Wohlbehagen.

    Wie muss man sich eigentlich die Aufnahmesituation für "Shifting" vorstellen? Frank Popp klärt im Interview dazu auf: "Die Instrumentals haben nur Jascha Kreft und ich im Januar 2022 geschrieben und aufgenommen. Diese haben wir dann den SängerInnen zugeschickt. Im Februar kamen sie nacheinander (nach Spanien. Anmerkung der Redaktion) angereist, um Gesang und Texte zu schreiben und aufzunehmen".

    "Shifting" vereint mühelos anspruchsvoll ausgestaltete Pop-Musik mit teilweise ernsten Themen, als wäre es das einfachste der Welt. Nichts klingt verkrampft, alles fließt organisch. Dieser Fakt zeichnete das Frank Popp Ensemble schon immer aus und es ist toll, dass dieses Qualitätsmerkmal noch Bestand hat - als wäre die Zeit stehengeblieben.

    Es ist hinsichtlich der musikalischen Entwicklung des umtriebigen, kreativen Frank Popp noch einiges möglich, aber kann er sich auch vorstellen, deutsche Texte zu verwenden: "Nein. Ich bin selbst kein großer Fan deutschsprachiger Musik. Sicher gibt es Ausnahmen und geniale Werke, z.B. von Hammerhead, den frühen Blumfeld oder Ton Steine Scherben, jedoch habe ich immer schon englischsprachige Musik bevorzugt, so eben auch bei meiner eigenen Musik. Allein schon wegen der britischen Fans ;)". Sind im Rahmen der "Shifting"-Veröffentlichung denn Konzerte oder andere mediale Auftritte (z.B. TV, Internet) geplant: "Es wird um das Release-Date einiges an Interviews und Events geben, aber mit Live-Auftritten in Form einer Band habe ich abgeschlossen. Das ist nichts für mich".
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    Mercy (CD)
    23.01.2023
    Klang:
    5 von 5
    Musik:
    5 von 5

    Ein gütiges Schicksal ist eine Gnade: John Cale meldet sich mit atmosphärisch starken, dunklen, inspirierenden neuen Songs zurück.

    Es ist schon eine kleine Sensation, dass sich John Cale wieder musikalisch zu Wort meldet. Sein letztes akustisches Lebenszeichen mit neuen Songs erschien schließlich bereits 2012 ("Shifty Adventures In Nookie Wood"). Der legendäre Musiker, der sein Handwerk unter anderem bei den Minimal-Art-Künstlern John Cage und LaMonte Young lernte und mit The Velvet Underground Kultstatus erlangte, wurde schließlich im letzten Jahr bereits 80 Jahre alt - da sind andere Künstler längst im Ruhestand.

    "Mercy" erscheint am 20. Januar 2023 und setzt stimmungsmäßig in etwa da an, wo "M:FANS" - die elektronische Aufbereitung des Albums "Music For A New Society" - im Jahr 2016 aufgehört hat, ist aber milder und weniger aggressiv ausgerichtet. Von den zwölf neuen Songs kommen nur drei ohne den Einsatz von Synthesizern aus. Die Maschinen sorgen grundsätzlich für ein dunkles, geheimnisvolles sowie rauschhaft-künstlerisches Fundament und John Cale bringt seine erzählerisch markante, sonor und weise klingende Stimme in Ergänzung dazu nicht nur als Transportmittel für Texte, sondern auch als Sound-färbendes Element ein. Zahlreiche Gäste sorgen unterdessen für individuelle Klangfärbungen.

    Für den Song "Mercy" trägt die Musikerin Laurel Halo mit ihrem Keyboard-Equipment einiges zu der sakralen Stimmung bei. Die weichen Synthesizer-Wolken mit Echo-Effekt, die entfernt an "I`m Not In Love" von 10cc erinnern, sollten jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass man es mit einer ernsthaften, wehmütig-schmerzhaften Ballade zu tun hat. Die sieben Minuten Laufzeit sind von langsam klopfenden Rhythmen erfüllt, die sich den Klangraum mit introvertiert sirrenden Tönen teilen, zu denen sich Cale flehend im Vordergrund und leicht verfremdet aus dem Hintergrund zu Wort meldet. So entsteht ein intimer und verträumter Electro-Gospel. Im Text sind eindeutige Bezüge zum Ukraine-Krieg auszumachen ("Wölfe bereiten sich vor. Sie werden mehr Waffen kaufen. Im Schnee und Matsch herumrollen. Lichter explodieren über ihnen."). Aber es gibt auch generelle Empfehlungen, doch Zorn durch Barmherzigkeit zu ersetzen.

    Die Rolle des Sound-Designer-Partners übernimmt für "Marilyn Monroe`s Legs (Beauty Elsewhere)" der englische Electronic-Künstler Actress. Erneut gibt es sieben Minuten Laufzeit, die experimentell, sprunghaft-unausgeglichen und mit Effekten gespickt daherkommen. Trotzdem verliert der Song nicht vollends seine Strukturen, sondern ringt stets darum, eine Melodielinie aufzubauen, was aber an üblichen Hit-Gesichtspunkten gemessen nicht gelingt.

    Akustische Instrumente wie Schlagzeug und jede Menge Streichinstrumente runden die vordergründig von technischen Geräten erzeugten Töne bei "Noise Of You" polternd und aufbrausend ab. Die Keyboards wallen, schwingen und säuseln, so dass sich eine Bündelung aus stimulierenden und beruhigenden Klängen ergibt. Es geht inhaltlich um die Spuren, die eine geliebte, verstorbene Person hinterlässt. Auch wenn sie gegangen ist, hallen die von ihr erzeugten Stimmungen, die sich eingeprägt haben, lange nach.

    "Story Of Blood" ist unter gesanglicher Beteiligung der von Cale sehr geschätzten Musikerin Weyes Blood entstanden. Ein einsam-trauriges Bar-Piano leitet den Song ein, zirpende Geräusche begleiten die nächtlich geprägte Atmosphäre. Das dauert so lange, bis mächtige Bass-Beats und fiepende Synthesizer die Luft zerreißen. John klingt zunächst, als ob er aus einem Exil heraus heimlich seine Botschaften verkündet. Diese Wahrnehmung ändert sich langsam in Richtung eines luxuriös ausgestatteten, gefühlvollen, die Sinne betörenden Broadway-Musicals, ohne dass dabei die künstliche rhythmische Basis außer Acht gelassen wird. Der Reiz liegt bei diesem und einigen anderen Songs im Kontrast zwischen schmeichelnder Tonalität und angedeuteter Zersetzung.

    Das amerikanische Synthie-Pop-Duo Sylvan Esso unterstützt bei "Time Stands Still" mit einer feinen femininen Background-Stimme und einer allerdings nicht wahrnehmbaren akustischen Gitarre. Im Kern handelt es sich hier um einen wohlklingenden, in sich gekehrten Pop-Song, der ohne die vorherrschenden elektronischen Beigaben auch gut auf das Meisterwerk "Paris 1919" von 1973 gepasst hätte.

    "Moonstruck (Nico’s Song)" ist eine Erinnerung an die Andy Warhol-Muse Nico, die als Schauspielerin, Model und Sängerin tätig war. Mit ihren unterkühlt-schattigen, morbide-erotischen Gesangsbeiträgen zum ersten The Velvet Underground-Album und (mindestens) mit ihren ersten vier tottraurigen Solo-Alben machte sie sich unsterblich. "Moonstruck (Nico’s Song)" wird zunächst sanft von energischer Ernsthaftigkeit getragen: Entschieden auftretende Streicher treiben das Stück vorwärts, bevor am Horizont brummende Töne auftauchen, die eine poetische Wendung einläuten. Cale singt lieblich, beinahe verzückt, wie lange nicht mehr. Die raumfüllenden Instrumente erzeugen dazu passend eine märchenhaft-undurchsichtige Aura, die zum Beispiel zu "Alice im Wunderland" passen würde.

    Für "Everlasting Days" konnte als Verstärkung das experimentelle Pop-Quintett Animal Collective gewonnen werden, welches eigentümliche Solo- und verstörend-verstärkende Chor-Gesänge sowie munter schäumende und meditative Synthesizer-Linien beisteuert. Der Track hat eine psycho-aktive Wirkung und taumelt zwischen präziser Pflichterfüllung und unbekümmerter Arglosigkeit hin und her.

    "Night Crawling" groovt trocken-detailliert und lässt auf diese Weise Licht und Luft in die ansonsten etwas unscharfe Komposition eindringen. So entsteht ein komprimierter Funk-Begriff, wie er auch manchmal von den Talking Heads oder Joan As Police Woman erzeugt wurde. Die in Los Angeles lebende HipHop-Produzentin TOKiMONSTA ist bei dem verängstigten "Not The End Of The World" für die exotischen Effekte zuständig, die nie überladen oder fehl am Platze wirken. Bei dem teils elegant fließenden, teils fromm verweilenden Track verbreiten sie ein Glitzern und Funkeln im Dunkeln.

    Die englische Post-Punk-Band Fat White Family gastiert für "The Legal Status Of Ice" als Gesangsverstärkung. Der Song fällt durch seinen beschwörenden, Mantra-mäßigen Gesang und Trommeln, die von indigenen Völkern zu stammen scheinen, auf. Durch dieses Konstrukt erhält das Ganze einen ursprünglichen, spirituellen Anstrich.

    Die in Argentinien geborene Sängerin Valerie Teicher, die mit Künstlernamen Tei Shi heißt, begleitet Cale bei "I Know You`re Happy" sehr dezent. Erst gegen Ende des Tracks ist sie manchmal deutlicher zu vernehmen. Die ruhige Pop-Nummer zeigt sich relativ gelöst, hinterlässt aber aufgrund ihres bescheidenen Ausdrucks einen unspektakulären Eindruck, der erst nach ein paar Hördurchgängen seinen Ohrwurm-Charakter offenbart.

    Das hell gespielte Stakkato-Piano fungiert beim abschließenden "Out Your Window" als Leuchtfeuer, um vor den unheilschwangeren Chorstimmen und Streichern zu warnen, die wellenartig am Gerüst des Songs zerren. Das führt zu einem intensiven, lebendig-beweglichen Höreindruck.

    "Mercy" bedeutet Barmherzigkeit, Erbarmen oder Gnade. Gnade beinhaltet nicht nur Wohlwollen, sondern drückt auch ein gütiges Schicksal aus. Dies kann John Cale mit seinem Leben verbinden und dieser Umstand hat ihn vielleicht zum Titel seines neuen Werkes angeregt. Der dargebotene Art-Pop ist anspruchsvoll, aber nicht kompliziert. Es gibt zwar mehr Moll- als Dur-Töne, aber die Stimmung ist auch aufgrund des souveränen Gesangs nicht depressiv. Sämtliche Gäste auf "Mercy" zeigen Zurückhaltung und Respekt gegenüber der Legende, die nicht nur singt, sondern auch Keyboards, Synthesizer, Gitarre, Bass und Schlagzeug spielt. "Mercy" zeigt die ganze Klasse von John Cale und gehört innerhalb seines Repertoires zu seinen überzeugendsten Alben, denn "Mercy" ist ein vollmundig und komplex klingendes, intelligent durchdachtes und strukturiertes Kunst-Werk geworden!
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    2 Kommentare
    Anonym
    26.01.2023

    John Cale Mercy

    Tolle, fundierte Beschreibung. Danke. Sind Texte dabei?
    Anonym
    26.01.2023

    Music for a new society

    Ein offenbar fundierter und möglicherweise professioneller Schreiber von Kritiken. Liebe John Cale ebenfalls, auch als Produzent (Patti Smith).
    Oben genannter Titel ist allerdings von 1982 !!! Dies nur der Ordnung halber.
    MLDE Marxist Love Disco Ensemble
    MLDE (CD)
    27.12.2022
    Klang:
    4 von 5
    Musik:
    4 von 5

    Für das Marxist Love Disco Ensemble gehören Marx & Dancefloor genauso zusammen wie Philosophie und Groove.

    Tanzbare Musik und politische Aussagen - kann das zusammenpassen? Es kann und diese Kombination ist nicht neu. In den 1980er Jahren erregten zum Beispiel Heaven 17 im Jahr 1981 mit ihrer Single "(We Don`t Need This) Fascist Groove Thang" Aufsehen, weil sich der Text kritisch mit der Haltung von Margaret Thatcher und Ronald Reagan im Hinblick auf Rassismus und Faschismus auseinandersetzt. Aufgrund dieser provokanten Aussagen wurde der Titel von der BBC verboten. "Free Nelson Mandela" von The Special AKA sorgte 1984 dafür, dass das Schicksal von Nelson Mandela einer größeren Öffentlichkeit bekannt wurde und unterstützte somit in gewisser Weise seine Freilassung. Derlei Beispiele von Protest-Songs, die Menschen zum Denken und Handeln bewegen, gibt es viele. Stellvertretend dafür seien hier die 1969er Anti-Vietnam-Kriegs-Hymne "War" von Edwin Starr, "Ohio" von Crosby, Stills, Nash & Young, das die 1970 blutig niedergeschlagenen Studentenunruhen mit vier Toten anprangert, "Inner City Blues (Make Me Wanna Holler)" von Marvin Gaye, wo es um Armut geht, sowie "American Idiot" von Green Day, bei dem die üble Rolle der Massenmedien während des Irak-Kriegs im Jahr 2004 angesprochen wird, genannt.

    Der Gründer des Marxist Love Disco Ensemble, der Percussion-Spieler und Komponist Paolo Volkov aus Bologna, hat noch einen etwas anderen Ansatz, denn er schrieb "MLDE" als Antwort auf "I Love America" von Patrick Juvet. "Der Song warf die Frage auf: Warum wird Disco, ein Genre, das ursprünglich von unterdrückten Minderheiten geschaffen wurde, schließlich zum Synonym für westlichen kapitalistischen Exzess?", erklärt Paolo Volkov die Motivation hinter seiner Idee, die dekadente Verbindung auflösen und dafür humanistische Ansätze einbringen zu wollen. Entsprechend undogmatisch und verspielt geht er mit dem Erbe der Disco-Kultur um.

    "Dust" wird in einen Klangteppich gehüllt, der psychedelischen Space-Age-Pop, schmissige Easy-Listening-Töne und gut gelaunte, bunte Carnaby-Street-Sixties-Vibes zu einem Gefühl der unbeschwerten Lebensfreude und Dauer-Party-Stimmung erheben.

    Musikalisch ist "Brumaire" ein Konglomerat aus reifem, bedächtigen Lead-Gesang und rhythmisch aktivem Pop, wie er in den 1980er Jahren zum Beispiel von ABC aufgelegt wurde und heute noch von Belle & Sebastian praktiziert wird. Das Lied nimmt direkten Bezug auf Aussagen von Karl Marx, der die rückwärts orientierte Politik von Napoleon untersuchte.

    "MLDE" soll von osteuropäischen und mediterranen Disco-Platten der 1970er Jahre beeinflusst worden sein, wovon das kitschige, von Billig-Synthesizer-Schwingungen durchzogene und mit Minimal-Art-Mustern versehene "Material" zeugt. Dass der Titel nicht in seichten Wohlklang abdriftet, dafür sorgen die versierten Jazz-Musiker des Ensembles, die den gediegenen Sound stets niveauvoll verfeinern und für eine kunstvolle Gestaltung sorgen. Was sich zunächst einfach anhören mag, wurde jedoch im Grunde genommen komplex zusammengesetzt.

    "Manifesto" blubbert, klopft, schwirrt und surrt, dass es eine belebende rhythmische Freude ist. Eine erotische weibliche Gaststimme verbreitet Sinnlichkeit, während im Kontrast dazu eine nüchterne Beamtenstimme stumpf die Parole "Disco Socialista" verkündet.

    Der Text von "1905" bezieht sich auf die Russische Revolution, dennoch ist die Musik nicht aggressiv oder wütend, sondern strahlt Güte, Freundlichkeit und Zuversicht aus. Paolo Volkov zeigt sich unberechenbar, was die konträre Stimmungslage zwischen dem problematischen textlichen Inhalt und der zuversichtlichen Musik angeht. Das macht den besonderen Reiz des Albums aus.

    "Die Menschheit wurde für die Gier verpfändet, eingekerkert von kriegerischen Mehrwertdieben. Vertreibe die Götter vom Himmel und du wirst feststellen, dass uns dann die Freiheit winkt", heißt es schon beinahe aufrührerisch in "Hues Of Red". Dazu erscheinen galante Disco-Funk-Töne, die so gar nicht den Anschein erwecken, als würden sie eine Revolution anstreben. Mimikri nennt man das in der Biologie: Die Kunst der Täuschung, die zum Schutz oder zum Anlocken genutzt wird.

    "Hide And Seek" ist voll von agitatorischen Parolen wie "Chauvinisten und Hoffnungslose ernähren sich von der Unzufriedenheit". Beinahe albern wirkt dagegen der begleitende knallbunte Pop, der auf die lustige Wirkung von quietschenden Billig-Synthesizern, gepflegten New Romantics-Chic und süße Harmonien setzt. Diese verspielte Naivität kommt auch dem Soundverständnis von Carsten "Erobique" Meyer ("Tatortreiniger") nahe, wo aufreizende Fröhlichkeit auf virtuose Musikalität trifft.

    Die physischen Tonträger von "MLDE" enden mit dem eifrigen, unausgeglichenen "Engineers", bei dem sich der weibliche Gesang manchmal absichtlich etwas neben der Spur anhört. Der sexuell aufgeladene Disco-Boogie wirkt angestrengt, während der Duett-Gesang schleppend hinterher hinkt. Gegensätze ziehen sich auch hier an.

    Der nur digital verfügbare, kurze Bonus-Track "Communique" ist ein fragmentarisches Experimentalstück mit Space-Sound-Elementen, stilisierter Volksmusik und jammernden Synthesizer-Tönen. Der zweite Zusatz-Titel "Recapitulate" macht seinem Namen Ehre, da er einige Motive des Albums aufgreift, neu strukturiert und zu einem Medley aus grade erlebten Eindrücken zusammenfügt.

    Wer sich noch an die "Mutant Disco"-Zusammenstellung des New Yorker ZE-Labels aus dem Jahr 1981 erinnert, die Künstler wie Kid Creole & The Coconuts (die mit "Stool Pigeon" 1982 ihren größten Hit hatten), Was (Not Was) (die Band vom Produzenten Don Was), Cristina (Monet) oder Material (der Hammer: "Bustin` Out" mit der stimmgewaltigen Nona Hendryx von Labelle) hervorbrachte, der wird sympathische Parallelen zu dem Marxist Love Disco Ensemble feststellen. Fans von Stereolab, dem Mild High Club oder den High Llamas werden sich hier sowieso wohlfühlen.

    "MLDE" besitzt bei aller Eingängigkeit und vermeintlicher Anpassung an gängige Sounds genügend Substanz, um schwindelerregende Assoziationen loszutreten. Gute Musik besteht eben immer auch sowohl aus körperlich wie auch aus geistig anregenden Tönen. Und zu diesem Prozess trägt das Marxist Love Disco Ensemble einige Impulse bei.
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    Reflections Reflections (CD)
    27.12.2022
    Klang:
    4 von 5
    Musik:
    4 von 5

    "Reflections" zeigt, welche Strahlkraft eine Harfe besitzen kann, wenn sie eine Könnerin bedient und das sie begleitende Ensemble geschmackvoll arrangiert wird.

    Bei aller Eigenständigkeit und Kreativität kann die in London lebende ukrainische Harfenistin Alina Bzhezhinska ihre Verehrung für die Kolleginnen Dorothy Ashby und Alice Coltrane (die ex-Frau des Saxophonisten John Coltrane) nicht leugnen. Kunststück, so viele prägende Harfenistinnen gibt es ja auch gar nicht im Jazz. Und damit ist auch schon die grobe Stilrichtung von "Reflections" vorgegeben: Spirituell verspielter und intellektuell groovender Jazz, der genauso von einer festen Struktur wie von lebendiger Improvisation lebt.

    Die glitzernd perlenden, rauschend wehenden und klingelnd hellen Töne der Harfe prägen selbstverständlich das gesamte Klangbild, lassen aber auch Raum für andere Sound-bildende Instrumentalisten. So trägt beim Eröffnungstrack "Soul Vibrations" (der ursprünglich 1968 von Dorothy Ashby aufgenommen wurde) eine Rumpfbesetzung des HipHarpCollective - nämlich Michele Montolli (Bass), Joel Prime (Percussion), Adam Teixeira (Schlagzeug) und Ying Xue (Geige & Viola) - entscheidend zum schwelgend-sehnsüchtigen und romantisierend-exotischen Stimmungsbild bei. Parallel dazu wird das Stück von einem grummelnden, karibisch anmutenden Funk-Groove bei Laune gehalten.

    Kurzzeitig produziert der Bass zu Anfang von "For Carrol" unheimlich erscheinende menschliche Klagelaute, bevor Jay Phelps seiner moderat angeblasenen Trompete eine traurige Melodie entlockt, die sich zeitnah aus ihren melancholischen Fesseln befreit und durchaus ein unbequemes Eigenleben führt. Der Rhythmus swingt unterdessen wie ein frisch geöltes Uhrwerk, während die Harfe und der Bass geordnete, kommunikative Improvisationen anstimmen.

    "Fire" ist eine gemeinschaftliche Komposition des Saxophonisten Joe Henderson mit Alice Coltrane. Sie ist im Original auf Hendersons Album "The Elements" von 1974 zu finden. Den Saxofon-Part führt hier der Brite Tony Kofi aus und er interpretiert seine Rolle genauso wie es Joe Henderson tat: Als Aufrührer und als melodischer Verstärker. Entsprechend taumelt das Stück zwischen leichtfüßiger brasilianischer Lebensart, verspielter Improvisation und aggressiv-wildem Krawall hin und her. Das Samba-Percussion-Solo gegen Ende ist dabei etwas zu lang geraten, was zu Lasten der ansonsten geschlossenen Kompaktheit geht.

    Das Stück "Reflections" geht da ganz andere Wege: Auf gefühlvoll-malerische Weise werden die klaren Töne der Harfe und die dunklen Schwingungen vom Bass zusammen mit dezenten Schlagzeug-Becken-Klängen in einem durchgängig langsamen, ruhigen Erzähltempo nebeneinander und miteinander aufgestellt.

    Der kubanische Musiker und Bandleader Mongo Santamaria ist für seinen mitreißenden, perkussiv geprägten afro-kubanischen Sound bekannt, mit dem er unter anderem Herbie Hancock ("Watermelon Man") und Carlos Santana beeinflusste. Santamarias "Afro Blue" aus 1959 wurde unter anderem von John Coltrane, Abbey Lincoln und Lizz Wright aufgenommen und ist auf "Reflections" in der Gesangsversion zu finden. Die Jazz-Sängerin Vimala Rowe, die ansonsten gerne das Werk von Ella Fitzgerald oder Billie Holiday interpretiert, leiht dem weltmusikalisch gefärbten, vorsichtig forschenden Jazz-Track ihre sanfte, soulig-ergreifende Stimme, die in ihrer überlegt-inspirierenden Art an Julie Tippetts erinnert.

    John Coltrane gilt zu Recht als einer der einflussreichsten Saxophonisten des Jazz. Sein musikalischer Weg führte ihn sowohl in lyrische wie auch in experimentelle Bereiche. "Alabama" spielte er 1963 als Reaktion auf einen Bombenanschlag des Ku-Klux-Klan in einer Kirche ein, bei dem vier Afro-Amerikaner getötet wurden. Das Stück ist von Trauer durchzogen, zeigt aber trotz des rassistisch motivierten Hintergrunds keine Wut. Das HipHarpCollective-Mitglied Tony Kofi übernimmt bei dieser Cover-Version eine demütige, am Original angelehnte Saxophon-Position und sorgt dafür, dass der Track seine ursprüngliche gnädige Stimmung und spirituelle Kraft beibehält.

    Mit "African Flower" wird einem weiteren Giganten der Jazz-Szene Tribut gezollt: Duke Ellington schrieb die Komposition 1962 für sein Album "Money Jungle", wo ihn Charles Mingus am Bass und Max Roach am Schlagzeug begleiten. Das Stück ist im Grunde genommen eine zärtliche Ballade, was noch besser bei den Piano-Solo-Aufführungen des Duke zur Geltung kommt. Alina Bzhezhinska orientiert sich an dieser introvertierten Variante, bindet aber bei ihrer Sichtweise Solo-Aktivitäten von Harfe und Saxophon mit ein.

    Die Instrumentalversion der Eigenkomposition "Paris Sur Le Toit" lässt es leicht und locker angehen, so dass sie sich bei aller kunstvollen Darstellung auch als unaufdringliche Hintergrundbeschallung eignet. Die Gesangs-Version des Tracks erhält durch den Rap-Beitrag von Lady Sanity und Tom They/Them im Gegensatz dazu eine sperrig-eigensinnige Ausrichtung. Bei der Komposition "Sans End" des Bassisten Michele Montolli herrscht ein melodisches, intimes Abtasten zwischen Harfe und Bass, das von rücksichtsvoller polyrhythmischer Percussion unterlegt wird.

    Neben Alice Coltrane ist Dorothy Ashby die zweite Harfenistin, die für Alina Bzhezhinska eine Vorbildfunktion hat. Sie war eine Pionierin, die bereits Ende der 1950er Jahre wirkte. Ihr "Action Line" aus 1968 ist ein Titel, der in einigen Rare-Groove-Sammlungen auftaucht und sich überraschend frisch gehalten hat. Das HipHarpCollective verändert den Good-Time-Charakter nur unwesentlich, baut die Soli aber tendenziell eher als gewollten Bruch statt als homogenes Zusammenspiel ein. Mit einer sechsminütigen "Meditation", die sphärische Momente, sowie Harfen- und Bass-Improvisationen enthält, wird das zweite Werk von Alina Bzhezhinska nach "Inspiration" aus 2018 in sich stimmig abgeschlossen.

    "Reflections" ist eine respektvolle Verbeugung vor der Lebensleistung von Dorothy Ashby und Alice Coltrane und ein aktueller Hinweis darauf, dass die Harfe zu Unrecht ein stiefmütterliches Dasein im Jazz fristet. Ihr Klang wird zwar in der Klassik geschätzt, ist aber in anderen Bereichen oft nur zur esoterischen Vernebelung oder Romantisierung von Eindrücken willkommen. Dabei kann mit ihr soviel mehr ausgedrückt werden, wie Alina Bzhezhinska anschaulich und kompetent mit ihrem HipHarpCollective beweist. "Reflections" stellt Schönheit neben Spiritualität und Experimentierfreude dar und deckt somit ein breites Ausdrucks-Spektrum ab, welches präzise auf intro- und extrovertierte Art und Weise ausgeleuchtet wird. So funktioniert zeitloser Jazz mit Geschichtsbewusstsein.
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    33, Single & Broke Teresa Bergman
    33, Single & Broke (CD)
    03.12.2022
    Klang:
    4 von 5
    Musik:
    4 von 5

    Aus einer beklemmenden Ausnahmesituation entsteht ein kreativer Höhenflug: Teresa Bergman öffnet mit "33, Single & Broke" ein Füllhorn an ideenreichen, hochkarätigen Songs.

    Was für eine ernüchternde Bilanz. Es ist nicht unbedingt katastrophal, mit 33 Jahren noch oder wieder Single zu sein, aber es ist besorgniserregend, wenn man sich ausgelaugt, pleite, vielleicht ausgenutzt oder kaputt fühlt. Genau das ist der neuseeländischen Wahlberlinerin passiert: Die Pandemie nahm ihr die öffentliche Arbeit als Musikerin und zeitgleich musste sie eine Trennung verarbeiten - eine erschütternde Kombination.

    Statt sich jedoch in Selbstmitleid zu suhlen, wandelte Teresa Bergmann ihre Enttäuschung in kreative Energie um. Sie inszeniert sich in ironisch-lustigen Videos als eine Protagonistin, die optisch an die oft missverstandene französische Königin Marie Antoinette angelehnt ist. Für ihr drittes Album "33, Single & Broke" schlüpft dieser Charakter sozusagen in ihre Rolle, so dass die persönliche Situation der leidenschaftlichen Straßenmusikerin quasi von außen als Beobachterin auf die Songs projiziert wurde. Befindlichkeiten, der Druck aufgrund gesellschaftlicher Konventionen und intime Gefühle konnten auf diese Weise ehrlich und ungefiltert verarbeitet werden.

    Im Opener "Swallow" stellt sich Teresa Bergman der Frage, die jede Frau irgendwann einmal für sich beantworten muss: "Kann oder sollte ich das ungebundene Single-Leben gegen das der Rolle einer Ehefrau und/oder Mutter eintauschen? Wie gehe ich mit der gesellschaftlichen Erwartungshaltung um, die ein vorgefertigtes Bild davon, was eine Frau mit Anfang 30 erreicht haben sollte, als Leitlinie vorgibt? Diese zweifelnde Einschätzung wird durch die erste Textzeile verdeutlicht: "Kann ein Haus ein Zuhause sein, wenn man nicht ein Nest baut?" Die A Cappella-Einleitung schärft dabei die Aufmerksamkeit, so dass der muntere Pop-Jazz danach leichtes Spiel hat, um die Hörerschaft leichtfüßig mit der opulenten Eleganz klassischer Broadway-Musicals und gelegentlichen humorvollen Abstechern ins Arien-Fach um den Finger zu wickeln. Der umtriebige Song vereint dabei in etwa die Ausdruckskraft der Stimmen von Liza Minelli und Kate Bush in sich.

    Das am filigran verschachtelten Westcoast-Folk der endsechziger Jahre geschulte "33, Single & Broke" transformiert seine allgegenwärtige Melancholie über eine wohlig-anschmiegsame, intime Stimmung mit gelegentlichen temperamentvollen Ausflügen.

    In "So Many Men" geht es um das Dating-Verhalten von Männern: Sie prahlen, sie überschütten mit Komplimenten und Versprechungen - sie übertreiben und lügen, um ans Ziel zu kommen. Und wenn es ernst wird, sind sie wieder weg. Soweit die Erfahrungen oder Einschätzungen von Teresa alias Marie Antoinette. Ein groovender, federnd-entschlossener Latin-Jazz-Rock bildet den Soundtrack für diese Beurteilung der modernen Partnersuche, die prickelnd oder ernüchternd sein oder im besten Fall verheißungsvoll enden kann.

    Als in der griechischen Mythologie "Pandora" aus Neugier eine Büchse öffnet, die ihrem Mann zur Aufbewahrung überlassen wurde, verbreiteten sich alle möglichen Übel, die darin gefangen waren, über die Erde. So auch die Angst, der sich die Protagonistin in dieser Ballade entgegenstellt, indem sie verkündet: "Monster sind dazu da, um sich von ihnen zu ernähren." Das Stück beginnt zunächst als sensible Ballade mit zerbrechlichen Akustik-Gitarren- und Piano-Tönen, die sich als empfindsame Begleiter herausstellen. Es gibt später auch noch leidenschaftlich flehende Passagen, die das Gefühls-Spektrum in Richtung Dramatik ausweiten.

    "Aaron" hat ein Herz gebrochen: "Aaron, du bist eine Moll-Taste. Du nahmst die Liebe, die uns besser machte. Und hast sie in etwas Bitteres und Fremdes verwandelt." Das Lied verbreitet trotz dieser bedrückenden Ausgangssituation eine überlegene, geschmeidige Pop-Brillanz, wie sie sonst gegenwärtig wohl nur noch von Aimee Mann oder A Girl Called Eddy entworfen werden kann. Das ist reife Komponier- und Arrangier-Kunst in Vollendung. Ergreifend und schön.

    Und danach folgt noch eine gescheiterte Beziehungsgeschichte, die zu der Frage führt: "Wann wirst Du Dich selbst genug lieben, um jemand anderen lieben zu können?". Teresa und ihre bewährten, exzellenten Band-Kollegen Matt Paull (Keyboards), Tobias Kabiersch (Bass) und Pier Ciaccio (Schlagzeug, Percussion) erzeugen für "Collateral Damage" einen flexibel aufgebauten Power-Pop-Sound mit einer rauschenden Southern-Soul-Orgel-Basis, bei dem Teresas anpassungsfähige Stimme prominent in den Mittelpunkt gestellt wird.

    Der leise, zurückhaltende, demütige Folk-Jazz von "Checkout Tears" ist laut Aussage der im Berliner Wedding beheimateten Teresa Bergman ein Lied über das Weinen im Supermarkt im Speziellen und das Loslassen im Allgemeinen. "Tears And Time" ist dem Freund Nummer siebenunddreißigeinhalb gewidmet. Das Lied klingt gut gelaunt, zapft Skiffle- und Oldtime-Jazz-Elemente an, hört sich aber dennoch nach flockigem Folk-Pop an.

    "Whatever That Was" beinhaltet ein einminütiges Fragment mit improvisiertem Übungsraum-Charakter, das erst noch ein richtiger Song werden soll. Dieses Stadium hat "Old Timer" lange hinter sich gelassen. Das perfekt eingespielte, märchenhafte Stück wurde mit einer warmen Ausstrahlung versehen. Das Tirilieren der Stimme versprüht jedoch eine klebrige Zuckerlösung, die das Lied zu glatt und süßlich erscheinen lässt.

    "Nearly You" kommt ganz ohne instrumentellen Beistand aus. Teresa Bergman zieht alleine durch ihre strahlende Persönlichkeit und ihren einnehmenden, ausgeglichenen, klaren Gesang alle Aufmerksamkeit auf sich und schafft von leichter Hand eine Atmosphäre der Sicherheit und Geborgenheit. Wie bei einem lauschigen, in sich gekehrten Wiegenlied.

    "33, Single & Broke" ist das dritte Album der in Neuseeland geborenen und aktuell in Berlin lebenden Künstlerin und erfährt gegenüber dem sehr guten Vorgänger "Apart" aus 2019 noch eine Steigerung. Das neue Werk ist auf erstaunliche Weise sowohl leicht zugänglich wie auch niveauvoll. Eine Kombination, die eigentlich großen kommerziellen Erfolg verspricht. Dazu kommt noch, dass Teresa Bergman über eine herausragende, anpassungsfähige, mächtige und gefühlsechte Stimme verfügt, die sämtliche Kompositionen adelt.

    Die Künstlerin scheint nur noch einen Wimpernschlag vom internationalen oder nationalen Durchbruch entfernt zu sein. Ihr fehlt eigentlich nur noch der entscheidende Fernsehauftritt, die Berücksichtigung in einem Soundtrack oder das Quäntchen Glück, das manchmal die Steine ins Rollen bringt. "33, Single & Broke" hat zumindest das Format, um im Vergleich zu anderen, berühmteren Musikerinnen locker zu bestehen, weil die Platte clever und unterhaltsam zugleich dargeboten wird.
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    Terribly Good Terribly Good (CD)
    21.11.2022
    Klang:
    4 von 5
    Musik:
    4 von 5

    "Terribly Good" bietet energische Girl-Power, die mitreißend, melodisch und voll innerer Spannung in Szene gesetzt wird.

    Wo sind sie geblieben, die peppigen, erfrischenden, engagierten Bands, bei denen Frauen dringlich und selbstbewusst den Ton angeben, wie bei The B-52`s, Blondie, The Go-Go`s, The Bangles, The Donnas oder den Pretenders? Sie sind völlig zu Unrecht aus der Mode gekommen. Das ist bedauerlich, denn Musikerinnen, die schon alleine mit ihrem Temperament statt nur mit schierer stimmlicher Gewalt (wie z.B. Whitney Houston oder Adele) auftrumpfen, haben sich stets als nachhaltig vitalisierende Unterhaltungs-Künstlerinnen herausgestellt.

    Die Kanadierin Skye Wallace weiß genau, wie man schwungvoll-vitalisierendes Material, das zwischen Pop und Rock angesiedelt ist, attraktiv in Szene setzt. Textlich dreht sich bei "Terribly Good" vieles um den Selbstfindungsprozess der jungen Frau. "Am Anfang war ich spröde, da war ich in meiner schlimmsten Phase...Habe mich selbst zerfleischt", heißt es im Eröffnungsstück "Tooth And Nail". Aber aufgeben kommt nicht in Frage, der Wunsch nach Veränderung hat oberste Priorität. Dieser entschlossene Kampfeswille findet sich auch im Aggressionspotential der Musik wieder: Trockene und scharfe Hard-Rock-Riffs leiten "Tooth And Nail" ein und bald darauf übernimmt Skye Wallace die Kontrolle, feuert das Stück durch sich steigernden zupackenden Gesang kräftig an, nimmt sich zurück und startet erneut eine Erregungs-Offensive. Die Rhythmus-Fraktion sorgt ständig für Bodenhaftung und variiert die Dynamik, so dass ein robuster und gleichzeitig flexibler Eindruck entsteht.

    Manchmal treten im Leben Zweifel auf, ob das eigene Durchhaltevermögen ausreicht, um festgefahrene Zustände ändern zu können. Diese Skepsis führt im schlimmsten Fall zu weiterem Verdruss. Davon handelt "The Doubt". Der Song knüpft hinsichtlich seiner unverbrauchten Frische an den Vorgänger an und präsentiert sich als reizender New Wave-Song, bei dem die Eingängigkeit präsenter als die Eigenwilligkeit ist.

    Vielleicht hilft es, in komplizierten, verwirrenden Zeiten einfach auf Zweckoptimismus zu setzen, wie in "Everything Is Fine" beschrieben. Der angenehme Soft-Pop wird in Funken sprühende und scharf angeschlagene Gitarren-Kaskaden gehüllt, die den Track aus der romantischen Kuschel-Ecke ins pralle Leben holen.

    Es ist schwer, zu sich selbst entwaffnend ehrlich zu sein, denn dann muss man sich auch schonungslos mit den eigenen Schwächen und Fehlern auseinandersetzen und das kann weh tun. Dieses über den eigenen Schatten springen ist in etwa die Botschaft hinter "Truth Be Told". Der Track läuft zunächst ausgeglichen-friedvoll ab, entwickelt sich jedoch schließlich noch zum druckvollen Rocker, dessen Energie abhängig von den Emotions-Strömen angepasst wird. Dynamische Abstufungen bestimmen also das Gesicht dieses verführerischen Liedes.

    Phantomschmerzen können an Gliedmaßen entstehen, die gar nicht mehr da sind. Sie sind also sinnbildlich eine Verbindung zur Vergangenheit. "Ich habe keinen Platz, um zu akzeptieren, dass du nicht mehr mein bist", singt Skye in "Phantom Limb". Sie hat also psychische Phantomschmerzen. Die Musik erinnert in seiner Rhythmus-Struktur phasenweise an "I Love Rock & Roll" von Joan Jet & The Blackhearts. Das Stück verfügt als Lockmittel über kontrolliert brodelnde E-Gitarren-Töne, die der sich einschmeichelnden, ungekünstelten, gradlinigen Melodie die Zähne zeigen.

    "Keeper" ist Beichte und Liebesbezeugung zugleich: "Ich bin trauriger als du, ich habe mehr Fehler gemacht. Und mein Herz kann die Last der Welt nicht tragen. Aber wenn ich in deinen Armen liege, steht die Zeit still", heißt es dort. "Keeper" ist die einzige Ballade des Albums und wird von wehmütigem Gesang und einem fragilen Arrangement gespeist, das dem Song ein innig-feierliches Gospel-Feeling verleiht.

    Wut liegt in der Luft, wenn sich schroffe Gitarren für "You Left" ungestüm ihren Weg durch diese vor Tatkraft strotzende, lebendig-bewegliche, stimulierende Power-Pop-Nummer bahnen. Das Lied erzählt von einer bitteren Trennung, die aus Sicht der Protagonistin nicht nötig gewesen wäre, wenn sich beide Personen mehr Mühe gegeben hätten. Und es bleibt ein übler Nachgeschmack: "Ich sah dich an und du sahst mich an. Aber du schienst mich nicht zu hören, als ich dich anflehte."

    Im letzten Stück wird die Entschlossenheit, sich von Nichts und Niemandem mehr bei der Lebensplanung aufhalten zu lassen, nochmal nachdrücklich und provokativ aufgegriffen. Der deftige Bass und die feurigen Gitarren erinnern bei "Tear A Piece (Bite Me)" wegen ihrer auffälligen, herausgestellten Prägung an "Seven Nation Army" der White Stripes.


    E-Gitarren in unterschiedlichen Schattierungen spielen eine entscheidende Hauptrolle in den Songs von Skye Wallace. Schnörkellos-entschlackt rütteln sie auf, geben Kraft oder rebellieren. Die Kompositionen sind griffig, transparent, mitreißend und aufbauend. Und dass, obwohl es mehrheitlich problembelastete textliche Inhalte gibt. Aber die Selbstfindung ist auf einem guten Weg, weil einiges knallhart analysiert und verarbeitet wurde. Deshalb bezeichnet die Musikerin das Album als Liebesbrief an sich selbst. Die Patientin befindet sich also eindeutig auf dem Wege der Besserung und legt ein unter Dampf stehendes, enthusiastisch eingespieltes Album ohne Durchhänger vor. Die hart rockende Power-Pop-Fraktion ist jedenfalls um eine entschieden-konsequente, kurzweilige und beflügelnde Stimme reicher! Der Name der Platte ist nämlich durchaus Programm: "Terribly Good" verbreitet erschreckende Wahrheiten und ist musikalisch (sehr) gut gelungen.
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    Alles Ok Alles Ok (CD)
    20.11.2022
    Klang:
    4 von 5
    Musik:
    4 von 5

    "Alles OK" ist ein Trugschluss, den Love Machine ironisch aufarbeiten und zugleich ihre Kompositionen nicht selten mit ungestümen Tönen unterlegen.

    "Alles OK" ist die fünfte Platte der Düsseldorfer Love Machine. Love Machine spielen punkigen Hard-Rock mit einer anarchistischen Grundhaltung. Regelmäßige Ausflüge in andere Stilrichtungen gehören wie selbstverständlich zur Tagesordnung. Sie reichen von Progressive-Rock-Experimenten über Jazz-Einflüsse bis hin zu Pop-Einbindungen.

    Vor Überraschungen ist man bei diesem Quintett jedenfalls nie sicher. Die Rhythmen des groovend hüpfenden Minimal-Art-Intros ziehen sich fast durch den gesamten Eröffnungs-Song "Leben und sterben bei Nacht", während der Gesang von Marcel Rösche auf Coolness bedacht ist und er mit seiner dunkel-herben Stimme ein eigenständig-weises Aroma hinterlässt. Hart-heftige Heavy-Metal-Riffs reißen das Stück aus seinem sauber strukturierten Ablauf und lassen die Luft brennen.

    Mit schnellem Punk-Druck und einem eingängigen Refrain drängt sich "Ray Ban aus dem Internet" regelrecht als Underground-Hit auf. Auch "FUN" setzt auf Tempo und zusätzlich auch auf Aggression, so dass der Song wie eine Hommage an Lemmy Kilmister & Motörhead klingt.

    Inhaltlich gibt es beim Psychedelic-Pop "Alles OK" die totale Anpassung, es herrscht keine kritische Distanz. Aufzählungen wie "Kriege ist OK, ...das Internet ist OK, ...Mindestlohn ist OK, ...CDU ist OK, ...Bundeswehr ist OK, ..." sind natürlich ironisch gemeint. Diese Parolen können quasi als ein Plädoyer gegen Abstumpfung, Dummheit und Selbstherrlichkeit angesehen werden. "Ich bin OK" heißt es zum Schluss. Es ist nichts dagegen einzuwenden, wenn man mit sich selbst zufrieden ist, aber kompletter Opportunismus ist hinsichtlich einer gesellschaftlichen Entwicklung das pure Gift. Wenn man sich um nichts mehr kümmert, man alles geschehen lässt und nichts kritisch hinterfragt wird, dann wird der "Diktatur der Angepassten" (Blumfeld) Tür und Tor geöffnet.

    Rebellisch alarmierende, dröhnende und sägende Gitarren haben bei "Vorne an" das Sagen. Sie treiben den Track an, legen Störfeuer, nehmen die Bestandteile auseinander und schweißen sie auch wieder zusammen. Love Machine können auch kompetent saftige Power-Pop-Lässigkeit und begeisternde Psychedelic-Folk-Rock-Harmonien produzieren, wie "A Go Go" zeigt.

    "Brav" verfügt über zwei unterschiedliche musikalische Ebenen: Der Track beginnt mit einem schleppenden Hard-Rock-Country-Gemisch, bevor er hinsichtlich des Tempos, der Intensität und der Lautstärke zu explodieren scheint. Nach diesem Ton-Orgasmus stellt sich der anfängliche Zustand wieder ein und begleitet das Lied bis zum Schluss.

    Zu einer Easy-Listening-Parodie mit Free-Jazz-Piano-Einlagen und schmierigem E-Gitarren- und einem sphärischen Pedal-Steel-Gitarren-Solo lädt "Besonderes Exemplar" ein, während die nachtblaue Ballade "Underdog" nach zwei Minuten und 10 Sekunden einen Geschwindigkeits-Schub verpasst bekommt, der das Lied in einen flotten Jazz-Pop überführt. Und da ist sie wieder, die Kritik an der Gleichgültigkeit einiger Menschen, die aus "Alles OK" bekannt ist und hier wieder aufgegriffen wird: "Leute wie die finden alles einfach. Sie schauen immer weg, wenn`s in den Abgrund geht", heißt es da.

    Der Fake-Reggae "Urlaub machen" wird von Space-Sounds und Garagen-Rock-Passagen durchzogen, so dass gar nicht erst eine unbeschwerte Urlaubsatmosphäre entstehen kann. Gut so, immer wachsam und unbequem bleiben!

    Als Vorbild für das aufmüpfige Konzept der Band kann unter anderem Kiev Stingl herhalten. der in den 1970er und 1980er Jahren in der deutschen Rock-Szene mit unkonventionellen Ideen und provokanten Standpunkten für Furore sorgte und bis heute von einer treuen Anhängerschaft verehrt wird. Rotzig pöbelnd, dadaistisch verdrehend, betont andersdenkend-provozierend sowie säuselnd manipulierend verbeißen sich die Musiker entgegen dem Mainstream in ihre Lieder. Sie fallen positiv dadurch auf, dass sie nicht auf Teufel komm raus gefallen wollen, weil ihnen nämlich Erwartungshaltungen und Einordnungen in kommerziell wirksame Schubladen egal sind. Das macht sie interessant, lässt sie aus dem üblichen Deutschrock-Mief herausstechen und wirkt wohltuend frech und frisch.

    Die Musiker bieten einen kompakten Sound an und Marcel Rösche ist ein außergewöhnlich ausdrucksstarker Sänger, der mit leisen und lauten Tönen eindringliche, dadaistisch-politisch-poetische Klangbilder malen kann. Gegenüber dem Vorgänger "Düsseldorf-Tokyo", veröffentlicht am 26. Februar 2021, legen Love Machine auf "Alles OK" nochmal eine Schippe brachialer Rock & Roll-Energie drauf. Sie liefern auch in dieser Form wieder ein kurzweiliges, originelles Album ab, das richtig Spaß macht.
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    Fossora Björk
    Fossora (CD)
    05.10.2022
    Klang:
    4 von 5
    Musik:
    4 von 5

    Björk, die Erdverbundene. Bei "Fossora" war das Gefühl, die Füße in den Boden zu graben, ausschlaggebend für die Gestaltung der Ideensammlung für das ausgereift und lebendig klingende Album.

    Björk. Die Unberechenbare. Die Unangepasste. Das Gesamtkunstwerk. "Fossora" ist ihr elftes Solo-Studio-Album (Soundtrack-Arbeiten nicht mitgezählt), das seinen Namen aus einer Wortschöpfung erhalten hat, die sich aus der weiblichen Form des lateinischen Wortes für "Bagger" ableitet. Wobei "Bagger" sowohl für etwas steht, das in der Erde gräbt, aber auch ein Mitglied einer Gruppe radikaler Andersdenkender beschreibt, die 1649 in England gegründet wurde und den Armen Land zur Verfügung stellen wollte. Erdung und Abkehr von Konventionen, beides findet sich in der Musik von Björk wieder.

    "Fossora" ist konzeptionell typisch für Björk, ist also herausfordernd, abenteuerlustig, teils verstörend, teils versöhnlich. Die Isländerin bezeichnet den aktuellen Sound als "biologischen Techno". Gesanglich ist sich die mutige Musikerin treu geblieben: Ob sie jetzt in einen dramatischen Sprechgesang verfällt oder harmonische Weisen vorträgt, ihr Timbre hat immer etwas ernsthaftes, als sei sie ständig auf der Hut, weil sie eine Bedrohung erwartet.

    "Atopos" empfängt das Publikum mit hymnisch-sakralem Chor-Gesang und wird kurz danach von vorwitzigen elektronischen Trommeln des balinesischen Hardcore-Gamelan Musikers Kasimyn vom Duo Gabber Modus Operandi heimgesucht, die bockig Raum fordern und sich zum Ende hin staccatoartig auftürmen. Björk steuert verzweifelt-eindringlichen Solo-Gesang hinzu und das flankierende Klarinetten-Sextett Mumuri steht bei jedem Einsatz für Seriosität, egal ob es sanft oder kratzbürstig agiert, das dunkle Brummen der Bass-Klarinetten verbreitet stets Glaubwürdigkeit, Vertrauen und Behaglichkeit.

    "Ovule" stolpert, ohne zu fallen, ist melancholisch, ohne depressiv zu sein und hat fette Beats, ohne tanzbar zu sein. Für Björk ist "Ovule" ihre Definition von Liebe, die sie für ein sehr zerbrechliches Gut hält, da sie von drei Faktoren beeinflusst wird: Dem Idealzustand von einer Beziehung, der ein Wunschbild ist, dann die Realität, wo sich die Liebe im Alltag bewähren muss und schließlich sind da noch die Schatten, die negativen Gefühle und die Zweifel, die an der Liebe nagen. "Ovule" macht alle diese Einflüsse durch, ist schwärmerisch, holprig, von dunklen Mächten befallen und lässt letztlich doch die Schönheit siegen.

    Für "Mycelia" wurden Gesangsschnipsel von Björk gesampled, die jetzt per Tastendruck wieder freigegeben und verbunden werden. Bloße Mechanik trifft auf kreative Gestaltung, wobei das Stück vertonen soll, wie sich Pilze über dem Boden ausbreiten. Auch "Sorrowful Soil" wird vom Gesang getragen, von selbstbewusstem Solo- und frommem Chor-Gesang. Nur ein paar Bass-Töne begleiten das spirituelle Vorhaben, das dem Andenken an Björks verstorbener Mutter gewidmet ist. Der Song entstand kurz vor ihrem Tod, war aber schon vom unausweichlichen Ende geprägt.

    Außerdem gehört "Ancestress" zur Trauerbewältigung und ist als fiktive Grabrede zu verstehen. Björk singt teils im Duett mit einem Glockenspiel oder mit aufgewühlten Streichern und wird gesanglich noch von ihrem Sohn, dem Singer-Songwriter Sindri Eldon begleitet. "Fagurt Er í Fjörðum" ist isländisch und heißt "Wie schön es in den Fjorden ist". Es ist ein Gedicht aus dem 18. Jahrhundert, das von der Fischerin Látra-Björg geschrieben wurde, die übersinnliche Kräfte gehabt haben soll. Sie konnte angeblich verlässlich das Wetter voraussagen und wusste, wann und wo Robben anlanden. Bei Björk klingt der Vortrag wie das Zitieren eines alten Volkslieds.

    Voluminös dröhnende Töne, die an Schiffssirenen erinnern, stochern suchend und warnend im Nebel und eine einfache Beat-Box ist der Taktgeber bei "Victimhood". Björk singt dazu zunächst ruhig, beinahe ängstlich und bringt so einen Gegenpol zu dem angespannt pulsierenden Sound ein, der punktuell durch Streicher wattig aufgefüllt wird. Der Gesang bleibt weiter oft im Hintergrund, gibt aber zunehmend erregte Schwingungen ab, während in dieser Phase die Stimulanz der Instrumente zurückgefahren wird. Das Spiel mit dynamischen Abstufungen und Verdrehungen beherrscht Björk perfekt und trägt zur Attraktivität ihrer Schöpfungen bei.

    Die Grundlagen für "Allow" entstanden während der Aufnahmen für "Utopia" 2017 in der Karibik. Das Lied klingt wahrscheinlich deshalb so freundlich-gelöst und exotisch und ist eine angenehme Bereicherung in dem Kontext der eher gedämpft-strengen Kompositionen von "Fossora". Der Song "Fungal City" wurde in eine erzählerische Form der Klassik eingebunden, ist ein lautmalerisches Schauspiel und gleichzeitig ein experimentelles Art-Pop-Stück. Man könnte meinen, das ist "Peter und der Wolf" für Fortgeschrittene.

    Das zweiminütige, instrumentale "Trölla-Gabba" bedeutet übersetzt so viel wie Troll-Scherz und wird erneut von Kasimyns monströsem Schlagwerk weichgeklopft und durcheinandergewirbelt. Überhaupt ist der Track ein einziges irrwitziges Soundgewitter von psychopathisch klingenden Ausmaßen. Sehr seltsam und verrückt, diese Tonanordnung.

    Im Grunde genommen ist "Freefall" ein Liebeslied: "Ich lasse mich frei fallen, in deine Arme, in die Form der Liebe, die wir geschaffen haben, unsere emotionale Hängematte." Aber das Lied ist nicht romantisch vernebelt, sondern nennt sowohl die Tücken der Liebe wie auch die Voraussetzungen für eine glückliche Beziehung: "Wenn wir uns an das klammern, was wir einmal waren, wird es unsere Seele verbrennen. Wir werden verletzt werden, wenn es kein absolutes Vertrauen gibt." In Töne gegossen klingt das Ganze dann traurig-dramatisch oder forsch-erwartungsvoll, wird aber gänzlich ohne Zuckerguss serviert.

    Wenn das "Schulwerk" von Carl Orff auf Eberhard Schöners "Gam-Bang" und "Waterwheel" von Oregon trifft, dann entsteht daraus die Vorlage zum Stück "Fossora", das sich rhythmisch aktiv, fremdartig überdreht und ästhetisch gepflegt zeigt. Bei "Her Mother`s House" geht es darum, welche Gefühlslagen das Verlassen der Kinder aus der elterlichen Wohnung mit sich bringen. Passenderweise singt Björks Tochter mit ihr hier im Duett. Das Lied ist wehmütig veranlagt, bringt aber auch jede Menge Herzlichkeit mit, so dass der barocke Anstrich nicht zu einer Steifheit führt.

    Wer leicht verdauliche Kost sucht, ist bei "Fossora" falsch, wer sich allerdings für Sounds interessiert, die nicht alltäglich, sondern überraschend, fordernd und ungewöhnlich sind, der liegt hier richtig. Sinnbildlich schlägt Björks Musik Wurzeln wie ein Pilzgeflecht, denn es gibt weit entfernte, kaum bekannte Stilmittel, aber das gesamte Konstrukt ist dennoch logisch und emotional miteinander verwoben (wie die Kompositionen auf "Fossora"). Deshalb nennt "Fossora" auch ihr "Pilzalbum".

    Björk polarisiert, das war schon immer so und ist mit dem neuesten Werk auch nicht anders. Björk bleibt unberechenbar, unangepasst und funktioniert als Gesamtkunstwerk, denn unter anderem spielen auch phantasievolle Verkleidungen und eine aufwändige Video-Ästhetik eine Rolle bei der Darstellung dieser Kunst.

    Die Künstlerin ist unter den herrschenden Gesetzmäßigkeiten der Pop-Musik-Branche nicht zu fassen. Sie widersetzt sich marketingtechnisch sinnvollen Veröffentlichungszyklen, trotzt jeglichen Erwartungshaltungen und konstruiert Philosophien, die konsequent unabhängig, ausschließlich von ihren Empfindungen und nicht von populären Strömungen beeinflusst und abgeleitet sind. Und ganz selbstverständlich entsteht dabei eventuell exzentrisch wirkende Musik, die nicht auf Verkaufszahlen schielt, sondern Eigenständigkeit und Kreativität beweist.

    Diese Klänge wollen erarbeitet werden und wenn es mal gefunkt hat, dann macht sich schnell Begeisterung aufgrund des immensen Ideenreichtums und der professionellen und originellen Umsetzung breit. Respekt für die klare Haltung und für die inspirierenden Töne von "Fossora".
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    Ein Kommentar
    Anonym
    01.12.2022

    Kein Kunstwerk!

    Dieser ausgiebigen Lobeshymne über "Fossora" kann ich nicht zustimmen. Es klingt musikalisch unstimmig, nervend und ohne jegliche Melodien. Eine Kunst ist es hingegen diese Album gut zu finden. Von mir Null Sterne!!!
    Two Sisters Two Sisters (CD)
    28.09.2022
    Klang:
    4 von 5
    Musik:
    4 von 5

    Zurückhaltung und Gleichgewicht: Sarah Davachi praktiziert die Kunst der ästhetischen Reduzierung.

    Es ist Herbst. Die Tage werden kürzer, die Dunkelheit triumphiert über das Licht und die Gedanken werden schwerer. Zeit, um schattig-düstere Musik zu genießen.

    Die 1987 in Kanada geborene Sarah Davachi ist eine Sound-Forscherin, die derzeit in Los Angeles lebt. Sie erzeugt Tongebilde, welche den Rahmen des Hit-Radio-Formats schon aufgrund ihrer Länge und ihrer speziellen strukturellen Beschaffenheit sprengen. Ihr zehntes Werk "Two Sisters" passt wegen seiner gedämpften Grundstimmung gut zur trüben Jahreszeit, auf Partys wird man diese Kompositionen dagegen eher weniger antreffen...

    Bei "Hall Of Mirrors" geben warme Brummtöne die schattig-jenseitige Stimmung vor. Dazu erklingen in unregelmäßigen Abständen unterschiedlich voluminöse Glocken, die zum Tasteninstrument Glockenspiel gehören. Das hier verwendete Instrument ist das drittgrößte seiner Art, wobei die schwerste Glocke ungefähr 12 Tonnen wiegt. Deshalb sind die Sounds so mächtig wie Kirchenglocken. Bei diesem Stück entsteht pure Atmosphäre, ohne Melodie oder Refrain.

    "Alas, Departing" verbreitet danach nur mit weiblichen und männlichen Stimmen sakrale Eindrücke, die gregorianischen Gesängen nicht unähnlich sind. Durch die Anziehungskraft dieser verbundenen Töne wird eine förmliche, theatralische Ergriffenheit bewirkt.

    Leise schleichen sich eintönige, gleichbleibende Laute in das Gefüge von "Vanity Of Ages" ein. Die Tonlagen verändern sich nur langsam. Die Zeit friert ein, die Frequenzen zwingen zum Zuhören oder zum Aufgeben. Je nach persönlicher Befindlichkeit. Man muss auch mal was aushalten können, um im Anschluss neue Erkenntnisse zu bekommen! Das Dröhnen und Rauschen der Orgel-Pfeifen kann nervtötend sein, aber auch zum konzentrierten Entspannen zwingen. Spätestens diese 10 Minuten entscheiden darüber, ob "Two Sisters" weitergehört wird oder nicht.

    Die Reduktion der Klangfarben wird mit "Icon Studies I + II" fortgesetzt. Leicht an- und abschwellende Ton-Schwaden hinterlassen einen Eindruck von Eiszeit oder Ewigkeit. Ist das die Basis von bewusstseinserweiternden Vibrationen?

    Wie klingt Bronze? Wenn es nach "Harmonies In Bronze" geht, nach einer in sich ruhenden Legierung, die sich nicht zu wichtig nimmt, die spirituell veranlagt ist und für die die Zeit keine Bedeutung hat. Und wie klingt das Grün? Wenn es nach "Harmonies In Green" geht, etwas satter und runder als Bronze, aber ähnlich ehrwürdig.

    Es hört sich wie ein weit entferntes Nebelhorn an, wenn "En Bas Tu Vois" seine Signale absetzt. Auf Antwort wird vergeblich gewartet, das ist das Schicksal vieler Wächter und Mahner.

    Neben bedächtigen Ton-Schwaden kommen bei "O World And The Clear Song" nach etwa 7 Minuten wie zu Anfang wieder Glocken zu Gehör. Keine imposant-einflussreichen Glocken, sondern kleinere, die vom Wind bewegt werden können, deren Klangfülle also fremdbestimmt sein kann.

    Obwohl sich "Two Sisters" nach der Tugend Mäßigung ausrichtet, die zwischen den Gegenpolen (oder Schwestern) Leidenschaft und Zurückhaltung gefangen ist - wie es Sarah Davachi ausdrückt - bietet das Album ein erhebliches Instrumentarium auf, das neben dem erwähnten Glockenspiel, dem Harmonium und dem Chor noch aus einem Streichquartett, tiefen Holzbläsern, einem Posaunenquartett und elektronischen Instrumenten besteht. Der scheinbare Stillstand mancher Kompositionen sollte nicht darüber hinwegtäuschen, dass sich die Noten in einer ständigen Bewegung befinden. Die Veränderungen finden eben nur sehr langsam statt und sind nur beim konzentrierten Hören unmittelbar wahrzunehmen. Das ist das Urprinzip der Minimal-Art-Music, wie sie zum Beispiel von Steve Reich ersonnen wurde.

    Was ist Musik? Zunächst einmal sind es Schwingungen, die eine Zustandsänderung hervorrufen. Dann kann also auch das Brummen eines Kühlschranks, das Pfeifen einer Klimaanlage, das Zwitschern der Vögel oder das Rauschen des Windes Musik sein. Sarah Davachi beschäftigt sich unter diesem Aspekt zum Beispiel mit den Eigenschaften und Wirkungen von Klangfarben sowie mit psychoakustischen Phänomenen, worüber sie auch promoviert. Entsprechend sind ihre Ton-Anordnungen auf "Two Sisters" nicht als esoterisch-benebelnde Geräusche einzustufen, sondern als wissenschaftlich fundierte, ausgeklügelte Schwingungen, die einen Sinn ergeben. Der Hörer soll im Gegensatz zur esoterischen Beschallung mental wach bleiben und freigeistig erleben, was der akustische Vorgang mit ihm macht: Spürt er nichts, wird er unruhig oder werden die Gedanken beflügelt? Alles ist möglich bei diesem herausfordernden elektroakustischen Experiment.
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    Midnight Scorchers Midnight Scorchers (CD)
    28.09.2022
    Klang:
    5 von 5
    Musik:
    4 von 5

    "Midnight Scorchers" ist die Fortsetzung von "Midnight Rocker", womit Horace Andy (mindestens) seinen zweiten Frühling erlebte.

    Die Entwicklung des Reggae wurde nicht nur durch prägende Musiker, sondern auch durch innovative Produzenten geprägt. Dazu gehören Lee "Scratch" Perry und Adrian Sherwood. Sound-Effekte wie Dub und Echo wurden von ihnen genauso integriert wie Crossover-Elemente aus Punk, Pop, Blues, Folk und elektronischer Musik.

    Der Sound-Derwisch Adrian Sherwood arbeitete mit Horace Andy erstmalig für "Midnight Rocker" zusammen. "Midnight Scorchers" ist nun die Fortsetzung, wie auch eine partielle Neubearbeitung des "Midnight Rocker"-Albums vom April 2022. Bei der Zusammenarbeit legt sich Sherwood produktionstechnisch mächtig ins Zeug, um die Individualität des Reggae-Veteranen, der seit über 50 Jahren im Geschäft ist, herauszustellen und ihn trotzdem in einem innovativen Licht dastehen zu lassen. Dabei übertreibt er es nicht mit Experimenten - wie manchmal auf seinen zahlreichen Veröffentlichungen des On-U-Labels - sondern verschafft dem ehrwürdigen Musiker ein dynamisches Vehikel, um sich ausleben zu können, ohne sich anpassen zu müssen. Dadurch wirkt Horace Andy, als sei er in einen Jungbrunnen gefallen, denn er gebärdet sich herausfordernd und weise. Die unterschiedlich arrangierten Stücke zeigen nicht nur diverse Reggae-Spielarten auf, sondern eben auch vielfältige, kreative Berührungen gegenüber anderen Genres.

    Das verhaltene Tempo von "Come After Midnight" trägt zu dem verzückten Eindruck bei, den die verspielten Dub- und Echo-Effekte und die eingestreuten entrückten Geigen- und Synthesizer-Schwaden hinterlassen. Dub-Reggae trifft auf Barock- und Psychedelic-Pop. Dagegen macht "Midnight Scorcher" mit seinen mächtig dröhnenden und pumpenden Klängen auf dicke Hose. Melodika-Töne bringen versöhnliche Schwingungen mit ein, aber dennoch pulsiert der Track unaufhörlich und der wummernde Bass heizt die Stimmung durch das imitieren von brodelnder Lava kräftig auf.

    "Away With The Gun And Knife" geht dann melodisch auf Schmusekurs, obwohl es textlich um die Verurteilung von Gewalt zwischen Jugendlichen geht.

    Die redselige Kapitalismus-Kritik "Dirty Money Business" wird im Anschluss schwungvoll groovend dargeboten und dabei mit sehnsüchtigen Mariachi-Trompeten, aufreizend klappernden Percussion-Instrumenten sowie mit lustigen Geräuschen garniert.

    "Rock To Sleep" von "Midnight Rocker" ist die Vorlage für "Sleepy’s Night Cap", das im Gegensatz zum Original ohne Gesang auskommt. Der dreiminütige Track erhält durch seine sanfte, von grauen kammermusikalischen Einschüben und einer hoffnungsvollen Melodika getragenen Melodie eine wohlige Roots-Reggae-Gemütlichkeit, die universelle Soundtrack-Qualitäten zutage fördert.

    "Feverish" pflegt durch den Einsatz akustischer Instrumente, wie einer Posaune, bewährte Ska-Traditionen, lässt sich aber auch durch Space-Geräusche in eine futuristische Umlaufbahn katapultieren.

    Die Cover-Version des Rhythm & Blues-Protest Song-Klassikers "Ain’t No Love In The Heart Of The City" von Bobby "Blue" Bland aus dem Jahr 1974 wird von Horace Andy als funkiger Dub-Reggae mit verschleiernden Streichern und Trommeln, die eine innere Unruhe ausdrücken, interpretiert.

    Mit "Dub Guidance" hat Horace einen seiner früheren Songs überarbeitet. Wie der Name vermuten lässt, wird hier ordentlich Hall und Echo eingesetzt. Der Track wildert aber auch auf Spaghetti-Western-Terrain, so dass eine knisternde, von exotischen Sounds und Wehmut geprägte Klang-Landschaft entsteht. "More Bassy" bewegt sich danach gemütlich-gemächlich im Schunkel-Takt, ohne dabei außergewöhnliche Akzente zu setzen.

    "Hell And Back" erinnert an die balladesk-spirituellen Songs von Bim Sherman, die auch von Adrian Sherwood gefühlvoll, mit sakralem Hintergrund produziert wurden. Bei "Hell And Back" sorgt die Melodika für Geschmeidigkeit und Blechbläser tragen sie mit Fernweh-Feeling in die Welt hinaus. Die häufigen Spielereien von Sherwood werden so geschickt eingesetzt, dass sie dem Stimmungsbild Würze verleihen, ohne den Flow aus den Angeln zu heben.

    Der 1951 in Kingston, Jamaica, geborene Horace Andy ist eine Institution des Reggae. Bereits 1967 nahm er seine erste Single "Black Man`s Country" auf und 1972 hatte er mit "Skylarking" seinen größten Hit. Das sind zwei Beispiele seiner sozialkritischen Songs, die er damals noch mit hoher, femininer Stimme vortrug. Heute ist sein Gesang entschlossen und bedeutungsvoll. Im Laufe seiner Karriere hat der Musiker einige Reggae-Subgenres wie Dub, Ska, Rock Steady, Lover's Rock und Dancehall bedient, was ihn auf die Trip-Hop Mitbegründer Massive Attack aus Bristol aufmerksam machte, die ihn als Gastsänger zum Beispiel für "One Love" von "Blue Lines" aus 1991 rekrutierten. Eine Begegnung, die ihn quasi für die Arbeiten mit Adrian Sherwood vorbereitete, da sie sein Ohr für Strömungen außerhalb des Reggae schärfte.

    Sherwood, der sieben Jahre jünger als Andy ist, gilt als innovativer Workaholic und unkonventioneller Sound-Designer, der Ende der 1970er Jahre im Zuge des Post-Punks mit seiner experimentierfreudigen Produktions-Mischung aus effektvollem Dub-Reggae, druckvollem Rock und Dancefloor-tauglichen Rhythmen auffiel, die er für sein On-U-Sound-Label kreierte und mit Band wie den New Age Steppers, African Head Charge und dem Dub Syndicate umsetzte. Sein Ruf als kreativer Querdenker brachte ihm noch Produktions-Arbeiten für Depeche Mode, Einstürzende Neubauten oder Simply Red ein.

    Die Kombination des erfahrenen, Instinkt-gesteuerten Horace Andy mit den geisterhaft-verspielten Produktionen von Adrian Sherwood erweist sich jedenfalls als Glücksfall, weil dabei Songs entstanden sind, die auf eine traditionelle Art Harmonie-verliebt sind, aber auch ungewöhnliche, originelle Bestandteile aufweisen. Eine seltene, aber sehr willkommene Paarung!
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    Spark Whitney
    Spark (CD)
    28.09.2022
    Klang:
    4 von 5
    Musik:
    4 von 5

    Das Funkeln im Dunkeln: "Spark" steht für Hoffnung, stellt sich der Angst und beschwört die Kraft der Liebe.

    Whitney ist natürlich keine Whitney-Houston-Cover-Band. Die Musiker stammen aus Chicago, sind Feingeister und verschieben die Grenzen zwischen feminin und maskulin, Pop und Soul sowie akustischer und elektronischer Instrumentierung. 2019 erlebte ich die Gruppe auf dem "A Summer`s Tale"-Festival in Luhmühlen bei Lüneburg und sie war für mich das musikalische Highlight dieser großartigen, vielfältigen Kultur-Veranstaltung. Den Whitney-Sound hatte ich damals als Mixtur zwischen The Band und Al Green abgespeichert, nachzuhören auf dem Erstling "Light Upon The Lake" aus 2016.

    Eigentlich ist Whitney aber gar keine feste Band, sondern das Projekt von Julien Ehrlich (Gesang, Schlagzeug) und Max Kakaček (Gitarre), das durchaus bis auf sieben Musiker anwachsen kann. Auch in dieser großen Besetzung agiert das Ensemble überwiegend sanft, gefühlvoll und bittersüß. Die feinfühligen Songs suchen sich ihre Identität sowohl im Roots-Rock (Folk, Country), wie auch im Soul und (Electro)-Pop. Der singende Schlagzeuger (noch eine Referenz an The Band) Julien Ehrlich stattet die Kompositionen mit seiner hohen Stimme so elegant aus, dass eine eindeutige Geschlechtszuordnung verhindert wird.

    Vergleicht man nun die Entwicklung von den Anfängen des Duos über "Forever Turned Around" (2019), dem Cover-Versionen-Album "Candid" (2020) bis hin zum aktuellen Werk "Spark", so ist eine gewisse Hinwendung von natürlichen zu künstlichen Tönen zu verzeichnen, ohne dass dabei der behaglich-warme Wohlfühl-Sound verloren ging.

    "Nothing Remains" hinterlässt mit seinem spitzen Gesang Erinnerungen an die Bee Gees zu "Saturday Night Fever"-Zeiten von 1977. Gleichzeitig adelt die auffällige Stimmlage die Smooth-Soul-Nummer, die trotz ihres verschleppten Tempos weder rührselig noch klebrig wirkt, sondern aufgeräumt und klar rüberkommt. Als wäre es das leichteste von der Welt, hauen Whitney mit "Back Then" mal eben locker aus der Hüfte einen Mut machenden, mit raffinierten Tempowechseln ausgestatteten Adult-Pop-Song raus, der nicht mehr aus dem Kopf gehen will, wenn er einmal seinen betörenden Wirkstoff verströmt hat.

    "Blue" kann als Easy Listening-Track bezeichnet werden, wenn es um die Beschreibung der Eingängigkeit des Liedes geht. Das Stück weist stilistisch einen Cocktail aus Soft-Rock, Laid Back-Jazz und Silky-Soul auf, der zwar einschmeichelnd, aber nicht kitschig ist, was eine gewagte Gratwanderung darstellt. Die weihevolle, sich sehr zurückhaltende Ballade "Twirl" hinterlässt einen mondänen Eindruck, obwohl der Song aus ätherischen, verzückten und spirituell versunkenen Tönen gespeist wird.

    "Real Love" lädt auf die Tanzfläche ein. Die Beats sind knackig, verschlucken aber nicht die Sensibilität des Gesanges, so dass innige Gefühle neben dem Groove auch ihre Daseinsberechtigung bekommen. "Memory" hört sich an, als wäre es ursprünglich vom Roots-Rock inspiriert gewesen. Dann hat das Lied aber wohl im Laufe der Realisierung einige akustische Instrumentierungen verloren, die durch elektronische, teils exotische Klänge ersetzt wurden. Nun gibt es eben weniger Lagerfeuer-Stimmung, dafür einen charaktervollen, schlaksigen Electro-Pop mit einem soliden Singer-Songwriter-Gerüst.

    "Self" probt in einem von bizarren Loops geprägten Intro einen suggestiven Aufstand. Ein Experiment, das in dieser Form auch der singende Schauspieler Vincent Gallo für seinen Track "I Wrote This Song For The Girl Paris Hilton" verwendete. Durch den nachfolgenden Mantra-artigen Gesang wird der hypnotische Effekt bei "Self" noch verstärkt, zwischendurch jedoch von harmonischen Stimmen aufgelöst.

    Der mit einem Break-Beat-Rhythmus versehene Folk-Pop von "Never Crossed My Mind" macht zunächst einen unspektakulären Eindruck, kann aber wegen seiner emotionalen Zwiespältigkeit punkten und macht bei jedem neuen Hördurchgang Boden gut.

    Das Gefühl, in einer Zeitschleife gefangen zu sein, wird nach "Self" - allerdings abgemildert - auch bei "Terminal" vermittelt. Hinzu kommen Sounds, die sich nach asiatischer Folklore anhören und Gesänge, die am klassischen 60s-Pop geschult sind. Leider wird das Stück schon nach etwas mehr als drei Minuten ausgeblendet, grade als es Herz und Hirn erobert hat.

    "Heart Will Beat" ist ein Rückgriff auf die Country-Folk-Erfahrungen von Julien Ehrlich und Max Kakaček und stellt einen entspannt-ländlichen Charakter in den Vordergrund. "Lost Control" hört sich dagegen an, als würden sich Scritti Politti ("The Sweetest Girl") und Fleetwood Mac ("Sara") um die Vorherrschaft bei diesem Song balgen. Geschmeidiger Soul-Pop trifft hier auf lässigen Westcoast-Rock.

    "County Lines" öffnet ein großes Assoziations-Fenster und lässt Strömungen wie Barock-Pop, Soundtrack-Melancholie, Psychedelic-Folk und Spiritual-Jazz hinein. Das alles wird ästhetisch meisterhaft zusammengesetzt, so dass kein Stilbruch, sondern nur Schönheit entsteht.

    "Spark" steht für Hoffnung, stellt sich der Angst und beschwört die Kraft der Liebe: Das Album ist ein Trost- und Kraftspender, wie eine warme Decke für die Seele, wenn das Schicksal mal wieder das Leben aus den Angeln zu heben droht. Die Verwirbelung von Country-Soul und Dream-Pop ist Whitney ohne Qualitätsverlust gelungen, weil die Harmonie ein stützender Pfeiler im Stil-Mix geblieben ist. Deshalb haben die Kompositionen ihre Lieblichkeit behalten und sogar an Ausdrucksmöglichkeit hinzugewonnen.
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    Music For Animals Nils Frahm
    Music For Animals (CD)
    28.09.2022
    Klang:
    4 von 5
    Musik:
    4 von 5

    "Music For Animals" verbreitet minimalistisch aufbereitete, lange nachwirkende Moll-Töne, die suggestive Qualitäten aufweisen.

    Nils Frahm hat die Pandemie-Zeit kreativ genutzt: Von 2020 bis 2022 nahm er das etwas über 3 Stunden lange Werk "Music For Animals" auf, seine ersten Studioaufnahmen seit "All Melody" (2018) und der Ergänzung "All Encores" (2019).

    Auf drei CDs bzw. 4 LPs verteilt der angesagte Electronic-Music-Spezialist aus Berlin 10 neue Tracks, bei denen er vollständig auf den Einsatz seines geliebten Pianos verzichtet. Für Nils Frahm haben die Stücke von "Music For Animals" eine ähnliche Bedeutung wie Klanginstallationen: "Meine ständige Inspiration war, sich etwas ähnlich Hypnotisierendes wie einen riesigen Wasserfall oder die Blätter eines Baumes im Sturm anzuschauen. Es ist gut, dass wir Symphonien und andere Musik hören können, die eine gewisse Entwicklung haben. Aber der Wasserfall und die Blätter brauchen keinen ersten, zweiten oder dritten Akt und keinen Höhepunkt. Manche Leute sehen einfach gerne zu, wie das Wasser fällt, hören die Blätter rascheln und beobachten, wie sich die Äste bewegen. Dieses Album ist für sie."

    Der Titel "Music For Animals" soll ironisch gemeint sein, weil es modern ist, für jederlei Situationen Playlists zu erstellen. Diesen Trend wollte Frahm mit dem Titel verhöhnen. Die Musik soll also keine Gebrauchsmusik sein, bietet aber im Sinne der eben erwähnten Inspirationserklärung dennoch eine Vorlage zum sich fallen lassen oder zur konzentrativen Selbstentspannung oder Sinnesschärfung an. Die Basis für diese Sounds liegt sowohl im Krautrock (Harmonia, Neu!), wie auch in der Minimal-Art-Musik von Philipp Glass oder Steve Reich.

    In den 26 Minuten von "The Dog With 1000 Faces" wallen Schwebetöne auf und ab, sie erscheinen und verschwinden wie Nebelschwaden bei einer Autofahrt im morgendlichen Herbst. Rhythmen ploppen, klopfen, tropfen und hämmern wie im Trab, nicht übermäßig laut, aber beständig. Sirenen scheinen leise im Hintergrund zu singen. Der Ablauf ändert sich nur gemächlich, die Stimmung bleibt andächtig, mit einem wachen Blickwinkel auf das gegenwärtige Geschehen.

    Aufgrund von fehlenden Rhythmen wirkt "Mussel Memory" weltabgewandt und verbreitet eine Grabes-Stimmung. Das ständig präsente elektronisch erzeugte Rauschen, Summen und Brummen lässt die Zeit stillstehen und friert jegliche Freude ein. Totensonntags-Beschallung. Das Dröhnen in "Seagull Scene" enthält ein unheilvolles Rumoren, das in mehreren Schichten aufgebaut wird und eine zähe, undurchlässige Klang-Wand bildet.

    Für das epische, fast 25 minütige "Sheep In Black And White" werden rhythmische Effekte erzeugt, die Hall und Echo einbeziehen. Das klingt dann nach Dub-Reggae ohne Reggae-Rhythmus. Das Körperliche des Reggae wird dabei eliminiert, aber das Experimentelle bleibt. Bei "Stepping Stone" gehört ein Grundrauschen mit zum kompositorischen Konzept, dass durch seine ausgedehnte meditative Exotik auch zum Repertoire von Mark Hollis (Talk Talk) oder David Sylvian (Rain Tree Crow, Japan) gehören könnte.

    Ausgerechnet das mit 27 Minuten Laufzeit längste Stück wurde "Briefly" genannt. Ist das auch ein spezieller Gag von Nils Frahm, der sich an Leute wendet, die nur eben kurz mal was klären wollen und dann kein Ende des Gespräches finden? Musikalisch setzt der Track bei den folkloristischen Weltmusik-Elementen aus "Stepping Stone" an, peppt hier aber die künstlichen Holzbläser und Percussion-Instrumente monoton-fließend auf. Die synthetisch erzeugten, primitiv-gleichförmigen Synthesizer-Trommeln von "Right Right Right" verbreiten durch ihren belebenden Herzschlag-Rhythmus sowohl konsequenten Tatendrang, wie auch eine verlässliche Sicherheit durch die wiederkehrenden Abläufe.

    "World Of Squares" bedient sich einer ähnlich berauschenden Wirkung, wie sie der Psychedelic-Rock ausüben kann, indem nämlich aufputschende Grundformen wiederholt werden und sich ständig überlagern, was zu einem berauschenden Tonwirbel führt. Hingegen verfügt "Lemon Day" über eine tänzelnde Komponente, die die Bits und Bytes vor dem geistigen Auge hüpfen lässt. Pure Lebensfreude kommt aber nicht auf, da sich über die positive Grund-Stimmung ein grauer Ton-Schleier legt. Für "Do Dream" arbeitet Nils Frahm ausschließlich mit der assoziativen Wirkung von trüben, aufsteigenden und verwehenden Klangeindrücken. Es bleibt nur ein diffuser Ausblick auf eine Melodie zurück und deshalb werden die Erwartungen auf einen aufkommenden harmonischen Ablauf immer wieder zerstört.

    Neben Max Richter ("Sleep") gehört Nils Frahm zur Garde der jüngeren, scharfsinnigen Avantgarde-Generation, die ihre Kompositionen so ausrichten, dass sie den Verführungen des esoterischen Verschleierns und der kopflastigen Selbstdarstellung aus dem Weg gehen. Das öffnet ihnen eine individuelle Nische, die sie für ein breiteres Publikum interessant werden lässt. Schließlich kletterte "All Melody" von Nils Frahm bis auf Platz 15 der deutschen Album-Charts.

    Der Veröffentlichungs-Termin (23. September 2022) von "Music For Animals" könnte kaum besser gewählt sein: Der Sommer hat sich verabschiedet und der Herbst bereitet mit seiner Kühle und den kürzer werdenden Sonnenstunden auf die dunkle Jahreszeit vor. "Music For Animals" ist mit seinen sich Zeit nehmenden, uneitlen, bedächtigen Kompositionen der ideale Soundtrack für diesen Übergang.
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    Pulse Of The Early Brain (Switched On Volume 5) Pulse Of The Early Brain (Switched On Volume 5) (CD)
    08.09.2022
    Klang:
    4 von 5
    Musik:
    4 von 5

    Achtung: Turbulenzen! Stereolab sorgen mit ihrer Klangvielfalt für eine Verwirrung der Sinne.

    Die Aufarbeitung des Stereolab-Kataloges geht weiter. Beleuchtete "Electrically Possessed (Switched On Volume 4)" die Jahre 1997 bis 2008, so gibt es jetzt 21 seltene und seltsame Aufnahmen zu entdecken, die zwischen den Jahren 1992 bis 2008 entstanden. Eine Fundgrube für Neugierige und Hardcore-Fans, die jede gespielte Note hören wollen.

    Das Projekt Stereolab um Laetitia Sadler (Gesang, Keyboards, Gitarre) und Tim Gane (Keyboards, Gitarre) aus London besteht seit 1990 und mischt den zeitgenössischen Pop mit ihren Beigaben aus Easy Listening und anspruchsvollen Sound-Erfahrungen seitdem tüchtig auf. Kontraste gehören zu ihrer Klang-Philosophie, von zuckersüß bis brutal hart finden sich diverse intensive Herausforderungen auf ihren Platten, was das lockere Durchhören erschwert, den Spannungsgehalt aber immens erhöht.

    Die in Zusammenarbeit mit dem britischen Avantgarde-Projekt Nurse With Wound entstandenen Kompositionen "Simple Headphone Mind" und "Trippin' With The Birds" stehen ganz im Zeichen solcher Krautrock-Pioniere wie Kraftwerk oder Neu! und sind zusammen über 30 Minuten lang. Die elektronischen, suggestiv-rauschhaften Minimal-Art-Space-Rock-Stücke werden von künstlich erzeugten Naturgeräuschen, albern-durchgeknallten Passagen und teils verfremdeten Sprachschnipseln begleitet, so dass der Eindruck einer Klanginstallation entsteht.

    "Low Fi" ist hingegen ein raspelnd-monotoner Rock-Song mit Noise-Gitarre und lieblich-unbekümmerten Chanson-Gesängen von Laetitia Sadler als Kontrast. Die trockenen, kompromisslos vorwärts peitschenden Rocker "Laissez-Faire" und "Robot Riot" nutzen ähnliche Referenzen und sich wiederholende Abläufe. Beide Songs haben ihre Inspiration wahrscheinlich vom The Velvet Underground-Sound erhalten.

    "[Varoom!]" ist ein stumpfer, monotoner New Wave-Rocker, bei dem der Synthesizer und das Schlagzeug für Tempo sorgen. Der freundlich gestimmte Gesang wird in diese lärmende Hülle eingebunden und verliert dadurch seine Dominanz. Nach etwa 4 Minuten wird diese Phase abgeschlossen und es folgen 5 Minuten lang dröhnende Industrial-Klänge in Dauerschleife.

    Die Noise-Orgie "Elektro [He Held The World In His Iron Grip]" wandelt sich nach dreieinhalb Minuten zu einem sensiblen Folk-Stück, in Anlehnung an die frühen Belle & Sebastian-Sachen. Nach weiteren eineinhalb Minuten bringen elektrische Gitarren Schärfe ins Spiel, so dass die friedliche Episode eine heftige aggressive Wendung erhält.

    Das gut gelaunte, französisch gesungene "Spool Of Collusion" vereinigt auf spritzig-sympathische Weise Pop-Melodik und New Wave-Kauzigkeit. Ein Ohrwurm! Freier Jazz, repetitive Schwingungen und experimentelle Töne bestimmen das Klangbild von "Symbolic Logic Of Now!", dass trotz der heftigen Schräglage einen anziehenden Reiz ausübt. "Forensic Itch" ist eine instrumentale Synthie-Pop-Collage, die Jahrmarkts-Trubel, Klassik-Seriosität, Weltraum-Klänge und "Pet Sounds"-Aroma verbreitet, wie sie auch gerne von The High Llamas angefertigt wurden.

    Das einminütige "Ronco Symphony (Demo)" ist eine todtraurige, intime, unfertige Ballade, aber nicht mehr als ein fragmentarischer Ton-Schnipsel. "ABC" ist eine Cover-Version eines Songs der New Yorker Avantgarde-Band The Godz aus 1969. Wütend-aufbrausend wie The Birthday Party um Nick Cave drückt "ABC" den Hörer brutal an die Wand und macht keine Gefangenen. Das Stück endet dann mit einer Minute voller Besinnung im Hippie-Folk-Stil. Was bei "Magne-Music" als Romantic-Folk beginnt, verändert sich durch allmähliche Transformation in einen Alternative-Disco-Track.

    "Blaue Milch" wurde für ein Peter Thomas Sound Orchester-Tribute Album ("Warp Back To Earth 66/99") eingespielt. Die dafür ausgewählten Künstler erhielten einen Track und sollte daraus etwas Neues gestalten. Diese Rekonstruktion fängt skurrile, eigentümlich-verschrobene Klangsituationen ein und ergründet dadurch unterschiedliche Einsatzgebiete, so dass der Song sowohl nach Space-Age-Sound, aber auch nach Sex-Film Kulisse klingt.

    "Yes Sir! I Can Moogie" mag textlich eine Verballhornung von "Yes Sir, I Can Boogie" von Baccara sein, tritt aber musikalisch nicht in diese engen Disco-Pop-Fußstapfen: Esoterisch veranlagter, wortloser, graziler Singsang von Laetitia Sadler trifft bei Stereolab auf monotone, harte Takte, woraus sich die Faszination der Gegensätze ableitet. Vielfalt erwünscht! "Plastic Mile (Original Version)" bietet ein Potpourri aus schwergängigem Art-Pop, freundlich-naiven Soundtrack-Beiträgen und Computerspiel-Untermalungen an.

    "Refractions In The Plastic Pulse (Feebate Mix/Autechre Remix)" wird von einem schnellen, freien Schlagzeuggewitter und bedrohlich wirkenden Synthesizer-Wolken dominiert. Ein verzerrter Lead-Gesang führt mit schrägen Auswüchsen ins Kuriose und der engelsgleiche Background-Gesang verheißt dafür himmlischen Beistand. Das Stück könnte der Soundtrack zu einem Endzeit- oder Horror-Film-Szenario sein. Es hört sich so verhängnisvoll an, dass es sich auch für David Lynchs "Twin Peaks" eignen würde.

    Der Electro-Bossa Nova "Unity Purity Occasional" schlägt da ganz andere Seiten auf. Der Song klingt nach gehobener Lebensart, Eleganz, Sonne, Strand und einem kühlen Getränk. Schwungvoll und kultiviert-gewandt präsentiert sich danach der Easy Listening-Jazz von "The Nth Degrees", während das kurze Intermezzo "XXXOOO" eine distanzierte, entrückt-starre Haltung annimmt. Mit "Cybele’s Reverie (Live At The Hollywood Bowl)" demonstrieren Stereolab, wie si ein sinfonisches Pop-Stück auf die Bühne bringen. Der Gesang klingt zwischendurch etwas unsicher und die Bigband etwas hektisch, aber generell hatte das Publikum wohl seinen Spaß.

    Stereolab tummeln sich auf vielen Spielwiesen, sie sind voller Entdeckerdrang und haben bei ihren Experimenten auch häufig bestimmte Vorbilder im Ohr. So konzentrieren sich einige der hier berücksichtigten Sammlerstücke auf offensichtliche The Velvet Underground-, Krautrock-, New Wave- und Avantgarde-Referenzen, aber auch der Pop-Aspekt der Gruppe wird abgebildet (wenn auch nicht schwerpunktmäßig).

    Stereolab sind lustvoll-wagemutige Sound-Abenteurer, die bei ihren Exkursionen nicht zwangsläufig auf Massentauglichkeit achten (Respekt dafür!). Für Neueinsteiger empfiehlt sich "Pulse Of The Early Brain (Switched On Volume 5)" deshalb allerdings nur bedingt. Für flexibel-aufgeschlossene Hörer aber schon, denn die Zusammenstellung bietet eine wilde, ausgeflippte Orgie mit irren stilistischen Unterschieden, die herrlich unberechenbar sind.
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    Cover To Cover The Brother Brothers
    Cover To Cover (CD)
    31.08.2022
    Klang:
    5 von 5
    Musik:
    5 von 5

    Wenn es intim, ruhig und nachdenklich wird, laufen The Brother Brothers zu ganz großer Form auf und zelebrieren pure Schönheit.

    Wenn Brüder miteinander harmonieren, dann können sie so schön klingen wie Don und Phil Everly. In solch einem Fall setzt sich die Summe der musikalischen Brillanz aus Talent und Magie zusammen. Das Americana-Duo The Brother Brothers besteht auch aus echten Brüdern, deren Vorbilder die Everly Brothers sind. Kein Wunder also, dass die eineiigen Zwillinge Adam und David Moss den höchsten qualitativen Ansprüchen gerecht werden wollen.

    Mit "Cover To Cover" huldigen sie einigen ihrer Idole oder übernehmen Songs, die ihnen viel bedeuten und von denen sie sich bei der Einverleibung jede Menge Anregung versprochen haben: "Er ist so gut geschrieben und so bedeutungsvoll. Er ist genau so, wie ein Country-Song sein sollte", sagt David Moss über die Ballade "That’s How I Got To Memphis" von Tom T. Hall aus 1969. Die Brother Brothers überführen die Fremdkomposition in eine Soft-Rock-Variante mit weichem, anschmiegsamem Gesang und cremiger Melodielinie. Was für eine zarte Verführung!

    "These Days" wurde von Jackson Browne schon mit 16 Jahren geschrieben und erstmalig von der Velvet Underground-Sängerin Nico auf ihrem Album "Chelsea Girl" im Jahr 1967 veröffentlicht. Der düster-ausdruckslose Gesang steht bei dieser Interpretation im Kontrast zur optimistisch gestimmten E-Gitarre, während sich die Streicher mal auf die finstere, dann wieder auf die zuversichtliche Seite schlagen. Die erste Demo-Aufnahme von Browne aus 1967 - damals noch unter dem Titel "I`ve Been Out Walking" - war noch relativ lebhaft, seine Version für sein zweites Album "For Everyone" hörte sich dann tieftraurig an. Die Moss-Zwillinge orientieren sich bei ihrer Sichtweise an beiden Ausprägungen und haben dabei auch die helle, klare Studio-Aufnahme und die depressiven Live-Auslegungen von St. Vincent im Ohr. Der Rhythmus ist bei ihnen schnell getaktet und der Gesang, der ausgewogen wie von Paul Simon klingt, wurde melancholisch angelegt. Die Akustik-Gitarre und der Bass vermitteln dann zwischen den lebhaften und nachdenklichen Momenten.

    "You Can Close Your Eyes" von James Taylor ist einer dieser Songs, der zum dahinschmelzen schön ist und sich gnadenlos in Herz und Hirn frisst. Jeder Widerstand ist zwecklos. Bittere Süße macht sich breit, befeuchtet die Augen und erweicht das Herz. Das ist Songwriting auf höchstem Niveau. Egal, ob man das Original oder die Version von Linda Ronstadt genießt, die Musik ist stets hinreißend ergreifend. Die Brother Brothers können hinsichtlich der sinnlich-verführerischen Innigkeit locker mit den genannten Referenzen nicht nur mithalten, sie übertreffen sie sogar. Das Stück wird von ihnen als entschlackte, schwelgende Country-Nummer präsentiert, die so entwaffnend attraktiv ist, dass man sich der behaglich-zufriedenstellenden Wirkung nicht entziehen kann. Sarah Jarosz wirkt dann noch als delikat zurückhaltende Gesangsverstärkung mit und füllt die Schwingungen der Brüder mit samtenen Noten beglückend auf. Lieblich, zum Heulen schön! Ein Traum in Moll.

    "If You Ain’t Got Love" stammt von der Cajun-Truppe The Revelers und ist eine beschwingte Pop-Ballade (kein Widerspruch!), die sich in diesem Zustand als galanter Country-Rock im Sinne der Desert Rose Band um Chris Hillman und Herb Pedersen zeigt.

    Die Singer-Songwriterin Judee Sill war eine tragische Figur. Sie hatte so viel Talent und Einfühlungsvermögen, zerbrach aber an ihrem Umfeld (gewalttätige Eltern, Prostitution, eigene Kriminalität, Drogenabhängigkeit, unglückliche Partnerschaften, missglückte Operationen) und dem kommerziellen Misserfolg ihrer Platten. Sie starb 1979 mit nur 35 Jahren an einer Überdosis, die als Selbstmord deklariert wurde. Die Country-Ballade "There's A Rugged Road" gehört zu einem ihrer intensivsten Songs und bekommt durch die Neuinterpretation eine würdige, spirituell angehauchte Stimmung verliehen.

    Das sogenannte "Weiße Album" der Beatles von 1968 gehört zu deren ambitioniertester Arbeit. Von infantilem Liedgut ("Ob-La-Di, Ob-La-Da") bis hin zu einer experimentellen Avantgarde-Komposition ("Revolution 9") ist dort eine riesige Bandbreite zu hören. "I Will" gehört mit seiner Wiegenlied-Rezeptur nicht zu den stärksten Stücken der Fab Four. Aus nostalgischen Gründen wurde das Lied dennoch aufgenommen, kann aber von den Brother Brothers nicht aus seiner Behäbigkeit gerettet werden. Schade eigentlich.

    Als der Jazz-Trompeter Chet Baker im Jahr 1954 "Chet Baker Sings" veröffentlichte, gab es nicht wenige Kritiker, die seine Stimme als zu wenig voluminös und zu unsicher bezeichneten. Heute gelten die Gesangsaufnahmen als Krönung seiner Karriere. Dazu gehört auch "I Get Along Without You Very Well (Except Sometimes)", geschrieben von Hoagy Carmichael. Adam und David Moss arrangieren das Stück zusammen mit Rachel und Emily Price als mehrstimmige A cappella-Nummer im perfekt produzierten Stil der Jazz-Pop-Gesangstruppe The Singers Unlimited.

    Der Singer-Songwriter Robert Earl Keen Jr. ist hier nie so richtig bekannt geworden und das zu Unrecht, denn er hat im Laufe seiner seit den 1980er Jahren andauernden Karriere etliche erstklassige Alben und Songs abgeliefert, die er mit seiner rustikalen Stimme veredelte. "Feelin’ Good Again" vom 1998er Album "Walking Distance" zeigt den modernen Minnesänger und studierten Journalisten als aufgeräumten Troubadour mit Hang zum Optimismus. "Dieser Song spricht für sich selbst als der Wohlfühlsong des Jahrhunderts", meinen die Moss-Brüder zu ihrer Auswahl und verpacken ihren bedächtigen Gesang mit Good-Time-Bluegrass-Noten.

    Die Verdienste von Richard Thompson als Komponist, Sänger und Gitarrist zu loben, hieße Eulen nach Athen zu tragen. Der Brite ist seit Ende der 1960er Jahre eine Folk-Rock-Institution und begeistert bis heute immer wieder mit herausragenden Produktionen. "Waltzing’s For Dreamers" hat jetzt auch schon 21 Jahre auf dem Buckel und ist bei den vielen tollen Liedern von Thompson etwas untergegangen. Auch deshalb haben die Brüder es ausgegraben und mit Anmut überschüttet.

    Die sehnsüchtige Komposition "High Sierra" wurde von Harley Allen, dem Sohn der Bluegrass-Legende Red Allen, geschrieben und 1999 von Dolly Parton, Emmylou Harris und Linda Ronstadt über ihr Album "Trio II" bekannt gemacht. Um die weibliche Anmut der "Trio II"-Aufnahme zu retten, haben sich die Zwillinge Michaela Anne als Gast-Stimme eingeladen und um der innewohnenden Trauer des Liedes Ausdruck zu verleihen, lassen sie eine Geige leise Tränen weinen.

    "Blue Virginia Blues" ist ein flotter Bluegrass-Song, der erstmals 1986 von Bill Harrell & The Virginians virtuos eingespielt wurde. Die Lebensfreude und das Tempo wurden für "Cover To Cover" übernommen, so dass diese Version eher eine originaltreue Hommage und keine Übersetzung in neue Deutungen geworden ist.

    Von Tom Waits gibt es seit dem großartigen "Bad As Me" aus 2011 keine neue Musik mehr. Umso dankenswerter ist es, dass mal jemand an sein Werk erinnert: "Flower’s Grave" stammt aus seinem Album "Alice", das zeitgleich mit "Blood Money" 2002 herauskam und eines von den ruhig schunkelnden, ergreifend-knorrigen Stücken ist, die zum Markenzeichen des individuellen, kauzig-liebenswerten Musikers geworden sind. Schon allein wegen der stimmlichen Unterschiede kann es hier keine bloße Kopie geben. The Brothers Brother haben eben keine tiefen Stimmen und gleichen diesen atmosphärischen Unterschied durch dunkle Streichinstrumente aus, so dass der Track dadurch eine emotionale Tiefe verliehen bekommt.

    Wer The Milk Carton Kids oder das Ehepaar Gillian Welch/David Rawlings schätzt, der sollte sich unbedingt "Cover To Cover" anhören. Immer wenn es gefühlsecht, langsam, innig und ruhig wird, ist die einfühlsam-betörende Interpretation der Zwillingsbrüder nicht zu schlagen. Man kann sich ihrer raffinierten Verführungskünste nicht entziehen.

    Ihre Songauswahl ist beinahe vollständig stimmig und insgesamt hochwertig ausgefallen. "Cover To Cover" ist auf jeden Fall ein wunderschönes Cover-Album geworden, dass eine überlegene Musikalität aufweist und auf weitere Taten gespannt macht. The Brother Brothers müssen unbedingt im Auge behalten werden!
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    31.08.2022
    Klang:
    4 von 5
    Musik:
    4 von 5

    "Vorwärts Rückwärts" verarbeitet Retro- und individuelle Sounds zu einem anschaulichen und experimentellen Musik-Erlebnis.

    Die Entwicklung der Pop-Musik vollzieht sich in Wellenbewegungen. Neue Trends tauchen auf, ebben ab, vermengen sich mit Retro-Stilen oder Retro-Stile werden wieder modern.

    Der programmatische Titel "Vorwärts Rückwärts" spiegelt genau eine solche Situation in der Musik von den Blackberries wider: Fragmenten aus Progressive-, Kraut- und Psychedelic-Rock wird jegliche Muffigkeit entzogen, sie werden aufpoliert und erscheinen nun im renovierten Gewand, eigene Ideen und überraschende Wendungen inklusive. Dabei kommt es überhaupt nicht darauf an, welche Künstler als Inspiration herangezogen werden können, sondern nur auf das originelle Ergebnis. Aber wer dennoch gegenwärtige Verweise benötigt: Fans von Porcupine Tree, Elbow, The War On Drugs oder Motorpsycho könnten auch an den Blackberries ihre Freude haben. Die Band selber nennt die üblichen Verdächtigen als Einfluss, wie die Beatles, Kinks, Hollies und die frühen Pink Floyd. Ergänzend können noch Jefferson Starship ("Blows Against The Empire"), The Zombies, Neu! und Can genannt werden.

    Die Blackberries sind ein Quartett aus Solingen, das 2009 gegründet wurde und aktuell aus Julian Müller (Gesang, Gitarre), Janis Rosanka (Bass, Gesang), Joscha Justinski (Keyboards) und Thomas Haumann (Schlagzeug) besteht.

    An den Musikern sind die psychischen Belastungen, die sich aus der kriselnden Weltlage der letzten Jahre ergeben haben, auch nicht spurlos vorbei gegangen. Auf "Vorwärts Rückwärts" beschäftigen sie sich unter anderem mit Krieg, Klimawandel, Egoismus und Gier, wobei sie musikalisch zwar nicht mit Moll-Tönen sparen, aber den hoffnungsvollen Klängen dennoch stets eine Chance geben. Obwohl der Albumtitel etwas anderes erwarten lässt, singt die Band übrigens englisch, mit gelegentlichen deutschsprachigen Einschüben.

    "Vorwärts Rückwärts" ist das vierte Album der Psychedelic-Popper und beginnt mit dem schleppenden "Modern Musketeer", das sich mittig zwischen dem episch-rauschhaften "Requiem" von Bevis Frond und den lyrischen Momenten von "Riders On The Storm" der Doors einnistet.

    "After The War" flirtet mit der Eleganz und Leichtigkeit des Soft-Rock, um den im Groove-Pop angesiedelten Song mit gelassener Geschmeidigkeit und melodischer Raffinesse empathisch fließen zu lassen.

    Die sinfonische Ballade "Time To Move On" begibt sich auf das Terrain solcher Bands, die Melodik und Theatralik zu empfindsamen Mini-Dramen formen konnten, wie z.B. Procol Harum ("A Whiter Shade Of Pale", "A Salty Dog").

    Bei "Rückwärts" drehen sich die Klänge hypnotisch-pulsierend und nehmen den Hörer in einer Spiralbewegung mit in eine seltsame, auf morbide Art betörende musikalische Welt, die es auf die Verwirrung der Sinne abgesehen hat. "Rückwärts" ist das einzige Lied mit durchgängig deutschen Texten. Eine interessante Variante, die ausgebaut werden sollte.

    Der Blues-Rock "Double Walker" tarnt sich als Smooth-Soul und vereint so auf charmante Weise stilistische Gegensätze, die sich hier jedoch lüstern anziehen.

    Wenn New Wave-Zickigkeit auf Soft-Art-Pop trifft, dann entsteht daraus "The Moor", das durch den flotten Rhythmus einen frechen Anschub bekommt.

    Die Kriegs-Maschinerie folgt perfiden Gesetzmäßigkeiten. Der Song "War Machine" klingt zunächst monoton, folgt also gleichmäßigen Strukturen, wie sie zum Beispiel beim Ambient- oder Minimal-Art-Sound zu finden sind. Die Stimmung ist hier resignierend-trübe, weist dann aber im weiteren Verlauf auch Aggressionspotential auf. Nach etwa 5 Minuten ist plötzlich Schluss, der zu erwartende Kollaps bleibt allerdings aus.

    "Ich geh vorwärts, immer weiter vorwärts" heißt es gegen Ende des Stücks "Vorwärts". Und genauso unnachgiebig nach vorne strebend und treibend ist auch das Tempo dieses druckvoll rumorenden Space- Rocks. Also würden die Apokalyptischen Reiter über die Erde fegen, kreischt die elektrische Gitarre einen Endzeit-Blues und das Schlagzeug hetzt hastig, manchmal sogar panisch voran.

    Hell leuchtet die E-Gitarre bei "A Life In Colour", das Keyboard bringt weitere Sterne am Firmament zum Leuchten, während das Schlagzeug so tut, als sei es eine Rhythmus-Maschine. Der Bass grummelt und die Stimme von Julian Müller umwirbt betörend-beschwörend. Beschwingt berauschend und romantisch verträumt vernebelt der Song wohlig die Wahrnehmung. Ist das nun Progressive-Pop oder gar Psychedelic-Easy-Listening?

    Da sage noch jemand, Psychedelic-, Progressive- oder Krautrock sei nur etwas für rückwärtsgewandte Musikfreunde. Aber die Blackberries gehen fortschrittliche Wege, tragen die Retro-Stile vorwärts in die Zukunft. Von daher macht der Titel "Vorwärts Rückwärts" auch deshalb Sinn, denn das Quartett kopiert nicht etwa ihre Vorbilder, sondern schraubt eigene Eindrücke zu einer bunten Collage zusammen, die zeitlose Werte und aktuelle Interpretationen nahtlos miteinander verbinden.

    Die Songs scheinen aus endlosen Jams im Studio destilliert worden zu sein, denn die kontrollierte Improvisation bildet oft den Kern der Komposition. Der Melodie wurde dabei jedoch immer eine Hauptrolle eingeräumt. Es ist eben eine Frage der Balance, ob ein Lied eingängig oder kompliziert erscheint. Die Blackberries erweisen sich in diesem Punkt als Meister der Ausgewogenheit.
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    31.08.2022
    Klang:
    5 von 5
    Musik:
    4 von 5

    Ein Mann. Ein Piano. Eine Leidenschaft.

    Solo-Piano. Ein Mann und sein Instrument werden eins. Nicht nur, welche Töne angeschlagen werden spielt eine Rolle, sondern auch in welcher Form sie die Welt bereichern: Mit hartem oder weichem Anschlag, einzeln oder im Verbund. Schnell oder langsam. Das alles sind Variationsmöglichkeiten, die das Stimmungsbild beeinflussen und den Hörer auf den Titel einstimmen können. Die Titel der Stücke sind in der Instrumentalmusik dabei eigentlich nur Markierungen, man kann sich auf sie einlassen oder den eigenen Assoziationen folgen.

    Thilo Seevers wurde 1993 in Bremen geboren und begann mit fünf Jahren Klavier zu spielen. Was liegt da näher, sein erstes Solo-Werk "Auszug" audiophil im ehemaligen Sendesaal von Radio Bremen aufzunehmen. Dieses Gebäude ist bekannt für seinen außergewöhnlich guten Klang, wird aber nicht mehr vom Sender betrieben und sollte sogar abgerissen werden. Es fanden sich zum Glück engagierte Retter, die einen Verein gründeten, um den Saal weiter für Veranstaltungen nutzen zu können.

    Das Zitat von Frédéric Chopin: "Einfachheit ist die höchste Errungenschaft" ist ein Leitmotiv von Thilo Seevers. Das klingt nach Reduktion. Im Beispiel von "Auszug" gibt es zumindest eine Reduzierung auf zwei spielende Hände. Aber was bedeutet "Auszug" in diesem Zusammenhang? Ordnung im Sinne einer Schublade? Der Auszug aus einer bekannten Umgebung im Sinne von Weltoffenheit? Oder, dass hier nur ein kleiner Teil der Möglichkeiten, die die Musik über hunderte von Jahren geboten hat, als Vorlage einfließen konnten. Die Näherungs-Erklärung auf der Homepage des Musikers bevorzugt die beiden letztgenannten Blickwinkel und im Booklet wird noch eine weitere Deutung offenbart: "Auszug" steht auch für den Hang von Thilo Seevers, seine Komfortzonen verlassen zu wollen, um sich bewusst dem Neuen und Unbekannten zu öffnen. Von Bremen aus führte es ihn nämlich schon nach Brasilien, Schweden und nach Berlin, wo er zurzeit lebt.

    Mit diesem theoretischen Rüstzeug geht es in die akustische Wahrnehmung: Töne fallen eisig wie Schneeflocken vom Himmel. Es ist eine klare Nacht. "Wie schön leuchtet der Morgenstern" fängt eine Idylle ein, die Anmut, Demut und Fantasie ausdrückt. Die Originalkomposition stammt von Philipp Nicolai, der von 1556 bis 1608 lebte. Der Neuinterpretation hört man das Alter des Ursprungs allerdings nie an, weil das Lied zeitgenössisch transformiert wurde.

    Das Nachtleben kann glitzernd, pulsierend, laut und hektisch sein. Das sind alles Aspekte, für die "After Dark" eine Deutungshoheit beanspruchen kann. Aber auch Lieblichkeit und Zufriedenheit spielen bei diesem Emotionscocktail eine Rolle.

    Der Kämpfer für die Entrechteten aus dem Sherwood Forest heißt Robin Hood. Hier haben wir es bei dem Stück "Robin Hoode" mit einer altertümlichen Schreibweise zu tun, denn die Originalkomposition datiert aus dem 16. Jahrhundert von einem Mr. Ascue. Trotz Grabesstimmung vermittelt der Track zuweilen Ermunterung und sogar Trotz. Er lässt stilistisch keine Unterschiede zwischen Klassik und Jazz zu. Und plötzlich sind da glockenhelle Töne, die nicht aus dem Steinway Piano stammen können. Es klingt, als ob ein Vibraphon für klare Einsichten sorgen würde, es ist aber eine Celesta, die hier frische Noten bereithält.

    Die "Port Townsend Bay" ist eine Meeresbucht, die im US-Bundesstaat Washington liegt. Die Stadt Port Townsend hinterlässt durch ihren viktorianischen Baustil eine gemütlich-bürgerliche Stimmung. Thilo Seevers vermittelt bei dem Stück Assoziationen, die an solch eine unbekümmerte Lebensart denken lassen.

    Adaptionen romantischer Klassik in Verbindung mit Jazz-Improvisationen prägen "Rainflow". Bei dem Stück lässt Seevers im Hintergrund einen leisen Dauerton mitschwingen, der der Atmosphäre etwas Minimal-Art-Ewigkeit mitgibt. Inspiriert wurde der Track von Györgi Ligetis "Musica Ricercata", einer dynamischen Klavier-Komposition, bei dem sowohl Stille und Ruhe wie auch Dramatik und Wucht eine Rolle spielen.

    Für "Metropole bei Mitternacht" erschafft Thilo Seevers Töne, die tatsächlich Dunkelheit ausdrücken. Für den Musiker gibt es bei dieser Betrachtung keinen Trubel in der Nacht, er fängt eine Stimmung ein, in der sich das Individuum in den anonymisierenden Schoß des ständig pulsierenden Lebens begibt, ohne daran beteiligt zu sein. Erstaunlicherweise fand Seevers den Anstoß zu dieser Idee ausgerechnet in Berlin, wo er Stille genoss. Schön, dass es in dieser lärmenden Metropole auch noch solche Orte des meditativen Rückzugs gibt.

    Sertanejo ist ein brasilianischer Musikstil, der in den 1920er Jahren entstand. Seit den 1990er Jahren wurde dieses Genre kommerzialisiert und ist dadurch wieder sehr beliebt geworden. Die aktuelle Variante wird auch als die Country-Musik Brasiliens bezeichnet. Bei "Lamento Sertanejo" handelt es sich allerdings um die Einverleibung eines gleichzeitig kräftig instrumentierten, aber auch traurigen Bossa Nova von Gilberto Gil und dem Akkordeonspieler Dominguinhos aus dem Jahr 1975. Thilo konserviert die darin vorkommende Wehmut und garniert sie mit wenigen wuchtigen und störrischen Ausbrüchen.

    "Kyiv" ist eine andere Schreibweise für "Kiew", der Hauptstadt der Ukraine, die ein Symbol für Widerstand und Durchhaltewillen geworden ist. Das Stück zeichnet eine kunstvolle, pulsierende, lebensfrohe Sicht auf die Stadt, die hoffentlich bald wieder Einzug in das tägliche Leben nehmen kann. Auch wenn sich etwas Melancholie auf die Noten legt, so überwiegt doch die Hoffnung, denn die stirbt ja bekanntlich zuletzt.

    In diesem Sinne ist der Nachspann "Epilog: Look For The Silver Lining" mehr als nur die Suche nach dem Silberstreif am Horizont. Diese 10 Minuten gehören dem Anstand, der Vernunft und dem Streben nach einem besseren Leben im friedlichen Zusammensein. Entsprechend gibt es bei der Musik nachdenkliche und auch turbulente Momente. Thilo Seevers zündet jedenfalls ein Feuerwerk der Ausdrucksmöglichkeiten auf dem Piano ab. Den Song kannte der Pianist vom ergreifenden Album "Chet Baker Sings" aus 1954 und er steht stellvertretend für die Zuversicht. Die Zeilen "Always look for the silver lining, try to find the sunny side of life" berührten Thilo Seevers sehr, weshalb unbedingt eine Version auf "Auszug" erscheinen musste.

    Auf der Spotify-Playlist des Pianisten, Komponisten und Arrangeurs Thilo Seevers finden sich unter anderem Klassik-Werke von Debussy, Schubert, Grieg, Mendelssohn, Satie und Mozart, Jazz von GoGo Penguin und Brad Mehldau und Alternative-Rock von TV On The Radio oder den Grandbrothers. Das zeigt sein weit angelegtes musikalisches Interesse, das sich natürlich auch in seinen Interpretationen und Kompositionen punktuell niederschlägt. Jazz und Klassik mehr, Alternative-Rock weniger. Durch seine Arbeit im Trio ACTS! (mit Ana Čop (Voice) und Jaka Arh (Sounddesign)), im Duo mit Uli Rennert als HOME sowie mit seinem Thilo Seevers Ensemble baute sich der Musiker eine breite Palette an Ausdrucksformen auf, die er nun reduziert und komprimiert als geistiges Eigentum nutzen kann.

    Piano-Solo-Aufnahmen gibt es wie Sand am Meer. Was "Auszug" heraushebt und auszeichnet, sind eine sprudelnde Leidenschaft, eine Genre-unabhängige Kreativität und die Virtuosität des Interpreten bei seinen interessanten Vorlagen und stimmungsvollen Eigenkompositionen. Instrument und Musiker verschmelzen zu einer Einheit, was jegliche Einteilungen in E(rnste)- und U(nterhaltungs)-Musik ad absurdum führt.
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    Lifetime Achievement (CD)
    22.08.2022
    Klang:
    4 von 5
    Musik:
    4 von 5

    Loudon Wainwright III zieht Bilanz, bevor es andere für ihn tun müssen.

    76 Jahre alt wird der Folk-Musiker und Vater seiner musikalisch talentierten Kinder Rufus, Martha und Lucy am 5. September 2022. 29 Platten hat der Unangepasste bisher in seiner Karriere seit 1970 eingespielt, "Lifetime Achievement" steht also für ein rundes Jubiläum und erscheint am 19. August 2022. Tatsächlich deckt die neue Musik den ganzen Bereich ab, in dem sich der in Chapel Hill, North Carolina, geborene Musiker und Schauspieler bisher getummelt hat. Darunter sind pure Solo-Aufnahmen, aber auch üppig arrangierte Songs. Wainwright ist ein brillanter Geschichtenerzähler, der zynisch, lyrisch oder sozialkritisch daherkommt und eine unverwechselbare Vortragsweise pflegt.

    "Wenn ich keinen guten Song schreiben kann, dann schreib ich eben einen schlechten – einfach um dranzubleiben. Ich kann ja über alles einen Song machen, auch über diese Flasche hier – obwohl ich wohl doch lieber was über mich schreiben würde, wenn ich so drüber nachdenke", gestand er lachend im Jahr 2003 dem deutschen "Rolling Stone". Ganz der selbstverliebte Schelm, der er schon immer war. Humor, Aufrichtigkeit und romantische Dramatik sind Eckpfeiler seiner Texte, die manchmal wichtiger zu sein scheinen, als die Musik, die er Solo schon mal mit aufdringlich-peinlichen Grimassen vorträgt. Seine Berufung als singender Poet fand er, als er mit 17 nach San Francisco trampte, dort zunächst Yoga lernte, danach zu seiner Großmutter nach Rhode Island zog und im Yachthafen arbeitete, wo ihm ein alter Hummerfischer das Lieder schreiben beibrachte. Ihm widmete er auch seinen ersten eigenen Song "Edgar". Daraufhin zog es ihn in den New Yorker Greenwich Village-Stadtteil, ein Künstlerviertel, das als Brutstätte vieler einflussreicher Folk- und Bluesmusiker (unter anderem von Bob Dylan, Fred Neil oder The Blues Project) in den 1960er Jahren bekannt wurde. Heute ist Loudon Wainwright III eine Institution, die niemandem mehr etwas beweisen muss und deshalb darf er durchaus Bilanz ziehen und sich dabei musikalisch wiederholen. Seine Hardcore-Fans wird es nicht stören.

    "I Been" erscheint mit Akustik-Gitarren- und Mundharmonika-Begleitung wie eine Bob Dylan-Parodie, "One Wish" kommt sogar ganz ohne instrumentelle Verstärkung aus und hört sich wie ein uraltes irisches Volkslied an. Knorrig-trockener, zuweilen bissiger oder mild gestimmter Gesang gibt den Songs trotz der sparsamen bis nicht vorhandenen Untermalung einen rebellisch-starrsinnigen oder verständnisvollen Anstrich. Da hat sich seit 1970 nichts dran geändert.

    "It Takes 2" nimmt Bezug auf den Song "One Man Guy" aus 1985 und kommt zu dem Schluss, dass es zumindest auf Dauer doch nicht so toll ist, ein eigenbrötlerischer Egoist zu sein, sondern dass das Glück auch in einer respektvollen Partnerschaft gefunden werden kann. Will Holshouser begleitet den sentimental gestimmten Troubadour einfühlsam bei seiner geläuterten Liebeserklärung am Akkordeon.

    Bei "Fam Vac" schlägt das Pendel dagegen wieder in Zynismus um: "Ich brauche einen Familienurlaub. Ich meine einen Familienurlaub allein. Ich packe das Auto, lade das Fahrrad und das Kajak ein. Und lasse die verdammte Familie zu Hause", heißt es da in diesem ironisch vorgetragenen Campfire-Song. "Jean Paul Sartre sagte, dass die Hölle die anderen Leute sind", singt Loudon zum Schluss. Bei ihm ist es anscheinend auch die Verwandtschaft und er zitiert als Beleg Leo Tolstoi: "Jede unglückliche Familie ist auf ihre besondere Weise unglücklich."

    Apropos Hölle: Für "Hell" findet der launige Musikant noch eine weitere Definition, die das Fegefeuer beschreibt. Die Hölle sei kein ferner Ort, meint er, eigentlich haben wir sie alltäglich auf Erden. Bei dieser filigranen Bluegrass-Ballade bringen die bewährten, virtuosen Musiker Chaim Tannenbaum (Background-Gesang und Banjo) sowie David Mansfield (das musikalische Wunderkind der legendären Alpha Band, Mandoline) feingesponnene, wohlüberlegt gesetzte Töne ein.

    Für "Little Piece Of Me" wird die Besetzung noch weiter ausgedehnt: LW3 (Gesang, Banjo, Percussion, Handclaps), Chaim Tannenbaum (Banjo), David Mansfield (Geige), Tony Scherr (Bass), Rich Pagano (Schlagzeug, Handclaps) und Dick Connette (Handclaps) verwandeln die Komposition in einen gut gelaunten Country-Folk-Song, bei dem Wainwright auf seine besondere sarkastisch-überzogene Art in die Rolle eines Obdachlosen schlüpft, der jeden Tag, den er überlebt, feiert: "Viele, die ich geliebt habe, sind aufgestanden und gestorben. Aber ich bin ewig, könnte man sagen. Ich bin unsterblich, vielleicht für heute", singt er vergnügt.

    Der traditionelle, ruhige Folk-Blues "No Man`s Land" ist eine Bühne, die sich Loudon gerne aussucht, um seine Geschichten zu erzählen, weil ihm hier auch die Möglichkeit geboten wird, mit seinem Gesang zu improvisieren. Deshalb könnte das Lied zu einem Live-Favoriten werden.

    Was ist das für ein Gefühl, wenn du in deinen Heimatort zurückkehrst, wo du jemanden zurückgelassen hast, der dir immer noch nicht gleichgültig ist? Sorgst du dich, hast du Gewissensbisse, bist du froh, die Chance zu bekommen, um alte Wunden schließen zu können? Diese Gedanken verarbeitet die schöne, sanfte, mit Bass, Schlagzeug und zwölfsaitiger Gitarre delikat ausgestattete Ballade "Back In Your Town".

    Wo lebt man besser: In der Stadt oder auf dem Land? Darüber gibt es je nach Standpunkt kontroverse Ansichten. Wainwright berichtet in "Town & Country", dass seine Mutter Angst vor der Stadt hatte. Sie war auf dem Land aufgewachsen und die Stadt hielt sie für zwielichtig und beschissen. Sein Vater arbeitete in der Stadt und er mochte es, dort Ärger herauszufordern. Gefahr war wohl sein zweiter Vorname. Loudon selber genießt in diesem Stück auch zunächst den städtischen Trubel und die Vielfalt, aber es fallen ihm auch unangenehme Seiten auf. So sieht er in einem Restaurant eine Ratte, die so groß wie eine Katze ist und er muss letztendlich feststellen: "Bringt mich raus aus der Stadt, sie ist zu verrückt für mich. Ich brauche Bäume, etwas sauberes Wasser. Ich möchte einen Kamin in einen Schaukelstuhl einbauen. Was ich jetzt weiß ist, die Stadt ist zu beschissen für mich." Aber kaum ist er wieder auf dem Lande, kommt die Sehnsucht nach den Versuchungen der Großstadt wieder durch. Häufig möchte man eben genau das haben, was man grade versäumt. Die Band begleitet diese Szenerie mit einem ausschweifenden, jazzigen Rhythm & Blues, bei dem die Bläser, die Orgel und die E-Gitarre für instrumentelle Glanzlichter sorgen.

    "Island" ist eine wunderschöne, sehr langsame und sehr innige Angelegenheit, die in ihrer Intimität und Verletzlichkeit an den herrlich bittersüßen Song "You Can`t Fail Me Now" erinnert, den Wainwright zusammen mit Joe Henry für den Film "Knocked Up" (2007) geschrieben hat. Das wortreiche "It" wird a cappella von Loudon und Chaim Tannenbaum vorgetragen. Der Text ist eine Aufzählung von Sachen, die "Es" mit dir machen wird. Und was ist dieses "Es" nun? Das pure Leben wahrscheinlich.

    "Hat" ist eines der Lieder, die Loudon Wainwright für und über seine Kinder geschrieben hat. So wie "Rufus Is A Tit Man" und "A Father And A Son", die Rufus Wainwright gewidmet sind oder "Pretty Little Martha", "Five Years Old" und "Hitting You" für Martha Wainwright. "Hat" wurde von seiner Tochter Lucy Wainwright-Roche inspiriert, denn das erste Wort, das sie sagen konnte war "Hat". Das brachte Loudon zum Nachdenken und ihm fiel ein, dass ein Hut so viel mehr ist als nur eine Kopfbedeckung. Er spendet Schatten und schützt vor Niederschlag. "Bewahre dein großes Geheimnis darunter - ich meine dein Gehirn", gibt er seiner Tochter noch mit diesem ausladenden Pop-Folk als Hinweis mit auf den Weg.

    Loudon Wainwright III blickt auf sein Lebenswerk zurück und fragt sich: Habe ich meine Zeit verschwendet? Hätte ich noch mehr Songs schreiben sollen? Meine Zeit läuft ab, aber was erwarte ich noch vom Leben? Und die Antwort ist: Liebe! Der Song "Lifetime Achievement" und eigentlich das ganze Album ist durchzogen von der Erkenntnis, dass die Liebe der Klebstoff ist, der unsere Zivilisation zusammen hält. Das kann man drehen wie man will. Und der Song dreht sich als Country-Walzer im dreiviertel Takt und verströmt ein Maximum an Altersweisheit und Milde.

    "How Old Is 75?" fragt sich Wainwright und sinniert darüber, dass sein Vater viel zu jung mit 62 Jahren abtreten musste. Aber wer kennt schon die Abmachung zwischen uns und Gott und lassen sich eventuell bei guter Führung neue Bedingungen aushandeln? Zunächst bestimmt hier ein Banjo das Tempo und sorgt für die nachdenkliche Stimmung. Dann schleichen sich allmählich melancholische Streichinstrumente ein und ein weicher Flaum legt sich über das Geschehen, der alle Befürchtungen einhüllt und eine von Dankbarkeit erfüllte Ruhe tritt ein. Das zur Ukulele vorgetragene, simple, lustige "Fun & Free" ist an Rufus gerichtet und mündet in der Empfehlung: "Verbringe das Leben, als wäre es ein Einkaufsbummel." Und so tritt neben die Besinnlichkeit auch die Heiterkeit und macht den musikalischen Kosmos von Loudon Wainwright III komplett.

    Wer den Mann sowieso schon schätzt, der wird auch "Lifetime Achievement" mögen und hoffen, dass danach noch viele weitere Ideen abgesondert werden. Wer ihn noch nicht kennt, der hat nun Gelegenheit, in seine von Klamauk, Sozialkritik und Schwermut geprägte Welt einzutauchen. Wainwright lässt uns noch wissen: "Sobald das Album gemastert und veröffentlicht ist, höre ich es mir nie wieder an, wenn das überhaupt möglich ist. Ich habe das "Lebenswerk" mittlerweile ziemlich satt. Trotzdem hoffe ich, dass es euch gefällt!" Ja, es hat gefallen! Schön, dass Loudon Wainwright III seinen speziellen Humor und sein Talent immer noch aus vollem Herzen großzügig verteilen kann.
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    My Life And I Kaz Hawkins
    My Life And I (CD)
    17.08.2022
    Klang:
    4 von 5
    Musik:
    4 von 5

    Ein Leben, das heftige schmerzliche Phasen verkraften musste, erfuhr die heilende Kraft der Musik.

    Der Name Kaz Hawkins ist bisher leider nur Insidern vorbehalten gewesen. Das ist sehr schade, denn das, was bei der Zusammenstellung "My Life And I" als Querschnitt einer 30 Jahre währenden Karriere an Musik zu hören ist, sollte einem großen Publikum bekannt gemacht werden. Kaz Hawkins wurde 1973 in Nordirland geboren und kam über eine Kassette von Etta James, die sie bei ihrer Großmutter hörte, zur Musik. Daraufhin legte sie sich für die eigene Karriere - die in den Bars von Belfast begann - ihren Künstlernamen zu, weil der Geburtsname von Etta James Jamesetta Hawkins lautet.

    Ihrem Idol zollt Kaz mit den Songs "At Last" und "Something's Got A Hold On Me" Tribut. "Ich konnte die Traurigkeit hören und identifizierte mich mit ihr. Ich wollte singen wie sie, aber ohne sie zu imitieren", erklärt Hawkins ihre Herangehensweise an die Transformation der mächtigen Vorlagen. Beide Cover-Versionen sind von gehörigem Respekt geprägt, so dass die Erhaltung der Würde der Originale wohl wichtiger war, als gänzlich neue Interpretationsmöglichkeiten zu erfinden.

    "Pray" entführt zu Beginn von "My Life And I" förmlich in die von glühender Gottesfürchtigkeit erfüllte Atmosphäre einer Kirche im Süden der USA. Die hingebungsvoll flehende oder inbrünstig röhrende oder kraftvoll donnernde Stimme von Kaz Hawkins erfüllt die Luft und versetzt die Gläubigen in Verzückung.

    Die Cover-Version von "Feelin' Good", im Original von Nina Simone, geht andere Wege als die Urfassung und führt deshalb zu einer kreativen Auseinandersetzung mit dem Ursprung. Setzt Nina Simone auf eine offensive optimistische Ausstrahlung des Songs, so gibt sich Kaz Hawkins zunächst verhalten, lässt die E-Gitarre den Blues verkünden und singt dazu besonnen und mit Selbstvertrauen, aber nicht wirklich vom Glück umflutet. Sie wird von einer rauschenden Orgel begleitet und die E-Gitarre weint dazu bittere Tränen, die allmählich zu Freudentränen werden. Dann reißt die sich gegen alle Widerstände wehrende Stimme den Himmel auf und die Sonne kommt durch. Die Gitarre übernimmt daraufhin das Zepter und lässt sich auf ein progressives Blues-Rock-Experiment ein.

    Vielleicht ist es zufällig passiert oder es wurde absichtlich so vorgesehen: Der Refrain von "Hallelujah Happy People" erinnert stellenweise an "Hallelujah" von Leonard Cohen. Ansonsten tummelt sich der Piano-begleitete Song im Umfeld von handfesten, leicht provokatorischen Chanson-, Cabaret- und Kurt Weill-Darbietungen.

    Die Ballade "One More Fight (Lipstick & Cocaine)" könnte aus dem Country-Folk-Repertoire von Carole King stammen, hätte sich also durchaus auch auf "Tapestry" gut angehört. Kaz benutzt das Piano quasi als zweite Stimme und erlangt so eine berührende Zweisamkeit. Erst zum Schluss wird deutlich, dass es sich um eine Live-Aufnahme handelt, die aus dem Park Avenue Hotel in Belfast (Nordirland) stammt. Offenbar war das Publikum so in die Vorstellung vertieft, dass zwischendurch keinerlei Geräuschkulisse abgesondert wurde.

    Für "Believe With Me" wird Marshall Tucker Band-Southern-Rock mit Doobie Brothers-Westcoast-Rock-Groove vermählt und auf diese Weise entsteht ein schwungvolles Stück, das sowohl als Classic-Rock-Radio-Futter taugt, wie auch bei eintönigen Autofahrten wach hält und gut unterhält.

    Als groovender Boogie wurde "Drink With The Devil" konzipiert. Der Gesang klingt hier oft so, als solle er absichtlich wie eine historische Aufnahme wirken. Der Track orientiert sich ansonsten - absichtlich oder nicht - am "Resurrection Shuffle" von Ashton, Gardner & Dyke aus 1971.

    Den Song "Full Force Gale" hat Van Morrison geschrieben und 1979 auf "Into The Music" als flotten Irish-Folk-Rock mit Gospel-Einschlag rausgebracht. Kaz Hawkins macht daraus eine charmante Blues-betonte Jazz-Ballade, die unter anderem durch ein kurzes, prickelndes Gitarren-Solo und den beherzt-vehementen Gesang ihre Spannung und Energie erhält.

    Der Jazz-Einfluss von "Don't Make Mama Cry" ist verhalten, ebenso dezent wird das Eröffnungs-Riff von Iggy Pops "The Passenger" eingebaut. Im Kern ist das Lied jedoch ein dynamischer Rhythm & Blues, der auch Janis Joplin gut zu Gesichte gestanden hätte. Natürlich macht Kaz Hawkins gesanglich wieder eine gute Figur, hält alle Fäden zusammen, dirigiert das Tempo und umgarnt die Musiker sinnlich und aufbrausend.

    Den Löwen-Anteil dieser Zusammenstellung bilden Piano-Balladen wie "Because You Love Me", "The River That Sings", "Surviving", "Don't You Know", "Don't Slip Away" und "Better Days". Sie setzen sich sowohl verträumt-romantisch wie auch lebendig-energisch in Szene und stellen die ausdrucksstarke Stimme von Kaz Hawkins - die ab und zu an Inga Rumpf (Frumpy, Atlantis) denken lässt - in den Mittelpunkt. Ganz bescheiden, klar und andächtig zeigen die Lieder auf, dass die Musikerin durch intime Intensität überzeugen kann. Zum Abschluss wird mit "Shake" nochmal leidenschaftlich dem Gospel-Soul gehuldigt, was zu einem schwindelerregend schnellen Mittelteil führt.

    Kaz Hawkins weiß, was Schmerz bedeutet, hat also den Blues gelebt. Als Kind bekam sie den brutalen Nordirlandkonflikt hautnah mit und ihr späteres Leben war von psychischen und physischen Qualen begleitet: „Ich war drogenabhängig, ich wollte sterben, ich war depressiv, ich wurde von meinem Ex-Partner fast zu Tode geprügelt. Ein Polizist rettete mich. Ein Arzt half mir bei der Heilung. Als ich sterbend auf dem Boden lag, kam das Gesicht meiner Mutter aus dem Grab zu mir und sagte: „Du schaffst das, es ist nur ein weiterer Kampf“. Dann kämpfte ich härter als je zuvor, um zu LEBEN, denn Musik war meine Bestimmung.“

    Die Musik von Kaz Hawkins ist von Glaubwürdigkeit und Aufrichtigkeit gekennzeichnet. Gleichzeitig besitzt sie ein untrügliches Gespür für den passenden instrumentellen Rahmen für die sorgsam ausgewählten Song-Ideen. Ihre stimmliche Gewalt wirkt nie aufgesetzt oder übertrieben eingesetzt. Nicht nur der Interpret, sondern auch der Song löst schließlich einen Reiz bei den Zuhörern aus. Es ist noch nicht zu spät, Kaz Hawkins für sich zu entdecken. Es lohnt sich!
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    Psychoactive Ghosts Sorry Gilberto
    Psychoactive Ghosts (LP)
    29.07.2022
    Klang:
    4 von 5
    Musik:
    4 von 5
    Pressqualität:
    4 von 5

    Sorry Gilberto verabreichen akustische psychoaktive Substanzen mit gewünschten, positiven Nebenwirkungen.

    14 Jahre gibt es jetzt schon das Duo Sorry Gilberto aus Berlin, das aus der Sängerin, Multiinstrumentalistin und Schauspielerin Anne von Keller und dem Sänger und Gitarristen Jakob Dobers besteht. Mit "Psychoactive Ghosts" bringen sie am 29. Juli 2022 ihr fünftes Album auf den Markt, das erste seit sechs Jahren nach "Twisted Animals" aus 2016. Das ist eine lange Unterbrechung für ein Musikprojekt. In solch einer Spanne haben sich andere Gruppierungen längst aufgelöst, umformiert oder die Richtung gewechselt. Sorry Gilberto ist hingegen in der Veröffentlichungs-Schaffenspause gereift, hat an stilistischem Umfang gewonnen und agiert jetzt noch raffinierter, seriöser und geschmackssicherer als schon zuvor. Woran auch der agile Gast-Schlagzeuger Robert Kretschmar einen nicht zu unterschätzenden Anteil hat.

    "Hey Gilberto, I´m Not Sorry" lautet der Refrain zum Eröffnungs-Track "I`m Not Sorry". Eine Erkenntnis, die neue Sichtweisen und das Überwinden eines schlechten Gewissens offenlegt. Überaus galant und cremig wird der Song von einem swingenden, mild-psychedelischen Country-Folk-Thema eingeleitet und bekommt durch den ineinandergreifenden, fein aufeinander abgestimmten Duett-Gesang des Pärchens zügig eine seriös-gefasste Wendung verpasst. Entspannt-verlockende Musik, die zum vergnüglich-reizvollen Zuhören einlädt. Für "These Walls" übernimmt Anne von Keller den Lead-Gesang, den sie auf lieblich-kühle Weise über die sich teils stoisch wiederholenden, teils anziehend funkelnden Noten verteilt. Das konsequent peitschende Schlagzeug bildet dabei einen munteren Kontrast zu den verspielt-bunten Background-Tönen.

    Anne und Jakob führen bei "Bird (On My Shoulder)" ein poetisch-dadaistisches Zwiegespräch, wobei das Lied seine Brecht/Weill-Wurzeln kaum verleugnen kann, diese aber durch einen frechen Pop-Anstrich effektvoll zu kaschieren versucht. Rhythmisch, melodisch und gesanglich könnte "Neighbours" auch ein Titel der australischen Alternative-Pop-Combo Go-Betweens sein. Sie präsentierten aparte Songs, welche eingängig genug waren, um im Radio zu laufen, aber dennoch über eine gewisse Widerborstigkeit verfügten, um nicht glatt zu wirken. So wie eben auch "Neighbours".

    Ein langsam trottender, kräftig-gleichbleibender New-Wave-Rhythmus und eine silbrig klirrende Gitarre tragen den melodisch-ruhigen Solo- und Duett-Gesang von "Animals In The Night". Die E-Gitarre spielt zur Auflockerung sowohl Art-Rock-, Funk- wie auch Jazz-Akkorde und wird so zum Mittelpunkt des Geschehens.

    Ein Tag am Strand. Da kommen bei "The Beach" zunächst positive Erwartungen auf, die allerdings ohne Vorfreude, sondern sachlich vorgetragen werden. Die Aufzählung beinhaltet allerdings auch Gedanken, die einer bedrückenden Endzeitstimmung nahekommen. Zackige E-Gitarren-Klänge, eine rauschende Orgel und ein stramm marschierendes Schlagzeug verbreiten eine ausgelassene Stimmung, die durch eine stellenweise Verringerung des Tempos etwas eingetrübt wird.

    Die "Easy Street" ist eigentlich überall dort, wo Menschen für andere Menschen da sind, sie unterhalten oder sich um sie kümmern. Auf diese "Kümmerer" kann oder möchte niemand verzichten. Sie erhalten allerdings nicht den Lohn, den sie verdienen. Von Applaus oder Anerkennung alleine können sie aber nicht leben. Ein Dilemma, welches die Diskussion um leistungsgerechte Bezahlung immer wieder aufwirft. Sorry Gilberto gehen das Thema ohne Vorwürfe oder Bitterkeit an, sie sind zwar traurig über die ungerechte Wirklichkeit, wollen aber trotzdem nicht verzagen. Entsprechend melancholisch-zuversichtlich ist die Musik. Verträumte, verwehte Klänge werden von einer nachdenklich flirrenden E-Gitarre und einem unnachgiebige, aber nicht aggressiven Schlagzeug am Leben gehalten. Manchmal kann solch ein Beinahe-Klagelied sehr tröstlich sein.

    Psychoaktive Substanzen verändern das Denken, Fühlen und Handeln. Die Wahrnehmung wird durch sie eine andere und das kann sich richtungsweisend auf das weitere Leben auswirken. Jene Erfahrung kann ein Schritt in Richtung Erleuchtung sein, sie kann aber auch zur Sackgasse werden. Im Stück "Psychoactive Ghosts" wird der Wunsch nach Bewusstseinserweiterung als sehnsüchtige Hinwendung zu "Ideen, die wir am meisten lieben und Orte, die eine Verbindung mit Gedanken, die wir gerne denken", beschrieben. Also als ein individueller Wohlfühl- und Erkenntnis-Kosmos. Musikalisch werden diese Überlegungen jedoch nicht esoterisch verklärt, sondern mit tatkräftigem Folk-Jazz untermalt.

    Eine schwarze Lederjacke ist spätestens seit dem Film "Der Wilde" mit Marlon Brando von 1952 zum Symbol für Rebellion geworden. "Black Leather Jacket" verbreitet zwar keinen Aufruhr, nimmt aber textlich auch kurz Bezug auf die Kraft, die durch den Marlon-Brando-Auftritt geweckt wurde. Der Song setzt auf abgeklärte, dunkel-harsche Töne und ein langsames Tempo. Undurchsichtig, gleichmütig, klar strukturiert und mit freundlich-distanziertem Gesang von Anne von Keller wird über 6 Minuten Moll-lastiger Kunst-Pop zwischen Joy Divisions "Atmosphere" und David Bowies "Ashes To Ashes" erzeugt.

    Beim zunächst nur von der akustischen Gitarre begleiteten Lagerfeuer-Folk "Monologues" kommt erst einmal Jakob Dobers zu Wort. Er bekommt durch den einsetzenden Harmonie-Gesang seiner Partnerin eine stützende Begleitung, so dass der Track auch wegen der noch zugesteuerten sphärischen Synthesizer-Töne seine trockene Erscheinung verliert und tiefgründig erscheint.

    Sorry Gilberto haben sich mit "Psychoactive Ghosts" eindrucksvoll zurückgemeldet. Ihre Songs haben Charakter, zapfen unaufdringlich Referenzen an (z.B. João Gilberto (!!), Everything But The Girl, Rue Royale, Velvet Underground, Young Marble Giants, Joy Division, David Bowie, Belle & Sebastian) und zeichnen ein leicht halluzinogenes Bild, das zwischen Lust und Frust angesiedelt ist. Daneben hält der Spaß an Kontrasten die Songs lebendig: So erscheinen filigrane Töne neben provozierenden Rhythmen oder Schwebeklänge neben aufmunternden Takten. Die Lieder wurden so unterschiedlich ausgestaltet, dass sie mühelos über die gesamte Laufzeit von 45 Minuten für kurzweilige Unterhaltung sorgen.
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    The Beginning (CD)
    22.07.2022
    Klang:
    4 von 5
    Musik:
    4 von 5

    Baumwolle und Sümpfe haben das Leben von Tony Joe White beeinflusst. Lightnin` Hopkins und "Ode To Billie Joe" inspirierten seinen Sound.

    Er war ein Innovator, ein begnadeter Song-Schmied und ein cooler Typ, der am 25. Oktober 2018 mit seinem Tod eine nicht zu füllende Lücke hinterlassen hat. Und nun wird sein Werk "The Beginning", was nicht aus frühen Jahren, sondern aus 2001 stammt, neu veröffentlicht. Die Rede ist von Tony Joe White, dem 1943 in Louisiana geborenen Musiker, der den Stil "Swamp Music" definierte und perfektionierte.

    Aber der Reihe nach: Tony Joes Vater war ein armer Baumwollfarmer. Der Junge wuchs mit sechs Geschwistern in Goodwill, einem Kaff in Louisiana auf, das nur fünf Meilen von den Sümpfen entfernt lag. Die Arbeit auf den Baumwollfeldern, die Schwüle der Sümpfe und die Erzählungen der Einheimischen prägten sein Handeln und Denken. Im Elternhaus lief hauptsächlich Gospel-Musik und Hillbilly-Country im Radio. Ein älterer Bruder brachte eines Tages eine Lightnin` Hopkins-Platte mit nach Hause, da war es um Tony Joe geschehen. Der Blues hatte Besitz von ihm ergriffen. Daraufhin lernte er Gitarre und Mundharmonika, spielte zunächst bei Schulbällen, später in Nachtclubs und gründete eigene Bands. Als er 1967 "Ode To Billie Joe" von Bobbie Gentry hörte, gab ihm das den Impuls, auch Songs über Geschichten zu schreiben, die er erlebt oder gehört hatte und so entstanden kurz darauf seine Evergreens "Polk Salad Annie" und "Rainy Night In Georgia".

    1967 unterschrieb er dann auch seinen ersten Plattenvertrag und brachte bis 1973 sechs wegweisende Alben raus. Seine Songs wurden unter anderem von Elvis Presley, Ray Charles, Dusty Springfield oder Waylon Jennings übernommen. Einen späteren Karriereschub erfuhr er, als vier seiner Kompositionen auf Tina Turners "Foreign Affair" von 1989 landeten. Trotz aller hochkarätigen Referenzen blieb ihm der ganz große Erfolg jedoch versagt. Aber das ist wahrscheinlich gut so, denn deshalb brauchte er keine Erwartungen erfüllen oder brechen und konnte die Musik machen, die aus ihm raus wollte.

    Auf diese Weise entstand auch 2001 "The Beginning". Auf dem Werk hört man nur Tony Joe an der akustischen Gitarre und Mundharmonika. Als individuelles Element stampft er den Rhythmus mit dem Fuß und lässt dazu seine unverwechselbare, rauchig-erotische, knorrige Stimme ertönen. Musikalisch kehrt er hier oft zu seinen Anfängen zurück, als er den Blues für sich entdeckte und nach und nach seinen spezifischen, schwül erscheinenden Sound entwickelte. Das verspricht pure Intensität von einem Mann, der seine Emotionen ungefiltert übermittelt, wobei dann die Luft vibriert und die Sinne geschärft werden.

    "Who You Gonna Hoo-Doo Now" hört sich an, als wäre der Geist des verstorbenen Blues-Altmeisters Lightnin` Hopkins in Tony Joe White gefahren. Mit Hilfe einer trocken-gelassenen Boogie-Basis wird der wortreiche, 5minütige Folk-Blues zum Laufen gebracht Und das nicht, ohne dass White seine typischen Breaks und Schlenker sowie seine gesanglichen Verführungs-Nuancen wie ein sinnliches Knurren einbringt. 2013 erschien noch eine elektrische und elektrisierende Band-Version des Songs auf dem Album "Hoodoo".

    Für "Ice Cream Man" nutzt der "Swamp Fox" genannte Musiker das Multitracking-Verfahren und ist mit zwei Gitarren - in jedem Kanal eine - zu hören, die sich lustvoll umgarnen, ein anregendes Zwiegespräch führen und den Groove hochhalten. Der Track wurde 2004 für "The Heroines" in einer kräftig rockenden Variante mit Dire Straits-Einschlag produziert.

    Der bewegliche, lebendige und nachdenkliche Abstufungen nutzende Blues "Wonder Why I Feel So Bad" beginnt mit der klassischen Textzeile "Woke Up This Morning", was immer darauf hindeutet, dass Probleme zu bewältigen sind. Hier geht es um jemanden, der nicht weiß, wie sein Leben weitergehen soll, den die Vergangenheit plagt und der einen Weg sucht, um "dem Morgen ins Auge zu sehen".

    Bei "Going Back To Bed" wird ein Wochenende geschildert, dass durch eine lange Party und eine sich anschließende Depression gekennzeichnet ist. Daraufhin wird am Montag blau gemacht. Diese Schilderung geht eine stimmige Verbindung mit der lässigen Trägheit der Noten ein. Der milde, psychedelische Folk-Rock lässt sich treiben, liegt dabei jedoch an lockeren Ketten, so dass White jederzeit für Bindung sorgen kann. Das geschieht durch den durchdringend schmachtenden Gesang, der das Konstrukt auf charmant hypnotische Weise zusammenhält.

    Die Liebesgeschichte von "Down By The Border" ist dagegen romantisch geprägt, ohne dass der Ausgang bekannt gegeben wird. Auch die Musik dazu ist ungewöhnlich leichtgängig und transportiert dezent einen lebensfrohen Hauch mexikanischer Volks-Musik.

    Rhythmisch verdreht beschreibt "More To This Than That" die ironische Geschichte um einen Mann, der sich in der derzeitigen Welt veraltet vorkommt und Gegenmaßnahmen ergreifen will. Beschwörend, mit erotischer Komponente lässt Tony Joe den schwülen Swamp-Folk-Blues ablaufen, der neben Gitarre und Mundharmonika keine zusätzlichen Instrumente benötigt, um den Raum zu füllen.

    Der bedrückende Dark-Folk "Drifter" wurde so eingespielt, dass der Aufnahmeraum akustisch wahrnehmbar ist und deshalb keine sterile Tonstudio-Atmosphäre entsteht. Der "Drifter" verspielt alles und weiß zum Schluss nicht, wo er den Winter überstehen kann. An den Rand der Gesellschaft zu geraten, das ist derzeit der traurige Alltag für viele Menschen in den USA.

    "Rebellion" richtet sich an jene Leute aus dem Musikbusiness, die versucht haben, Tony Joe White zu einem Format-Radio-Künstler zu formen. Diesen Ignoranten ruft er zu: "Ich will nicht, dass mir jemand sagt, was ich zu tun habe. Ich bewege mich in meiner eigenen Zeit. Ich spiele diese Musik so, wie ich es will. Ich muss sie am Leben erhalten." Dafür, dass er wütende Ansagen macht, hält sich die Aggressivität des Songs doch sehr in Grenzen. Tony Joe bleibt auch gelassen, wenn ihm etwas auf die Nerven geht und begegnet seinen Kritikern mit einem selbstbewussten Folk-Rock, der sich zwar ziemlich entkrampft anhört, aber dennoch deutlich erzürnte Untertöne aufweist. Von "Rebellion" gibt es noch eine kernige Variante mit kreischend-rauen Gitarren im Neil Young & Crazy Horse-Gewand, die auf "Uncovered" von 2006 zu finden ist.

    Der klassische "Rich Woman Blues" erzählt von einer vermögenden Frau, die aufgrund vom Besitz von Ölquellen zu Geld gekommen ist. Ob sie ihren Partner, einen Bluesmusiker, wirklich liebt oder nur mit ihm spielt, bleibt offen. Manchmal verdirbt Geld ja den Charakter. Die Neuaufnahme auf "The Heroines" (2004) beschert dem Zwölftakter eine Bläser-Beteiligung, der ihn in Richtung New-Orleans-Jazz befördert. Für "Raining On My Life" singt Tony Joe anfangs mit sich selbst im Duett, gibt diese Möglichkeit aber schnell wieder auf. Durch die eingängige Melodie und den zündenden Refrain erhält der Blues eine liebliche Pop-Färbung, ohne dass er dadurch an Dringlichkeit verliert.

    Der Einfluss von Tony Joe White ist bis heute ungebrochen. Selbst aktuelle Künstler wie JJ Grey & Mofro, G. Love & Special Sauce, Robert Cray, Dharmasoul oder die North Mississippi All Stars haben ihm viel zu verdanken und lassen seinen Sound ehrwürdig weiterleben.

    "The Beginning" bietet tolle Musik und wird nun klanglich überarbeitet neu aufgelegt, wobei der Sound nur manchmal (z.B. bei "Ice Cream Man") erfrischt erscheint. Völlig unverständlich ist jedoch, dass gegenüber dem Original von 2001 die Reihenfolge der Lieder geändert und mit "Clovis Green" ein Album-Highlight weggelassen wurde.

    Eigentlich erwartet man von gehobenen historischen Schätzen, dass das Umfeld in Form von Bonus-Tracks wie Demo-Aufnahmen oder alternative Mixe erhellt wird und nicht, dass der Ursprung noch beschnitten wird. Das ist ganz klar eine verfehlte Veröffentlichungspolitik. Wer also das Original sein Eigen nennen darf, sollte es wegen der Neuveröffentlichung nicht verkaufen, sondern hegen und pflegen.

    Die Liner-Notes der Originalveröffentlichung aus 2001 verkündeten die nachfolgenden Fakten und Empfindungen im Zusammenhang mit der Entstehung des Werks: "Dieses Album begleitet mich schon fast mein ganzes Leben. Über die Jahre hinweg haben mich die Leute immer wieder gefragt, ob ich es jemals machen würde. Jetzt ist es fertig. Ich habe drei Mikrofone im Studio angeschlossen, dem alten Haus mit den hohen Decken und Holzböden. Die Gitarre und die Mundharmonika waren immer in greifbarer Nähe. Vorher verbrachte ich eine lange Zeit damit, beides nicht anzurühren. An manchen Tagen hatte ich ein gutes Gefühl und habe mich hingesetzt und die Musik rausgelassen. In diesen Momenten erlebte ich eine vollkommene Freiheit."

    Dem ist nichts hinzuzufügen, denn genau das zeichnet „The Beginning“ aus. Wie argumentierte der Musikjournalist und Buchautor Günter Ramsauer neulich so treffend: „Solo aufzutreten unterstreicht ja immer die Güte der Songs und das Können des Künstlers.“ Beide Qualitätskriterien werden von Tony Joe White voll erfüllt. Kunststück, er gehört ja auch zu den ganz großen Könnern seiner Zunft.
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    Lady For Sale Lola Kirke
    Lady For Sale (CD)
    22.07.2022
    Klang:
    4 von 5
    Musik:
    3 von 5

    Lola Kirke probiert den Spagat zwischen kommerziellem Erfolg und hintergründig-ironischem Protest.

    Sex Sales! Ganz schön aufreizend, wie sich Lola Kirke in Zeiten von "MeToo" auf ihrem Cover von "Lady For Sale" und bei den PR-Fotos zeigt.

    Genau genommen ist dieses zur Schau stellen von Körperlichkeit aber sarkastisch gemeint, denn Lola möchte darauf hinweisen, dass Frauen ab einem bestimmten Alter keine Chance mehr haben, sich ihren Job aussuchen zu können und generell oft nur auf Äußerlichkeiten reduziert werden. Und Lola Kirke weiß, wovon sie spricht, denn sie stand bereits in der Hauptrolle der Serie "Mozart In The Jungle" vor der Kamera, hatte aber immer wieder Probleme, aufgrund nicht konformer Körpermaße eine gewünschte Rolle zu bekommen. Deshalb führt sie ihre Musik-Karriere jetzt selbstbewusst und herausfordernd mit ihrem zweiten Album und der ironischen Aussage "Lady For Sale" auf dem Third Man Records-Label von Jack White (ex-White Stripes) fort.

    Die Welt des Ruhmes mit allen ihren Annehmlichkeiten und Schattenseiten dürfte Lola Kirke schon lange ein Begriff sein, denn sie ist die Tochter von Simon Kirke, dem Schlagzeuger von Free und Bad Company, der großen Erfolg verbuchen konnte, aber auch den Niedergang und Drogentod vom Free-Gitarristen Paul Kossoff miterleben musste. Deshalb sollte man davon ausgehen können, dass Lola Kirke weiß, was sie tut. Einmal im Hinblick auf ihre persönliche Darstellung und auch, was die musikalische Erscheinung angeht. Im Mainstream oder gegen den Strom schwimmen, das ist hier die Frage.

    Als Marketing-Kampagne gibt es ein Gymnastik-Video in Album-Länge, dass von Jane Fonda, die Aerobic in den 1980ern bekannt machte, angeregt wurde. Hiermit verknüpft Lola Kirke den Fitness-Trend mit ihrer Musik. Ist das nun eine clevere Strategie oder ein inneres Anliegen der Künstlerin? Lola Kirke sagt dazu: "Jane Fonda kämpfte ihr ganzes Leben lang mit einer Essstörung und fand, dass Sport eine gesunde Art sei, sich mit dem Körper auseinanderzusetzen. Ich kann Diäten nicht ausstehen und empfinde so viel Rebellion gegen die gesellschaftlichen Normen für den weiblichen Körper. Die Verbindung von Kunst und Kommerz und die Auswirkungen, die der Kommerz auf die Kunst hat, ist etwas, das mich wirklich interessiert und das ich auf dem Album erforsche: Wie hoch ist der Preis, wenn man versucht, seine Arbeit zu verkaufen? Das kann sehr teuer sein, sowohl im wörtlichen als auch im übertragenen Sinne. Ist es das wert? Diese Fragen stelle ich mir die ganze Zeit."

    Die Eröffnungsnummer "Broken Families" lehnt sich an traditionelle Country-Balladen an und benutzt moderat eingesetzte moderne Sound-Effekte. Das Stück betört melodisch und dürfte Menschen, die bittersüße Country-Pop-Schnulzen mögen, ansprechen. Das Tempo von "If I Win" ist flott und das Lied ist Pop-verliebt, aber dadurch auch austauschbar, weil an billigen Synthesizer-Effekten und abgegriffenen E-Gitarren-Akkorden nicht gespart wird.

    "Better Than Any Drug" hört sich an, als würde Madonna jetzt Country machen, wobei der Mainstream-Pop-Anteil den elektronischen Country-Twang fast vollständig überflüssig macht. Das Titelstück "Lady For Sale" wurde auch mit einem Workout-Video bedacht, bei dem die Gymnastik-Kommandos das Lauschen der schwungvollen Schlager-Musik empfindlich stören. Der Track ist vordringlich als Animations-Grundlage für den Sport gedacht, da er rhythmisch aktiv daherkommt und dadurch anspornend wirkt. Eine musikalisch anspruchsvolle Grundhaltung ist nicht zu spüren.

    Bei "Pink Sky" steht wieder die Musik und nicht die sportliche Betätigung im Vordergrund. Und siehe da, schon ist das Ergebnis interessant. Nicht nur die prächtige, flirrend-weinende Pedal-Steel-Gitarre schürt Erinnerungen an den Beginn des Country-Rock mit Musikern wie Linda Ronstadt ("Will You Still Love Me Tomorrow", 1970) oder Rick Nelson & The Stone Canyon Band ("Garden Party", 1972). "Stay Drunk" bekommt einen frischen Rockabilly-Punch verordnet, der aber vom Pop-Faktor in den Hintergrund gedrängt wird. Es herrscht also eher Hochglanz als Rock`n`Roll-Rebellion.

    "The Crime" muss wieder für ein Fitness-Video mit störenden Anweisungen herhalten und ist dem belanglosen Gute-Laune-Festzelt-Schlager näher als dem authentisch-lebensnahen Traditional-Country. Das gleiche gilt auch für den dünnblütigen, faden, von Country infizierten Electro-Pop "Fall In Love Again", der auch für eine Gymnastik-Einheit eingesetzt wird.

    Das romantisch schmachtende "No Secrets", bei dem Pop- und Country-Anteile in etwa gleich verteilt sind, hebt die Welt nicht aus den Angeln, ist aber netter Radio-Stoff, der bei langen Autofahrten für unaufdringliche Unterhaltung sorgen kann - wenn man das mag. Zwischen Stevie Nicks und Kelly Clarkson pendelt sich die süßliche Ballade "By Your Side" abschließend ein, ohne bleibenden Eindruck zu hinterlassen.

    Die Verbindung von Sport-Animationen mit Country-Pop halte ich für keine gute Idee, um Lola Kirke eine ausbaufähige Karriere-Basis zu verschaffen, da die Originalität der Musik einem anderen Zweck geopfert und somit zu einem Begleitprodukt herabgestuft wird. Die Sport-Aktionen vermitteln den Eindruck einer oberflächlichen Selbstdarstellung, weil sie wie Werbevideos von einem Shopping-Kanal aussehen. Musik und Bewegung passen auf diese Weise nicht zusammen, scheinen sich sogar gegenseitig zu behindern und die Musik wird durch die eingeblendeten Übungs-Kommentare zur Nebensache. Außerdem scheint die anfänglich beschriebene politisch-soziale Botschaft zur Festigung einer gleichberechtigten Rolle der Frau in der Gesellschaft durch die anbiedernde Marketing-Strategie auf der Strecke zu bleiben.

    Aber weit gefehlt: "Lady For Sale' ist mein süffisanter und ironischer Kommentar zu einer Kultur, die Selbstvermarktung bzw. die eigene Kommerzialisierung und das eigene Zur-Ware-Werden nicht nur akzeptiert, sondern belohnt. Ich mache mich über die Gegebenheiten, das Wertesystem lustig. In den Songs geht es darum, wie ermächtigend es sein kann, die eigene Objektivierung zu steuern. Obwohl es ein System des Dich-klein-Haltens ist, profitierst du", erklärt Lola Kirke ihre Vorgehensweise.

    Da ist es schon bitter, dass die wirklich vielversprechenden musikalischen Ansätze, die zum Beispiel bei "Broken Families", "Pink Sky" oder "No Secrets" aufhorchen lassen, nicht weiter verfolgt wurden. Das Gesamtkonstrukt wirkt ziemlich unausgegoren, schwammig und berechnend, weil Charts-orientiert. Oder ist die Musik etwa als leichter Köder gedacht, um die Klientel zu erreichen, für die der Einsatz für Frauenrechte formuliert wurde? Wenn ja, ist das zumindest nicht offensichtlich.

    Jedenfalls hat Lola Kirke offen über ihre Absichten gesprochen, die sie mit den Kompositionen verband: "Als Courtney Marie Andrews und ich uns zum Schreiben hinsetzten, wollten wir einen Song hinbekommen, den wir im Country-Radio hören können", berichtet sie zur Motivation, "Broken Families" zu verfassen. Das ist im Prinzip nicht verwerflich, passt nur nicht zur geäußerten Kommerz-Ablehnung. Das musikalische Ergebnis sollte aber unabhängig von der gedanklichen Ausrichtung qualitativ hochklassig sein, was auf "Lady For Sale" leider nicht konstant der Fall ist.
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    Aerial Objects Simon Goff & Katie Melua
    Aerial Objects (CD)
    22.07.2022
    Klang:
    4 von 5
    Musik:
    4 von 5

    Aus der Vogelperspektive betrachtet ergibt sich häufig ein erhellender Blick auf die Welt.

    Große Künstler und Künstlerinnen erkennt man unter anderem daran, dass sie an sich arbeiten und ein Erfolgskonzept nicht ausschlachten. Diese Kriterien können durchaus an Katie Melua angelegt werden, die 2003 ihre Veröffentlichungs-Karriere als 19jährige, unschuldig-zugängliche Pop-Fee begann und sich nach und nach zu einer ernstzunehmenden Singer-Songwriterin zwischen Pop, Folk und Jazz entwickelte.

    Im Jahr 2010 übernahm der Electronic-Produzent William Orbit einen Teil der Arbeit von Mike Batt, der früher für die gefälligen Arrangements der 1984 in Georgien geborenen Musikerin sorgte. Für "In Winter" ließ sich Melua dann vom 25köpfigen Gori Women`s Choir und dem Arrangeur Bob Chilcott unterstützen. Auf "Album No. 8" aus 2020 zeigt sich die feinsinnige Sängerin mit der betörenden Stimme dann als vielseitige, bedächtige Komponistin und Interpretin von mild gestimmtem Art-Pop. Das Album wurde von einer privaten Trennung begleitet und erschien 2021 noch einmal als abgespeckte, nicht minder lieblich-hübsche Akustik-Version, auf der der Musiker, Komponist, Toningenieur und Produzent Simon Goff als Gast bei zwei Songs zu hören ist.

    Auf "Aerial Objects" tritt Katie Melua nun als Partnerin von Simon Goff auf. Der aktuell in Berlin lebende Künstler ist vorwiegend in der klassischen sowie elektronischen Musik und in der Entwicklung von Soundtracks zu finden. Er "sucht nach einem inneren Raum zwischen den Genres und erforscht, wie die Geige manipuliert und verarbeitet werden kann, um einen einzigartigen Klang zu erzeugen, der sich traditionellen Definitionen widersetzt", wie es auf seiner Homepage heißt.

    Simon erschafft auf "Aerial Objects" mit Geigen und analogen Synthesizern die instrumentelle Basis für verträumte, bedrohliche oder mechanische Klänge, während Katie für unschuldig-sympathische Schwingungen steht. Diese unterschiedlichen musikalischen Erfahrungen werden dazu genutzt, um gemeinsam etwas Neues zu kreieren.

    Die Geistesverwandten waren nach eigenen Aussagen dabei, den Raum zu erkunden, der zwischen ihnen existiert, um darin Gemeinsamkeiten zu entdecken. Sie möchten außerdem abbilden, wie unterschiedliche Umgebungen auf Menschen wirken und so kam es zu diesen sechs kultivierten Klanglandschaften, die von der Kommunikation zwischen den Partnern und deren Fähigkeit, Emotionen in Töne zu übertragen, lebt.

    So vermittelt das Stück "Tbilisi Airport" weitläufig angeordnete Schwebeklänge, bevor Katie die meditative Stimmung gesanglich aufgreift. Ab und zu blinken helle Töne wie Sterne am Himmel auf und der Bass rumpelt, als würde ein Gewitter aufziehen. Tbilisi ist übrigens der georgische Name für Tiflis, der Landeshauptstadt von Georgien, dem Geburtsland von Katie Melua.

    Die Geige summt zunächst wie ein nervöses Insekt, dann übernimmt ein schmatzender Synthesizer-Laut bei "It Happened" die Vorherrschaft. Gleichzeitig legt sich Meluas beschwichtigend-sanfte Stimme um die Noten. Kurz darauf wird es stürmisch. Geige und Synthesizer scheinen ein Unheil heraufzubeschwören und Katie begleitet diesen Tonstrudel zunächst mit wortlosen, sich dem unabwendbaren Schicksal fügenden Schwingungen. Als sich die Gefahr langsam verzieht, stellt der Gesang einen stabilisierenden Faktor dar, der sich auch beim weiterhin auf- und abschwellenden Sound nicht mehr erschüttern lässt.

    "Hotel Stamba" ist eine Hommage an ein Hotel in Tiflis, in dem Katie ihre ersten acht Jahre verbrachte. Der Song soll die Gefühle transportieren, die sie für diesen Lebens-Raum empfand. Im Text ist sowohl Respekt gegenüber dem Gebäude wie auch Überdruss gegenüber dem lebhaften Hotelalltag untergebracht worden. Entsprechend werden musikalisch permanent wiederkehrende, überreizte Minimal-Art-Motive wie auch ausgeglichen-behagliche Momente abgebildet.

    Poetisch verklausuliert spiegeln sich Enttäuschung und Bedauern in "Textures Of Memories" wider. Zwei Gemütslagen, die bei einer Trennung ein starkes Gewicht haben. Es liegt eine bleierne Schwere auf der sachte dahinfließenden Melodie, die von Katie Melua mit so viel Haltung wie möglich gesungen wird. Aber die Tristesse greift gierig nach der Seele, denn ein Kampf um die Liebe hinterlässt oft schwer heilende Wunden.

    Das titelgebende Stück "Aerial Objects" arbeitet sich fleißig vom schemenhaften Traumgebilde zum polternden, bombastisch aufgeladenen Barock-Progressive-Rock hoch. Melua bleibt bei dieser stetigen Achterbahnfahrt der Emotionen der besonnen-abgeklärte Ruhe-Pol der Komposition. Space-Sounds, verwehte E-Gitarren-Klänge, weiche Streicher-Schwaden, rhythmische Geigen-Töne, kräftige Bässe und ein becircender Gesang begleiten dann das abschließende, fast 7minütige "Millions Of Things" und verhelfen dem Lied zu einem rauschhaft-flimmernden Klima.

    Ambient, Krautrock, Psychedelic-Rock, Minimal-Art - jede Form bewusstseinserweiternder Klänge fließen in den Sound von Simon Goff & Katie Melua ein und bereiten den Nährboden dafür, dass sich die Sängerin mit der warmen, einfühlsamen Stimme in die atmosphärisch dichten Sounds fallen lassen kann. Sie ist Gegengewicht oder Vermittlerin im Hinblick auf die provozierenden instrumentalen Tonspuren und füllt ihre steuernde Rolle souverän aus. Melua verleiht den künstlerisch wertvollen Kompositionen Stabilität und Empathie, während sich Goff hingegen für die Erzeugung von Spannung und die Vermittlung von rätselhaften Klang-Erfahrungen einsetzt.

    Durch die Verschmelzung ihrer Talente und dem Gedankenspiel, Räume zu erkunden - was einem Blick aus der Vogelperspektive gleicht - ermöglichen sich Goff & Melua einen Perspektivwechsel gegenüber ihrem bisherigen Schaffen und bilden dadurch gleichzeitig ein Sub-Genre zwischen sogenannter ernster- und Unterhaltungs-Musik. Nach einer halben Stunde ist der Zauber dann allerdings schon vorbei - man soll ja aufhören, wenn es am schönsten ist.
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    Medication Time Todd Sharpville
    Medication Time (CD)
    08.07.2022
    Klang:
    4 von 5
    Musik:
    4 von 5

    Der Blues kann sehr unterschiedlich interpretiert, aber dennoch glaubwürdig vermittelt werden, wie Todd Sharpville beweist.

    Immer wieder taucht die Frage auf, ob ein weißer Musiker wirklich authentisch den Blues spüren und singen kann oder ob das der afro-amerikanischen Bevölkerung vorbehalten sein sollte, weil es Teil ihrer (Leidens)-Kultur ist. Rein aus künstlerischen Gesichtspunkten kann eindeutig festgestellt werden, dass es etliche "Weißbrote" gibt, bei denen aus jeder Pore und jeder Schwingung der pure Blues glaubwürdig und mitreißend strömt.

    Wie zum Beispiel bei den Urgesteinen Long John Baldry, Eric Burdon oder Mitch Ryder, in deren Schatten auch Todd Sharpville als eigenständiger, flexibler Musiker agiert. Sharpville verfügt über eine raspelnd-röhrende Stimme, die auch verführen, umgarnen oder einfach nur für gesteigerte Aufmerksamkeit sorgen kann. Interessant ist seine Musik auch deshalb, weil er nicht einfach den originalen 12-Takt-Sound nachspielt, sondern diesen erheblich moduliert und transformiert. Sein Blues ist selten pur, aber dennoch respektvoll und leidenschaftlich, manchmal leidend, stets empathisch und immer kreativ und unterhaltsam.

    Kein Wunder, denn Todd hatte sich schon als Kind zunächst für Buddy Holly, Jerry Lee Lewis sowie Elvis und wenig später für Freddie King begeistert. Seitdem ließ ihn der Blues nicht mehr los. Sein Gitarrenspiel ist entsprechend von vielen seiner Helden beeinflusst, die T Bone Walker, BB King, Buddy Guy, Hubert Sumlin, Eric Clapton, Lightnin` Hopkins, Albert King, Otis Rush, Peter Green oder Magic Sam heißen. In seiner inzwischen 30jährigen Karriere hat der britische Musiker bereits mit Größen wie Gary Brooker (Procol Harum), Bill Wyman (The Rolling Stones), Ian Hunter (Mott The Hoople), Roger Daltrey (The Who), Taj Mahal, Derek Trucks & Susan Tedeschi, Branford Marsalis, Mick Taylor (The Rolling Stones), Joe Cocker und Pink zusammengearbeitet und ist dabei zu einer herausragenden Musikerpersönlichkeit gereift. Sein Erstlingswerk "Touch Of Your Love" erschien bereits 1992 und wurde zum besten Album bei den British Blues Connection Awards ausgezeichnet, als Todd parallel den Preis als bester Gitarrist erhielt.

    Sein neuestes Werk "Medication Time", das am 8. Juli 2022 erscheint, taucht in die Vergangenheit des beliebten und vielseitigen Musikers ein. Es rollt eine Phase auf, die mit Schmerzen und Angst verbunden ist, denn vor 16 Jahren gab es nach der Trennung von seiner Frau einen hässlichen Streit um das Sorgerecht für seine Kinder, die bei ihm zu einem Kollaps führte und als Folge daraus einen 2-monatigen Aufenthalt in einer psychiatrischen Klinik nötig machte. "Bis dahin war ich eher ein Kontrollfreak, und die Erkenntnis, dass Kontrolle nur eine Illusion ist, dämmerte mir erst, als ich mich mit einer reaktiven Depression und selbstmordgefährdet in einer staatlichen Einrichtung untergebracht wiederfand.", erzählt Sharpville über diese Zeit. Mit "Medication Time" wird dieser Tiefpunkt aufgearbeitet und der Weg hinaus in die sogenannte Normalität anhand von neun Eigen- und drei Fremdkompositionen begleitet.

    "Walk Out In The Rain" wurde von Bob Dylan (mit)geschrieben, aber nie von ihm veröffentlicht. Es gibt von dem Stück eine schön entspannte Version von Eric Clapton auf "Backless" von 1978, die durch eine gewisse J.J. Cale-Lässigkeit gefallen kann. Todd Sharpville hat diese Haltung schon nach einer Minute abgestreift und gurgelt sich gesanglich in eine streitsuchende Position hinein, lässt zwischendurch wieder locker, wandelt aber insgesamt energisch-zornig durch den von einem kraftvollen Rhythm & Blues-Drang geprägten Song. Das Lied wurde wahrscheinlich stellvertretend für die gescheiterte Beziehung ausgewählt. "Get Outta My Way" wirkt auf spannungsgeladene Weise unruhig. Der Track baut ordentlich Druck auf und fühlt sich dem R&B und Rock & Roll verbunden. Die hungrig aufspielenden Bläser und die ungeduldige E-Gitarre sorgen dabei für instrumentelle Glanzlichter.

    Die Ballade "Tangled Up In Thought" bringt zunächst wieder Ruhe ins Klangbild, das von einer leise rauschenden Hammond-B-3 Orgel geprägt wird. Das obligatorische, resolut-entschlossene Gitarren-Solo sorgt dann für etwas Aufregung und Sharpville legt sich gesanglich mächtig ins Zeug. Aber die leidenschaftlichen Gefühle gewinnen letztlich doch nicht die Oberhand. Leider wird das Stück nach fünfeinhalb Minuten immer noch zu früh ausgeblendet, die erwartete absolute Zuspitzung bleibt auch deshalb aus. Der Track beschreibt eine Situation, die durch festgefahrene Gedanken gekennzeichnet ist, welche ein ausgeglichenes Leben verhindern. "Denn der Geist, der wirklich beunruhigt ist, ist der Geist, der nachts zum Leben erwacht", berichtet Sharpville und nennt auch den Grund für die Krise: "Nicht alle Antworten zu kennen füttert nur einen ruhelosen Kopf."

    "House Rules" beschreibt anschaulich, wie der Alltag mit seinen ausgesprochenen oder angenommenen Regeln, bei denen sich eventuell die Partner nicht einig sind, eine Beziehung schwer belasten kann. Bei diesem Song schielt manchmal stimmlich kurz der knurrige Don van Vliet (Captain Beefheart) um die Ecke. Er bleibt aber ein Phantom bei dem cool swingenden Boogie-Blues, der die Slow-Dancer auf den Tanzboden lockt. Die Blasinstrumente bilden für den melodischen, elegant-eingängig agierenden Funk-Blues "Brothers From Another Mother" eine kompakte Einheit, deren knackige Fanfaren den Weg für die Sänger und Gitarristen Todd Sharpville und Larry McCrae frei machen, die sich gegenseitig befeuern und gemeinsam den Mond anheulen. Das Lied berichtet über schlechte Zeiten und die Kraft der Freundschaft, die alle Hindernisse überwinden kann.

    Amy Winehouse wollte keine Therapie machen ("Rehab") und verlor das Leben. Todd Sharpville hat sich in seiner Not auf fremde Hilfe eingelassen und ein neues Leben gewonnen. Das Titelstück "Medication Time" schildert das Leiden sowie die Hoffnung auf Besserung und ist so ruhig und langsam, dass es in Trauer zu versinken droht. Der Gesang baut über die über acht Minuten Laufzeit hinweg eine gequält-leidende Atmosphäre auf, wobei die E-Gitarre nach etwas über sieben Minuten die Luft mit einem befreiend-schreienden Solo zerreißt. Der attraktiv groovende Blues-Rock "God Loves A Loser" zieht seine Schärfe wiederum aus der treibenden Rhythmus-Arbeit, den drängelnden Gitarren-Spuren und der eruptiv fauchenden Orgel. Zynisch und desillusioniert wird der Zustand eines Menschen geschildert, dem das Schicksal übel mitgespielt hat: "Weißt du, wenn Gott einen Verlierer liebt, bin ich mir verdammt sicher, dass er mich mögen wird", heißt es da. Und: "Hoffnung ist ein Fremder und Angst ist mein bester Freund."

    Die originelle Cover-Version von "Money For Nothing" der Dire Straits hat alles, was dem glattpolierten, hochgezüchteten Original fehlt: Biss, Schärfe, Ecken und Kanten sowie Sex-Appeal. Das Original spielte ein Typ in der Psychiatrie rauf und runter, so dass Todd eine Hass-Liebe zu dem Song entwickelte. Nun hat er ihn so verändert, dass er in seine Welt passt und sich wie ein vollständig anderes Lied anhört. Das langsame, psychedelische "Silhouettes" hätte auch hervorragend auf das 1971 erschienene, bizarr-rauschhafte Album "Just For Love" von Quicksilver Messenger Service gepasst. Mit einer ausdrucksstarken Poesie werden zu den grau schimmernden Tönen noch schwermütige Bilder einer gequälten Seele gemalt.

    "Stand Your Ground" taucht in eine bedächtig-stimmungsvolle Oldtime-Jazz-Landschaft ein und bewegt sich mild swingend und gefällig vorwärts. Sich nicht von anderen Menschen klein machen zu lassen, ist besonders im Umfeld der sogenannten sozialen Medien schwierig, da dort jeder, der sich äußert, den Nutzern schutzlos ausgeliefert ist. Anstand bleibt häufig auf der Strecke. Sharpville ruft mit "Stand Your Ground" dazu auf, sich im Leben gegen unqualifizierte Anfeindungen zu stemmen. Der von der MTV Unplugged-Serie bekannte Bruce Springsteen-Country & Western "Red Headed Woman" klingt hier, als hätten sich der junge Elvis, Ray Charles und Willie Nelson sinnbildlich zu einem rhythmisch aufgestachelten Rockabilly zusammengetan. Das Liebeslied "I Don't Need To Know Your Name" lässt das Album dann versöhnlich im lieblich-rührenden Southern Soul-Stil ausklingen und gibt textlich einen Ausblick auf eine neue Liebe, die die Wunden der Vergangenheit lindern kann.

    Todd Sharpville ist mit "Medication Time" ein sehr abwechslungsreiches und lebendiges Album mit aussagefähigen und richtungsweisenden Texten gelungen. Der Brite beherrscht sämtliche Stil-Abstecher in Richtung Soul, Pop, Jazz und Southern-Rock meisterhaft, so dass er sich mühelos zwischen sanften und heißen Tönen bewegen kann und trotzdem immer überzeugend-seriös rüberkommt. Der Musiker kann nicht nur stimmlich für erregend-gefühlvolle Momente sorgen, sondern lässt auch seine Gitarre singen und in diesem Zuge ergreifende, wild-romantische Geschichten erzählen. Es ist schön für Todd, dass er seine belastende Vergangenheit bewältigen konnte und wir profitieren dadurch, weil wir nun in den Genuss dieser reifen, vortrefflichen Musik kommen. Die "Medication Time" ist glücklicherweise für Todd Sharpville vorbei, es lebe die geistige Freiheit!
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      Good Times: The Best Of Eric Burdon (CD)
    • The Anthology 1979-1994 The Anthology 1979-1994 (CD)
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