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    LittleWalter Top 25 Rezensent

    Aktiv seit: 03. September 2010
    "Hilfreich"-Bewertungen: 1129
    480 Rezensionen
    V Unknown Mortal Orchestra
    V (CD)
    10.04.2023
    Klang:
    4 von 5
    Musik:
    4 von 5

    Wie so viele Musikproduktionen der letzten Jahre ist auch "V" in gewisser Weise ein COVID 19-Album geworden, aber eines mit einer positiven Wendung.

    Der hawaiianisch-neuseeländische Musiker Ruban Nielson, der der Kopf hinter dem Unknown Mortal Orchestra ist, zog von Portland in Oregon nach Palm Springs in Kalifornien, als die Schatten der Pandemie am Horizont auftauchten. Dadurch konnte er sich nach 10 Jahren Dauerstress in einem warmen, trockenen Klima eine Auszeit gönnen, die sich wohltuend auf seinen Allgemeinzustand und auch auf seine Stimme auswirkte.

    Mit neuem Elan machte er sich im Heimstudio an die Aufnahmen zu "V" und kombinierte schließlich 14 Titel, die aus Instrumentalstücken und Songs bestehen, zum aktuellen Doppelalbum. Stilistische Beschränkungen gibt es keine. Egal ob Pop-Song, Disco-Groove oder Jazz-Improvisation, alle Einfälle werden unkonventionell - aber passend wie bei einem Puzzle - in das extravagante Gesamt-Gefüge des Unknown Mortal Orchestra eingebunden. Dabei entstehen oft psychedelisch verschränkte Erfindungen, die die Grenzen zwischen Mainstream und Underground verschieben oder sogar aufheben.

    Nach Einbruch der Dunkelheit ist es gefährlich, lautet das gleichförmige Mantra des Songs "The Garden". Diese Warnung führt erst im späteren Verlauf des unergründlich rätselhaften Tracks durch ein wild fabulierendes E-Gitarren-Solo zur Verbreitung von aufgeregten Schwingungen. Nebenher ist eine erregte Stimmung angesagt, die durch den sachlich geprägten, die Gefahr herunterspielenden Refrain abgeschwächt wird. Eine herrlich verwirrende Gemütslage wird aufsehenerregend und deutlich dargestellt.

    Bei "Guilty Pleasures" geht es inhaltlich um die Sturm- und Drangzeit, wenn Hormone das Verlangen, Wünschen und Handeln steuern. Der Song ist aber trotzdem nicht hyperaktiv gestimmt, denn der Takt wird akkurat swingend mithilfe eines eleganten Jazz-Funk-Vibes im Zaum gehalten. Der technisch leicht angeraute Gesang bemüht sich unterdessen um Beherrschung, während der Synthesizer freudvoll vermittelnd dazwischenfunkt. So in etwa hätte eine Zusammenarbeit von Steely Dan und Weather Report klingen können, was übrigens genauso für "The Beach" gilt.

    Das Wort "Meshuggah" stammt aus dem hebräischen und bedeutet so viel wie verrückt oder nicht bei Verstand sein. Das Stück geht der Frage nach, was jemanden verrückt werden lässt und was man tun kann, um es nicht zu werden. Einsamkeit ist ein psychischer Killer und geistig-körperliche Energie sorgt dagegen für Frieden und Kraft, lauten zwei Aussagen dazu. Der Track verfügt über einen zackig-hüpfenden Dance-Music-Takt und eine verschachtelte Melodielinie, ohne dass er dadurch schräg wirkt. Ein zwingender Groove ist eben immer noch die beste Medizin, um einen Song interessant zu gestalten!

    Und den gibt es auch beim instrumentalen, mit einer karibischen Aura ausgestatteten, jazz-rockigen "The Widow" zu hören, das von einem perlend-glitzernden E-Piano geleitet und durch kauzige Saxophon-Töne in seinem gut geölten Flow überrascht wird.

    "In The Rear View" ist eine sich schleppend fortbewegende Ballade, die von lieblich-rauem Gesang und einem Ohrwurm-Refrain getragen und dadurch vor zerstörerischer Tristesse bewahrt wird. "Wirst du dich später jemals an mich erinnern?", fragt sich der Erzähler in einem traurigen Ton. Das melancholisch geprägte Klima verrät, dass er die Hoffnung eigentlich aufgegeben hat, wobei der Break-Beat-Rhythmus das Unwohlsein akustisch unterwandert und verlockend aufbereitet.

    "That Life" und "Nadja" sind im Prinzip positiv-optimistisch unterwegs, was schon alleine durch einen stumpfen, stoisch stampfenden Beat angezeigt wird. Eine weitere wichtige gestalterische Rolle spielt die E-Gitarre, die sowohl die Rhythmen durch zündende Akkorde effektiv bestärkt, wie auch die Melodien durch fantasievolle Verzierungen bereichert.

    Der gelöste Reggae-Pop von "Layla" verbreitet ein heiteres Gefühl der Gelassenheit, wehrt sich aber zum Glück gegen jede Form der Belanglosigkeit.

    "Shin Ramyun" kommt ohne Worte aus, ist aber zu nahe an berieselnder, pausenfüllender Feuilleton-Musik angesiedelt, um wirklich einen bedeutsamen Spannungsbogen aufbauen zu können.

    Der harmonisch perfekte Soft-Rock-Satzgesang von "Weekend Run" bringt Sonne in die Komposition, die dennoch nicht glattgebürstet, sondern ziemlich verschachtelt daherkommt.

    "Keaukaha" ist ein Ortsteil der Stadt Hilo auf Hawaii. Dort ist die Mutter von Ruban aufgewachsen und als bei einer Jam-Session vor Ort dieses Instrumental-Stück entstand, kamen Erinnerungen hoch, die zu dem Titel führten. Echo-artige Space-Sounds bilden nun die Grundlage dieser zweiminütigen Improvisation.
    ""I Killed Captain Cook" wird aus der Perspektive von Kalaimanokahoʻowaha gesungen, dem hawaiianischen Häuptling, der den kolonialistischen Kartographen James Cook am 14. Februar 1779 in der Kealakekua Bay tötete", berichtet Ruban über den Inhalt des Liedes. In seiner puren Darbietung klingt der Track wie eine unfertige Demo-Aufnahme, was in starkem Kontrast zu den sonstigen Einspielungen steht.

    "Es war ein wirklich schöner Tag und wir haben festgehalten, wie sich der Nachmittag angefühlt hat", erzählt Ruban über die Entstehung des abschließenden "Drag". Abgesehen von einem wortlosen Summen gibt es bei diesem Zufallsprodukt keinen Gesang. Der Zustand des Stücks suggeriert aber, dass es einen Text geben könnte.

    Das Unknown Mortal Orchestra sucht nach Wegen, um Psychedelic-Rock, Easy Listening und Art-Pop geistreich und stimmig miteinander zu kombinieren. Die gute alte Tradition des kurzen Gitarren-Solos zur Stimulation einer Situation findet dabei eine gerne benutzte Anwendung. Das bringt Feuer, Schwung und eine schelmische Prägung in die drogenschwangeren und lebhaften Arrangements ein, die dem exklusiven, einfallsreichen und griffigen Sound gut zu Gesichte stehen. Ruban Nielson erfindet die Popmusik zwar nicht neu, er ist aber sehr talentiert darin, attraktive Bestandteile zu destillieren und diese einfallsreich zu kombinieren. Heraus kommen dann häufig hervorragende Patchwork-Arbeiten.
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    Fossils Kjellvandertonbruket
    Fossils (CD)
    10.04.2023
    Klang:
    4 von 5
    Musik:
    5 von 5

    Die Kunst der Langsamkeit, die Dehnung der Zeit und eine schwermütige Last begleiten die Musik von KJELLVANDERTONBRUKET.

    "Doom Country" war ein passender Name für das Erstlings-Werk des schwedischen Projektes KJELLVANDERTONBRUKET: Weitläufige Ambient-Sounds, dunkler Country-Folk, sehnsuchtsvolle Melodien und ein hingebungsvoller Gesang sind die Markenzeichen dieser Produktion, bei der sechs besorgniserregend beklemmende Psycho-Dramen entstanden sind. Die Tristesse der Tindersticks, die visionäre Alternative-Country-Sicht von Gene Clark, die Dramatik eines Nick Cave, die schmerzhafte Leidenschaft, welche Chris Isaak so immens wehmütig erscheinen lässt und die stoische Geruhsamkeit von Souled American sind dabei nur ein paar Eckpfeiler der Inspirationen, die die Künstler geleitet haben könnten.

    KJELLVANDERTONBRUKET sind der Singer-Songwriter Christian Kjellvander (Gesang, Gitarre) in Fusion mit dem Avantgarde-Quartett Tonbruket. Zu dieser Verbindung gehört auch Martin Hederos (Keyboards, Viola), der durch die Zusammenarbeit mit Mattias Hellberg als Hederos & Hellberg und seiner Beteiligung an The Soundtrack Of Our Lives bekannt geworden ist. Daneben spielen noch der ex-Esbjörn Svensson Trio-Bassist Dan Berglund, sowie Johan Lindström (Gitarren), und Andreas Werliin (Schlagzeug, Percussion) gewichtige Rollen.

    Nach drei Jahren Wartezeit liegt nun mit "Fossils" die Fortsetzung von "Doom Country" vor. Fünf Tracks mit 42 Minuten Laufzeit eröffnen monumentale, fesselnde Slow-Motion-Sound-Orgien für genießerische Melancholiker oder neugierige Entdecker.

    "September Weather" beschreibt ein langes Familien-Wochenende in den Bergen. Hat anschließend etwa ein Mord stattgefunden? Oder handelt es sich nur um ein bizarres Gedankenspiel? Egal, ob der Song nun eine Mörder-Ballade ist oder nicht, die Musik taugt jedenfalls bestens zur Untermalung geheimnisumwitterter Umstände: Statische Töne steigern die Erwartung, Kjellvander singt, als wäre er emotional angeschlagen. Bass und Schlagzeug unterlegen die unheilschwangere Atmosphäre indessen mit einem lässigen Jazz-Groove. Die E-Gitarre sendet Signale aus, die wie brechendes Eis klingen. Der Gesang bekommt zwischendurch immaterielle Auswüchse und der Sound wogt wie widerspenstige Nordsee-Wellen, während die Pedal-Steel-Gitarre ab und zu Tränen aus Stahl weint.

    "Yellow Painted Feather Tip" ist ein Liebeslied, das sich nach einer Mischung aus The Velvet Underground und Richard Buckner klingt. Dieses Konstrukt hört sich wie ein trockener, lieblicher, völlig gelassen fließender Folk-Rock an, der hypnotisch-leise auf die Betörung der Sinne ausgerichtet ist. So erobert man Herz, Seele und Verstand, nämlich hinreißend, gutmütig und intim.

    Der Instrumental-Titel "Hans" ist womöglich dem Inhaber des Hans Dansstudios in Bottna (Schweden) gewidmet, wo "Fossils" aufgenommen wurde. Nur langsam gewinnt das Stück über ein Rauschen allmählich an Konturen, ohne wirklich sein Ziel zu offenbaren. Nach etwas Bass-Brummen und -quietschen sowie mächtigem Gong-Scheppern verlieren sich die Spuren dieses Fragments nach knapp 3 Minuten wieder.

    Das beinahe 16minütige "The Last Thing (Thief)" ist das Kernstück des Albums. Der kryptische Text dreht sich um einen Einbrecher, der real sein kann oder nur in der Vorstellung vorkommt. Wie ein schlechtes Gewissen, dass nicht abgelegt werden kann und immer wieder auftaucht, peinigt er den Protagonisten. Das wortreiche Lied wird von einem monoton pulsierenden Takt in einem rastlosen Zustand gehalten, während die weitere instrumentale Begleitung von lyrisch bis aufwühlend variiert. So als wäre man Zeuge einer ausgewogenen Reinkarnation von "Celebration Of The Wizard" der Doors, beschwören die Worte auf eine inständig-respektvolle Weise erbarmungslos, genau wie die des besessenen Schamanen Jim Morrison.

    Der psychedelische Folk-Jazz von "Seahorse Inn" ist ein tongewordener milder Rausch. Gutmütig-unbekümmert, ergriffen und enthusiastisch umschmeichelt er das Innenohr und betört fantasievoll-narkotisierend wunderbar die Empfindungen.

    KJELLVANDERTONBRUKET ist ein Projekt, das durch, Intensität, Intimität und Sinnlichkeit genauso besticht wie durch einen schöpferischen, wagemutigen Geist. Die Ton-Gebilde von "Fossils" verfügen über eine fesselnde Ausdruckskraft und bringen berauschende Sensibilität und kreative Melancholie zusammen. Diese Anordnung kitzelt kenntnisreich das Gehirn und fordert beharrlich die Vorstellungskraft der Hörerschaft heraus.
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    Simple Things The Band Of Heathens
    Simple Things (CD)
    10.04.2023
    Klang:
    4 von 5
    Musik:
    4 von 5

    Es sind die einfachen Dinge im Leben, die Gewicht haben: The Band Of Heathens besinnen sich auf das Wesentliche.

    The Band Of Heathens aus Austin (Texas) zieht Bilanz. Ihr neuntes Studio-Album "Simple Things", bei dem nach etlichen Umbesetzungen von der Ur-Formation nur noch die Sänger, Gitarristen und Song-Schreiber Gordy Quist und Ed Juri dabei sind, streift viele Einflüsse und Strömungen der seit 2006 andauernden Karriere. Ihr Americana-Sound wird in harmonische Gruppen-Arrangements eingebettet und reicht von geschmeidigem Soft- bis hin zu deftigem Blues-Rock.

    Los geht es mit "Don't Let The Darkness": Jede Menge leckere Sunshine-Pop-Zutaten lassen hier einen entspannten Soul-Groove entstehen und den Song von innen heraus strahlen.

    Wenn der erdige The Band-Sound auf den unschuldig-intimen Country-Rock von Jackson Browne trifft, dann kann daraus ein überzeugender, gut abgehangener, zu Herzen gehender Americana-Cocktail werden. Dieses Kunststück ist bei "Heartless Year" hübsch und reizvoll gelungen.

    Etwas Glam-Rock und ein wenig Boogie-Blues reichen nicht unbedingt aus, um einen überzeugenden Song zu kreieren. "I Got The Time" ist unterm Strich trotz der attraktiven Zutaten zu zahm geraten. Prickelnd-raue Blues-Zitate a la The Black Keys hätten den Song noch aus der Mittelmäßigkeit retten können. The Band Of Heathens haben schließlich schon mal bei "Sugar Queen" auf "Duende" (2017) bewiesen, dass sie solch eine erdige Aufwertung überzeugend zu Stande bringen.

    Der Song "Simple Things" bewegt sich am Rande zum süßlichen Kitsch. Sein Sentimentalitätsfaktor ist hoch und die Instrumentierung kann oder will den Trend zur Mainstream-Ballade auch nicht bremsen, zumal wehende Geigen ergänzend zum wehleidigen Stimmungsbild beitragen.

    Es folgt "Long Lost Son". Das Lied wurde als sehnsuchtsvolle Country-Hymne konzipiert und erfüllt diesen Zweck auch aufgrund eines eingängig-ergriffenen, oft wiederholten Refrains.

    "Stormy Weather" hat viel von den überragenden Little Feat um Lowell George aus der "Dixie Chicken" und "Feats Don`t Fail Me Now"-Phase (um 1973/74) gelernt. Latein-Amerikanische Percussion, eine gleißende Slide-Gitarre, perfekt abgestimmter Harmonie-Gesang und eine raffinierte Melodieführung lassen den Song prächtig gedeihen. Auf "Remote Transmissions, Vol. 1" coverten The Band of Heathens übrigens "Rock & Roll Doctor" von Little Feat und zeigten so 2022 bereits öffentlich ihre Verbundenheit.

    "Single In The Same Summer" ist eine sensible Roots-Rock-Ballade mit Betonung des mehrstimmigen Gesangs, der den Track transparent, seriös und liebenswürdig unter seine Fittiche nimmt.

    Eine Orgel, die faucht und rauscht, eine Slide-Gitarre, die die Klaviatur der berührenden Gefühle perfekt beherrscht, ein stimmungsvolles Spelunken-Piano, ein Rhythmus-Gespann, das federnd jede Gefühlsregung intensiviert und ein Lead-Gesang, der Vertrauen schafft, machen die Hauptzutaten des Southern-Soul-Rockers "Damaged Goods" aus.

    So wie der Opener "Don't Let The Darkness" hat auch "The Good Doctor" jede Menge Ohrwurm-Potential. Zwischen Roots-Rock und Pop ist anscheinend noch viel Platz für niveauvolle Eingängigkeit.

    Das Thema "glanzvoll schwelgende Ballade" wird mit "All That Remains" wesentlich überzeugender umgesetzt als beim Song "Simple Things". Die Streicher sind zum Beispiel nicht einlullend unterwegs, sondern setzen sich sanft gegen den Strich gebürstet in Szene. Der monotone Rhythmus sorgt in Verbindung mit psychedelischen Elementen sowohl für Spannungen wie auch für einen sauberen Untergrund, auf dem sich die Solisten und Sänger kreativ auslassen können.

    "Simple Things" ist ein angenehmes Album geworden, das sich Fans der Band Of Heathens gerne ins Regal stellen werden. Die Gruppe ist nämlich generell in der Lage, durch Einfühlungsvermögen und Konsequenz unverfälschte Tonlagen zwischen Mainstream und Anspruch zu erkunden. Was sie auch auf "Simple Things" wieder beweisen - wenn auch nicht durchgängig. Denn zwei Lieder sind durch die ansonsten engmaschige, strenge Qualitätskontrolle gerutscht, da sie offensichtlich den Mainstream bedienen sollten und nicht - wie sonst üblich - mit Leidenschaft starke Emotionen, hervorragendes Handwerk und pfiffige Arrangements zusammenbringen.
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    Portuguesa Carminho
    Portuguesa (CD)
    02.04.2023
    Klang:
    4 von 5
    Musik:
    4 von 5

    Vermächtnis und Fortschritt: Carminho überführt den traditionellen Fado in eine neue Darstellungs-Epoche.

    Die traditionelle Folklore Portugals, der Fado, liegt Carminho im Blut. Kein Wunder, denn auch ihre Mutter Teresa Siqueira ist eine Fado-Künstlerin, die dieses klangliche Gewirr aus Melancholie und Leidenschaft zum Strahlen bringen kann. Und so geschah es, dass Carminho, die als Maria do Carmo de Carvalho Rebelo de Andrade am 20. August 1984 in Lissabon geboren wurde, schon mit 12 Jahren ihren ersten öffentlichen Auftritt hatte. 2009 erschien dann das erste Album ("Fado"), gefolgt von "Alma" (2012), "Canto" (2014), "Carminho Canta Tom Jobim" (2016) und "Maria" (2018).

    Mit "Portoguesa" ist die portugiesische Identität gemeint, die seit der wirtschaftlichen Rezession im Jahr 2008 wieder an Bedeutung gewonnen hat. Und damit auch der klassische Fado, der von der jüngeren Generation als Sprachrohr ihrer Bedürfnisse wiederentdeckt wurde.

    Carminho verwendet für "Portuguesa" eine Kombination aus Fremd- und Eigenkompositionen, die in akustische, elektrische und elektronische Töne gekleidet werden. Auf dieser Veröffentlichung wird die Fadista von André Dias an der portugiesischen Gitarre, der Fado-Gitarre von Flávio César Cardoso, von Tiago Maia am akustischen Stand-Bass, der E-Gitarre von Pedro Geraldes und dem Mellotron von João Pimenta Gomes begleitet. Wobei die landestypischen Gitarren, die nach Mandoline oder Zither klingen, ein starkes Gewicht erhalten.

    Der Eröffnungs-Track "O Quarto (Fado Pagem)" ist ein portugiesischer Blues - zumindest was die Gefühlslage angeht. Leidend-dramatischer, emotional packender Gesang und eine volkstümliche Begleitung mit einem atmosphärisch dichten Flair, welches an manche von Ry Cooders Soundtrack-Kompositionen (z.B. für "Paris, Texas") erinnert.

    Bei ähnlicher Gefühlslage wird das folkloristische Klangspektrum von "As Flores (Fado Flores)" noch zum Schluss durch eine schroffe E-Gitarre und sphärische Synthesizer-Töne erweitert. Für "As Fontes (Fado Sophia)" bleibt der Gesang ernsthaft-bedrückt, während der munter hüpfende Rhythmus Anlass zur Hoffnung gibt. "Praias Desertas" verbreitet eine liebliche, aber gleichzeitig geheimnisvolle Atmosphäre und nutzt dabei die konstruktive Reibung zwischen beherzt-kräftigen akustischen und sinnlich-schwebenden elektronischen Klängen.

    "Marcha De Alcântara De 1969" bezieht sich auf die Tradition der Volksmärsche in Lissabon, die bis ins Jahr 1932 zurück reichen. Die begleitende Musik soll schwungvoll die Massen in Solidaritäts-Taumel versetzen und zur Demonstration anregen. Eine Aufbruchs-Stimmung, die auch dieses Lied vermittelt. Die Gitarren laden sogar zum Tanzen ein und Carminho legt Entschlossenheit und Schwung in ihren selbstbewussten Gesang.

    Flehend, aber auch beschwörend und umwerbend bieten die Schwingungen des lebhaften "Fado É Amor" eine ganze Palette an Verführungskünsten auf, die allesamt nachdrücklich und intensiv vermittelt werden. Die Ballade "Palma" verzeichnet eine Ähnlichkeit zwischen portugiesischer und griechischer Folklore, die durch dunkle Kontrabass-Töne in eine universelle, wehmütige Musik-Sprache transferiert wird.

    "Simplesmente Ser" ist ein kurzes A cappella-Stimmen-Experiment, das im Original von der portugiesischen Sängerin Rita Vian stammt. Das Stück belegt, dass die Stimme von Carminho den Raum füllen und die Herzen öffnen kann. "É Preciso Saber Porque Se É Triste (Fado Soneto)" bringt Kummer und Ermunterung akustisch unter eine Decke. Eine Fähigkeit, die ansonsten auch die Bossa Nova aufbringen kann. Und tatsächlich scheint die Musik mit brasilianischen Klängen verwandt zu sein, weil sie auch gleichzeitig lebensfroh und diszipliniert ist.

    Die Saiteninstrumente und Keyboard-Töne erzeugen für "Sentas-Te A Meu Lado" - einer Komposition der portugiesischen Sängerin und Komponistin Luísa Sobral - ein fein verästeltes Gespinst filigraner Noten, die sich gegenseitig Respekt zollen und das Ohr mit aufrichtiger, warmherziger Harmonie füllen. Carminho gebärdet sich indessen als Drama-Queen mit mächtigem Stimmumfang, was einen heftigen Kontrast zur sensibel agierenden Instrumentierung bildet.

    "Ficar" ist eine sentimentale Country-Folk-Ballade, deren unauffällig aufspielende E-Gitarre stützend wirkt und wo rauschende Space-Sound-Synthesizer-Klänge eine mystische Verwirbelung möglich machen. Es liegt die Leichtigkeit italienischer Schlager in der Luft, wenn "Pedra Solta" ertönt. Wäre da nicht die strenge Stimme von Carminho, die den Song von jeglichem Kitsch-Klischee-Verdacht befreit und zu einem ernst zu nehmenden Folk-Chanson umwandelt.

    "Levo O Meu Barco No Mar" bedeutet "Ich fahre mit meinem Boot aufs Meer". Das ist ein Abenteuer, das aufbauend oder bedrohlich ausgehen kann. Beide Aspekte finden sich stimmungsvoll in dem Song wieder: Zunächst deuten grummelnde Saiten-Klänge Unheil an, dann wird die kritische Situation aber durch befreiend-luftige Töne aufgelöst. Carminho spielt gerne mit kontrastreichen Gefühlslagen, wobei sie stets gesanglich die Hüterin der Ausgeglichenheit bleibt.

    Als Abschluss gibt es mit "Meu Amor Marinheiro" eine weitere dunkle, temperamentvoll vorgetragene Ballade, die Carminhos Talent für das zur Schau stellen von überschäumenden Gefühlen nochmal eindrucksvoll demonstriert. Ihre Stimme erhebt sich zeitweise furchtlos über die E-Gitarre, lässt ihr aber genügend Platz, um sich kreativ entfalten zu können. Gemeinsam erfinden sie einen Spannungsbogen, der die Luft zum Knistern bringt: Die E-Gitarre lotet die Finsternis aus und Carminho lässt ihren aufgestauten Emotionen dazu freien Lauf. Ambient-Sound trifft auf Stimmband-Overkill.

    Carminho ist eine wichtige Erneuerin des Fado. Ihre durchdringend-intensive Stimme trägt eine Menge dazu bei, dass man sich der Musik nicht entziehen kann. Sie schlägt die Hörerschaft in den Bann, hält die Menschen emotional fest, holt die Willigen auf einer Schwingungs-Ebene ab, auf der es kein Entrinnen gibt. Auch wenn man kein Wort portugiesisch spricht, treffen die impulsiv vorgetragenen Gesänge direkt ins limbische System, wo Emotionen verarbeitet werden, so klar und überzeugend sind sie.

    Für von Pop verwöhnte Ohren klingt traditionelle Folklore meistens gewöhnungsbedürftig, auch wenn sie aus dem benachbarten Europa stammt. Carminho nähert sich mit ihren Arrangements den Hörgewohnheiten von Art-Pop-Fans an, ohne die Ursprünge des Fado zu verleugnen. Das macht sie interessant für Musik-Interessierte mit offenen Ohren, die spezielle, nicht abgedroschene Sounds suchen.

    "Portuguesa" hat eine lange Entstehungsgeschichte hinter sich. Schon 2019 beschäftigte sich Carminho mit der Songauswahl und der inhaltlichen Ausgestaltung. Dieser lange Weg hat dazu geführt, dass sich die Portugiesin beinahe spirituell mit dem Einklang zwischen ihrer Persönlichkeit und ihrer Kunst befassen konnte. Daraus resultiert die besessene Sinnlichkeit, in die Carminho die Songs taucht und sie so durch ihre wuchtige Präsenz zu prächtigen Hymnen werden lässt.
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    Layers Of Life Layers Of Life (CD)
    02.04.2023
    Klang:
    4 von 5
    Musik:
    4 von 5

    Neues vom Emil Brandqvist Trio ist auch immer Bewährtes vom Emil Brandqvist Trio.

    "Layers Of Life", das sechste Album des skandinavischen Emil Brandqvist Trios, setzt das sensibel abgestimmte und mild improvisierende Konzept der Musiker Emil Brandqvist (Schlagzeug, Percussion, Keyboards), Tuomas A. Turunen (Piano, Keyboards) und Max Thornberg (Bass) fort, wobei diese Trio-Besetzung verschiedentlich durch Gastbeiträge erweitert wird, was zur Erzeugung von attraktiven Klangfarben jenseits der Norm führt.

    Das romantisch fantasierende "Still Awake" wird von diskreten Streichern und Bläsern begleitet, die dem Stück nicht nur einen barocken Anstrich, sondern auch ein heiteres Antlitz zugestehen. "Everflowing" ist pures Trio-Handwerk, das sich aufgrund des verständlichen, schillernd-spritzigen Improvisations-Potentials des Pianos und des intellektuell geprägten Jazz-Rhythmus-Gespanns sowohl Klassik-, wie auch Jazz-Strukturen harmonisch einverleibt.

    Das ruhige, mit herausgestellter melodischer Betonung versehene "Lullaby In Green" stützt sich auf die entspannende Wirkung tonaler, einfallsreicher Klaviermusik, bei der Bass und Schlagzeug den Hintergrund dezent ausschmücken, ohne eine Führungsrolle zu beanspruchen.

    Bei "In Between" spielen rhythmische und hymnisch schwirrende Synthesizer-Klänge dem Modern-Classic-Konzept in die Karten: Es wird ein Ton-Geflecht erzeugt, bei dem sowohl das Kopfkino Purzelbäume schlägt wie auch die Elegie zu Besinnung führt. Mit Minimal-Art-Mustern, meditativem Einschlag und auch wirbelnden Akkorden schafft das Piano für "A Year" einen abwechslungsreichen Klang-Reigen in diesem etablierten Piano-Trio-Kontext.

    "Solitude" fängt balladesk geographische Weite ein. Verbunden mit einem unbefangen ausschmückenden Piano-Part wird so ein Gefühl von Freiheit ausgedrückt, was dem Stück Aufwind verschafft. Der Synthesizer imitiert danach ein exotisches Blasinstrument und setzt sich damit prominent und auffallend selbstbewusst in Szene.

    Der Bass sendet für "Above The Stars" stoische, alarmierende Signale aus, das Schlagzeug wird mehr gestreichelt als geschlagen und das Piano lässt die Sterne glitzern.
    Der Schlagzeug-Besen sorgt dann bei "In This Moment" für ein knisterndes Rauschen. Die Becken und Trommeln sind kaum wahrzunehmen, der Bass gibt Sicherheit und das Piano spielt eine ergriffene Melodie, die durch Improvisations-Schübe schon mal aufgemischt und aus der Fassung gebracht wird.

    Der Track "Layers Of Life" simuliert einen Herzschlag-Takt, symbolisiert das Leben als spritzige und vergnügte Angelegenheit, lässt aber auch die Melancholie nicht außen vor. Es werden also wieder einmal verschiedene Schichten des Daseins akustisch nachempfunden.

    Der Flug der Hummel mag schwerfällig und manchmal ungelenk aussehen, dennoch gehört das Tier zu den fleißigen Bestäubern und hat als Vorteil gegenüber den Bienen einen längeren Rüssel, so dass es auch an Pollen herankommt, die von Bienen nicht erreicht werden können. Es gibt also keinen Grund, die Hummel aufgrund ihres plumpen Bewegungsablaufes gering zu schätzen. "Follow The Bumblebee" zeichnet dann auch einen durchaus agilen Weg des Insekts nach, der weniger behäbig als eher wohl überlegt erscheint. Das Sjöströmska String Quartet fungiert zum Ende hin sogar noch als Motivations-Katalysator, was dem Stück zusätzlicher Lebendigkeit zukommen lässt.

    Tagträume können die Seele reinigen, auch wenn sie von nachdenklicher Natur sind. "Daydreaming In Blue" greift diese Idee auf und präsentiert sich als traurig gestimmtes Stück, das auf der Suche nach dem Licht zu sein scheint. Die Zeitreise "Passage Through Time" erfolgt ausgeglichen-liebevoll, von Dankbarkeit und Demut erfüllt. Piano, Bass und Schlagzeug liebkosen und umgarnen sich vorsichtig. Behutsam gesetzte Bläser-Töne verwöhnen mit warm-dunklen Akzenten und der Moog-Synthesizer jubiliert wie eine Lerche im Frühling.

    Die Dämmerung, auch "Blue Hour" genannt, ist die Zeitspanne zwischen Dunkelheit und Licht oder umgekehrt. Wenn die Sonne ihre Macht verliert oder im Begriff ist, ihre Kraft zu entfalten. Das sind jeweils Zustände, in denen die Natur ihre Erhabenheit auf stille Weise demonstriert. Entsprechend ehrfürchtig und in sich gekehrt kommt der Track daher. Auch wenn das Piano als Melodie-bestimmender Bestandteil ein führendes Instrument ist, lässt es genügend Raum für das zischende und klirrende Schlagzeug und den schüchternen, als erdige Grundierung wichtigen Bass.

    Wer den schöngeistigen Jazz aus dem Hause ECM mag oder wem die Vorgängeralben von "Layers Of Love", wie zum Beispiel "Falling Crystals" von 2016, schon gefallen haben, der wird auch mit der sechsten Veröffentlichung des Emil Brandqvist Trios hochzufrieden sein. Die Skandinavier liefern verlässlich eine gelungene musikalische Virtuosität im Rahmen des poetischen "Nordic-Jazz" ab und bleiben hinsichtlich der vorsichtigen Erweiterung ihres Klangspektrums bedachtsam innovativ. Kontinuität und Qualität stehen hoch im Kurs bei "Layers Of Live", ganz zum Nutzen und zur Freude der Gefolgschaft der geschmackvoll agierenden Künstler.
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    30.03.2023
    Klang:
    4 von 5
    Musik:
    4 von 5

    Toleranz, Mitgefühl und Solidarität: OY stehen für das gleichberechtigte Miteinander ein.

    Da sich die Wiege der Menschheit in Afrika befunden hat, ist es sehr wahrscheinlich, dass sich dort auch die ersten musikalischen Aktivitäten herausgebildet haben. Diese Klänge waren sicher sehr körperbetont, denn noch heute finden sich ausgeprägt rhythmische oder polyrhythmische Tonfolgen in den ethnischen Überlieferungen. Solche Schwingungen werden auch in die zeitgenössische Pop-Musik übernommen. Sie werden nicht nur von schwarzen Musikern adaptiert, sondern auch von Weißen sehr geschätzt. Als populäre Beispiele dafür seien besonders "Graceland" von Paul Simon und "Remain In Light" der Talking Heads erwähnt und hervorgehoben.

    Das in Berlin lebende Duo OY, welches aus der Sängerin und Keyboarderin Joy Frempong, die ghanaische Wurzeln vorweisen kann und dem Schweizer Schlagzeuger, Komponisten, Gelegenheits-Sänger und Produzenten Marcel Blatti besteht, atmet, lebt und liebt den Sound Afrikas, was aus jeder Note der Kompositionen für ihr viertes Album "World Wide We" leidenschaftlich und herzlich hervorquillt.

    "World Wide We" ist kein gewöhnliches Song-orientiertes Album geworden, sondern bedient sich darüber hinaus den Möglichkeiten eines Hörspiels, eines Musicals oder einer vertonten Theater-Vorstellung. Das Werk wird nämlich mit Spoken-Word-Reportagen, Umwelt-Geräusch-Samples und fremdartigen Effekten gespeist, so dass es einen spielerisch-fantasievollen Charakter mit einem erzählerischen Hauptgewicht erhält.

    Die einzige Konstante im Leben ist der Wandel. Klingt merkwürdig, ist aber so, auch wenn wir uns das manchmal anders wünschen. Dennoch gibt es etliche Bereiche, in denen der notwendige Wandel nicht schnell genug geht oder der Wandel in eine falsche, Menschen verachtende Richtung führt. "Alchemisten suchten nach Langlebigkeit und erfanden versehentlich Schießpulver", heißt es dazu in "Have We Changed", einem Track, bei dem der Veränderungsprozess aus unterschiedlichen Positionen heraus beleuchtet, in Prosa-Form vorgetragen und dramatisch pulsierend in orchestraler Weise dargestellt wird.

    Jeder ist seines eigenen Glückes Schmied. Das ist im Grunde genommen eine der Aussagen von "Now Be The Time". Joy Frempong bedient den frühlingsfrischen Pop-Song mit positiven Gesangs-Einlagen, so dass gar keine Gedanken daran aufkommen, dass die Zukunft anders als blendend aussehen könnte.

    Es gibt viele vermeintliche Tatsachen, die kritisch hinterfragt werden sollten: Warum ist das eigentlich so, wie es ist? Genau das macht "How Many" und fragt zum Beispiel: "Wie viele Lügen kann ein Volk ertragen? Wie viele Ungeheuer werden wir krönen?" Und ernüchternd folgt das Resümee: "Nun, vor nicht allzu langer Zeit schauten wir Menschen in den Himmel und dachten, wie schön es wäre, zu fliegen wie die Vögel. Und jetzt, einen historischen Wimpernschlag später, schauen wir in diesen Himmel und es ist nichts mehr da. Außer Flugzeugen, Kränen und verschmutzten Wolken. Ich denke, man kann sagen, wir haben es ziemlich versaut." Aber auch bei diesem von Problemen behafteten Text taucht musikalisch keine Wut oder Trauer auf. Die Töne sind sonnig, der Refrain ist eingängig und die Melodie klingt eher nach Kinderlied als nach Protest-Song.

    Der textliche Inhalt von "Interlude - Africa Is Rich" macht zu Recht darauf aufmerksam, dass Afrika grundsätzlich ein reicher Kontinent ist. Das ist sowohl als Fluch wie auch als Segen zu betrachten. Das Dilemma besteht darin, dass die heutigen humanitären Katastrophen auf diesem Reichtum beruhen, denn durch Kolonialisierung und Ausbeutung wurden viele Länder ins Elend getrieben. Aber es gibt auch eine Chance für die Zukunft, wenn sich die Völker des schwarzen Kontinents zu einer Wirtschaftsgemeinschaft zusammenschließen würden, um ein Gegengewicht zu den anderen Wirtschaftsmächten zu bilden. Das Potential des Kontinents hat aktuell leider auch die chinesische Regierung erkannt und für sich genutzt. Sie hat sich durch Käufe und Beteiligungen einen großen Einfluss verschafft, was die Autonomie der afrikanischen Staaten weiter stark einschränkt. "Die Ressourcen müssen verantwortungsvoll und rechenschaftspflichtig verwaltet werden. Sie müssen gerechter verteilt werden", heißt es deshalb auch in dem durch klagende Stimmen umsäumten Statements des Spoken-Word-Zwischenspiels "Interlude - Africa Is Rich".

    Die Leichtigkeit und die rhythmische Herausforderung des folkloristischen Afrikas und die melodische Feinfühligkeit des Pop treffen danach für "Common Ground" aufeinander. Es geht also darum, kulturelle Gemeinsamkeiten zum Nutzen einer künstlerischen Entwicklung zu finden oder zu bilden.
    "Interlude - Born In Translation" ist ein weiterer Wortbeitrag, der zum Nachdenken anregt: "Die Art, wie du mich ansiehst, sagt mehr über dich selbst aus, als es über mich erzählen könnte". So definiert OY die Psychologie der zwischenmenschlichen Begegnungen.

    Es kommt nicht von ungefähr, dass "Place Des Clichés" in Französisch und nicht in Englisch gesungen wird. Das von elektronischen, fiepend-sirrenden Tönen begleitete Lied lebt schließlich von der attraktiven Melodik des Chansons und verknüpft diese mit einem optimistisch gestimmten Rhythmus-Teppich, so dass das Stück sowohl seriös wie auch beflügelnd wirkt. Es werden wiederum Schubladendenken und verfestigte Vorurteile angeklagt ("Ich kenne von jedem seine Rolle. Die Dicke, der Schwarze und die Verrückte.") und es wird Toleranz eingefordert ("Ich will, dass du mich ansiehst. Als ein verantwortungsvolles Wesen.").

    Nur wenn Codierung und Dekodierung funktionieren, können sich Menschen inhaltlich und emotional verständigen. Diese Schwierigkeit bildet die Grundlage der Thematik von "Gougle Translate". Die Gedanken werden von der ausgeglichenen, geschmeidig fließenden Stimme von Joy Frempong ohne Aggressionen im Unterton in einen freundlich-unkomplizierten Afro-Pop transferiert. Das ist ein gelungenes De-Eskalations-Verfahren.
    Unfasslich, dass solch ein Verhalten immer noch in den USA an der Tagesordnung ist: "Sie schießen ihm 'ne Kugel in den Rücken. Sie schießen ihm dreifach in den Kopf". Polizeigewalt auf offener Straße, häufig gegenüber der schwarzen Gesellschaft. "One On The Row - BLM" macht nochmal darauf aufmerksam, dass sich dieses Vergehen nicht geändert hat: "Nun stellt das Feuer ein, stellt das Feuer ein. Black Lives Matter, Black Lives Matter". Im Gesang schwingt Melancholie mit, aber auch trotzige Empörung. Das passt zum Gesamtbild des Songs: Was als Ballade beginnt, entwickelt sich im Laufe der Zeit zu einer hymnischen Auflehnung mit einem kämpferischen Anspruch.
    Da gehen die Ansichten auseinander: Quantic meinen, "Time Is The Enemy", OY behaupten, "Time Is Your Best Friend". Gemeint ist, dass manche Menschen durch die tägliche Hektik keine Zeit mehr für die wichtigen Dinge des Lebens aufbringen, weil sie nur noch funktionieren, statt zu genießen oder Situationen konstruktiv zu verarbeiten. Damit die Zeit der beste Freund wird, haben OY einen Tipp: Umarme und pflege die Zeit, ganz oft, jeden Tag wieder. Verbringe also viel Zeit mit der Zeit. "Time Is Your Best Friend" wird entsprechend als milder, beruhigender Sinnspruch und als Kraft spendendes, ins immaterielle gleitende Lied aufgebaut.

    "Life Cars Phones" ermittelt, dass es zwei "Lieblingskinder" der Menschen gibt, um die sich einiges im Alltag dreht und die anscheinend unverzichtbar geworden sind: Das Auto und das Smartphone. Die Musik dazu hat etwas Albernes, macht sich quasi lustig über diese Abhängigkeiten und hilft dabei, den Tatbestand ins Lächerliche zu ziehen.

    Und schon kommt mit "Interlude - Global History" der nächste Gedankenanstoß: "Im Grunde genommen wird uns die Geschichte unserer jeweiligen Nationalstaaten beigebracht, und vielleicht bestenfalls die der Regionen oder Kontinente, zu denen unsere Länder gehören. Das bedeutet, dass wir größtenteils nicht wissen, was in den verschiedenen Teilen der Welt passiert ist und wie die verschiedenen Völker der Welt die moderne Geschichte erlebt haben. Das ist also ein Problem, das überwunden werden muss, und eine Möglichkeit, es zu überwinden, ist das Schreiben einer globalen Geschichte."
    "Pool" ist ein von Verdruss durchzogener Art-Pop-Jazz mit Tiefgang. Filigran gesetzte E-Piano-Töne und eine mysteriös klingende Stimme erzeugen eine unergründliche Atmosphäre, die zum Schluss durch nervös klopfende Keyboard-Sequenzen eine Furcht einflößende Wendung vollzieht. "Siehst du den Pool, der für den Westen reserviert ist? Wo ist die Chance für den Rest", fragt Joy Frempong eindringlich und besorgt.

    Jetzt kippt die Stimmung beinahe endgültig von hoffnungsfroh in hoffnungslos. "Hopeless Paradise" findet keine Zuversicht: "Du siehst, wie die Spannungen zunehmen. Und sie werden an ihren Lügen festhalten", lautet eine Zeile, bei der die Resignation jeglichen Mut vertreibt. Passend dazu gibt es eine mit taktvollen, unaufdringlichen, nebulös-dunklen Effekten aufgeladene, schleppende Piano-Ballade. Das letzte Wort in diesem Trauer-Reigen ist dann zum Glück aber doch "Hoffnung".

    "Wir sind aufgerufen, der Erde zu helfen, ihre Wunden zu heilen und dabei unsere eigenen zu heilen - ja, die ganze Schöpfung in all ihrer Vielfalt, Schönheit und Wunder zu umarmen". Das ist eines der letzten Statements, welches mit "Interlude - American Astronauts" vermittelt wird.

    "World Wide We" ist ein Konzeptalbum, das den Zustand der Welt aus Sicht der unterprivilegierten Bevölkerung im Sinne eines gesamtgesellschaftlichen humanitären Ansatzes darstellt. Musikalisch verschmelzen afrikanische Einflüsse mit westlicher Pop-Musik zu einer universellen Darstellung, die "Randgebiete" wie Jazz, Art-Pop und Chanson mit einbezieht. Joy Frempong und Marcel Blatti interagieren dabei auf einer Ebene, die stilistische Einordnungen überflüssig macht. Denn durch ihre nachsichtige Haltung und den unverkrampften Umgang mit kulturellen Errungenschaften entsteht eine Selbstverständlichkeit, die für eine unangreifbar ehrliche Qualität bürgt.

    OY ist ein jiddischer Ausruf, der verwendet wird, wenn jemand verärgert, schockiert, enttäuscht oder besorgt ist. OY betätigen sich in diesem Sinne mit "World Wide We" als weltoffene Kulturbotschafter und musikalische Freigeister mit einer zukunftsweisenden Vision.
    Meine Produktempfehlungen
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    Food For Worms Shame
    Food For Worms (CD)
    24.02.2023
    Klang:
    4 von 5
    Musik:
    4 von 5

    Nichts für Weicheier: shame rütteln mit "Food For Worms" tüchtig auf.

    In London und Umgebung bildet sich seit geraumer Zeit eine neue Post-Punk-Szene heraus, die durch blutende Seelen oder ein kämpferisches politisches Bewusstsein und einen schmerzend-draufgängerischen Umgang mit den zur Verfügung stehenden musikalischen Mitteln auffällt. Zu den Vertretern dieser Bewegung gehören unter anderem Black Country, New Road, Porridge Radio und Squid. shame klinken sich nach drei Jahren Pause nahtlos mit "Food For Worms" in diesen frisch-wilden Schauplatz mit ein.

    shame ist ein Quintett aus Süd-London, das 2014 von den gemeinsam aufgewachsenen Teenagern Charlie Steen (Gesang), Charlie Forbes (Schlagzeug), Eddie Green (Gitarre), Josh Finerty (Bass) und Sean Coyle-Smith (Gitarre) gegründet wurde. Die Gruppe orientiert sich stilistisch unter anderem an Punk- und New Wave-Helden wie The Fall, Wire, Gang Of Four und Talking Heads, findet zwischen diesen Inspirationen aber einen eigenen Ausdruck, um Wut, Zynismus und politische, aber auch private Ansichten zu übermitteln.

    Im Januar 2018 erschien das erste rumplig-sperrige Werk mit Namen "Songs Of Praise", das bis auf Platz 32 der britischen Album-Charts gelangte. Genau drei Jahre später kam "Drunk Tank Pink" raus, das den aufrührerisch-zornigen Weg der Band fortsetzte und sogar bis auf Platz acht der deutschen Albumcharts stieg.

    Im Vorfeld zur Veröffentlichung von "Food For Worms" wurden shame schon durch ein Punk-Urgesein geadelt. Iggy Pop stellte nämlich den Opener "Fingers Of Steel" am 5. Februar 2023 in seinem Radioprogramm "Iggy Confidential" auf BBC Radio 6 vor. Der Spezialist für rohe, brachiale Töne wird Freude an der Kraft, der Aggression und der krachenden, schräg-herben Unbekümmertheit der Band gefunden haben. Das Hauptaugenmerk der Kompositionen liegt nämlich nicht auf geschliffenen Pop-Melodien, sauberem Gesang und zündenden, Hit-tauglichen Refrains. Hinsichtlich des Unterhaltungswertes wird eher auf authentisch impulsive Gefühlsausbrüche, brachiale Energie sowie unkonventionelle Tempo- und Dynamik-Sprünge Wert gelegt.

    Ein Piano, das aus der Ferne konstante, glockenartige Akkorde aussendet, leitet "Fingers Of Steel" ein. Es folgen Stakkato-Gitarren, die die Monotonie übernehmen und verstärkt wieder abgeben. Dann geschieht ein Bruch, bei dem sich die Gitarren im Hintergrund neu orientieren, die Härte zurückfahren, sogar zeitweise psychedelisch-suchend klingen. Der Bass pumpt dazu unablässig und das Schlagzeug schäumt. Der Gesang passt sich der jeweiligen Gegebenheit an und klingt sowohl angeregt, wie auch versöhnlich, aber auch kämpferisch. Der Song wühlt auf, beschwichtigt dann wieder, bricht mit Rock & Roll-Konventionen, beherbergt aber trotzdem dessen rebellische Komponente, bildet jedoch einen eigenwilligen Gegenentwurf zum Classic-Rock.

    "Six-Pack" macht noch mehr Radau, fährt hinsichtlich des Tempos auf der Überholspur, bringt durch hitzige WahWah-Gitarren einen wüsten New Wave-Funk-Touch ein und steht so unter Dampf wie ein Schnellkochtopf kurz vor dem explodieren.

    "Yankees" ertönt zunächst wesentlich differenzierter. Das Intro besteht aus zwei sich vorsichtig abtastenden E-Gitarren, deren sensible Menüführung jedoch durch einen wuchtigen, schnellen Bass abgelöst wird, der die Gitarren sofort ins Schlepptau nimmt und das Tempo rasant und teils hektisch-überdreht werden lässt. Charlie Steen lässt sich von dem Wirbel anstecken und singt betont flegelhaft, am Rande der Respektlosigkeit.

    Eckig-kantiger Punk-Funk in Kombination mit schrillem Heavy-Metal-Dröhnen verleiht "Alibis" sein anarchisches Antlitz. Das heftige Aufbegehren ist ratzfatz nach zweieinhalb Minuten vorbei und hinterlässt vor Erregung einen hochroten Kopf und dann ein Vakuum.

    "Adderall" bringt zunächst etwas Ruhe ins Geschehen, wobei die Stimme von Charlie Steen stark nach Lou Reed klingt. Dieser Spuk wird nach einer Minute durch einen voluminös wehenden Chor-Refrain zunächst aufgelöst, um wenig später wieder aufzuleben. Das Stück gestaltet sich - wie viele andere auf "Food For Worms" auch - als Wechselbad der Gefühle, bei dem sich laut und leise sowie langsam und schnell ständig ablösen. ""Adderall" ist die Beobachtung einer Person, die von verschreibungspflichtigen Medikamenten abhängig ist. Diese Pillen verändern den geistigen und körperlichen Zustand und das Verhalten... Es ist ein Lied über Mitgefühl, Frustration und die Akzeptanz von Veränderung. Es geht darum, sich mit der Tatsache abzufinden, dass deine Hilfe und Liebe die Menschen um dich herum manchmal nicht heilen kann", heißt es zum Inhalt des Songs von Seiten der Band.

    Aber es geht auch ganz anders: "Orchid" überrascht als schwungvolles, gediegenes Country-Folk-Stück, das mit seinem raffinierten Timing an die australischen Go-Betweens um Robert Forster erinnert. Sehr gelungen und von spezieller Güte. Mehr davon!

    "The Fall Of Paul" macht keine Gefangenen. Unbarmherzig wühlt der Bass in den Därmen und der Schlagzeuger vollbringt Schwerstarbeit. Es scheint, als wolle er den Track als erster in einem Rennen, bei dem es um Leben und Tod geht, über die Ziellinie bringen zu wollen. Die Gitarristen verlieren völlig die Nerven und kollabieren in einem berauschenden Stahlgewitter-Orgasmus. Danach kann es keine weitere Intensitäts-Steigerung geben...

    Deshalb lässt es "Burning By Design" wohl erst einmal gemächlich angehen. Aber es handelt sich um eine trügerische Ruhe, denn Chaos und Gewalt lauern an jeder Ecke. Entsprechend bricht die Aggressivität immer wieder durch und versetzt den Song sogar noch in einen Hochgeschwindigkeits-Wahnsinns-Rausch.

    Um den kompletten Irrsinn zu verhindern, helfen nur noch schamanische Kräfte. Und so kommt es nicht von ungefähr, dass Charlie Steen bei "Different Person" an Jim Morrison von The Doors erinnert. Das Stück lässt unter Einsatz von Minimal-Art-Strukturen an Beschwörungsrituale denken, um unmittelbar danach seine Mainstream-Qualitäten unter Beweis zu stellen, die als Satire entlarvt werden und in einem Schwall von Auflehnung und Krach untergehen. Ein Overkill an Eindrücken, was erst einmal verdaut werden muss.

    Dabei hilft "All The People", das den Underground-Folk von The Velvet Underground aufleben lässt, wobei sich Charlie Steen wie eine angetrunkene Version des jungen Leonard Cohen gebärdet. Allerdings mit Schrägläge in der Instrumentierung und im Gesang.

    Irgendwann sind wir alle "Futter für die Würmer". Bis dahin heißt es, das maximale aus seinem Leben rauszuholen, Rückgrat zu beweisen, Spaß zu haben. shame leben das Leben ungeniert, lassen keine Provokation aus, verzichten auf Regeln und haben dabei sogar ein Muster gefunden, das ihnen kommerziellen Erfolg verschafft. Erstaunlich, bei diesem Brüskierungs-Potenzial. Wer Rock-Musik sucht, die leicht ins Ohr geht und sich da schnell festsetzt, liegt hier wahrscheinlich falsch. Wer es aber provokant, unerwartet, dreckig und schrill mag, der ist bei "Food For Worms" gut aufgehoben.
    Meine Produktempfehlungen
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      Drunk Tank Pink (Limited Edition) (CD)
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    In Flux Anna B. Savage
    In Flux (CD)
    24.02.2023
    Klang:
    4 von 5
    Musik:
    4 von 5

    Veränderte Lebensumstände, gleiche Intensität: Anna B Savage bewahrt sich für "in|FLUX" ihre Sensibilität zur Schaffung anspruchsvoller Pop-Songs.

    "A Common Turn" von Anna B Savage war eines der spannendsten Art-Pop-Alben des Jahres 2021. Die zweite ausführliche Vorstellung der Künstlerin aus London folgt nun am 17. Februar 2023 und trägt den Titel "in|FLUX" - was so viel wie "in Bewegung sein" oder "sich entwickeln" bedeutet. Es geht also um das Gegenteil von Stillstand im Zusammenhang mit persönlichem oder kreativem Fortschritt.

    Als Anna im Studio zu den Aufnahmen erschien, war keiner der Songs fertig. Die Entstehung befand sich in einem fließenden Zustand und war der Interaktion mit dem Produzenten Mike Lindsay (Tuung, Lump) unterworfen. Wurde "A Common Turn" noch deutlich durch die Nachwirkungen einer toxischen Beziehung geprägt, so profitiert "in|FLUX" von einem inzwischen gewachsenen Selbstbewusstsein und der Auffassung, dass "Ungereimtheiten und Heucheleien Teil der menschlichen Natur sind." Wir haben es also mit Musik zu tun, die aus einer "neu gefundenen Einstellung zum Leben, zur Kreativität und zum Songwriting...[also] einer Erkenntnis, dass alles gut werden wird", entstanden ist.

    Annas Lebensart ist achtsamer geworden, der Gesang der Vögel kann wieder ohne störende Gedanken-Kreisel wahrgenommen werden, wie im Song "I Can Hear The Birds Now" verkündet wird. Trotzdem ist dadurch kein unschuldiges Sunshine-Pop-Lied entstanden, sondern ein Moll-lastiger Folk-Jazz mit traurig wallender Klarinette, einer ängstlichen Stimme und einer unerschütterlich und zuverlässig begleitenden akustischen Gitarre. Der neu erlangten, vorsichtig-optimistischen Gemütslage wird anscheinend noch nicht ausreichend Stabilität zugetraut. Wohl wissend, dass die Geister der Vergangenheit der Psyche jederzeit wieder heftig zusetzen könnten.

    "Hör auf mich zu verfolgen, bitte lass mich einfach in Ruhe, bitte", lautet das Flehen in "The Ghost". Mögen die Gedanken an die Tyrannei des ex-Partners endlich nicht mehr quälend sein. Mit dumpfen, aufgewühlten künstlichen Herzschlag-Tönen, die bis zum Hals zu schlagen scheinen, wird das Stück eingeleitet. Diese Klänge gehen in Stakkato-Trommel-Schläge über und treiben das mit dramatischer Inbrunst gesungene und wellenartig anschwellende Lied tatkräftig an. Die hypnotische Komponente des Tracks wird übrigens in einer Überarbeitung von W.H. Lung noch deutlicher herausgestellt.

    Der russische Physiologe Iwan Petrowitsch Pawlov beschäftigte sich um 1900 herum mit der Wirkung der klassischen Konditionierung. Er setzte seinen Hunden Futter vor und ließ dazu eine Glocke läuten. Die Hunde verbanden bald das Füttern mit dem Klang der Glocke, so dass die Glockentöne alleine schon den Speichelfluss in Erwartung einer Mahlzeit in Gang setzten. Pawlov bewies damit, dass sich Verhaltensweisen mit Ereignissen verknüpfen lassen, was auch für Menschen gilt. Im Song "Pavlov‘s Dog" geht es um das erfüllende Ausleben von Sexualität (das unter Umständen auch auf eingefahrene Verhaltens- und Erwartungs-Muster aufgebaut sein kann), was in diesem Fall jedoch nicht als Basis für eine längerfristige Beziehung ausreicht. Die erregte Rhythmik und ein erhitztes Hecheln bilden unter anderem die akustische Untermalung zur Abbildung einer erotischen Situation, die voller Verlangen und Wünsche steckt. "Touch Me" verarbeitet das gleiche Thema musikalisch abgeklärter und ungezwungener, in einem delikat-flüssigen Dark-Folk-Rahmen.

    "Du kommst in meinen Träumen vor. Im Moment furchtbar oft. Es bedeutet, dass dieser Tanz für uns vorbei ist", lautet die nüchterne Bilanzierung eines Verhältnisses in "Crown Shyness". Ein unbarmherziger Maschinen-Beat unterstreicht durch seine druckvolle Konsequenz den belastenden Zustand des Zerwürfnisses. Die nebenher ablaufende Piano-Ballade baut parallel Wehmut auf, ein Raubtier-Knurren symbolisiert aufsteigende Wut - der ganze Gefühls-Cocktail einer zerbrochenen Beziehung findet akustisch Berücksichtigung und fügt sich anschaulich zu einer schonungslos offenen Partnerschafts-Studie zusammen. In dem Song geht es darum, "Zwei widersprüchliche Dinge gleichzeitig zu fühlen: Ein Ziehen hin und ein Wegstoßen von. Für mich fühlt sich der Song aber nicht explizit traurig an. Für mich fühlt es sich wie ein Bekenntnis zu Zärtlichkeit und Verbindung an, aber es zeigt auch Wege auf, bei denen das nicht möglich ist", sagt Anna.

    Die pure Angst steht "Say My Name" durch den gebrochenen, erschütterten Gesang bei dieser unheimlichen Beziehungs-Geschichte ins Gesicht geschrieben (""Lass mich raus", versuchte ich zu schreien. Bitte bitte bitte."). Dabei fängt das Lied als gelassen-unschuldiger Country-Folk an, wird aber allmählich zu einem sich wüst benehmendem Jazz-Rock-Monster umgewandelt.

    Ist es Zweckoptimismus oder gelebte Überzeugung, wenn Anna im Song "in|Flux" behauptet: "Ich will allein sein, ich bin allein glücklich." Eigentlich möchte sie aber zunächst einmal das unglückliche Verhältnis beenden, um den Druck loszuwerden. Durch ein behutsam angeblasenes Saxophon wird ein Schwebezustand inmitten von bedächtigem Gesang erzeugt, was emotional auch als Verletzlichkeit oder Ratlosigkeit gedeutet werden kann. Nach etwa einer Minute stoppt diese Overtüre und halluzinogene, wie auch dumpf rumpelnde Synthesizer-Töne übernehmen das Ruder. Die Stimmung wird hektischer und der bisher kontrolliert ablaufende Gesang bekommt sogar hysterische Eigenarten verpasst.
    In "Hungry" gibt es dann eine textliche Bestätigung für die Erlangung von mehr Kontrolle im Leben ("Ich dachte, ich würde mich einsam fühlen, aber es ist nicht wahr"). Der dazu entwickelte, lässig-entspannte Country-Folk unterstützt diese befreite, vertrauensvolle Sicht der Dinge auf luftig-elegante Weise.

    Aufkommende Zweifel an einer Beziehung beschreibt "Feet Of Clay". Gemischte Gefühle machen sich breit und bringen das Liebes-Gefüge zum Wanken. Die wechselhafte, unstimmige Lage wird akustisch angemessen und nachvollziehbar abgebildet: Der Synthesizer kann sich nicht entscheiden, ob er optimistisch abgestimmte oder unsicher springende Töne favorisieren soll, der Gesang und das Saxophon beschwichtigen, die Keyboards wiegeln auf. Kontroversen sind das Salz in der Suppe dieses Liedes.

    "The Orange" lässt die Grenzen zwischen edlem Hippie-Folk und spirituellem Trance-Jazz verschwimmen. Das Lied besteht also aus Sequenzen, die den Geist berauschen und Komponenten, die ihn aufgrund der filigranen Komposition wohlig erschaudern lassen. Das Stück endet mit den Worten: "Ich denke, es wird mir gut gehen." Das ist ein hoffnungsvolles Zitat als Schlusspunkt unter einem Album, das als Manifest für eine positive persönliche Entwicklung unter schwierigen Bedingungen verstanden werden kann.

    Die Zeit zwischen "A Common Turn" und "in|FLUX" war für Anna B Savage von Psychotherapien und Selbsthilfe-Erfahrungen geprägt, was zur emotionalen Erholung beitrug und damit das Selbstwertgefühl stärkte. Dadurch konnte "in|FLUX" wahrscheinlich solch ein anspruchsvolles, kraftvolles Werk werden. Ungeachtet eines zum großen Teil düsteren Sounds, Problem-basierter Texte und raffinierter Wendungen reifte eine eigenwillige Kost heran, die appetitlich und stimulierend zugleich mundet. Anna B Savage bleibt trotz aller neuen privaten Einflüsse ihrer individuellen musikalischen Linie treu, lässt sich nicht verbiegen und strebt nach kreativer Selbstständigkeit. Diesen Zustand hat sie mit "in|FLUX" allerdings schon jetzt eindrucksvoll untermauert.
    Meine Produktempfehlungen
    • A Common Turn Anna B. Savage
      A Common Turn (CD)
    Forever Yours Rhonda
    Forever Yours (CD)
    24.02.2023
    Klang:
    4 von 5
    Musik:
    4 von 5

    "Forever Yours" gibt eine aktuelle, reizvolle Zustandsbeschreibung der Band Rhonda ab.

    Mit 12 Jahren begeisterte der Film "Sister Act", in dem Whoopi Goldberg unfreiwillig eine Nonne wird, Milo Milone so sehr, dass sie ihren Gesang fortan an Gospels schulte. Das hat sich ausgezahlt, denn ihre Stimmkraft und -farbe sowie ihre Wandlungsfähigkeit brachten ihr später als professionelle Musikerin sogar Vergleiche mit Amy Winehouse ein. Mit der Band Rhonda entwirft die Sängerin aus Bremen, die aktuell in Los Angeles lebt, eine bunte Stil-Mischung, die unter anderem aus Pop, Rock, Rhythm & Blues, Reggae, Soul und Funk besteht.

    Dieses authentische Retro-Sound-Abenteuer wurde 2014 mit dem transparent und vollmundig produzierten Album "Raw Love" öffentlich gemacht und es folgten noch die voluminösen Werke "Wire" (2017) und "You Could Be Home Now" (2019). Die musikalische Entwicklung der Gruppe zeigt auf jeden Fall, dass sie stilistisch nicht auf der Stelle tritt, sondern um Wandlung ihres Sounds bemüht ist. Und deshalb steht "Forever Yours" auch für eine weitere Entfaltungs-Facette des stetig gedeihenden Ensembles und wartet entsprechend mit ein paar Überraschungen auf.

    So vermittelt der liebevolle Gesang der Ballade "The One For You" Country-Gospel-Feeling, während die Instrumentierung nach Folk-Jazz klingt. Ähnlich andächtig geht es mit "Light In Everything" weiter, wobei hier ein jaulend-wimmernder Synthesizer neben der gefühlvollen Stimme von Milo Milone für Betroffenheit sorgt.

    "Modelo" ist ein Hybrid, der laut und leise, bedrohlich und betörend, lieblich und laut in sich vereint. Möglich ist das durch straffe, dominante, hartnäckig rockende Bass- und Gitarren-Riffs im Italo-Western-Speed-Modus, die von Milos sehnsüchtigen Stimmband-Schwingungen und einer rauschenden Orgel abgelöst werden. Indes umkreisen sich diese Phasen immer wieder gegenseitig und werden von strammen, entschlossenen Reggae-Rhythmen und einer knurrend-unruhigen E-Gitarre ergänzt. Erregung und Beruhigung raufen miteinander, beeinflussen sich gegenseitig und brauchen sich als Lebenselixier wie Ying das Yang.

    "Golden Days" groovt intensiv, bleibt aber trotz einer erhöhten Geschwindigkeit gelassen. So entsteht eine lebendige Dynamik, die das Stück zu einem Ohrwurm macht. Der Instrumental-Titel "Partner In Crime" bietet cineastische Qualitäten auf und eignet sich hervorragend zur Vertonung eines mysteriösen Thrillers.

    Die heilige Barbara ist unter anderem die Schutzheilige der Bergleute, Feuerwehrleute und Totengräber. Außerdem ist eine Stadt in Kalifornien nach ihr benannt, die zu den schönsten im Lande gehören soll. Ein Bezug zur Schutzheiligen oder zur US-amerikanischen Region wird im Text allerdings nicht herausgestellt. Es geht hier vielmehr um zwei Personen, die nicht zueinander finden können: Die eine hat einen schmerzlichen Verlust zu verarbeiten, die andere fühlt sich, als sei sie in einem Käfig gefangen. Erst im offiziellen Video wird eine Verbindung zu einer Landschaft hergestellt, bei der es sich womöglich um den Distrikt Santa Barbara handelt. Der Song "Santa Barbara" wurde bereits 2020 als Single veröffentlicht
    und erfuhr ein Jahr später eine Überarbeitung, bei der zunächst bescheiden-intime, dann rhythmisch klopfende und klatschende Töne vorherrschen, die stellenweise von Geigen-umweht werden.

    Für "Forever Yours" wurde die gradlinigere Soft-Rock-Ursprungs-Version berücksichtigt, die eine gewisse Ähnlichkeit zu "Wicked Game" von Chris Isaac aufweist, was zum Beispiel die vorherrschende, hemmungslos schmachtende Sentimentalität angeht. Der Song "Forever Yours" sucht sein Heil im psychedelisch groovenden Blues-Rock-Himmel, wobei Milo Milone stets die Chefin im Ring bleibt und mit Coolness und Übersicht die Fäden dieses heißen Gebräus in der Hand behält.

    Ganz ruhig und langsam, idyllisch, wie im Halbschlaf, wenn Realität und Traum noch nicht richtig auseinandergehalten werden können, läuft "Good Things Fall Apart" ab. Auch "Strange You Never Knew" zieht unaufgeregt seine Bahnen, verliert seine Leidenschaft aber in den Untiefen von angenehmem Pop, dem Ecken und Kanten, aber auch verrückte Arrangement-Ideen fehlen. "Not The Ghost" beginnt zurückhaltend-filigran - mit luftiger Jazz-Orientierung - schlägt dann aber nach 2 Minuten und 39 Sekunden (von 3 Minuten und 48 Sekunden) in ein bösartig dröhnendes Progressiv-Rock-Spektakel um.

    Milo Milone ist wahrscheinlich die aufregendste und selbstbewussteste Soul-Stimme, die die norddeutsche Tiefebene je hervorgebracht hat. Ihre Begleiter Ben Schadow (Gitarre), Offer Stock (Keyboards), Tom Wagner (Bass) und Gunnar Riedel (Schlagzeug) erzeugen für das differenzierte Gesamtbild einen kompakten Sound, der alle stilistischen Hürden souverän meistert und die Gegensätze miteinander verbindet.

    "Forever Yours" ist das vierte Studio-Album von Rhonda und enthält bewährte Tugenden der Band, wie ein flüssig groovender Sound, kann aber auch mit frischen Ideen aufwarten. Es ist ein richtungsweisendes Werk geworden, denn es trägt auch die Erfahrungen von Milo Milones lasziv-lieblicher Soul-Pop-Solo-6 Track-EP aus 2020 weiter, offenbart aber gleichzeitig reizvolle Kontraste aus Sinnlichkeit (die mit Samt überzogene Stimme) und Härte (der herzhafte Rockabilly-Surf-Twang).

    Und genau diese Kombinationen ermöglicht zum Beispiel bei "Modelo", "Not The Ghost" oder dem Track "Forever Yours" die Entstehung von attraktiven Reibepunkten, so dass man sich für die Zukunft weitere solcher Verbindungen vorstellen kann. Die emotionale Mischung macht unter anderem den hohen Unterhaltungswert des Werkes aus, das (fast) durchgängig ein konstant hohes Niveau aufweist.
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    • Sister Act Sister Act (CD)
    • Sister Act (Blu-ray) Emile Ardolino
      Sister Act (Blu-ray) (BR)
    Burnt Tongue Burnt Tongue (CD)
    23.02.2023
    Klang:
    4 von 5
    Musik:
    5 von 5

    Jetzt erst recht! Ian Fisher möchte mit seinen sensiblen Liedern Mut machen.

    Wo nimmt dieser Mann nur alle seine Ideen her? Ian Fisher ist nicht nur ein fleißiger Komponist mit einem großen Repertoire, sondern er bringt alles mit, was einen talentierten Musiker auszeichnet: Ein feines Händchen für eigenständige, geschmeidige Melodien und anziehende Refrains, sowie ein Gespür für interessante Arrangements und poetische Texte mit konkreten Hintergründen, die es zu erforschen gilt. Und alle diese Komponenten werden dann noch von einer charmanten und markanten Stimme zusammengehalten.

    Erste Überlegungen zur Verwirklichung der Ideen für "Burnt Tongue", die zwischen 2019 und 2022 entstanden, gab es bereits im Winter 2020: Eigentlich sollten die neuen Songs als Home-Recordings veröffentlicht werden, doch dann gab es die glückliche Fügung, dass Ian seinen durch das Projekt Tour Of Tours bekannten Kollegen Jonas David als spirituellen Partner und Co-Produzenten gewinnen konnte. Die beiden Künstler bauen auf dem weitläufig-eindringlichen Sound des letzten Studio-Albums "American Standards" aus 2021 auf, erweitern das musikalische Ausdrucks-Spektrum aber noch durch andere delikate Instrumentierungen und raffinierte Ausgestaltungen.

    Zehn Songs und drei kurze Instrumental-Titel haben es schließlich auf "Burnt Tongue" geschafft: Entwurzelung und der Wunsch nach Veränderung, aber auch ein Schrei nach Hilfe prägen unter anderem inhaltlich den Song "I'm Burning". Fisher betätigt sich als dokumentarischer Erzähler, der seine Emotionen nicht unterdrücken kann oder will und deshalb auch sentimentale Passagen zulässt. Das Ganze spielt sich in einem malerischen Rahmen ab, der exotischen Weltmusik-Folk, sphärischen Ambient-Country und entspannten Smooth-Jazz einbezieht. Das Stück tariert nachdenkliche und selbstsichere Momente elegant aus, so dass ein leicht schwingender, mondän-entrückter Klangeindruck entsteht.

    Für "How Far" werden schwirrend brummende Töne als Hintergrund-Dekoration herangezogen. Dadurch wird die Konzentration manchmal von der lieblich-leichten Folk-Pop-Ausrichtung abgelenkt. Wieder geht es thematisch darum, dass jemand seine Wurzeln verloren hat und gegen seinen Selbsthass ankämpft.

    Jeder Mensch verabscheut seine Schwachstellen. Es ist deshalb eine sinnvolle Lebensleistung, sich mit ihnen zu arrangieren, um sie akzeptieren zu können. Das ist eine der lyrischen Botschaften des behutsam gesungenen "Achilles' Heel". Der angedeutete Break-Beat-Takt schabt und kratzt an der hübschen, sanften Melodie, kann die Harmonie aber nicht wesentlich stören. Die Fusion von gediegener Holprigkeit und weichem Wohlklang führt zu einer Neutralisierung des unrunden Einflusses und der klebrigen Süße, so dass ein interessanter Pop-Song mit Kanten und Liebreiz entsteht.

    Hilflosigkeit ist ein sehr bedrückendes Gefühl. Besonders, wenn man einem geliebten Menschen nicht so beistehen kann, wie man möchte. "Meine Hände auf ihren Schultern von hinten. Als könnte ich sie beschützen. Aber ich kann es nicht. Als ob ich ein Feuer aus Asche machen könnte", heißt es in "Fire Out Of Ash". Für diese Situation wird ein sehnsüchtiger, wehmütiger Country-Sound entwickelt, bei dem die Pedal-Steel-Gitarre dicke Tränen weint und die Betroffenheit zu reiner Schönheit gedeiht.

    Der Gesang für "One Way Out & No Way Back" wurde künstlich auf historisch getrimmt und hört sich an, als würde er aus einem alten Grammophon kommen. Die traditionelle Country & Western-Begleitung bleibt dezent im Hintergrund und unterstützt die traurige Stimme dabei, eine größtmögliche Empathie zu erzeugen. Es geht hier schließlich darum, sich zwischen einer Beziehung oder der persönlichen Freiheit zu entscheiden.

    Mit "Driftwood & Tires" erschafft Ian Fisher einen sehnsüchtig-liebevollen Track, bei dem elektronische und akustische Töne eine friedvoll-ausgeglichene Verbindung eingehen. Ian erzählt eine Geschichte aus seiner Jugend, die zum Titel "Burnt Tongue" geführt hat: Als er mit seinen Freunden versuchte, am Ufer des Mississippi mit nassem Treibholz ein Feuer zu machen, entzündete sich der Dampf des verwendeten Zündstoffs und verbrannte sein Gesicht.

    Die Liebe einer Mutter verblasst nie. Diese Messlatte setzt der Protagonist in "A Mother’s Love" als Maßstab für seine Beziehungen an. Dringlich leidende Töne der Pedal-Steel-Gitarre deuten einen entstehenden Konflikt an, die Gefühlslage befindet sich aber überwiegend im Gleichgewicht. Eine Leidenschaft für sinnliche, bitter-süße Klänge wurde schon unter anderen Voraussetzungen von Michael Dinner in seinem Referenz-Werk "The Great Pretender" aus dem Jahr 1974 in Vollendung zelebriert und kommt auch bei "A Mother’s Love" formvollendet zu Ehren.

    Für die sanft-beschwingte, Trost spendende Rockabilly-Ballade "I'll Be There" kann ein Maximum an mitfühlender Freundlichkeit aufgeboten werden: "...und wenn du das Gefühl hast, du fällst, dann ist hier eine Hand. Ich werde da sein, wenn du mich brauchst". Wohl dem, der solche Freunde hat!

    "If I Show I Do I Do" steigt in die Untiefen menschlicher Beziehungsprobleme ab. Es steckt indessen jede Menge positive Energie in dem Song, was sich in einer beweglichen Lebendigkeit äußert. Die Stimmung sprudelt trotzdem nicht vor Glück über, weil Ian gesanglich auf die Bremse tritt. Aber der unbändige Optimismus lugt dennoch an jeder Ecke hervor.

    Sollte man das Kind in sich unterdrücken, wenn man älter wird? In "Quiet Down Boy In Me" zwingt sich der Protagonist dazu, scheint damit aber nicht zufrieden zu sein. Ganz langsam bewegt sich der Soundtrack zu diesem Befinden voran und bildet dadurch einen behaglich-gütigen Schlusspunkt unter einem hervorragenden, schlüssig abgestimmten Singer-Songwriter-Album, das - wie schon erwähnt - noch durch drei atmosphärisch dichte, kurze Instrumental-Titel ("Skit 3", "Skit 6", "Skit 11") verfeinert und pikant abgerundet wird.

    Neben Ian Fisher (Gesang, akustische Gitarre, Produktion) wirkten noch Jonas David (Produktion, Gitarre, Schlagzeug, Keyboards, Horn), Ryan Thomas Carpenter (Keyboard, Banjo, Bass), Richard Case (Pedal-Steel Gitarre, Gitarre), Salvo Seucces (Klarinette, Saxophon, Marimbaphon, Vibraphon) und Salvo Puma (Gitarre bei "Achilles' Heel") an den Aufnahmen mit.

    "Burnt Tongue" hinterlässt einen homogenen Eindruck, bei dem ruhig ablaufende Lieder und eine Mischung aus überlieferten und eigenwilligen Klangfarben vorherrschen. Die Einspielungen fanden auf Sizilien statt und damit zum ersten Mal in einer Studio-Atmosphäre, die Ian glücklich machte. Deshalb wohl die unverkrampfte, feinfühlige Grundstimmung, die eine besondere kreative Ausgeglichenheit ermöglichte. Den introvertierten Liedern werden durch den verführerischen Schmelz in Ians Stimme - der ähnlich auch bei Joey Burns (Calexico) oder Daniel Romano zu finden ist - Milde und Güte verliehen, so dass die Melancholie einen tröstenden Aspekt vermittelt.

    Es gibt allerdings auch eine nach Erkenntnis suchende Seite in den Stücken, die durch das Cover-Bild, bei dem sich Farben wild miteinander vermengen, symbolisiert wird. Eine solche Sicht wird auch durch die Texte vermittelt: Ian Fisher charakterisiert die Inhalte seiner Lieder nämlich als "Themen, mit denen sich viele von uns in diesen seltsamen Zeiten auseinandersetzen mussten. Sie beinhalten die Navigation durch neue Lebensumstände und die Auseinandersetzung mit uns selbst und unserer Vergangenheit. Das führt zu einer ehrlichen Einschätzung des Zustands, in dem wir uns befinden, und ist ein hartnäckiger, menschlicher Aufruf zum Mut, weiterzumachen".

    Der in dem 4.000-Seelen-Kaff Ste. Genevieve in Missouri aufgewachsene und seit 2008 in Europa lebende Ian Fisher ist mit der Plattensammlung seines Vaters groß geworden. Darin befanden sich möglicherweise auch solche innovativen und unkonventionellen Songwriter wie Van Dyke Parks, David Ackles oder Tom Rapp (Pearls Before Swine). Zumindest verwirklicht der Wahl-Europäer mit "Burnt Tongue" ein reifes, kreatives Gesamtbild mit beeindruckenden, zu Herzen gehenden Songs auf höchstem Niveau, die im Pop-, Folk- und Country-Umfeld angesiedelt sind!
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    Dream House JW Francis
    Dream House (CD)
    23.02.2023
    Klang:
    4 von 5
    Musik:
    4 von 5

    "Dream House" enthält 12 gesungene Liebesbezeugungen an Menschen, die JW Francis über seine Fans kennengelernt hat.

    Das Projekt "Dream House" des New Yorker Singer-Songwriters JW Francis ist schon 3 Jahre alt und spricht für den freundlichen Charakter des Alternative-Pop-Musikers. Ab damals schaltete er jedes Jahr sechs Wochen vor dem Valentinstag in sozialen Netzwerken eine Anzeige. Man möge ihm den Namen seines Lieblingsmenschen und den Grund der Liebe nennen, dann würde er für diese Person einen Song verfassen.

    Bei dieser Aktion gingen im Laufe der Jahre über 300 Anfragen ein und alle Songs auf "Dream House" stammen aus diesen Auftragsarbeiten. "...einige wurden überarbeitet, um mehr aus dem Leben des Künstlers zu erzählen, andere sind genauso geblieben, wie sie ursprünglich geschrieben wurden. Letztendlich ist dies ein Album über die Sorge um andere und die Art und Weise, wie wir sie ausdrücken", erklärt JW Francis das Konzept des Werkes.

    Man muss nicht unbedingt alles tierisch ernst nehmen und kann trotzdem ernstzunehmende Pop-Musik produzieren. Dieses Motto passt zu JW Francis, der für "Dream House" 12 Songs aufgenommen hat, die manchmal auch eine humorig-unbekümmerte Komponente transportieren, ohne dabei albern zu sein. Eine Fähigkeit, die auch Jonathan Richman famos umsetzen konnte. Ein treffender Beleg für diese Fusions-Leistung ist "Going Home To A Party". Der Track versprüht eine fröhliche Ausgelassenheit, ist aber gleichzeitig raffiniert-vertrackt aufgebaut, so dass der vergnügte Optimismus nicht in dumpfe Albernheit umschlägt. Diese Balance muss man erst einmal hinbekommen!

    Der monoton vorwärts peitschende Rhythmus, der schnoddrige Gesang und die lebhaften Gitarren können nicht darüber hinwegtäuschen, dass "Casino" einen ernsten, problembehafteten Inhalt transportiert. Der Protagonist ist verzweifelt: "Ich brauche die Welt, viel mehr als irgendjemand mich in ihr braucht", gibt er zu Protokoll. Wie kommt er darauf? "Ich bin in einem leeren, dunklen Casino verschwunden. Ich verspielte alles...Und niemand weiß, dass ich immer noch pleite bin und Versprechen breche", gibt er zu und erzählt näselnd, wie leicht angetrunken, von seiner Seelenqual. Die Musik fungiert dazu als zweckoptimistischer Halt und erfüllt diese Funktion ausgezeichnet.
    Wenn das kein Liebesbeweis ist! Den Goldschatz, der im "Dream House" versteckt ist, würde der Verehrer für eine Umarmung seiner Liebsten eintauschen. Die genüsslich ausschweifend arrangierte Ballade wartet mit einem Stimmungsbild auf, das genauso berauschend wie berührend ist.

    Der Gesang und der Ablauf von "Our Story" klingt, als ob eine Fusion aus Lou Reed und Bob Dylan angestrebt werden sollte. Aber soll es eine Hommage oder eine witzig gemeinte Parodie sein, das ist hier die Frage. Musikalisch handelt es sich um einen hypnotischen Folk-Pop mit Hang zu oft wiederkehrenden Abläufen.

    "Swooning" hört sich gar nicht nach Ohnmacht, sondern eher nach Ekstase an. Vielleicht ist die Ekstase in diesem Fall die Vorstufe zum Zusammenbruch. Der Track macht jedenfalls ordentlich Tempo und verarbeitet knackige Rockabilly-, tanzbare Disco- und stoische New Wave-Takte (einschließlich fiepsender Billig-Synthesizer-Töne), so dass ein stürmisch-rockender Cocktail entsteht.

    "Keep It Cool, Steve" ist ähnlich flott wie "Swooning" unterwegs und wirkt fast schon hektisch. Klackende, klatschende und stampfende Rhythmen treiben das Stück an und bei aller dadurch verursachten Nervosität versucht die Stimme lässig zu bleiben. Es wird ein akustisches Roadmovie abgebildet, bei dem zwei Männer auf der Flucht sind. Geschwindigkeit, Adrenalin und gespielte Coolness sind dabei die Hauptzutaten. Das schwül-erotische "All Night Long" wurde betont öde, gleichförmig und minimalistisch gestaltet und besteht nur aus der Zeile "All Night Long".

    Welch schöne Vorstellung, die in "Dream Big" geäußert wird: "Was wäre, wenn jeder die gleichen Träume hätte. Jede Nacht und wir könnten sie am Morgen besprechen." Vielleicht würde diese Übereinstimmung die Menschen näher zusammenbringen, sowie Hass und Streit verringern. Es gäbe dann schließlich eine Wahrnehmung, die uns alle verbindet. Eine Utopie, natürlich. Aber eben auch ein reizvoller Gedanke. In diesem exotischen Pop-Sound spielt eine Gitarre, die an den schwirrenden Sound von Hawaii angelehnt ist und deshalb Leichtigkeit vermittelt, eine Hauptrolle.

    In "I Wanna Be Your Basketball" befinden sich Bestandteile vom sonnigen kalifornischen Pop und von scharfer New Wave, was zu einem frischem, aber auch gefühlvollen Sound führt. Der Song hält stur und hartnäckig seinen impulsiven Takt, bemüht sich aber gleichzeitig um einen angenehmen Ablauf. Es lebe der bereichernde Kontrast!

    Man stelle sich folgende Situation vor: Jack Johnson und Damon Albarn (Blur, The Good, The Bad & The Queen, Gorillaz) schreiben gemeinsam Songs. Entspannt-sonniger Folk träfe dann eventuell auf raffiniert getakteten Afro-Pop. So in etwa hören sich nämlich "Take Me Away" und "You’re Changing" an.

    Minimal-Art-Bubblegum-Pop ist ein Etikett, das auf "Sweet As A Rose" passt. Ein gleichartiger Rhythmus und eine gefällige Melodie finden hier nämlich munter zueinander. Die Auftragskompositionen für "Dream House" ergeben ein Album, das von der positiven Ausstrahlung ihres Schöpfers lebt. Fast alle Lieder verfügen über eine erfrischende, zuversichtlich gestimmte Basis, über die JW Francis seine gesanglichen Beiträge ausbreitet, die melancholisch, fröhlich oder nüchtern-sachlich ausgerichtet sein können. Dieses Zusammenspiel erfolgt nahtlos, ohne Brüche oder unstimmige Verrenkungen. Es kommt auf erstaunliche Weise im richtigen Verhältnis zueinander, was zusammengehören soll. Den Kitt dafür bilden die soliden, am kultivierten Pop geschulten Kompositionen, bei denen in der Regel zuerst die Musik und dann erst der Text vorhanden ist. JW Francis, der seine Musik als "lofi jangle dream slacker bedroom pop" bezeichnet, ist ein kundiger Musiker mit einem untrüglichen Gespür für Songs, die sowohl originell wie auch gefällig sind. Und das ist eine schwierige Gratwanderung.
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    Shifting Frank Popp
    Shifting (LP)
    27.01.2023
    Klang:
    5 von 5
    Musik:
    5 von 5

    Endlich gibt es neue Retro-Sounds des Frank Popp Ensembles!

    Hört man die bisher veröffentlichten drei Alben vom Frank Popp Ensemble, so kann man kaum glauben, dass die musikalischen Wurzeln des Ensemble-Chefs beim Hardcore-Metal und Punk liegen. Wo sich doch der Output des Projektes eher am Northern Soul und 60`s-Pop orientiert, sehr melodisch ist und mitreißende Refrains enthält. Die Werke "Ride On" von 2001 und "Touch And Go" aus 2005 legen ihre Schwerpunkte auf tanzbaren Soul, R&B, Bossa Nova, Jazz, Funk, Rockabilly und Space-Age-Pop. "Receiver", das erstmals 2009 erschien, lässt überwiegend eine schwungvolle Rhythmus-Fraktion und treibende E-Gitarren sprechen, liegt stilistisch also eher im rockenden Power-Pop-Bereich. Das sind allerdings nur auf den ersten Blick sich ausschließende Gegenentwürfe zum ungestümen, aggressiven, provokanten Heavy Metal und Punk.

    Eine mutige, kontrastreiche Vielfalt zeigt sich auch bei den weiteren Tätigkeiten von Frank Popp, denn er war zudem auch als DJ, Grafik-Designer und Konzert-Promoter aktiv. Diese bunte Interessenlage wirft die Frage auf, welches die drei absoluten Lieblingsalben von Frank Popp sind und welche Musik aktuell im Laufe des Tages und abends, wenn Entspannung angesagt ist, bei ihm läuft: "Auweia, das ist so unglaublich schwer. Zu meinen absoluten Lieblings-Alben gehören "Man-Made" von Teenage Fanclub, "It's A Shame About Ray" von den Lemonheads und "Static Age" der Misfits. Ich könnte dir aber wahrscheinlich 963479 mal die Frage anders beantworten. Zur Entspannung höre ich die Byrds, Turin Brakes "The Optimist LP", Bohren & Der Club Of Gore, Jimi Hendrix oder Mojave 3 "Excuses For Travellers".

    2021 wurde Frank Popps musikalische Abenteuerlust für das "Under Covers"-Album von vielen Freunden des Ensembles aufgegriffen, was teilweise zu sehr eigenwilligen Interpretationen seiner Songs führte. In einem Interview, das LOST & FOUND: MUSIK OHNE GRENZEN schriftlich mit Frank Popp führte und dessen Inhalte diese Rezension erhellend bereichern, bestätigt der Künstler, dass "Under Covers" die Initialzündung zum Comeback war: "In der Tat hat die Arbeit an "Under Covers" zum finalen Motivations-Schuss beigetragen. Das Gefühl, nach langer Zeit wieder eine Platte zu veröffentlichen, hat mich Ende 2021 dann endlich dazu bewegt, es anzupacken". Gab es denn vor den Arbeiten für "Shifting" schon Aktivitäten, die zu fertigen Songs führten: "Nein, ich bin Anfang 2009 nach Berlin gezogen und hatte dann erstmal kein Interesse, eigene Musik zu komponieren. Ich habe mich stattdessen intensiv mit meiner neuen Heimat auseinandergesetzt und sie kennengelernt, bin extrem vielen neuen Menschen begegnet und habe dann mit beziehungsweise für andere Künstler gearbeitet, junge Bands aufgenommen und produziert. In dieser Zeit sind aber auch Songskizzen bei Sessions entstanden die sich nun auf "Shifting" finden. Die meisten Songs sind aber im Januar 2022 entstanden".

    Das neue Werk "Shifting" hält 15 neue Lieder bereit, die sich nahtlos in den bisherigen Frank-Popp-Ensemble-Sound-Kosmos einfügen. In der Besetzungsliste tauchen bekannte Namen, wie der der Sängerin Sam Leigh-Brown auf, die dem Ensemble schon von Anfang an angehört, aber es finden sich auch neu integrierte Musiker darunter. Wie zum Beispiel Jesper Munk, der in seiner relativ jungen Karriere schon eine beachtliche Wandlung vollzogen hat. Von ruppigen Blues-Nummern ("Courage For Love", 2015) bis zu elegant arrangierten Pop-Balladen ("Happy When I`m Blue", 2018) war es für ihn nur ein kleiner Schritt. Andere Künstler bekommen solch eine Grätsche oft nicht überzeugend hin, bei ihm ist die Metamorphose aber schlüssig gelungen.

    Auf "Shifting" ist er mit vier Beiträgen als Sänger und/oder Texter vertreten. "Jesper habe ich im Berliner Club "Urban Spree" kennengelernt, wo ich seit vielen Jahren aktiv bin, und wusste zuerst nicht, dass er Musik macht. Als ich einen Post seiner Band PDOA sah, in dem erwähnt wurde, dass er schon lange eigene Musik veröffentlicht, kam ich auf seine soulig/bluesigen Aufnahmen und war sofort hysterisch begeistert, da ich schon lange mal mit einer männlichen Stimme etwas machen wollte. Ich hab ihn gefragt und er kam dann Anfang Februar nach Spanien zur Session", erzählt Frank Popp über den Beginn der Zusammenarbeit.

    Beim mild groovenden, durch allerlei Tonspuren vollmundig und reichhaltig ausgestattete Adult-Sixties-Pop "Out Of Town" wird der ehemals raue, kantige Blues-Rocker Jesper Munk zum gefühlvollen Crooner. "Torn Up" bietet schnell getakteten Motown-Soul an, den Jesper als Shouter mit energischer Dynamik unwiderstehlich für den Tanzboden aufbereitet.

    Der zackige Rhythm & Blues "Born To Lose" ist ganz schön hitzig, transportiert aber auch schwelgende Momente. Das verschafft Herrn Munk die Möglichkeit, gesangliche Varianten einzubauen: Die scheinbar von Sandpapier aufgerauten, also grundsätzlich auf Krawall gebürsteten Stimmbänder bemühen sich um Harmonie, was zu einer interessanten Zwitterlösung führt. Und so erläutert Frank die inhaltliche Botschaft des Songs: "Der Text bezieht sich auf absurde Szenerien und Bewegungen während der Coronakrise und in der ersten Strophe wird eigentlich klar, wer angesprochen wird: "FALSE HEROES IN UNIFORMS, STRANGE FOLKS OUTTA THEIR MINDS. MY WORLD IS EASY WITHOUT YOU". Es wird hier keine einzelne Person, geschweige denn Ex-Geliebte erwähnt. Der Song ist eher politisch, wenn man so will. ;)“. Enttäuschung und Wut, aber auch die Bemühung, Beherrschung zu bewahren, sind gesanglich allgegenwärtig. Anders geht es bei "Your Heroes" zu: Der mit satt knackigen Surf-Riffs und klatschenden Rhythmen ausgestattete, balladeske Psychedelic-Folk verwendet zu Beginn eine E-Piano-Sequenz, die an "Riders On The Storm" der Doors erinnert. Die Stimme sendet zudem dunkel-mysteriöse Signale aus, die den Song psychopathisch erscheinen lassen.

    Die Sängerin Anna Glahn ist dreimal prominent vertreten. So verleiht sie dem cool swingenden Chanson "See It Coming" zugleich Würde und Eleganz. Daneben stellt sie ihre Vielseitigkeit noch mit dem geschmeidigen, gepflegten Soul-Pop "Sad But True" und dem von gutgelaunten Keyboards und Bläsern getragenen Disco-Sound von "Dragonaut" unter Beweis.
    Lucy Kruger & The Lost Boys ist ein Art-Pop-Noise-Projekt aus Berlin. Deren in Südafrika geborene Frontfrau macht aus "Drifting" eine sinnlich-erotische Versuchung mit romantisch vernebelten und mysteriös rauschenden Mellotron-Schwaden, die klingen, als wären sie von "Nights In White Satin" der Moody Blues geborgt worden.

    "Veil" ist eine von Weltmusik und "Velvet Underground & Nico" inspirierte Psychedelic-Jazz-Nummer, die zusätzlich mit Space-Sounds und der verführerischen Stimme von Lucy Kruger angereichert wurde. Ein zugleich anziehendes wie ideenreiches Vergnügen.

    Aydo Abay, der Gründer der Alternative-Rock-Bands Blackmail und Glen hatte für "Under Covers" zusammen mit Frank Popp (unter dem Pseudonym Maria Ghoerls) eine Gothik-Wave-Version von "Leave Me Alone" im Stil der Sisters Of Mercy entwickelt. Bei "Sweet Remedy", einem drängenden, lebhaften Funk-Pop, kommt die lieblich-freundliche Stimme von Aydo Abay sehr gut zur Geltung, was ihn als attraktiven, genüsslich agierenden Herzensbrecher ausweist. Den sowohl melancholisch geprägten, wie auch schwungvollen und sauber strukturierten Acid-Folk-Jazz "Vertigo" überzieht der sympathische Sänger mit einem zuckerfreien, klaren Schmelz.

    Die bewährte, flexible gesangliche Begleitung von Sam Leigh-Brown kommt bei der federnden Funk-Pop-Cover-Version des ursprünglich anklagenden, aber optimistisch geprägten und von beschwichtigenden Streichern umsäumten Bobby "Blue" Bland-Protest-Songs "Ain` t No Love In The Heart Of The City" von 1974 sowie bei der dunklen, langsamen Breitwand-Pop-Hymne "Under The Sea" wirkungsvoll wie eh und je zur Geltung.

    Mit "Pierdete" (was so viel wie "hau ab" auf Spanisch heißt) gibt es dann noch ein Lied mit lebhaften brasilianischen Rhythmen. Wie auch bei anderen Liedern auf "Shifting", schlummern unter der positiv gestimmten Oberfläche nachdenkliche Inhalte. Es geht hier um die Befreiung aus einer toxischen Beziehung. Mit Hilfe von Schlagwörtern und deren persönliche Einschätzung (wie zum Beispiel: "Schmerz - Bleib weg von mir. Freude - Besser für mich.") werden die bisherigen Probleme den zukünftigen Erwartungen gegenübergestellt. Dann ist da noch "Save Me Saturday" mit der Gast-Sängerin Kat Ott (von 24/7 Diva Heaven): Ein rockender Disco-Pop, der stilistisch auch auf "Receiver" gepasst hätte, aber im aktuellen Kontext aufgrund seiner störrischen Robustheit wie ein kleiner, vielleicht bewusst gesetzter Stachel wirkt.

    So unterschiedlich die Entwürfe auch sein mögen, ein Faktor vereint alle Tracks: Das ist ein nützlicher und effektiver Groove. Er treibt bei einigen Stücken die Leute auf die Tanzfläche und verhindert bei den ruhigeren, introvertiert veranlagten Tracks, dass sie in Tristesse versinken.

    Willkommen zurück, Frank Popp Ensemble! Mit "Shifting" ist ein Comeback gelungen, das alle Fans da abholt, wo "Touch And Go" 2005 aufhörte. Es gibt also frisches, qualitativ hochwertiges Futter für alle Mod-Jünger, Groove-Pop-Begeisterten und Liebhaber von Vintage-Sounds. In diesem Zusammenhang darf auch eine Renaissance des Mellotrons gefeiert werden. Dieses Anfang der 1950er Jahre entwickelte Tasteninstrument kommt mehrfach zum Einsatz und sorgt mit seinen flauschigen Schwebe-Tönen für Wohlbehagen.

    Wie muss man sich eigentlich die Aufnahmesituation für "Shifting" vorstellen? Frank Popp klärt im Interview dazu auf: "Die Instrumentals haben nur Jascha Kreft und ich im Januar 2022 geschrieben und aufgenommen. Diese haben wir dann den SängerInnen zugeschickt. Im Februar kamen sie nacheinander (nach Spanien. Anmerkung der Redaktion) angereist, um Gesang und Texte zu schreiben und aufzunehmen".

    "Shifting" vereint mühelos anspruchsvoll ausgestaltete Pop-Musik mit teilweise ernsten Themen, als wäre es das einfachste der Welt. Nichts klingt verkrampft, alles fließt organisch. Dieser Fakt zeichnete das Frank Popp Ensemble schon immer aus und es ist toll, dass dieses Qualitätsmerkmal noch Bestand hat - als wäre die Zeit stehengeblieben.

    Es ist hinsichtlich der musikalischen Entwicklung des umtriebigen, kreativen Frank Popp noch einiges möglich, aber kann er sich auch vorstellen, deutsche Texte zu verwenden: "Nein. Ich bin selbst kein großer Fan deutschsprachiger Musik. Sicher gibt es Ausnahmen und geniale Werke, z.B. von Hammerhead, den frühen Blumfeld oder Ton Steine Scherben, jedoch habe ich immer schon englischsprachige Musik bevorzugt, so eben auch bei meiner eigenen Musik. Allein schon wegen der britischen Fans ;)". Sind im Rahmen der "Shifting"-Veröffentlichung denn Konzerte oder andere mediale Auftritte (z.B. TV, Internet) geplant: "Es wird um das Release-Date einiges an Interviews und Events geben, aber mit Live-Auftritten in Form einer Band habe ich abgeschlossen. Das ist nichts für mich".
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    Mercy (CD)
    23.01.2023
    Klang:
    5 von 5
    Musik:
    5 von 5

    Ein gütiges Schicksal ist eine Gnade: John Cale meldet sich mit atmosphärisch starken, dunklen, inspirierenden neuen Songs zurück.

    Es ist schon eine kleine Sensation, dass sich John Cale wieder musikalisch zu Wort meldet. Sein letztes akustisches Lebenszeichen mit neuen Songs erschien schließlich bereits 2012 ("Shifty Adventures In Nookie Wood"). Der legendäre Musiker, der sein Handwerk unter anderem bei den Minimal-Art-Künstlern John Cage und LaMonte Young lernte und mit The Velvet Underground Kultstatus erlangte, wurde schließlich im letzten Jahr bereits 80 Jahre alt - da sind andere Künstler längst im Ruhestand.

    "Mercy" erscheint am 20. Januar 2023 und setzt stimmungsmäßig in etwa da an, wo "M:FANS" - die elektronische Aufbereitung des Albums "Music For A New Society" - im Jahr 2016 aufgehört hat, ist aber milder und weniger aggressiv ausgerichtet. Von den zwölf neuen Songs kommen nur drei ohne den Einsatz von Synthesizern aus. Die Maschinen sorgen grundsätzlich für ein dunkles, geheimnisvolles sowie rauschhaft-künstlerisches Fundament und John Cale bringt seine erzählerisch markante, sonor und weise klingende Stimme in Ergänzung dazu nicht nur als Transportmittel für Texte, sondern auch als Sound-färbendes Element ein. Zahlreiche Gäste sorgen unterdessen für individuelle Klangfärbungen.

    Für den Song "Mercy" trägt die Musikerin Laurel Halo mit ihrem Keyboard-Equipment einiges zu der sakralen Stimmung bei. Die weichen Synthesizer-Wolken mit Echo-Effekt, die entfernt an "I`m Not In Love" von 10cc erinnern, sollten jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass man es mit einer ernsthaften, wehmütig-schmerzhaften Ballade zu tun hat. Die sieben Minuten Laufzeit sind von langsam klopfenden Rhythmen erfüllt, die sich den Klangraum mit introvertiert sirrenden Tönen teilen, zu denen sich Cale flehend im Vordergrund und leicht verfremdet aus dem Hintergrund zu Wort meldet. So entsteht ein intimer und verträumter Electro-Gospel. Im Text sind eindeutige Bezüge zum Ukraine-Krieg auszumachen ("Wölfe bereiten sich vor. Sie werden mehr Waffen kaufen. Im Schnee und Matsch herumrollen. Lichter explodieren über ihnen."). Aber es gibt auch generelle Empfehlungen, doch Zorn durch Barmherzigkeit zu ersetzen.

    Die Rolle des Sound-Designer-Partners übernimmt für "Marilyn Monroe`s Legs (Beauty Elsewhere)" der englische Electronic-Künstler Actress. Erneut gibt es sieben Minuten Laufzeit, die experimentell, sprunghaft-unausgeglichen und mit Effekten gespickt daherkommen. Trotzdem verliert der Song nicht vollends seine Strukturen, sondern ringt stets darum, eine Melodielinie aufzubauen, was aber an üblichen Hit-Gesichtspunkten gemessen nicht gelingt.

    Akustische Instrumente wie Schlagzeug und jede Menge Streichinstrumente runden die vordergründig von technischen Geräten erzeugten Töne bei "Noise Of You" polternd und aufbrausend ab. Die Keyboards wallen, schwingen und säuseln, so dass sich eine Bündelung aus stimulierenden und beruhigenden Klängen ergibt. Es geht inhaltlich um die Spuren, die eine geliebte, verstorbene Person hinterlässt. Auch wenn sie gegangen ist, hallen die von ihr erzeugten Stimmungen, die sich eingeprägt haben, lange nach.

    "Story Of Blood" ist unter gesanglicher Beteiligung der von Cale sehr geschätzten Musikerin Weyes Blood entstanden. Ein einsam-trauriges Bar-Piano leitet den Song ein, zirpende Geräusche begleiten die nächtlich geprägte Atmosphäre. Das dauert so lange, bis mächtige Bass-Beats und fiepende Synthesizer die Luft zerreißen. John klingt zunächst, als ob er aus einem Exil heraus heimlich seine Botschaften verkündet. Diese Wahrnehmung ändert sich langsam in Richtung eines luxuriös ausgestatteten, gefühlvollen, die Sinne betörenden Broadway-Musicals, ohne dass dabei die künstliche rhythmische Basis außer Acht gelassen wird. Der Reiz liegt bei diesem und einigen anderen Songs im Kontrast zwischen schmeichelnder Tonalität und angedeuteter Zersetzung.

    Das amerikanische Synthie-Pop-Duo Sylvan Esso unterstützt bei "Time Stands Still" mit einer feinen femininen Background-Stimme und einer allerdings nicht wahrnehmbaren akustischen Gitarre. Im Kern handelt es sich hier um einen wohlklingenden, in sich gekehrten Pop-Song, der ohne die vorherrschenden elektronischen Beigaben auch gut auf das Meisterwerk "Paris 1919" von 1973 gepasst hätte.

    "Moonstruck (Nico’s Song)" ist eine Erinnerung an die Andy Warhol-Muse Nico, die als Schauspielerin, Model und Sängerin tätig war. Mit ihren unterkühlt-schattigen, morbide-erotischen Gesangsbeiträgen zum ersten The Velvet Underground-Album und (mindestens) mit ihren ersten vier tottraurigen Solo-Alben machte sie sich unsterblich. "Moonstruck (Nico’s Song)" wird zunächst sanft von energischer Ernsthaftigkeit getragen: Entschieden auftretende Streicher treiben das Stück vorwärts, bevor am Horizont brummende Töne auftauchen, die eine poetische Wendung einläuten. Cale singt lieblich, beinahe verzückt, wie lange nicht mehr. Die raumfüllenden Instrumente erzeugen dazu passend eine märchenhaft-undurchsichtige Aura, die zum Beispiel zu "Alice im Wunderland" passen würde.

    Für "Everlasting Days" konnte als Verstärkung das experimentelle Pop-Quintett Animal Collective gewonnen werden, welches eigentümliche Solo- und verstörend-verstärkende Chor-Gesänge sowie munter schäumende und meditative Synthesizer-Linien beisteuert. Der Track hat eine psycho-aktive Wirkung und taumelt zwischen präziser Pflichterfüllung und unbekümmerter Arglosigkeit hin und her.

    "Night Crawling" groovt trocken-detailliert und lässt auf diese Weise Licht und Luft in die ansonsten etwas unscharfe Komposition eindringen. So entsteht ein komprimierter Funk-Begriff, wie er auch manchmal von den Talking Heads oder Joan As Police Woman erzeugt wurde. Die in Los Angeles lebende HipHop-Produzentin TOKiMONSTA ist bei dem verängstigten "Not The End Of The World" für die exotischen Effekte zuständig, die nie überladen oder fehl am Platze wirken. Bei dem teils elegant fließenden, teils fromm verweilenden Track verbreiten sie ein Glitzern und Funkeln im Dunkeln.

    Die englische Post-Punk-Band Fat White Family gastiert für "The Legal Status Of Ice" als Gesangsverstärkung. Der Song fällt durch seinen beschwörenden, Mantra-mäßigen Gesang und Trommeln, die von indigenen Völkern zu stammen scheinen, auf. Durch dieses Konstrukt erhält das Ganze einen ursprünglichen, spirituellen Anstrich.

    Die in Argentinien geborene Sängerin Valerie Teicher, die mit Künstlernamen Tei Shi heißt, begleitet Cale bei "I Know You`re Happy" sehr dezent. Erst gegen Ende des Tracks ist sie manchmal deutlicher zu vernehmen. Die ruhige Pop-Nummer zeigt sich relativ gelöst, hinterlässt aber aufgrund ihres bescheidenen Ausdrucks einen unspektakulären Eindruck, der erst nach ein paar Hördurchgängen seinen Ohrwurm-Charakter offenbart.

    Das hell gespielte Stakkato-Piano fungiert beim abschließenden "Out Your Window" als Leuchtfeuer, um vor den unheilschwangeren Chorstimmen und Streichern zu warnen, die wellenartig am Gerüst des Songs zerren. Das führt zu einem intensiven, lebendig-beweglichen Höreindruck.

    "Mercy" bedeutet Barmherzigkeit, Erbarmen oder Gnade. Gnade beinhaltet nicht nur Wohlwollen, sondern drückt auch ein gütiges Schicksal aus. Dies kann John Cale mit seinem Leben verbinden und dieser Umstand hat ihn vielleicht zum Titel seines neuen Werkes angeregt. Der dargebotene Art-Pop ist anspruchsvoll, aber nicht kompliziert. Es gibt zwar mehr Moll- als Dur-Töne, aber die Stimmung ist auch aufgrund des souveränen Gesangs nicht depressiv. Sämtliche Gäste auf "Mercy" zeigen Zurückhaltung und Respekt gegenüber der Legende, die nicht nur singt, sondern auch Keyboards, Synthesizer, Gitarre, Bass und Schlagzeug spielt. "Mercy" zeigt die ganze Klasse von John Cale und gehört innerhalb seines Repertoires zu seinen überzeugendsten Alben, denn "Mercy" ist ein vollmundig und komplex klingendes, intelligent durchdachtes und strukturiertes Kunst-Werk geworden!
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    2 Kommentare
    Anonym
    26.01.2023

    John Cale Mercy

    Tolle, fundierte Beschreibung. Danke. Sind Texte dabei?
    Anonym
    26.01.2023

    Music for a new society

    Ein offenbar fundierter und möglicherweise professioneller Schreiber von Kritiken. Liebe John Cale ebenfalls, auch als Produzent (Patti Smith).
    Oben genannter Titel ist allerdings von 1982 !!! Dies nur der Ordnung halber.
    MLDE Marxist Love Disco Ensemble
    MLDE (CD)
    27.12.2022
    Klang:
    4 von 5
    Musik:
    4 von 5

    Für das Marxist Love Disco Ensemble gehören Marx & Dancefloor genauso zusammen wie Philosophie und Groove.

    Tanzbare Musik und politische Aussagen - kann das zusammenpassen? Es kann und diese Kombination ist nicht neu. In den 1980er Jahren erregten zum Beispiel Heaven 17 im Jahr 1981 mit ihrer Single "(We Don`t Need This) Fascist Groove Thang" Aufsehen, weil sich der Text kritisch mit der Haltung von Margaret Thatcher und Ronald Reagan im Hinblick auf Rassismus und Faschismus auseinandersetzt. Aufgrund dieser provokanten Aussagen wurde der Titel von der BBC verboten. "Free Nelson Mandela" von The Special AKA sorgte 1984 dafür, dass das Schicksal von Nelson Mandela einer größeren Öffentlichkeit bekannt wurde und unterstützte somit in gewisser Weise seine Freilassung. Derlei Beispiele von Protest-Songs, die Menschen zum Denken und Handeln bewegen, gibt es viele. Stellvertretend dafür seien hier die 1969er Anti-Vietnam-Kriegs-Hymne "War" von Edwin Starr, "Ohio" von Crosby, Stills, Nash & Young, das die 1970 blutig niedergeschlagenen Studentenunruhen mit vier Toten anprangert, "Inner City Blues (Make Me Wanna Holler)" von Marvin Gaye, wo es um Armut geht, sowie "American Idiot" von Green Day, bei dem die üble Rolle der Massenmedien während des Irak-Kriegs im Jahr 2004 angesprochen wird, genannt.

    Der Gründer des Marxist Love Disco Ensemble, der Percussion-Spieler und Komponist Paolo Volkov aus Bologna, hat noch einen etwas anderen Ansatz, denn er schrieb "MLDE" als Antwort auf "I Love America" von Patrick Juvet. "Der Song warf die Frage auf: Warum wird Disco, ein Genre, das ursprünglich von unterdrückten Minderheiten geschaffen wurde, schließlich zum Synonym für westlichen kapitalistischen Exzess?", erklärt Paolo Volkov die Motivation hinter seiner Idee, die dekadente Verbindung auflösen und dafür humanistische Ansätze einbringen zu wollen. Entsprechend undogmatisch und verspielt geht er mit dem Erbe der Disco-Kultur um.

    "Dust" wird in einen Klangteppich gehüllt, der psychedelischen Space-Age-Pop, schmissige Easy-Listening-Töne und gut gelaunte, bunte Carnaby-Street-Sixties-Vibes zu einem Gefühl der unbeschwerten Lebensfreude und Dauer-Party-Stimmung erheben.

    Musikalisch ist "Brumaire" ein Konglomerat aus reifem, bedächtigen Lead-Gesang und rhythmisch aktivem Pop, wie er in den 1980er Jahren zum Beispiel von ABC aufgelegt wurde und heute noch von Belle & Sebastian praktiziert wird. Das Lied nimmt direkten Bezug auf Aussagen von Karl Marx, der die rückwärts orientierte Politik von Napoleon untersuchte.

    "MLDE" soll von osteuropäischen und mediterranen Disco-Platten der 1970er Jahre beeinflusst worden sein, wovon das kitschige, von Billig-Synthesizer-Schwingungen durchzogene und mit Minimal-Art-Mustern versehene "Material" zeugt. Dass der Titel nicht in seichten Wohlklang abdriftet, dafür sorgen die versierten Jazz-Musiker des Ensembles, die den gediegenen Sound stets niveauvoll verfeinern und für eine kunstvolle Gestaltung sorgen. Was sich zunächst einfach anhören mag, wurde jedoch im Grunde genommen komplex zusammengesetzt.

    "Manifesto" blubbert, klopft, schwirrt und surrt, dass es eine belebende rhythmische Freude ist. Eine erotische weibliche Gaststimme verbreitet Sinnlichkeit, während im Kontrast dazu eine nüchterne Beamtenstimme stumpf die Parole "Disco Socialista" verkündet.

    Der Text von "1905" bezieht sich auf die Russische Revolution, dennoch ist die Musik nicht aggressiv oder wütend, sondern strahlt Güte, Freundlichkeit und Zuversicht aus. Paolo Volkov zeigt sich unberechenbar, was die konträre Stimmungslage zwischen dem problematischen textlichen Inhalt und der zuversichtlichen Musik angeht. Das macht den besonderen Reiz des Albums aus.

    "Die Menschheit wurde für die Gier verpfändet, eingekerkert von kriegerischen Mehrwertdieben. Vertreibe die Götter vom Himmel und du wirst feststellen, dass uns dann die Freiheit winkt", heißt es schon beinahe aufrührerisch in "Hues Of Red". Dazu erscheinen galante Disco-Funk-Töne, die so gar nicht den Anschein erwecken, als würden sie eine Revolution anstreben. Mimikri nennt man das in der Biologie: Die Kunst der Täuschung, die zum Schutz oder zum Anlocken genutzt wird.

    "Hide And Seek" ist voll von agitatorischen Parolen wie "Chauvinisten und Hoffnungslose ernähren sich von der Unzufriedenheit". Beinahe albern wirkt dagegen der begleitende knallbunte Pop, der auf die lustige Wirkung von quietschenden Billig-Synthesizern, gepflegten New Romantics-Chic und süße Harmonien setzt. Diese verspielte Naivität kommt auch dem Soundverständnis von Carsten "Erobique" Meyer ("Tatortreiniger") nahe, wo aufreizende Fröhlichkeit auf virtuose Musikalität trifft.

    Die physischen Tonträger von "MLDE" enden mit dem eifrigen, unausgeglichenen "Engineers", bei dem sich der weibliche Gesang manchmal absichtlich etwas neben der Spur anhört. Der sexuell aufgeladene Disco-Boogie wirkt angestrengt, während der Duett-Gesang schleppend hinterher hinkt. Gegensätze ziehen sich auch hier an.

    Der nur digital verfügbare, kurze Bonus-Track "Communique" ist ein fragmentarisches Experimentalstück mit Space-Sound-Elementen, stilisierter Volksmusik und jammernden Synthesizer-Tönen. Der zweite Zusatz-Titel "Recapitulate" macht seinem Namen Ehre, da er einige Motive des Albums aufgreift, neu strukturiert und zu einem Medley aus grade erlebten Eindrücken zusammenfügt.

    Wer sich noch an die "Mutant Disco"-Zusammenstellung des New Yorker ZE-Labels aus dem Jahr 1981 erinnert, die Künstler wie Kid Creole & The Coconuts (die mit "Stool Pigeon" 1982 ihren größten Hit hatten), Was (Not Was) (die Band vom Produzenten Don Was), Cristina (Monet) oder Material (der Hammer: "Bustin` Out" mit der stimmgewaltigen Nona Hendryx von Labelle) hervorbrachte, der wird sympathische Parallelen zu dem Marxist Love Disco Ensemble feststellen. Fans von Stereolab, dem Mild High Club oder den High Llamas werden sich hier sowieso wohlfühlen.

    "MLDE" besitzt bei aller Eingängigkeit und vermeintlicher Anpassung an gängige Sounds genügend Substanz, um schwindelerregende Assoziationen loszutreten. Gute Musik besteht eben immer auch sowohl aus körperlich wie auch aus geistig anregenden Tönen. Und zu diesem Prozess trägt das Marxist Love Disco Ensemble einige Impulse bei.
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    Reflections Reflections (CD)
    27.12.2022
    Klang:
    4 von 5
    Musik:
    4 von 5

    "Reflections" zeigt, welche Strahlkraft eine Harfe besitzen kann, wenn sie eine Könnerin bedient und das sie begleitende Ensemble geschmackvoll arrangiert wird.

    Bei aller Eigenständigkeit und Kreativität kann die in London lebende ukrainische Harfenistin Alina Bzhezhinska ihre Verehrung für die Kolleginnen Dorothy Ashby und Alice Coltrane (die ex-Frau des Saxophonisten John Coltrane) nicht leugnen. Kunststück, so viele prägende Harfenistinnen gibt es ja auch gar nicht im Jazz. Und damit ist auch schon die grobe Stilrichtung von "Reflections" vorgegeben: Spirituell verspielter und intellektuell groovender Jazz, der genauso von einer festen Struktur wie von lebendiger Improvisation lebt.

    Die glitzernd perlenden, rauschend wehenden und klingelnd hellen Töne der Harfe prägen selbstverständlich das gesamte Klangbild, lassen aber auch Raum für andere Sound-bildende Instrumentalisten. So trägt beim Eröffnungstrack "Soul Vibrations" (der ursprünglich 1968 von Dorothy Ashby aufgenommen wurde) eine Rumpfbesetzung des HipHarpCollective - nämlich Michele Montolli (Bass), Joel Prime (Percussion), Adam Teixeira (Schlagzeug) und Ying Xue (Geige & Viola) - entscheidend zum schwelgend-sehnsüchtigen und romantisierend-exotischen Stimmungsbild bei. Parallel dazu wird das Stück von einem grummelnden, karibisch anmutenden Funk-Groove bei Laune gehalten.

    Kurzzeitig produziert der Bass zu Anfang von "For Carrol" unheimlich erscheinende menschliche Klagelaute, bevor Jay Phelps seiner moderat angeblasenen Trompete eine traurige Melodie entlockt, die sich zeitnah aus ihren melancholischen Fesseln befreit und durchaus ein unbequemes Eigenleben führt. Der Rhythmus swingt unterdessen wie ein frisch geöltes Uhrwerk, während die Harfe und der Bass geordnete, kommunikative Improvisationen anstimmen.

    "Fire" ist eine gemeinschaftliche Komposition des Saxophonisten Joe Henderson mit Alice Coltrane. Sie ist im Original auf Hendersons Album "The Elements" von 1974 zu finden. Den Saxofon-Part führt hier der Brite Tony Kofi aus und er interpretiert seine Rolle genauso wie es Joe Henderson tat: Als Aufrührer und als melodischer Verstärker. Entsprechend taumelt das Stück zwischen leichtfüßiger brasilianischer Lebensart, verspielter Improvisation und aggressiv-wildem Krawall hin und her. Das Samba-Percussion-Solo gegen Ende ist dabei etwas zu lang geraten, was zu Lasten der ansonsten geschlossenen Kompaktheit geht.

    Das Stück "Reflections" geht da ganz andere Wege: Auf gefühlvoll-malerische Weise werden die klaren Töne der Harfe und die dunklen Schwingungen vom Bass zusammen mit dezenten Schlagzeug-Becken-Klängen in einem durchgängig langsamen, ruhigen Erzähltempo nebeneinander und miteinander aufgestellt.

    Der kubanische Musiker und Bandleader Mongo Santamaria ist für seinen mitreißenden, perkussiv geprägten afro-kubanischen Sound bekannt, mit dem er unter anderem Herbie Hancock ("Watermelon Man") und Carlos Santana beeinflusste. Santamarias "Afro Blue" aus 1959 wurde unter anderem von John Coltrane, Abbey Lincoln und Lizz Wright aufgenommen und ist auf "Reflections" in der Gesangsversion zu finden. Die Jazz-Sängerin Vimala Rowe, die ansonsten gerne das Werk von Ella Fitzgerald oder Billie Holiday interpretiert, leiht dem weltmusikalisch gefärbten, vorsichtig forschenden Jazz-Track ihre sanfte, soulig-ergreifende Stimme, die in ihrer überlegt-inspirierenden Art an Julie Tippetts erinnert.

    John Coltrane gilt zu Recht als einer der einflussreichsten Saxophonisten des Jazz. Sein musikalischer Weg führte ihn sowohl in lyrische wie auch in experimentelle Bereiche. "Alabama" spielte er 1963 als Reaktion auf einen Bombenanschlag des Ku-Klux-Klan in einer Kirche ein, bei dem vier Afro-Amerikaner getötet wurden. Das Stück ist von Trauer durchzogen, zeigt aber trotz des rassistisch motivierten Hintergrunds keine Wut. Das HipHarpCollective-Mitglied Tony Kofi übernimmt bei dieser Cover-Version eine demütige, am Original angelehnte Saxophon-Position und sorgt dafür, dass der Track seine ursprüngliche gnädige Stimmung und spirituelle Kraft beibehält.

    Mit "African Flower" wird einem weiteren Giganten der Jazz-Szene Tribut gezollt: Duke Ellington schrieb die Komposition 1962 für sein Album "Money Jungle", wo ihn Charles Mingus am Bass und Max Roach am Schlagzeug begleiten. Das Stück ist im Grunde genommen eine zärtliche Ballade, was noch besser bei den Piano-Solo-Aufführungen des Duke zur Geltung kommt. Alina Bzhezhinska orientiert sich an dieser introvertierten Variante, bindet aber bei ihrer Sichtweise Solo-Aktivitäten von Harfe und Saxophon mit ein.

    Die Instrumentalversion der Eigenkomposition "Paris Sur Le Toit" lässt es leicht und locker angehen, so dass sie sich bei aller kunstvollen Darstellung auch als unaufdringliche Hintergrundbeschallung eignet. Die Gesangs-Version des Tracks erhält durch den Rap-Beitrag von Lady Sanity und Tom They/Them im Gegensatz dazu eine sperrig-eigensinnige Ausrichtung. Bei der Komposition "Sans End" des Bassisten Michele Montolli herrscht ein melodisches, intimes Abtasten zwischen Harfe und Bass, das von rücksichtsvoller polyrhythmischer Percussion unterlegt wird.

    Neben Alice Coltrane ist Dorothy Ashby die zweite Harfenistin, die für Alina Bzhezhinska eine Vorbildfunktion hat. Sie war eine Pionierin, die bereits Ende der 1950er Jahre wirkte. Ihr "Action Line" aus 1968 ist ein Titel, der in einigen Rare-Groove-Sammlungen auftaucht und sich überraschend frisch gehalten hat. Das HipHarpCollective verändert den Good-Time-Charakter nur unwesentlich, baut die Soli aber tendenziell eher als gewollten Bruch statt als homogenes Zusammenspiel ein. Mit einer sechsminütigen "Meditation", die sphärische Momente, sowie Harfen- und Bass-Improvisationen enthält, wird das zweite Werk von Alina Bzhezhinska nach "Inspiration" aus 2018 in sich stimmig abgeschlossen.

    "Reflections" ist eine respektvolle Verbeugung vor der Lebensleistung von Dorothy Ashby und Alice Coltrane und ein aktueller Hinweis darauf, dass die Harfe zu Unrecht ein stiefmütterliches Dasein im Jazz fristet. Ihr Klang wird zwar in der Klassik geschätzt, ist aber in anderen Bereichen oft nur zur esoterischen Vernebelung oder Romantisierung von Eindrücken willkommen. Dabei kann mit ihr soviel mehr ausgedrückt werden, wie Alina Bzhezhinska anschaulich und kompetent mit ihrem HipHarpCollective beweist. "Reflections" stellt Schönheit neben Spiritualität und Experimentierfreude dar und deckt somit ein breites Ausdrucks-Spektrum ab, welches präzise auf intro- und extrovertierte Art und Weise ausgeleuchtet wird. So funktioniert zeitloser Jazz mit Geschichtsbewusstsein.
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    33, Single & Broke Teresa Bergman
    33, Single & Broke (CD)
    03.12.2022
    Klang:
    4 von 5
    Musik:
    4 von 5

    Aus einer beklemmenden Ausnahmesituation entsteht ein kreativer Höhenflug: Teresa Bergman öffnet mit "33, Single & Broke" ein Füllhorn an ideenreichen, hochkarätigen Songs.

    Was für eine ernüchternde Bilanz. Es ist nicht unbedingt katastrophal, mit 33 Jahren noch oder wieder Single zu sein, aber es ist besorgniserregend, wenn man sich ausgelaugt, pleite, vielleicht ausgenutzt oder kaputt fühlt. Genau das ist der neuseeländischen Wahlberlinerin passiert: Die Pandemie nahm ihr die öffentliche Arbeit als Musikerin und zeitgleich musste sie eine Trennung verarbeiten - eine erschütternde Kombination.

    Statt sich jedoch in Selbstmitleid zu suhlen, wandelte Teresa Bergmann ihre Enttäuschung in kreative Energie um. Sie inszeniert sich in ironisch-lustigen Videos als eine Protagonistin, die optisch an die oft missverstandene französische Königin Marie Antoinette angelehnt ist. Für ihr drittes Album "33, Single & Broke" schlüpft dieser Charakter sozusagen in ihre Rolle, so dass die persönliche Situation der leidenschaftlichen Straßenmusikerin quasi von außen als Beobachterin auf die Songs projiziert wurde. Befindlichkeiten, der Druck aufgrund gesellschaftlicher Konventionen und intime Gefühle konnten auf diese Weise ehrlich und ungefiltert verarbeitet werden.

    Im Opener "Swallow" stellt sich Teresa Bergman der Frage, die jede Frau irgendwann einmal für sich beantworten muss: "Kann oder sollte ich das ungebundene Single-Leben gegen das der Rolle einer Ehefrau und/oder Mutter eintauschen? Wie gehe ich mit der gesellschaftlichen Erwartungshaltung um, die ein vorgefertigtes Bild davon, was eine Frau mit Anfang 30 erreicht haben sollte, als Leitlinie vorgibt? Diese zweifelnde Einschätzung wird durch die erste Textzeile verdeutlicht: "Kann ein Haus ein Zuhause sein, wenn man nicht ein Nest baut?" Die A Cappella-Einleitung schärft dabei die Aufmerksamkeit, so dass der muntere Pop-Jazz danach leichtes Spiel hat, um die Hörerschaft leichtfüßig mit der opulenten Eleganz klassischer Broadway-Musicals und gelegentlichen humorvollen Abstechern ins Arien-Fach um den Finger zu wickeln. Der umtriebige Song vereint dabei in etwa die Ausdruckskraft der Stimmen von Liza Minelli und Kate Bush in sich.

    Das am filigran verschachtelten Westcoast-Folk der endsechziger Jahre geschulte "33, Single & Broke" transformiert seine allgegenwärtige Melancholie über eine wohlig-anschmiegsame, intime Stimmung mit gelegentlichen temperamentvollen Ausflügen.

    In "So Many Men" geht es um das Dating-Verhalten von Männern: Sie prahlen, sie überschütten mit Komplimenten und Versprechungen - sie übertreiben und lügen, um ans Ziel zu kommen. Und wenn es ernst wird, sind sie wieder weg. Soweit die Erfahrungen oder Einschätzungen von Teresa alias Marie Antoinette. Ein groovender, federnd-entschlossener Latin-Jazz-Rock bildet den Soundtrack für diese Beurteilung der modernen Partnersuche, die prickelnd oder ernüchternd sein oder im besten Fall verheißungsvoll enden kann.

    Als in der griechischen Mythologie "Pandora" aus Neugier eine Büchse öffnet, die ihrem Mann zur Aufbewahrung überlassen wurde, verbreiteten sich alle möglichen Übel, die darin gefangen waren, über die Erde. So auch die Angst, der sich die Protagonistin in dieser Ballade entgegenstellt, indem sie verkündet: "Monster sind dazu da, um sich von ihnen zu ernähren." Das Stück beginnt zunächst als sensible Ballade mit zerbrechlichen Akustik-Gitarren- und Piano-Tönen, die sich als empfindsame Begleiter herausstellen. Es gibt später auch noch leidenschaftlich flehende Passagen, die das Gefühls-Spektrum in Richtung Dramatik ausweiten.

    "Aaron" hat ein Herz gebrochen: "Aaron, du bist eine Moll-Taste. Du nahmst die Liebe, die uns besser machte. Und hast sie in etwas Bitteres und Fremdes verwandelt." Das Lied verbreitet trotz dieser bedrückenden Ausgangssituation eine überlegene, geschmeidige Pop-Brillanz, wie sie sonst gegenwärtig wohl nur noch von Aimee Mann oder A Girl Called Eddy entworfen werden kann. Das ist reife Komponier- und Arrangier-Kunst in Vollendung. Ergreifend und schön.

    Und danach folgt noch eine gescheiterte Beziehungsgeschichte, die zu der Frage führt: "Wann wirst Du Dich selbst genug lieben, um jemand anderen lieben zu können?". Teresa und ihre bewährten, exzellenten Band-Kollegen Matt Paull (Keyboards), Tobias Kabiersch (Bass) und Pier Ciaccio (Schlagzeug, Percussion) erzeugen für "Collateral Damage" einen flexibel aufgebauten Power-Pop-Sound mit einer rauschenden Southern-Soul-Orgel-Basis, bei dem Teresas anpassungsfähige Stimme prominent in den Mittelpunkt gestellt wird.

    Der leise, zurückhaltende, demütige Folk-Jazz von "Checkout Tears" ist laut Aussage der im Berliner Wedding beheimateten Teresa Bergman ein Lied über das Weinen im Supermarkt im Speziellen und das Loslassen im Allgemeinen. "Tears And Time" ist dem Freund Nummer siebenunddreißigeinhalb gewidmet. Das Lied klingt gut gelaunt, zapft Skiffle- und Oldtime-Jazz-Elemente an, hört sich aber dennoch nach flockigem Folk-Pop an.

    "Whatever That Was" beinhaltet ein einminütiges Fragment mit improvisiertem Übungsraum-Charakter, das erst noch ein richtiger Song werden soll. Dieses Stadium hat "Old Timer" lange hinter sich gelassen. Das perfekt eingespielte, märchenhafte Stück wurde mit einer warmen Ausstrahlung versehen. Das Tirilieren der Stimme versprüht jedoch eine klebrige Zuckerlösung, die das Lied zu glatt und süßlich erscheinen lässt.

    "Nearly You" kommt ganz ohne instrumentellen Beistand aus. Teresa Bergman zieht alleine durch ihre strahlende Persönlichkeit und ihren einnehmenden, ausgeglichenen, klaren Gesang alle Aufmerksamkeit auf sich und schafft von leichter Hand eine Atmosphäre der Sicherheit und Geborgenheit. Wie bei einem lauschigen, in sich gekehrten Wiegenlied.

    "33, Single & Broke" ist das dritte Album der in Neuseeland geborenen und aktuell in Berlin lebenden Künstlerin und erfährt gegenüber dem sehr guten Vorgänger "Apart" aus 2019 noch eine Steigerung. Das neue Werk ist auf erstaunliche Weise sowohl leicht zugänglich wie auch niveauvoll. Eine Kombination, die eigentlich großen kommerziellen Erfolg verspricht. Dazu kommt noch, dass Teresa Bergman über eine herausragende, anpassungsfähige, mächtige und gefühlsechte Stimme verfügt, die sämtliche Kompositionen adelt.

    Die Künstlerin scheint nur noch einen Wimpernschlag vom internationalen oder nationalen Durchbruch entfernt zu sein. Ihr fehlt eigentlich nur noch der entscheidende Fernsehauftritt, die Berücksichtigung in einem Soundtrack oder das Quäntchen Glück, das manchmal die Steine ins Rollen bringt. "33, Single & Broke" hat zumindest das Format, um im Vergleich zu anderen, berühmteren Musikerinnen locker zu bestehen, weil die Platte clever und unterhaltsam zugleich dargeboten wird.
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    Terribly Good Terribly Good (CD)
    21.11.2022
    Klang:
    4 von 5
    Musik:
    4 von 5

    "Terribly Good" bietet energische Girl-Power, die mitreißend, melodisch und voll innerer Spannung in Szene gesetzt wird.

    Wo sind sie geblieben, die peppigen, erfrischenden, engagierten Bands, bei denen Frauen dringlich und selbstbewusst den Ton angeben, wie bei The B-52`s, Blondie, The Go-Go`s, The Bangles, The Donnas oder den Pretenders? Sie sind völlig zu Unrecht aus der Mode gekommen. Das ist bedauerlich, denn Musikerinnen, die schon alleine mit ihrem Temperament statt nur mit schierer stimmlicher Gewalt (wie z.B. Whitney Houston oder Adele) auftrumpfen, haben sich stets als nachhaltig vitalisierende Unterhaltungs-Künstlerinnen herausgestellt.

    Die Kanadierin Skye Wallace weiß genau, wie man schwungvoll-vitalisierendes Material, das zwischen Pop und Rock angesiedelt ist, attraktiv in Szene setzt. Textlich dreht sich bei "Terribly Good" vieles um den Selbstfindungsprozess der jungen Frau. "Am Anfang war ich spröde, da war ich in meiner schlimmsten Phase...Habe mich selbst zerfleischt", heißt es im Eröffnungsstück "Tooth And Nail". Aber aufgeben kommt nicht in Frage, der Wunsch nach Veränderung hat oberste Priorität. Dieser entschlossene Kampfeswille findet sich auch im Aggressionspotential der Musik wieder: Trockene und scharfe Hard-Rock-Riffs leiten "Tooth And Nail" ein und bald darauf übernimmt Skye Wallace die Kontrolle, feuert das Stück durch sich steigernden zupackenden Gesang kräftig an, nimmt sich zurück und startet erneut eine Erregungs-Offensive. Die Rhythmus-Fraktion sorgt ständig für Bodenhaftung und variiert die Dynamik, so dass ein robuster und gleichzeitig flexibler Eindruck entsteht.

    Manchmal treten im Leben Zweifel auf, ob das eigene Durchhaltevermögen ausreicht, um festgefahrene Zustände ändern zu können. Diese Skepsis führt im schlimmsten Fall zu weiterem Verdruss. Davon handelt "The Doubt". Der Song knüpft hinsichtlich seiner unverbrauchten Frische an den Vorgänger an und präsentiert sich als reizender New Wave-Song, bei dem die Eingängigkeit präsenter als die Eigenwilligkeit ist.

    Vielleicht hilft es, in komplizierten, verwirrenden Zeiten einfach auf Zweckoptimismus zu setzen, wie in "Everything Is Fine" beschrieben. Der angenehme Soft-Pop wird in Funken sprühende und scharf angeschlagene Gitarren-Kaskaden gehüllt, die den Track aus der romantischen Kuschel-Ecke ins pralle Leben holen.

    Es ist schwer, zu sich selbst entwaffnend ehrlich zu sein, denn dann muss man sich auch schonungslos mit den eigenen Schwächen und Fehlern auseinandersetzen und das kann weh tun. Dieses über den eigenen Schatten springen ist in etwa die Botschaft hinter "Truth Be Told". Der Track läuft zunächst ausgeglichen-friedvoll ab, entwickelt sich jedoch schließlich noch zum druckvollen Rocker, dessen Energie abhängig von den Emotions-Strömen angepasst wird. Dynamische Abstufungen bestimmen also das Gesicht dieses verführerischen Liedes.

    Phantomschmerzen können an Gliedmaßen entstehen, die gar nicht mehr da sind. Sie sind also sinnbildlich eine Verbindung zur Vergangenheit. "Ich habe keinen Platz, um zu akzeptieren, dass du nicht mehr mein bist", singt Skye in "Phantom Limb". Sie hat also psychische Phantomschmerzen. Die Musik erinnert in seiner Rhythmus-Struktur phasenweise an "I Love Rock & Roll" von Joan Jet & The Blackhearts. Das Stück verfügt als Lockmittel über kontrolliert brodelnde E-Gitarren-Töne, die der sich einschmeichelnden, ungekünstelten, gradlinigen Melodie die Zähne zeigen.

    "Keeper" ist Beichte und Liebesbezeugung zugleich: "Ich bin trauriger als du, ich habe mehr Fehler gemacht. Und mein Herz kann die Last der Welt nicht tragen. Aber wenn ich in deinen Armen liege, steht die Zeit still", heißt es dort. "Keeper" ist die einzige Ballade des Albums und wird von wehmütigem Gesang und einem fragilen Arrangement gespeist, das dem Song ein innig-feierliches Gospel-Feeling verleiht.

    Wut liegt in der Luft, wenn sich schroffe Gitarren für "You Left" ungestüm ihren Weg durch diese vor Tatkraft strotzende, lebendig-bewegliche, stimulierende Power-Pop-Nummer bahnen. Das Lied erzählt von einer bitteren Trennung, die aus Sicht der Protagonistin nicht nötig gewesen wäre, wenn sich beide Personen mehr Mühe gegeben hätten. Und es bleibt ein übler Nachgeschmack: "Ich sah dich an und du sahst mich an. Aber du schienst mich nicht zu hören, als ich dich anflehte."

    Im letzten Stück wird die Entschlossenheit, sich von Nichts und Niemandem mehr bei der Lebensplanung aufhalten zu lassen, nochmal nachdrücklich und provokativ aufgegriffen. Der deftige Bass und die feurigen Gitarren erinnern bei "Tear A Piece (Bite Me)" wegen ihrer auffälligen, herausgestellten Prägung an "Seven Nation Army" der White Stripes.


    E-Gitarren in unterschiedlichen Schattierungen spielen eine entscheidende Hauptrolle in den Songs von Skye Wallace. Schnörkellos-entschlackt rütteln sie auf, geben Kraft oder rebellieren. Die Kompositionen sind griffig, transparent, mitreißend und aufbauend. Und dass, obwohl es mehrheitlich problembelastete textliche Inhalte gibt. Aber die Selbstfindung ist auf einem guten Weg, weil einiges knallhart analysiert und verarbeitet wurde. Deshalb bezeichnet die Musikerin das Album als Liebesbrief an sich selbst. Die Patientin befindet sich also eindeutig auf dem Wege der Besserung und legt ein unter Dampf stehendes, enthusiastisch eingespieltes Album ohne Durchhänger vor. Die hart rockende Power-Pop-Fraktion ist jedenfalls um eine entschieden-konsequente, kurzweilige und beflügelnde Stimme reicher! Der Name der Platte ist nämlich durchaus Programm: "Terribly Good" verbreitet erschreckende Wahrheiten und ist musikalisch (sehr) gut gelungen.
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    Alles Ok Alles Ok (CD)
    20.11.2022
    Klang:
    4 von 5
    Musik:
    4 von 5

    "Alles OK" ist ein Trugschluss, den Love Machine ironisch aufarbeiten und zugleich ihre Kompositionen nicht selten mit ungestümen Tönen unterlegen.

    "Alles OK" ist die fünfte Platte der Düsseldorfer Love Machine. Love Machine spielen punkigen Hard-Rock mit einer anarchistischen Grundhaltung. Regelmäßige Ausflüge in andere Stilrichtungen gehören wie selbstverständlich zur Tagesordnung. Sie reichen von Progressive-Rock-Experimenten über Jazz-Einflüsse bis hin zu Pop-Einbindungen.

    Vor Überraschungen ist man bei diesem Quintett jedenfalls nie sicher. Die Rhythmen des groovend hüpfenden Minimal-Art-Intros ziehen sich fast durch den gesamten Eröffnungs-Song "Leben und sterben bei Nacht", während der Gesang von Marcel Rösche auf Coolness bedacht ist und er mit seiner dunkel-herben Stimme ein eigenständig-weises Aroma hinterlässt. Hart-heftige Heavy-Metal-Riffs reißen das Stück aus seinem sauber strukturierten Ablauf und lassen die Luft brennen.

    Mit schnellem Punk-Druck und einem eingängigen Refrain drängt sich "Ray Ban aus dem Internet" regelrecht als Underground-Hit auf. Auch "FUN" setzt auf Tempo und zusätzlich auch auf Aggression, so dass der Song wie eine Hommage an Lemmy Kilmister & Motörhead klingt.

    Inhaltlich gibt es beim Psychedelic-Pop "Alles OK" die totale Anpassung, es herrscht keine kritische Distanz. Aufzählungen wie "Kriege ist OK, ...das Internet ist OK, ...Mindestlohn ist OK, ...CDU ist OK, ...Bundeswehr ist OK, ..." sind natürlich ironisch gemeint. Diese Parolen können quasi als ein Plädoyer gegen Abstumpfung, Dummheit und Selbstherrlichkeit angesehen werden. "Ich bin OK" heißt es zum Schluss. Es ist nichts dagegen einzuwenden, wenn man mit sich selbst zufrieden ist, aber kompletter Opportunismus ist hinsichtlich einer gesellschaftlichen Entwicklung das pure Gift. Wenn man sich um nichts mehr kümmert, man alles geschehen lässt und nichts kritisch hinterfragt wird, dann wird der "Diktatur der Angepassten" (Blumfeld) Tür und Tor geöffnet.

    Rebellisch alarmierende, dröhnende und sägende Gitarren haben bei "Vorne an" das Sagen. Sie treiben den Track an, legen Störfeuer, nehmen die Bestandteile auseinander und schweißen sie auch wieder zusammen. Love Machine können auch kompetent saftige Power-Pop-Lässigkeit und begeisternde Psychedelic-Folk-Rock-Harmonien produzieren, wie "A Go Go" zeigt.

    "Brav" verfügt über zwei unterschiedliche musikalische Ebenen: Der Track beginnt mit einem schleppenden Hard-Rock-Country-Gemisch, bevor er hinsichtlich des Tempos, der Intensität und der Lautstärke zu explodieren scheint. Nach diesem Ton-Orgasmus stellt sich der anfängliche Zustand wieder ein und begleitet das Lied bis zum Schluss.

    Zu einer Easy-Listening-Parodie mit Free-Jazz-Piano-Einlagen und schmierigem E-Gitarren- und einem sphärischen Pedal-Steel-Gitarren-Solo lädt "Besonderes Exemplar" ein, während die nachtblaue Ballade "Underdog" nach zwei Minuten und 10 Sekunden einen Geschwindigkeits-Schub verpasst bekommt, der das Lied in einen flotten Jazz-Pop überführt. Und da ist sie wieder, die Kritik an der Gleichgültigkeit einiger Menschen, die aus "Alles OK" bekannt ist und hier wieder aufgegriffen wird: "Leute wie die finden alles einfach. Sie schauen immer weg, wenn`s in den Abgrund geht", heißt es da.

    Der Fake-Reggae "Urlaub machen" wird von Space-Sounds und Garagen-Rock-Passagen durchzogen, so dass gar nicht erst eine unbeschwerte Urlaubsatmosphäre entstehen kann. Gut so, immer wachsam und unbequem bleiben!

    Als Vorbild für das aufmüpfige Konzept der Band kann unter anderem Kiev Stingl herhalten. der in den 1970er und 1980er Jahren in der deutschen Rock-Szene mit unkonventionellen Ideen und provokanten Standpunkten für Furore sorgte und bis heute von einer treuen Anhängerschaft verehrt wird. Rotzig pöbelnd, dadaistisch verdrehend, betont andersdenkend-provozierend sowie säuselnd manipulierend verbeißen sich die Musiker entgegen dem Mainstream in ihre Lieder. Sie fallen positiv dadurch auf, dass sie nicht auf Teufel komm raus gefallen wollen, weil ihnen nämlich Erwartungshaltungen und Einordnungen in kommerziell wirksame Schubladen egal sind. Das macht sie interessant, lässt sie aus dem üblichen Deutschrock-Mief herausstechen und wirkt wohltuend frech und frisch.

    Die Musiker bieten einen kompakten Sound an und Marcel Rösche ist ein außergewöhnlich ausdrucksstarker Sänger, der mit leisen und lauten Tönen eindringliche, dadaistisch-politisch-poetische Klangbilder malen kann. Gegenüber dem Vorgänger "Düsseldorf-Tokyo", veröffentlicht am 26. Februar 2021, legen Love Machine auf "Alles OK" nochmal eine Schippe brachialer Rock & Roll-Energie drauf. Sie liefern auch in dieser Form wieder ein kurzweiliges, originelles Album ab, das richtig Spaß macht.
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    Fossora Björk
    Fossora (CD)
    05.10.2022
    Klang:
    4 von 5
    Musik:
    4 von 5

    Björk, die Erdverbundene. Bei "Fossora" war das Gefühl, die Füße in den Boden zu graben, ausschlaggebend für die Gestaltung der Ideensammlung für das ausgereift und lebendig klingende Album.

    Björk. Die Unberechenbare. Die Unangepasste. Das Gesamtkunstwerk. "Fossora" ist ihr elftes Solo-Studio-Album (Soundtrack-Arbeiten nicht mitgezählt), das seinen Namen aus einer Wortschöpfung erhalten hat, die sich aus der weiblichen Form des lateinischen Wortes für "Bagger" ableitet. Wobei "Bagger" sowohl für etwas steht, das in der Erde gräbt, aber auch ein Mitglied einer Gruppe radikaler Andersdenkender beschreibt, die 1649 in England gegründet wurde und den Armen Land zur Verfügung stellen wollte. Erdung und Abkehr von Konventionen, beides findet sich in der Musik von Björk wieder.

    "Fossora" ist konzeptionell typisch für Björk, ist also herausfordernd, abenteuerlustig, teils verstörend, teils versöhnlich. Die Isländerin bezeichnet den aktuellen Sound als "biologischen Techno". Gesanglich ist sich die mutige Musikerin treu geblieben: Ob sie jetzt in einen dramatischen Sprechgesang verfällt oder harmonische Weisen vorträgt, ihr Timbre hat immer etwas ernsthaftes, als sei sie ständig auf der Hut, weil sie eine Bedrohung erwartet.

    "Atopos" empfängt das Publikum mit hymnisch-sakralem Chor-Gesang und wird kurz danach von vorwitzigen elektronischen Trommeln des balinesischen Hardcore-Gamelan Musikers Kasimyn vom Duo Gabber Modus Operandi heimgesucht, die bockig Raum fordern und sich zum Ende hin staccatoartig auftürmen. Björk steuert verzweifelt-eindringlichen Solo-Gesang hinzu und das flankierende Klarinetten-Sextett Mumuri steht bei jedem Einsatz für Seriosität, egal ob es sanft oder kratzbürstig agiert, das dunkle Brummen der Bass-Klarinetten verbreitet stets Glaubwürdigkeit, Vertrauen und Behaglichkeit.

    "Ovule" stolpert, ohne zu fallen, ist melancholisch, ohne depressiv zu sein und hat fette Beats, ohne tanzbar zu sein. Für Björk ist "Ovule" ihre Definition von Liebe, die sie für ein sehr zerbrechliches Gut hält, da sie von drei Faktoren beeinflusst wird: Dem Idealzustand von einer Beziehung, der ein Wunschbild ist, dann die Realität, wo sich die Liebe im Alltag bewähren muss und schließlich sind da noch die Schatten, die negativen Gefühle und die Zweifel, die an der Liebe nagen. "Ovule" macht alle diese Einflüsse durch, ist schwärmerisch, holprig, von dunklen Mächten befallen und lässt letztlich doch die Schönheit siegen.

    Für "Mycelia" wurden Gesangsschnipsel von Björk gesampled, die jetzt per Tastendruck wieder freigegeben und verbunden werden. Bloße Mechanik trifft auf kreative Gestaltung, wobei das Stück vertonen soll, wie sich Pilze über dem Boden ausbreiten. Auch "Sorrowful Soil" wird vom Gesang getragen, von selbstbewusstem Solo- und frommem Chor-Gesang. Nur ein paar Bass-Töne begleiten das spirituelle Vorhaben, das dem Andenken an Björks verstorbener Mutter gewidmet ist. Der Song entstand kurz vor ihrem Tod, war aber schon vom unausweichlichen Ende geprägt.

    Außerdem gehört "Ancestress" zur Trauerbewältigung und ist als fiktive Grabrede zu verstehen. Björk singt teils im Duett mit einem Glockenspiel oder mit aufgewühlten Streichern und wird gesanglich noch von ihrem Sohn, dem Singer-Songwriter Sindri Eldon begleitet. "Fagurt Er í Fjörðum" ist isländisch und heißt "Wie schön es in den Fjorden ist". Es ist ein Gedicht aus dem 18. Jahrhundert, das von der Fischerin Látra-Björg geschrieben wurde, die übersinnliche Kräfte gehabt haben soll. Sie konnte angeblich verlässlich das Wetter voraussagen und wusste, wann und wo Robben anlanden. Bei Björk klingt der Vortrag wie das Zitieren eines alten Volkslieds.

    Voluminös dröhnende Töne, die an Schiffssirenen erinnern, stochern suchend und warnend im Nebel und eine einfache Beat-Box ist der Taktgeber bei "Victimhood". Björk singt dazu zunächst ruhig, beinahe ängstlich und bringt so einen Gegenpol zu dem angespannt pulsierenden Sound ein, der punktuell durch Streicher wattig aufgefüllt wird. Der Gesang bleibt weiter oft im Hintergrund, gibt aber zunehmend erregte Schwingungen ab, während in dieser Phase die Stimulanz der Instrumente zurückgefahren wird. Das Spiel mit dynamischen Abstufungen und Verdrehungen beherrscht Björk perfekt und trägt zur Attraktivität ihrer Schöpfungen bei.

    Die Grundlagen für "Allow" entstanden während der Aufnahmen für "Utopia" 2017 in der Karibik. Das Lied klingt wahrscheinlich deshalb so freundlich-gelöst und exotisch und ist eine angenehme Bereicherung in dem Kontext der eher gedämpft-strengen Kompositionen von "Fossora". Der Song "Fungal City" wurde in eine erzählerische Form der Klassik eingebunden, ist ein lautmalerisches Schauspiel und gleichzeitig ein experimentelles Art-Pop-Stück. Man könnte meinen, das ist "Peter und der Wolf" für Fortgeschrittene.

    Das zweiminütige, instrumentale "Trölla-Gabba" bedeutet übersetzt so viel wie Troll-Scherz und wird erneut von Kasimyns monströsem Schlagwerk weichgeklopft und durcheinandergewirbelt. Überhaupt ist der Track ein einziges irrwitziges Soundgewitter von psychopathisch klingenden Ausmaßen. Sehr seltsam und verrückt, diese Tonanordnung.

    Im Grunde genommen ist "Freefall" ein Liebeslied: "Ich lasse mich frei fallen, in deine Arme, in die Form der Liebe, die wir geschaffen haben, unsere emotionale Hängematte." Aber das Lied ist nicht romantisch vernebelt, sondern nennt sowohl die Tücken der Liebe wie auch die Voraussetzungen für eine glückliche Beziehung: "Wenn wir uns an das klammern, was wir einmal waren, wird es unsere Seele verbrennen. Wir werden verletzt werden, wenn es kein absolutes Vertrauen gibt." In Töne gegossen klingt das Ganze dann traurig-dramatisch oder forsch-erwartungsvoll, wird aber gänzlich ohne Zuckerguss serviert.

    Wenn das "Schulwerk" von Carl Orff auf Eberhard Schöners "Gam-Bang" und "Waterwheel" von Oregon trifft, dann entsteht daraus die Vorlage zum Stück "Fossora", das sich rhythmisch aktiv, fremdartig überdreht und ästhetisch gepflegt zeigt. Bei "Her Mother`s House" geht es darum, welche Gefühlslagen das Verlassen der Kinder aus der elterlichen Wohnung mit sich bringen. Passenderweise singt Björks Tochter mit ihr hier im Duett. Das Lied ist wehmütig veranlagt, bringt aber auch jede Menge Herzlichkeit mit, so dass der barocke Anstrich nicht zu einer Steifheit führt.

    Wer leicht verdauliche Kost sucht, ist bei "Fossora" falsch, wer sich allerdings für Sounds interessiert, die nicht alltäglich, sondern überraschend, fordernd und ungewöhnlich sind, der liegt hier richtig. Sinnbildlich schlägt Björks Musik Wurzeln wie ein Pilzgeflecht, denn es gibt weit entfernte, kaum bekannte Stilmittel, aber das gesamte Konstrukt ist dennoch logisch und emotional miteinander verwoben (wie die Kompositionen auf "Fossora"). Deshalb nennt "Fossora" auch ihr "Pilzalbum".

    Björk polarisiert, das war schon immer so und ist mit dem neuesten Werk auch nicht anders. Björk bleibt unberechenbar, unangepasst und funktioniert als Gesamtkunstwerk, denn unter anderem spielen auch phantasievolle Verkleidungen und eine aufwändige Video-Ästhetik eine Rolle bei der Darstellung dieser Kunst.

    Die Künstlerin ist unter den herrschenden Gesetzmäßigkeiten der Pop-Musik-Branche nicht zu fassen. Sie widersetzt sich marketingtechnisch sinnvollen Veröffentlichungszyklen, trotzt jeglichen Erwartungshaltungen und konstruiert Philosophien, die konsequent unabhängig, ausschließlich von ihren Empfindungen und nicht von populären Strömungen beeinflusst und abgeleitet sind. Und ganz selbstverständlich entsteht dabei eventuell exzentrisch wirkende Musik, die nicht auf Verkaufszahlen schielt, sondern Eigenständigkeit und Kreativität beweist.

    Diese Klänge wollen erarbeitet werden und wenn es mal gefunkt hat, dann macht sich schnell Begeisterung aufgrund des immensen Ideenreichtums und der professionellen und originellen Umsetzung breit. Respekt für die klare Haltung und für die inspirierenden Töne von "Fossora".
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    Ein Kommentar
    Anonym
    01.12.2022

    Kein Kunstwerk!

    Dieser ausgiebigen Lobeshymne über "Fossora" kann ich nicht zustimmen. Es klingt musikalisch unstimmig, nervend und ohne jegliche Melodien. Eine Kunst ist es hingegen diese Album gut zu finden. Von mir Null Sterne!!!
    Two Sisters Two Sisters (CD)
    28.09.2022
    Klang:
    4 von 5
    Musik:
    4 von 5

    Zurückhaltung und Gleichgewicht: Sarah Davachi praktiziert die Kunst der ästhetischen Reduzierung.

    Es ist Herbst. Die Tage werden kürzer, die Dunkelheit triumphiert über das Licht und die Gedanken werden schwerer. Zeit, um schattig-düstere Musik zu genießen.

    Die 1987 in Kanada geborene Sarah Davachi ist eine Sound-Forscherin, die derzeit in Los Angeles lebt. Sie erzeugt Tongebilde, welche den Rahmen des Hit-Radio-Formats schon aufgrund ihrer Länge und ihrer speziellen strukturellen Beschaffenheit sprengen. Ihr zehntes Werk "Two Sisters" passt wegen seiner gedämpften Grundstimmung gut zur trüben Jahreszeit, auf Partys wird man diese Kompositionen dagegen eher weniger antreffen...

    Bei "Hall Of Mirrors" geben warme Brummtöne die schattig-jenseitige Stimmung vor. Dazu erklingen in unregelmäßigen Abständen unterschiedlich voluminöse Glocken, die zum Tasteninstrument Glockenspiel gehören. Das hier verwendete Instrument ist das drittgrößte seiner Art, wobei die schwerste Glocke ungefähr 12 Tonnen wiegt. Deshalb sind die Sounds so mächtig wie Kirchenglocken. Bei diesem Stück entsteht pure Atmosphäre, ohne Melodie oder Refrain.

    "Alas, Departing" verbreitet danach nur mit weiblichen und männlichen Stimmen sakrale Eindrücke, die gregorianischen Gesängen nicht unähnlich sind. Durch die Anziehungskraft dieser verbundenen Töne wird eine förmliche, theatralische Ergriffenheit bewirkt.

    Leise schleichen sich eintönige, gleichbleibende Laute in das Gefüge von "Vanity Of Ages" ein. Die Tonlagen verändern sich nur langsam. Die Zeit friert ein, die Frequenzen zwingen zum Zuhören oder zum Aufgeben. Je nach persönlicher Befindlichkeit. Man muss auch mal was aushalten können, um im Anschluss neue Erkenntnisse zu bekommen! Das Dröhnen und Rauschen der Orgel-Pfeifen kann nervtötend sein, aber auch zum konzentrierten Entspannen zwingen. Spätestens diese 10 Minuten entscheiden darüber, ob "Two Sisters" weitergehört wird oder nicht.

    Die Reduktion der Klangfarben wird mit "Icon Studies I + II" fortgesetzt. Leicht an- und abschwellende Ton-Schwaden hinterlassen einen Eindruck von Eiszeit oder Ewigkeit. Ist das die Basis von bewusstseinserweiternden Vibrationen?

    Wie klingt Bronze? Wenn es nach "Harmonies In Bronze" geht, nach einer in sich ruhenden Legierung, die sich nicht zu wichtig nimmt, die spirituell veranlagt ist und für die die Zeit keine Bedeutung hat. Und wie klingt das Grün? Wenn es nach "Harmonies In Green" geht, etwas satter und runder als Bronze, aber ähnlich ehrwürdig.

    Es hört sich wie ein weit entferntes Nebelhorn an, wenn "En Bas Tu Vois" seine Signale absetzt. Auf Antwort wird vergeblich gewartet, das ist das Schicksal vieler Wächter und Mahner.

    Neben bedächtigen Ton-Schwaden kommen bei "O World And The Clear Song" nach etwa 7 Minuten wie zu Anfang wieder Glocken zu Gehör. Keine imposant-einflussreichen Glocken, sondern kleinere, die vom Wind bewegt werden können, deren Klangfülle also fremdbestimmt sein kann.

    Obwohl sich "Two Sisters" nach der Tugend Mäßigung ausrichtet, die zwischen den Gegenpolen (oder Schwestern) Leidenschaft und Zurückhaltung gefangen ist - wie es Sarah Davachi ausdrückt - bietet das Album ein erhebliches Instrumentarium auf, das neben dem erwähnten Glockenspiel, dem Harmonium und dem Chor noch aus einem Streichquartett, tiefen Holzbläsern, einem Posaunenquartett und elektronischen Instrumenten besteht. Der scheinbare Stillstand mancher Kompositionen sollte nicht darüber hinwegtäuschen, dass sich die Noten in einer ständigen Bewegung befinden. Die Veränderungen finden eben nur sehr langsam statt und sind nur beim konzentrierten Hören unmittelbar wahrzunehmen. Das ist das Urprinzip der Minimal-Art-Music, wie sie zum Beispiel von Steve Reich ersonnen wurde.

    Was ist Musik? Zunächst einmal sind es Schwingungen, die eine Zustandsänderung hervorrufen. Dann kann also auch das Brummen eines Kühlschranks, das Pfeifen einer Klimaanlage, das Zwitschern der Vögel oder das Rauschen des Windes Musik sein. Sarah Davachi beschäftigt sich unter diesem Aspekt zum Beispiel mit den Eigenschaften und Wirkungen von Klangfarben sowie mit psychoakustischen Phänomenen, worüber sie auch promoviert. Entsprechend sind ihre Ton-Anordnungen auf "Two Sisters" nicht als esoterisch-benebelnde Geräusche einzustufen, sondern als wissenschaftlich fundierte, ausgeklügelte Schwingungen, die einen Sinn ergeben. Der Hörer soll im Gegensatz zur esoterischen Beschallung mental wach bleiben und freigeistig erleben, was der akustische Vorgang mit ihm macht: Spürt er nichts, wird er unruhig oder werden die Gedanken beflügelt? Alles ist möglich bei diesem herausfordernden elektroakustischen Experiment.
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    Midnight Scorchers Midnight Scorchers (CD)
    28.09.2022
    Klang:
    5 von 5
    Musik:
    4 von 5

    "Midnight Scorchers" ist die Fortsetzung von "Midnight Rocker", womit Horace Andy (mindestens) seinen zweiten Frühling erlebte.

    Die Entwicklung des Reggae wurde nicht nur durch prägende Musiker, sondern auch durch innovative Produzenten geprägt. Dazu gehören Lee "Scratch" Perry und Adrian Sherwood. Sound-Effekte wie Dub und Echo wurden von ihnen genauso integriert wie Crossover-Elemente aus Punk, Pop, Blues, Folk und elektronischer Musik.

    Der Sound-Derwisch Adrian Sherwood arbeitete mit Horace Andy erstmalig für "Midnight Rocker" zusammen. "Midnight Scorchers" ist nun die Fortsetzung, wie auch eine partielle Neubearbeitung des "Midnight Rocker"-Albums vom April 2022. Bei der Zusammenarbeit legt sich Sherwood produktionstechnisch mächtig ins Zeug, um die Individualität des Reggae-Veteranen, der seit über 50 Jahren im Geschäft ist, herauszustellen und ihn trotzdem in einem innovativen Licht dastehen zu lassen. Dabei übertreibt er es nicht mit Experimenten - wie manchmal auf seinen zahlreichen Veröffentlichungen des On-U-Labels - sondern verschafft dem ehrwürdigen Musiker ein dynamisches Vehikel, um sich ausleben zu können, ohne sich anpassen zu müssen. Dadurch wirkt Horace Andy, als sei er in einen Jungbrunnen gefallen, denn er gebärdet sich herausfordernd und weise. Die unterschiedlich arrangierten Stücke zeigen nicht nur diverse Reggae-Spielarten auf, sondern eben auch vielfältige, kreative Berührungen gegenüber anderen Genres.

    Das verhaltene Tempo von "Come After Midnight" trägt zu dem verzückten Eindruck bei, den die verspielten Dub- und Echo-Effekte und die eingestreuten entrückten Geigen- und Synthesizer-Schwaden hinterlassen. Dub-Reggae trifft auf Barock- und Psychedelic-Pop. Dagegen macht "Midnight Scorcher" mit seinen mächtig dröhnenden und pumpenden Klängen auf dicke Hose. Melodika-Töne bringen versöhnliche Schwingungen mit ein, aber dennoch pulsiert der Track unaufhörlich und der wummernde Bass heizt die Stimmung durch das imitieren von brodelnder Lava kräftig auf.

    "Away With The Gun And Knife" geht dann melodisch auf Schmusekurs, obwohl es textlich um die Verurteilung von Gewalt zwischen Jugendlichen geht.

    Die redselige Kapitalismus-Kritik "Dirty Money Business" wird im Anschluss schwungvoll groovend dargeboten und dabei mit sehnsüchtigen Mariachi-Trompeten, aufreizend klappernden Percussion-Instrumenten sowie mit lustigen Geräuschen garniert.

    "Rock To Sleep" von "Midnight Rocker" ist die Vorlage für "Sleepy’s Night Cap", das im Gegensatz zum Original ohne Gesang auskommt. Der dreiminütige Track erhält durch seine sanfte, von grauen kammermusikalischen Einschüben und einer hoffnungsvollen Melodika getragenen Melodie eine wohlige Roots-Reggae-Gemütlichkeit, die universelle Soundtrack-Qualitäten zutage fördert.

    "Feverish" pflegt durch den Einsatz akustischer Instrumente, wie einer Posaune, bewährte Ska-Traditionen, lässt sich aber auch durch Space-Geräusche in eine futuristische Umlaufbahn katapultieren.

    Die Cover-Version des Rhythm & Blues-Protest Song-Klassikers "Ain’t No Love In The Heart Of The City" von Bobby "Blue" Bland aus dem Jahr 1974 wird von Horace Andy als funkiger Dub-Reggae mit verschleiernden Streichern und Trommeln, die eine innere Unruhe ausdrücken, interpretiert.

    Mit "Dub Guidance" hat Horace einen seiner früheren Songs überarbeitet. Wie der Name vermuten lässt, wird hier ordentlich Hall und Echo eingesetzt. Der Track wildert aber auch auf Spaghetti-Western-Terrain, so dass eine knisternde, von exotischen Sounds und Wehmut geprägte Klang-Landschaft entsteht. "More Bassy" bewegt sich danach gemütlich-gemächlich im Schunkel-Takt, ohne dabei außergewöhnliche Akzente zu setzen.

    "Hell And Back" erinnert an die balladesk-spirituellen Songs von Bim Sherman, die auch von Adrian Sherwood gefühlvoll, mit sakralem Hintergrund produziert wurden. Bei "Hell And Back" sorgt die Melodika für Geschmeidigkeit und Blechbläser tragen sie mit Fernweh-Feeling in die Welt hinaus. Die häufigen Spielereien von Sherwood werden so geschickt eingesetzt, dass sie dem Stimmungsbild Würze verleihen, ohne den Flow aus den Angeln zu heben.

    Der 1951 in Kingston, Jamaica, geborene Horace Andy ist eine Institution des Reggae. Bereits 1967 nahm er seine erste Single "Black Man`s Country" auf und 1972 hatte er mit "Skylarking" seinen größten Hit. Das sind zwei Beispiele seiner sozialkritischen Songs, die er damals noch mit hoher, femininer Stimme vortrug. Heute ist sein Gesang entschlossen und bedeutungsvoll. Im Laufe seiner Karriere hat der Musiker einige Reggae-Subgenres wie Dub, Ska, Rock Steady, Lover's Rock und Dancehall bedient, was ihn auf die Trip-Hop Mitbegründer Massive Attack aus Bristol aufmerksam machte, die ihn als Gastsänger zum Beispiel für "One Love" von "Blue Lines" aus 1991 rekrutierten. Eine Begegnung, die ihn quasi für die Arbeiten mit Adrian Sherwood vorbereitete, da sie sein Ohr für Strömungen außerhalb des Reggae schärfte.

    Sherwood, der sieben Jahre jünger als Andy ist, gilt als innovativer Workaholic und unkonventioneller Sound-Designer, der Ende der 1970er Jahre im Zuge des Post-Punks mit seiner experimentierfreudigen Produktions-Mischung aus effektvollem Dub-Reggae, druckvollem Rock und Dancefloor-tauglichen Rhythmen auffiel, die er für sein On-U-Sound-Label kreierte und mit Band wie den New Age Steppers, African Head Charge und dem Dub Syndicate umsetzte. Sein Ruf als kreativer Querdenker brachte ihm noch Produktions-Arbeiten für Depeche Mode, Einstürzende Neubauten oder Simply Red ein.

    Die Kombination des erfahrenen, Instinkt-gesteuerten Horace Andy mit den geisterhaft-verspielten Produktionen von Adrian Sherwood erweist sich jedenfalls als Glücksfall, weil dabei Songs entstanden sind, die auf eine traditionelle Art Harmonie-verliebt sind, aber auch ungewöhnliche, originelle Bestandteile aufweisen. Eine seltene, aber sehr willkommene Paarung!
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    Spark (CD)
    28.09.2022
    Klang:
    4 von 5
    Musik:
    4 von 5

    Das Funkeln im Dunkeln: "Spark" steht für Hoffnung, stellt sich der Angst und beschwört die Kraft der Liebe.

    Whitney ist natürlich keine Whitney-Houston-Cover-Band. Die Musiker stammen aus Chicago, sind Feingeister und verschieben die Grenzen zwischen feminin und maskulin, Pop und Soul sowie akustischer und elektronischer Instrumentierung. 2019 erlebte ich die Gruppe auf dem "A Summer`s Tale"-Festival in Luhmühlen bei Lüneburg und sie war für mich das musikalische Highlight dieser großartigen, vielfältigen Kultur-Veranstaltung. Den Whitney-Sound hatte ich damals als Mixtur zwischen The Band und Al Green abgespeichert, nachzuhören auf dem Erstling "Light Upon The Lake" aus 2016.

    Eigentlich ist Whitney aber gar keine feste Band, sondern das Projekt von Julien Ehrlich (Gesang, Schlagzeug) und Max Kakaček (Gitarre), das durchaus bis auf sieben Musiker anwachsen kann. Auch in dieser großen Besetzung agiert das Ensemble überwiegend sanft, gefühlvoll und bittersüß. Die feinfühligen Songs suchen sich ihre Identität sowohl im Roots-Rock (Folk, Country), wie auch im Soul und (Electro)-Pop. Der singende Schlagzeuger (noch eine Referenz an The Band) Julien Ehrlich stattet die Kompositionen mit seiner hohen Stimme so elegant aus, dass eine eindeutige Geschlechtszuordnung verhindert wird.

    Vergleicht man nun die Entwicklung von den Anfängen des Duos über "Forever Turned Around" (2019), dem Cover-Versionen-Album "Candid" (2020) bis hin zum aktuellen Werk "Spark", so ist eine gewisse Hinwendung von natürlichen zu künstlichen Tönen zu verzeichnen, ohne dass dabei der behaglich-warme Wohlfühl-Sound verloren ging.

    "Nothing Remains" hinterlässt mit seinem spitzen Gesang Erinnerungen an die Bee Gees zu "Saturday Night Fever"-Zeiten von 1977. Gleichzeitig adelt die auffällige Stimmlage die Smooth-Soul-Nummer, die trotz ihres verschleppten Tempos weder rührselig noch klebrig wirkt, sondern aufgeräumt und klar rüberkommt. Als wäre es das leichteste von der Welt, hauen Whitney mit "Back Then" mal eben locker aus der Hüfte einen Mut machenden, mit raffinierten Tempowechseln ausgestatteten Adult-Pop-Song raus, der nicht mehr aus dem Kopf gehen will, wenn er einmal seinen betörenden Wirkstoff verströmt hat.

    "Blue" kann als Easy Listening-Track bezeichnet werden, wenn es um die Beschreibung der Eingängigkeit des Liedes geht. Das Stück weist stilistisch einen Cocktail aus Soft-Rock, Laid Back-Jazz und Silky-Soul auf, der zwar einschmeichelnd, aber nicht kitschig ist, was eine gewagte Gratwanderung darstellt. Die weihevolle, sich sehr zurückhaltende Ballade "Twirl" hinterlässt einen mondänen Eindruck, obwohl der Song aus ätherischen, verzückten und spirituell versunkenen Tönen gespeist wird.

    "Real Love" lädt auf die Tanzfläche ein. Die Beats sind knackig, verschlucken aber nicht die Sensibilität des Gesanges, so dass innige Gefühle neben dem Groove auch ihre Daseinsberechtigung bekommen. "Memory" hört sich an, als wäre es ursprünglich vom Roots-Rock inspiriert gewesen. Dann hat das Lied aber wohl im Laufe der Realisierung einige akustische Instrumentierungen verloren, die durch elektronische, teils exotische Klänge ersetzt wurden. Nun gibt es eben weniger Lagerfeuer-Stimmung, dafür einen charaktervollen, schlaksigen Electro-Pop mit einem soliden Singer-Songwriter-Gerüst.

    "Self" probt in einem von bizarren Loops geprägten Intro einen suggestiven Aufstand. Ein Experiment, das in dieser Form auch der singende Schauspieler Vincent Gallo für seinen Track "I Wrote This Song For The Girl Paris Hilton" verwendete. Durch den nachfolgenden Mantra-artigen Gesang wird der hypnotische Effekt bei "Self" noch verstärkt, zwischendurch jedoch von harmonischen Stimmen aufgelöst.

    Der mit einem Break-Beat-Rhythmus versehene Folk-Pop von "Never Crossed My Mind" macht zunächst einen unspektakulären Eindruck, kann aber wegen seiner emotionalen Zwiespältigkeit punkten und macht bei jedem neuen Hördurchgang Boden gut.

    Das Gefühl, in einer Zeitschleife gefangen zu sein, wird nach "Self" - allerdings abgemildert - auch bei "Terminal" vermittelt. Hinzu kommen Sounds, die sich nach asiatischer Folklore anhören und Gesänge, die am klassischen 60s-Pop geschult sind. Leider wird das Stück schon nach etwas mehr als drei Minuten ausgeblendet, grade als es Herz und Hirn erobert hat.

    "Heart Will Beat" ist ein Rückgriff auf die Country-Folk-Erfahrungen von Julien Ehrlich und Max Kakaček und stellt einen entspannt-ländlichen Charakter in den Vordergrund. "Lost Control" hört sich dagegen an, als würden sich Scritti Politti ("The Sweetest Girl") und Fleetwood Mac ("Sara") um die Vorherrschaft bei diesem Song balgen. Geschmeidiger Soul-Pop trifft hier auf lässigen Westcoast-Rock.

    "County Lines" öffnet ein großes Assoziations-Fenster und lässt Strömungen wie Barock-Pop, Soundtrack-Melancholie, Psychedelic-Folk und Spiritual-Jazz hinein. Das alles wird ästhetisch meisterhaft zusammengesetzt, so dass kein Stilbruch, sondern nur Schönheit entsteht.

    "Spark" steht für Hoffnung, stellt sich der Angst und beschwört die Kraft der Liebe: Das Album ist ein Trost- und Kraftspender, wie eine warme Decke für die Seele, wenn das Schicksal mal wieder das Leben aus den Angeln zu heben droht. Die Verwirbelung von Country-Soul und Dream-Pop ist Whitney ohne Qualitätsverlust gelungen, weil die Harmonie ein stützender Pfeiler im Stil-Mix geblieben ist. Deshalb haben die Kompositionen ihre Lieblichkeit behalten und sogar an Ausdrucksmöglichkeit hinzugewonnen.
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    Music For Animals Nils Frahm
    Music For Animals (CD)
    28.09.2022
    Klang:
    4 von 5
    Musik:
    4 von 5

    "Music For Animals" verbreitet minimalistisch aufbereitete, lange nachwirkende Moll-Töne, die suggestive Qualitäten aufweisen.

    Nils Frahm hat die Pandemie-Zeit kreativ genutzt: Von 2020 bis 2022 nahm er das etwas über 3 Stunden lange Werk "Music For Animals" auf, seine ersten Studioaufnahmen seit "All Melody" (2018) und der Ergänzung "All Encores" (2019).

    Auf drei CDs bzw. 4 LPs verteilt der angesagte Electronic-Music-Spezialist aus Berlin 10 neue Tracks, bei denen er vollständig auf den Einsatz seines geliebten Pianos verzichtet. Für Nils Frahm haben die Stücke von "Music For Animals" eine ähnliche Bedeutung wie Klanginstallationen: "Meine ständige Inspiration war, sich etwas ähnlich Hypnotisierendes wie einen riesigen Wasserfall oder die Blätter eines Baumes im Sturm anzuschauen. Es ist gut, dass wir Symphonien und andere Musik hören können, die eine gewisse Entwicklung haben. Aber der Wasserfall und die Blätter brauchen keinen ersten, zweiten oder dritten Akt und keinen Höhepunkt. Manche Leute sehen einfach gerne zu, wie das Wasser fällt, hören die Blätter rascheln und beobachten, wie sich die Äste bewegen. Dieses Album ist für sie."

    Der Titel "Music For Animals" soll ironisch gemeint sein, weil es modern ist, für jederlei Situationen Playlists zu erstellen. Diesen Trend wollte Frahm mit dem Titel verhöhnen. Die Musik soll also keine Gebrauchsmusik sein, bietet aber im Sinne der eben erwähnten Inspirationserklärung dennoch eine Vorlage zum sich fallen lassen oder zur konzentrativen Selbstentspannung oder Sinnesschärfung an. Die Basis für diese Sounds liegt sowohl im Krautrock (Harmonia, Neu!), wie auch in der Minimal-Art-Musik von Philipp Glass oder Steve Reich.

    In den 26 Minuten von "The Dog With 1000 Faces" wallen Schwebetöne auf und ab, sie erscheinen und verschwinden wie Nebelschwaden bei einer Autofahrt im morgendlichen Herbst. Rhythmen ploppen, klopfen, tropfen und hämmern wie im Trab, nicht übermäßig laut, aber beständig. Sirenen scheinen leise im Hintergrund zu singen. Der Ablauf ändert sich nur gemächlich, die Stimmung bleibt andächtig, mit einem wachen Blickwinkel auf das gegenwärtige Geschehen.

    Aufgrund von fehlenden Rhythmen wirkt "Mussel Memory" weltabgewandt und verbreitet eine Grabes-Stimmung. Das ständig präsente elektronisch erzeugte Rauschen, Summen und Brummen lässt die Zeit stillstehen und friert jegliche Freude ein. Totensonntags-Beschallung. Das Dröhnen in "Seagull Scene" enthält ein unheilvolles Rumoren, das in mehreren Schichten aufgebaut wird und eine zähe, undurchlässige Klang-Wand bildet.

    Für das epische, fast 25 minütige "Sheep In Black And White" werden rhythmische Effekte erzeugt, die Hall und Echo einbeziehen. Das klingt dann nach Dub-Reggae ohne Reggae-Rhythmus. Das Körperliche des Reggae wird dabei eliminiert, aber das Experimentelle bleibt. Bei "Stepping Stone" gehört ein Grundrauschen mit zum kompositorischen Konzept, dass durch seine ausgedehnte meditative Exotik auch zum Repertoire von Mark Hollis (Talk Talk) oder David Sylvian (Rain Tree Crow, Japan) gehören könnte.

    Ausgerechnet das mit 27 Minuten Laufzeit längste Stück wurde "Briefly" genannt. Ist das auch ein spezieller Gag von Nils Frahm, der sich an Leute wendet, die nur eben kurz mal was klären wollen und dann kein Ende des Gespräches finden? Musikalisch setzt der Track bei den folkloristischen Weltmusik-Elementen aus "Stepping Stone" an, peppt hier aber die künstlichen Holzbläser und Percussion-Instrumente monoton-fließend auf. Die synthetisch erzeugten, primitiv-gleichförmigen Synthesizer-Trommeln von "Right Right Right" verbreiten durch ihren belebenden Herzschlag-Rhythmus sowohl konsequenten Tatendrang, wie auch eine verlässliche Sicherheit durch die wiederkehrenden Abläufe.

    "World Of Squares" bedient sich einer ähnlich berauschenden Wirkung, wie sie der Psychedelic-Rock ausüben kann, indem nämlich aufputschende Grundformen wiederholt werden und sich ständig überlagern, was zu einem berauschenden Tonwirbel führt. Hingegen verfügt "Lemon Day" über eine tänzelnde Komponente, die die Bits und Bytes vor dem geistigen Auge hüpfen lässt. Pure Lebensfreude kommt aber nicht auf, da sich über die positive Grund-Stimmung ein grauer Ton-Schleier legt. Für "Do Dream" arbeitet Nils Frahm ausschließlich mit der assoziativen Wirkung von trüben, aufsteigenden und verwehenden Klangeindrücken. Es bleibt nur ein diffuser Ausblick auf eine Melodie zurück und deshalb werden die Erwartungen auf einen aufkommenden harmonischen Ablauf immer wieder zerstört.

    Neben Max Richter ("Sleep") gehört Nils Frahm zur Garde der jüngeren, scharfsinnigen Avantgarde-Generation, die ihre Kompositionen so ausrichten, dass sie den Verführungen des esoterischen Verschleierns und der kopflastigen Selbstdarstellung aus dem Weg gehen. Das öffnet ihnen eine individuelle Nische, die sie für ein breiteres Publikum interessant werden lässt. Schließlich kletterte "All Melody" von Nils Frahm bis auf Platz 15 der deutschen Album-Charts.

    Der Veröffentlichungs-Termin (23. September 2022) von "Music For Animals" könnte kaum besser gewählt sein: Der Sommer hat sich verabschiedet und der Herbst bereitet mit seiner Kühle und den kürzer werdenden Sonnenstunden auf die dunkle Jahreszeit vor. "Music For Animals" ist mit seinen sich Zeit nehmenden, uneitlen, bedächtigen Kompositionen der ideale Soundtrack für diesen Übergang.
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    Pulse Of The Early Brain (Switched On Volume 5) Pulse Of The Early Brain (Switched On Volume 5) (CD)
    08.09.2022
    Klang:
    4 von 5
    Musik:
    4 von 5

    Achtung: Turbulenzen! Stereolab sorgen mit ihrer Klangvielfalt für eine Verwirrung der Sinne.

    Die Aufarbeitung des Stereolab-Kataloges geht weiter. Beleuchtete "Electrically Possessed (Switched On Volume 4)" die Jahre 1997 bis 2008, so gibt es jetzt 21 seltene und seltsame Aufnahmen zu entdecken, die zwischen den Jahren 1992 bis 2008 entstanden. Eine Fundgrube für Neugierige und Hardcore-Fans, die jede gespielte Note hören wollen.

    Das Projekt Stereolab um Laetitia Sadler (Gesang, Keyboards, Gitarre) und Tim Gane (Keyboards, Gitarre) aus London besteht seit 1990 und mischt den zeitgenössischen Pop mit ihren Beigaben aus Easy Listening und anspruchsvollen Sound-Erfahrungen seitdem tüchtig auf. Kontraste gehören zu ihrer Klang-Philosophie, von zuckersüß bis brutal hart finden sich diverse intensive Herausforderungen auf ihren Platten, was das lockere Durchhören erschwert, den Spannungsgehalt aber immens erhöht.

    Die in Zusammenarbeit mit dem britischen Avantgarde-Projekt Nurse With Wound entstandenen Kompositionen "Simple Headphone Mind" und "Trippin' With The Birds" stehen ganz im Zeichen solcher Krautrock-Pioniere wie Kraftwerk oder Neu! und sind zusammen über 30 Minuten lang. Die elektronischen, suggestiv-rauschhaften Minimal-Art-Space-Rock-Stücke werden von künstlich erzeugten Naturgeräuschen, albern-durchgeknallten Passagen und teils verfremdeten Sprachschnipseln begleitet, so dass der Eindruck einer Klanginstallation entsteht.

    "Low Fi" ist hingegen ein raspelnd-monotoner Rock-Song mit Noise-Gitarre und lieblich-unbekümmerten Chanson-Gesängen von Laetitia Sadler als Kontrast. Die trockenen, kompromisslos vorwärts peitschenden Rocker "Laissez-Faire" und "Robot Riot" nutzen ähnliche Referenzen und sich wiederholende Abläufe. Beide Songs haben ihre Inspiration wahrscheinlich vom The Velvet Underground-Sound erhalten.

    "[Varoom!]" ist ein stumpfer, monotoner New Wave-Rocker, bei dem der Synthesizer und das Schlagzeug für Tempo sorgen. Der freundlich gestimmte Gesang wird in diese lärmende Hülle eingebunden und verliert dadurch seine Dominanz. Nach etwa 4 Minuten wird diese Phase abgeschlossen und es folgen 5 Minuten lang dröhnende Industrial-Klänge in Dauerschleife.

    Die Noise-Orgie "Elektro [He Held The World In His Iron Grip]" wandelt sich nach dreieinhalb Minuten zu einem sensiblen Folk-Stück, in Anlehnung an die frühen Belle & Sebastian-Sachen. Nach weiteren eineinhalb Minuten bringen elektrische Gitarren Schärfe ins Spiel, so dass die friedliche Episode eine heftige aggressive Wendung erhält.

    Das gut gelaunte, französisch gesungene "Spool Of Collusion" vereinigt auf spritzig-sympathische Weise Pop-Melodik und New Wave-Kauzigkeit. Ein Ohrwurm! Freier Jazz, repetitive Schwingungen und experimentelle Töne bestimmen das Klangbild von "Symbolic Logic Of Now!", dass trotz der heftigen Schräglage einen anziehenden Reiz ausübt. "Forensic Itch" ist eine instrumentale Synthie-Pop-Collage, die Jahrmarkts-Trubel, Klassik-Seriosität, Weltraum-Klänge und "Pet Sounds"-Aroma verbreitet, wie sie auch gerne von The High Llamas angefertigt wurden.

    Das einminütige "Ronco Symphony (Demo)" ist eine todtraurige, intime, unfertige Ballade, aber nicht mehr als ein fragmentarischer Ton-Schnipsel. "ABC" ist eine Cover-Version eines Songs der New Yorker Avantgarde-Band The Godz aus 1969. Wütend-aufbrausend wie The Birthday Party um Nick Cave drückt "ABC" den Hörer brutal an die Wand und macht keine Gefangenen. Das Stück endet dann mit einer Minute voller Besinnung im Hippie-Folk-Stil. Was bei "Magne-Music" als Romantic-Folk beginnt, verändert sich durch allmähliche Transformation in einen Alternative-Disco-Track.

    "Blaue Milch" wurde für ein Peter Thomas Sound Orchester-Tribute Album ("Warp Back To Earth 66/99") eingespielt. Die dafür ausgewählten Künstler erhielten einen Track und sollte daraus etwas Neues gestalten. Diese Rekonstruktion fängt skurrile, eigentümlich-verschrobene Klangsituationen ein und ergründet dadurch unterschiedliche Einsatzgebiete, so dass der Song sowohl nach Space-Age-Sound, aber auch nach Sex-Film Kulisse klingt.

    "Yes Sir! I Can Moogie" mag textlich eine Verballhornung von "Yes Sir, I Can Boogie" von Baccara sein, tritt aber musikalisch nicht in diese engen Disco-Pop-Fußstapfen: Esoterisch veranlagter, wortloser, graziler Singsang von Laetitia Sadler trifft bei Stereolab auf monotone, harte Takte, woraus sich die Faszination der Gegensätze ableitet. Vielfalt erwünscht! "Plastic Mile (Original Version)" bietet ein Potpourri aus schwergängigem Art-Pop, freundlich-naiven Soundtrack-Beiträgen und Computerspiel-Untermalungen an.

    "Refractions In The Plastic Pulse (Feebate Mix/Autechre Remix)" wird von einem schnellen, freien Schlagzeuggewitter und bedrohlich wirkenden Synthesizer-Wolken dominiert. Ein verzerrter Lead-Gesang führt mit schrägen Auswüchsen ins Kuriose und der engelsgleiche Background-Gesang verheißt dafür himmlischen Beistand. Das Stück könnte der Soundtrack zu einem Endzeit- oder Horror-Film-Szenario sein. Es hört sich so verhängnisvoll an, dass es sich auch für David Lynchs "Twin Peaks" eignen würde.

    Der Electro-Bossa Nova "Unity Purity Occasional" schlägt da ganz andere Seiten auf. Der Song klingt nach gehobener Lebensart, Eleganz, Sonne, Strand und einem kühlen Getränk. Schwungvoll und kultiviert-gewandt präsentiert sich danach der Easy Listening-Jazz von "The Nth Degrees", während das kurze Intermezzo "XXXOOO" eine distanzierte, entrückt-starre Haltung annimmt. Mit "Cybele’s Reverie (Live At The Hollywood Bowl)" demonstrieren Stereolab, wie si ein sinfonisches Pop-Stück auf die Bühne bringen. Der Gesang klingt zwischendurch etwas unsicher und die Bigband etwas hektisch, aber generell hatte das Publikum wohl seinen Spaß.

    Stereolab tummeln sich auf vielen Spielwiesen, sie sind voller Entdeckerdrang und haben bei ihren Experimenten auch häufig bestimmte Vorbilder im Ohr. So konzentrieren sich einige der hier berücksichtigten Sammlerstücke auf offensichtliche The Velvet Underground-, Krautrock-, New Wave- und Avantgarde-Referenzen, aber auch der Pop-Aspekt der Gruppe wird abgebildet (wenn auch nicht schwerpunktmäßig).

    Stereolab sind lustvoll-wagemutige Sound-Abenteurer, die bei ihren Exkursionen nicht zwangsläufig auf Massentauglichkeit achten (Respekt dafür!). Für Neueinsteiger empfiehlt sich "Pulse Of The Early Brain (Switched On Volume 5)" deshalb allerdings nur bedingt. Für flexibel-aufgeschlossene Hörer aber schon, denn die Zusammenstellung bietet eine wilde, ausgeflippte Orgie mit irren stilistischen Unterschieden, die herrlich unberechenbar sind.
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    Cover To Cover The Brother Brothers
    Cover To Cover (CD)
    31.08.2022
    Klang:
    5 von 5
    Musik:
    5 von 5

    Wenn es intim, ruhig und nachdenklich wird, laufen The Brother Brothers zu ganz großer Form auf und zelebrieren pure Schönheit.

    Wenn Brüder miteinander harmonieren, dann können sie so schön klingen wie Don und Phil Everly. In solch einem Fall setzt sich die Summe der musikalischen Brillanz aus Talent und Magie zusammen. Das Americana-Duo The Brother Brothers besteht auch aus echten Brüdern, deren Vorbilder die Everly Brothers sind. Kein Wunder also, dass die eineiigen Zwillinge Adam und David Moss den höchsten qualitativen Ansprüchen gerecht werden wollen.

    Mit "Cover To Cover" huldigen sie einigen ihrer Idole oder übernehmen Songs, die ihnen viel bedeuten und von denen sie sich bei der Einverleibung jede Menge Anregung versprochen haben: "Er ist so gut geschrieben und so bedeutungsvoll. Er ist genau so, wie ein Country-Song sein sollte", sagt David Moss über die Ballade "That’s How I Got To Memphis" von Tom T. Hall aus 1969. Die Brother Brothers überführen die Fremdkomposition in eine Soft-Rock-Variante mit weichem, anschmiegsamem Gesang und cremiger Melodielinie. Was für eine zarte Verführung!

    "These Days" wurde von Jackson Browne schon mit 16 Jahren geschrieben und erstmalig von der Velvet Underground-Sängerin Nico auf ihrem Album "Chelsea Girl" im Jahr 1967 veröffentlicht. Der düster-ausdruckslose Gesang steht bei dieser Interpretation im Kontrast zur optimistisch gestimmten E-Gitarre, während sich die Streicher mal auf die finstere, dann wieder auf die zuversichtliche Seite schlagen. Die erste Demo-Aufnahme von Browne aus 1967 - damals noch unter dem Titel "I`ve Been Out Walking" - war noch relativ lebhaft, seine Version für sein zweites Album "For Everyone" hörte sich dann tieftraurig an. Die Moss-Zwillinge orientieren sich bei ihrer Sichtweise an beiden Ausprägungen und haben dabei auch die helle, klare Studio-Aufnahme und die depressiven Live-Auslegungen von St. Vincent im Ohr. Der Rhythmus ist bei ihnen schnell getaktet und der Gesang, der ausgewogen wie von Paul Simon klingt, wurde melancholisch angelegt. Die Akustik-Gitarre und der Bass vermitteln dann zwischen den lebhaften und nachdenklichen Momenten.

    "You Can Close Your Eyes" von James Taylor ist einer dieser Songs, der zum dahinschmelzen schön ist und sich gnadenlos in Herz und Hirn frisst. Jeder Widerstand ist zwecklos. Bittere Süße macht sich breit, befeuchtet die Augen und erweicht das Herz. Das ist Songwriting auf höchstem Niveau. Egal, ob man das Original oder die Version von Linda Ronstadt genießt, die Musik ist stets hinreißend ergreifend. Die Brother Brothers können hinsichtlich der sinnlich-verführerischen Innigkeit locker mit den genannten Referenzen nicht nur mithalten, sie übertreffen sie sogar. Das Stück wird von ihnen als entschlackte, schwelgende Country-Nummer präsentiert, die so entwaffnend attraktiv ist, dass man sich der behaglich-zufriedenstellenden Wirkung nicht entziehen kann. Sarah Jarosz wirkt dann noch als delikat zurückhaltende Gesangsverstärkung mit und füllt die Schwingungen der Brüder mit samtenen Noten beglückend auf. Lieblich, zum Heulen schön! Ein Traum in Moll.

    "If You Ain’t Got Love" stammt von der Cajun-Truppe The Revelers und ist eine beschwingte Pop-Ballade (kein Widerspruch!), die sich in diesem Zustand als galanter Country-Rock im Sinne der Desert Rose Band um Chris Hillman und Herb Pedersen zeigt.

    Die Singer-Songwriterin Judee Sill war eine tragische Figur. Sie hatte so viel Talent und Einfühlungsvermögen, zerbrach aber an ihrem Umfeld (gewalttätige Eltern, Prostitution, eigene Kriminalität, Drogenabhängigkeit, unglückliche Partnerschaften, missglückte Operationen) und dem kommerziellen Misserfolg ihrer Platten. Sie starb 1979 mit nur 35 Jahren an einer Überdosis, die als Selbstmord deklariert wurde. Die Country-Ballade "There's A Rugged Road" gehört zu einem ihrer intensivsten Songs und bekommt durch die Neuinterpretation eine würdige, spirituell angehauchte Stimmung verliehen.

    Das sogenannte "Weiße Album" der Beatles von 1968 gehört zu deren ambitioniertester Arbeit. Von infantilem Liedgut ("Ob-La-Di, Ob-La-Da") bis hin zu einer experimentellen Avantgarde-Komposition ("Revolution 9") ist dort eine riesige Bandbreite zu hören. "I Will" gehört mit seiner Wiegenlied-Rezeptur nicht zu den stärksten Stücken der Fab Four. Aus nostalgischen Gründen wurde das Lied dennoch aufgenommen, kann aber von den Brother Brothers nicht aus seiner Behäbigkeit gerettet werden. Schade eigentlich.

    Als der Jazz-Trompeter Chet Baker im Jahr 1954 "Chet Baker Sings" veröffentlichte, gab es nicht wenige Kritiker, die seine Stimme als zu wenig voluminös und zu unsicher bezeichneten. Heute gelten die Gesangsaufnahmen als Krönung seiner Karriere. Dazu gehört auch "I Get Along Without You Very Well (Except Sometimes)", geschrieben von Hoagy Carmichael. Adam und David Moss arrangieren das Stück zusammen mit Rachel und Emily Price als mehrstimmige A cappella-Nummer im perfekt produzierten Stil der Jazz-Pop-Gesangstruppe The Singers Unlimited.

    Der Singer-Songwriter Robert Earl Keen Jr. ist hier nie so richtig bekannt geworden und das zu Unrecht, denn er hat im Laufe seiner seit den 1980er Jahren andauernden Karriere etliche erstklassige Alben und Songs abgeliefert, die er mit seiner rustikalen Stimme veredelte. "Feelin’ Good Again" vom 1998er Album "Walking Distance" zeigt den modernen Minnesänger und studierten Journalisten als aufgeräumten Troubadour mit Hang zum Optimismus. "Dieser Song spricht für sich selbst als der Wohlfühlsong des Jahrhunderts", meinen die Moss-Brüder zu ihrer Auswahl und verpacken ihren bedächtigen Gesang mit Good-Time-Bluegrass-Noten.

    Die Verdienste von Richard Thompson als Komponist, Sänger und Gitarrist zu loben, hieße Eulen nach Athen zu tragen. Der Brite ist seit Ende der 1960er Jahre eine Folk-Rock-Institution und begeistert bis heute immer wieder mit herausragenden Produktionen. "Waltzing’s For Dreamers" hat jetzt auch schon 21 Jahre auf dem Buckel und ist bei den vielen tollen Liedern von Thompson etwas untergegangen. Auch deshalb haben die Brüder es ausgegraben und mit Anmut überschüttet.

    Die sehnsüchtige Komposition "High Sierra" wurde von Harley Allen, dem Sohn der Bluegrass-Legende Red Allen, geschrieben und 1999 von Dolly Parton, Emmylou Harris und Linda Ronstadt über ihr Album "Trio II" bekannt gemacht. Um die weibliche Anmut der "Trio II"-Aufnahme zu retten, haben sich die Zwillinge Michaela Anne als Gast-Stimme eingeladen und um der innewohnenden Trauer des Liedes Ausdruck zu verleihen, lassen sie eine Geige leise Tränen weinen.

    "Blue Virginia Blues" ist ein flotter Bluegrass-Song, der erstmals 1986 von Bill Harrell & The Virginians virtuos eingespielt wurde. Die Lebensfreude und das Tempo wurden für "Cover To Cover" übernommen, so dass diese Version eher eine originaltreue Hommage und keine Übersetzung in neue Deutungen geworden ist.

    Von Tom Waits gibt es seit dem großartigen "Bad As Me" aus 2011 keine neue Musik mehr. Umso dankenswerter ist es, dass mal jemand an sein Werk erinnert: "Flower’s Grave" stammt aus seinem Album "Alice", das zeitgleich mit "Blood Money" 2002 herauskam und eines von den ruhig schunkelnden, ergreifend-knorrigen Stücken ist, die zum Markenzeichen des individuellen, kauzig-liebenswerten Musikers geworden sind. Schon allein wegen der stimmlichen Unterschiede kann es hier keine bloße Kopie geben. The Brothers Brother haben eben keine tiefen Stimmen und gleichen diesen atmosphärischen Unterschied durch dunkle Streichinstrumente aus, so dass der Track dadurch eine emotionale Tiefe verliehen bekommt.

    Wer The Milk Carton Kids oder das Ehepaar Gillian Welch/David Rawlings schätzt, der sollte sich unbedingt "Cover To Cover" anhören. Immer wenn es gefühlsecht, langsam, innig und ruhig wird, ist die einfühlsam-betörende Interpretation der Zwillingsbrüder nicht zu schlagen. Man kann sich ihrer raffinierten Verführungskünste nicht entziehen.

    Ihre Songauswahl ist beinahe vollständig stimmig und insgesamt hochwertig ausgefallen. "Cover To Cover" ist auf jeden Fall ein wunderschönes Cover-Album geworden, dass eine überlegene Musikalität aufweist und auf weitere Taten gespannt macht. The Brother Brothers müssen unbedingt im Auge behalten werden!
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