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    LittleWalter Top 25 Rezensent

    Aktiv seit: 03. September 2010
    "Hilfreich"-Bewertungen: 1129
    480 Rezensionen
    What Do You Desire Elis Noa
    What Do You Desire (CD)
    05.12.2020
    Klang:
    5 von 5
    Musik:
    3 von 5

    Bei Elis Noa wird Electro-Pop manchmal zur Kunstform erhoben.

    Es geht um nichts weniger als das Wesentliche: Was erwarte ich vom Leben? Bin ich glücklich oder habe ich mich nur mit meiner Situation arrangiert? Es geht in den Songs von Elis Noa also um (Innen-)Einsichten, Selbsteinschätzungen und Wünsche.

    Der Name Elis Noa war ursprünglich ein wohlklingendes Wortspiel, hat also keine wirkliche Bedeutung. Es gibt nämlich keine Person dieses Namens im Umfeld der Musiker. Elis Noa kommt aus Wien und wird seit 2016 von der Sängerin, Keyboarderin, Gesangslehrerin und Komponistin Elisa Godino sowie dem Saxophonisten, Keyboarder, Produzenten und Komponisten Aaron Hader geleitet. Das Projekt wird noch durch Angel Vassilev (Keyboards) und Michael Schatzmann (Schlagzeug) komplettiert.

    Die Künstler haben ein Konzept, denn sie möchten bedeutungsvolle Themen mit unterhaltend-reizvoller Pop-Musik verbinden. Dazu wählen sie ein luftig-raumfüllendes Ton-Gewand mit Schwerpunkt auf elektronischer Instrumentierung und hingebungsvollem Gesang.

    Der Spoken-Word-Beitrag "What Do You Desire (Part One)?" leitet das Album eindeutig ein: "How Does It Feel To Be Afraid?" lautet eine der Fragen, die von den Musikern in diesem Epilog aufgeworfen werden, um den interessierten Hörer mit Normen und Werten zu konfrontieren.

    Obwohl Synthesizer-Klänge bei "Nude" im Vordergrund stehen, hat der Titel eine warme, ja sinnlich-knisternde Ausstrahlung. Elisas Stimme agiert beweglich und klingt klar und ausdrucksvoll. Sie belebt dabei die Maschinen-Klänge und haucht ihnen erwartungsvolle Erotik ein.

    Zwischen Orient und Okzident ist "Tell Me I'm Lying" angesiedelt. Exotisch anmutende Klänge tauschen sich mit gemäßigten Club-Sounds aus und führen zu Schwingungen, die universell einsetzbar sind.

    "Still Nothing (Goddamn)" versucht sich in der Chillout-Zone anzusiedeln, scheitert aber letztlich daran, dass der Track keine besonderen Überraschungen bietet.

    Anders ist das bei "Love Letter". Für diese Ballade wird der Gesang der hohen Tonlagen ab und zu lautmalerisch eingesetzt. Das hört sich dann wie ein arabisches Blasinstrument an.

    "Devine" beginnt ruhig und langsam, versucht tendenziell auch in diesem Modus zu verweilen, wird aber mitunter durch pulsierende Synthesizer-Trommeln aus der Reserve gelockt.

    "Hideaway" verbindet das Schummrige einer Late Night-Jazz Piano-Nummer variabel mit der Lässigkeit eines coolen Electro-Pop und "Stay And Watch" knüpft da an, wo "Hideaway" aufgehört hat, wobei der Dance-Pop-Anteil allerdings wesentlich erhöht wird. "Take My Hand" setzt im Gegensatz dazu auf würdige Intimität, benutzt aber auch Effekthascherei in Form von Stimmen-Verzerrung, um sich nicht in Gefühlsduselei zu verlieren.

    Die Frage nach den Erwartungen in der Partnerschaft wird bei "What Do You Desire (Part Two)?" als Wortbeitrag aufgegriffen: Man plädiert für einen offenen, angstfreien Umgang miteinander. Die letzten zwei Minuten gehören "Try To Catch Me", einer raffiniert-subtilen Folk-Jazz-Ballade mit Weltmusik-Flair, die fein gesponnen, hypnotisch strukturiert und selbstbewusst umgesetzt wird.

    Elis Noa agieren vorsichtig, wenn es darum geht, Electro-Pop zur Kunstform zu erheben. Es gibt zwar einen philosophischen Überbau, die Musik kann sich aber nicht immer eindeutig von den aktuellen Konventionen der Club-Szene lösen. Aber es gelingt doch einige Male, ausgetretene Pfade zu verlassen (schließlich haben Elisa und Aaron Jazz studiert, sie können sich also in komplexen Strukturen bewegen). Dann zeigt Elis Noa Klasse, Eleganz, Feingefühl und Esprit.
    Jazz Is Dead 3: Marcos Valle Jazz Is Dead 3: Marcos Valle (CD)
    05.12.2020
    Klang:
    5 von 5
    Musik:
    5 von 5

    Jazz Is Dead = futuristisches Kopfnicken Richtung Vergangenheit.

    Adrian Younge und Ali Shaheed Muhammad haben grade einen produktiven Lauf: Im April 2020 kam unter ihrer Regie "Jazz Is Dead 001", eine Platte mit verschiedenen namhaften Musik-Größen, die zusammen mit aufstrebenden Talenten spielten, auf den Markt. Am 31. Juli 2020 folgte die physische Veröffentlichung einer Zusammenarbeit mit dem innovativen Jazz-Groove Vibraphonisten Roy Ayers ("Roy Ayers JID 002") und nun gibt es bereits das nächste Projekt in Form einer gemeinsam entwickelten Musik mit der brasilianischen Bossa Nova-Legende Marcos Valle.

    Der Name und die Idee JAZZ IS DEAD entsprang einer Konzertreihe aus dem Lodge Room in Los Angeles, die von dem Promoter Andrew Lojero konzipiert und organisiert wurde. Im Grunde handelte es sich dabei um Treffen zwischen verdienten und jungen Künstlern, was sich nun auf dem Label fortsetzt. Diese Veröffentlichungen werden von Ali Shaheed Muhammad (New Yorker DJ, Produzent und Gründer der HipHop-Formation A Tribe Called Quest) und dem Produzenten, Komponisten und Arrangeur Adrian Younge betreut. Aufgenommen wird immer rein analog in dem Ton-Studio von Younge.

    Die Ausgangslage und musikalische Ausrichtung der neuen Tribut-Reihe bezeichnet Ali Shaheed Muhammad gerne als "futuristisches Kopfnicken Richtung Vergangenheit". Es handelt sich also um Bewahrung und Belebung von Kulturgut. Die Einbeziehung von berühmten Musikern läuft dabei völlig unterschiedlich ab. So war Roy Ayers nur Gast auf dem ihm gewidmeten "Jazz Is Dead 002"-Werk, Marcos Valle wirkt dagegen auf "Jazz Is Dead 003" bei fast allen Tracks als Sänger mit und spielt Piano.

    Marcos Valle gehört neben Sergio Mendes (in dessen Band The Brazil `65 er über ein halbes Jahr Mitglied war), Antonio Carlos Jobim, Gilberto Gil, Caetano Veloso und João Gilberto in Brasilien zu den musikalischen Nationalheiligtümern. Schon mit sechs Jahren lernte der 1943 in Rio de Janeiro geborene Künstler Klavier spielen, mit zwanzig hatte er seinen ersten Hit im Zuge der zweiten Bossa Nova-Welle und als er 23 war, erschien seine erfolgreichste Komposition "Summer Samba", die 1968 in den U.S.A. bis auf Platz 2 der Charts kletterte und von der es über 180 Cover-Versionen gibt: Ende der 1960er Jahre erweiterte Valle seinen Sound um psychedelische Elemente, Jazz, Pop, Funk und Soul. Neben Auftragsarbeiten für Soundtracks und Telenovela-Jingles hatte der Brasilianer bis 1974 noch Zeit erübrigt, sechs weitere Psychedelic-Pop und -Soul-Werke aufzunehmen. So wie das selbst betitelte, betont ausgeruht-melodische Album mit dem "Bett"-Cover aus dem Jahr 1970: Bis 1980 lebte er dann in den U.S.A. und beschränkte sich auf das Produzieren von z.B. Sarah Vaughan und Airto Moreira. Die nebenbei gesammelten Erfahrungen mit Soul, Funk und Disco beeinflussten seine nächsten drei Alben, die aber keine großen Erfolge mehr waren. Die 1990er Jahre brachten dann mit dem aufkommenden Brazilectro und der Renaissance des Easy Listening die Bossa Nova wieder ins Rampenlicht und Bewusstsein der jungen Leute. Seitdem ist Marcos regelmäßig auf Tour und konnte 2013 sein 50jähriges Bühnenjubiläum feiern.

    Marcos Valle traf das erste Mal Anfang 2019 in Rio de Janeiro wegen der Organisation eines JAZZ IS DEAD-Konzertes auf Younge & Muhammad. Schon im Mai nahmen die Musiker dann per E-Mail Kontakt für die Produktion des vorliegenden Albums in Los Angeles auf. Valle war so angetan, dass er die Demos innerhalb von kurzer Zeit mit seinem Gesang bereicherte. Auf dem fertigen Werk sind jetzt acht Stücke enthalten, sieben davon mit Gesang.

    "Queira Bem" lebt vom zurückhaltend-engagierten Ensemblespiel, dem lässig groovenden Takt und dem in Lautmalerei vertieften, erzählenden Gesang. Der Song vereint kreative Spielfreude aus dem Jazz mit ausgeglichener Folklore, die die Bossa Nova beisteuert.

    Das swingende "Isso É Que Eu Sei" wird hauptsächlich von einem knurrend-kräftigen Bass und einem stabil agierenden Schlagzeug gestützt. Ein E-Piano begleitet den federnden Sound vorsichtig und durch eine Funk-Gitarre wird das vielschichtige Chanson partiell aufgewühlt. Die ganze Situation flankieren und umwehen dann noch liebliche sphärische Chöre. Marcos Valle singt dazu wie ein eleganter Verführer - sanft, aber zielgerichtet.

    "Oi" umgibt eine sinnliche Aura, die durch das verschleppte Tempo und die verschachtelten Instrumenten-Beiträge noch intensiviert wird. Das klingt dann wie der Prototyp einer entspannten Cocktail-Bar-Untermalung, ist aber so schön, individuell und zärtlich, dass sich jede Zuordnung zu Klischees von vornherein verbietet.

    Bei "Viajando Por Aí" erfolgt eine Verdichtung des Sounds. Marcos Frau Patricia Alvi zeigt sich als effektive, auffallende Duett-Partnerin und die Musiker brillieren dazu solistisch, achten dabei aber auf einen kompakten Gruppen-Sound. Die Nummer vermittelt kontrollierten Schwung, der sowohl Lebensfreude wie auch Coolness ausdrückt.

    "Gotta Love Again" kombiniert danach gesungene Worte mit Fantasie-Lauten. Die Begleitmusiker zeigen sich ebenso einfallsreich und lassen den Song sowohl gefühlvoll fließen wie auch spritzig aufkochen.

    Im Stück "Não Saia Da Praça" scheint der Gesang zunächst nicht mit den munteren Instrumenten synchron zu laufen. Dieses Stilmittel ist aber wohl gewollt, zumindest vermittelt es eine gewisse Extravaganz und Eigenständigkeit, die sich im Verlauf zu Gunsten eines flüssigen, voluminösen Ablaufs auflöst und den Track in ein flottes, geschmeidiges Umfeld überführt.

    "Our Train" ist der einzige Titel ohne Gesang. Der Rhythm & Blues-Samba wird mit Hilfe von Synthesizer- und Gitarren-Soli abwechslungsreich dargeboten. Aber dennoch vermisst man Marcos Stimme, die bei den restlichen Titeln jeweils das Sahnehäubchen auf der Glanzleistung der Musiker darstellte.

    Ein diskret angeschlagenes E-Piano sorgt bei "A Gente Volta Amanhã" für eine erwartungsvolle Stimmung. Valle nimmt sich dieser anspruchsvollen Aufgabe an, singt dazu konzentriert und nachdenklich, bevor aufdringliche, futuristisch klingende Synthesizer die nüchterne Atmosphäre zerreißen.

    "Jazz Is Dead 003" beinhaltet Musik, die aus dem Gedankengut der Vergangenheit gespeist, aber so aufbereitet wird, dass sie im Hier und Jetzt ihren Platz findet. Sie hört sich anregend wie auch aufregend an und wird sowohl kompetent wie auch phantasievoll umgesetzt.

    Dieser Bossa Nova-Jazz ist zwar intellektuell geprägt, aber durchgängig angenehm konsumierbar. Es macht einfach Spaß, dem Einfallsreichtum der Musiker zu lauschen. Dazu passt die makellose Produktion, die die Töne klar und transparent im Raum schweben lässt. Die richtungsweisende Ästhetik von "Jazz Is Dead 003" befreit den Jazz von unnötiger Kopflastigkeit und befördert ihn in einen Bereich der Musik, wo Spaß, Sensibilität und instrumentale Raffinesse eine entscheidende Rolle spielen.

    Jazz Is Dead ist ein vielversprechendes Label, das schon die nächste Veröffentlichung plant. Dann geht es um die Präsentation des brasilianischen Trios Azymuth, für das Marcos Valle mit seinem Instrumental-Titel "Azimuth" vom 1969er-Album "Mustang Cor De Sangue" Pate gestanden hat.
    Meine Produktempfehlungen
    • Jazz Is Dead 1 Jazz Is Dead 1 (CD)
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    Halluzinationen Sophie Hunger
    Halluzinationen (CD)
    05.12.2020
    Klang:
    5 von 5
    Musik:
    5 von 5

    Für Sophie Hunger ist "Halluzinationen" ein anderes Wort für Musik.

    Halluzinationen sind optische oder akustische Sinnestäuschungen, die durch Erkrankungen des Zentralen Nervensystems oder durch chemische Substanzen hervorgerufen werden. Sie können aber auch eine völlig neutrale Ursache haben. Einen wachen, vor Aktivität sprühenden Geist zum Beispiel. Der kann bei der in der Schweiz geborenen und derzeit in Berlin lebenden Künstlerin Sophie Hunger auf jeden Fall vorausgesetzt werden. Die 37 Jahre alte Frau ist mehrsprachig aufgewachsen und zeigte im Zuge ihrer bisherigen Veröffentlichungen ein ausgesprochenes Talent für unerwartete Wendungen und unkonventionelle Stilbrüche in der Musik.

    Das siebte Album "Halluzinationen" entstand an nur zwei Tagen in den berühmten Abbey Road-Studios in London. Und das wieder unter der Regie des Produzenten Dan Carey. Es knüpft also im Prinzip da an, wo die letzte Platte "Molecules" von 2018 aufgehört hat, für die allerdings ein Entstehungsprozess von sechs Wochen nötig war.

    Das aktuelle Werk wurde insgesamt sechs Mal mit fester Band ohne Overdubs eingespielt und eine Auswahl daraus fand jetzt den Weg auf den vorliegenden Tonträger. Ein Großteil der verwendeten Aufnahmen stammt aus dem vierten Take, also dem ersten Durchlauf am zweiten Tag, als die Produktion eigentlich schon im Kasten war und eine gewisse Anspannung in Lockerheit überging.

    Was diesen Liederzyklus mit dem Vorgänger verbindet, ist der auffallende, prägende Einsatz von elektronischen Instrumenten. Was die Musik vorrangig unterscheidet, ist der aktuelle, intensiv-attraktive Einsatz eines richtigen Schlagzeugs von Julian Sartorius, was wesentlich zur Lebendigkeit der Stücke beiträgt.

    "Liquid Air", der Titel des Openers, ist ein Begriff aus der Berliner Kneipen-Szene. Es handelt sich dabei um einen angesagten Pfefferminzlikör (auch "Berliner Luft" genannt), durch den das Thema "Nachtleben" nach dem Song "I Opened A Bar" von "Molecules" nochmal aufgegriffen wird. Als Untermalung bildet sich ein Funk-Swing heraus, der aufgrund seiner Brüche und Tempowechsel - verbunden mit kreiselnder Space-Age-Elektronik - ein packendes Wechselspiel aus Melodie-Seligkeit und rhythmischem Knistern aufbaut. Es lebe die Vielfalt!

    "Finde Mich" macht als zackiges Jazz-Chanson eine gute Figur. Das Piano bestimmt den treibenden Puls und das Schlagzeug spielt dazu elastische Figuren, die von Sophie gesanglich individuell unterschiedlich ausgepolstert werden. In der Lyrik begegnen sich die Begriffe "Wahrheit und Wahn", die die Komponistin in einen thematischen Zusammenhang gebracht hat. In einer besseren Welt wäre das Lied ein Hit!

    Mit dem Song "Halluzinationen" taucht die Musikerin wieder offensiv in ihre schon oft praktizierte kontrastreiche Welt ein. Die Musik beginnt mit eckig-zickigen Tönen, nimmt aber später nach Harmonie gierende Passagen auf, um sich im Anschluss wieder in einen Wechsel aus Unbequemlichkeit und Sympathie-Bedürfnis zu begeben. Textlich wird dieses Konstrukt mit Schilderungen, die sowohl Abscheu wie auch Begeisterung ausdrücken, garniert. Ein Hoch auf die gemischten Gefühle!

    Das pulsierend-quirlige Piano verbreitet im Track "Bad Medication" eine gewisse präzise Klarheit und autoritäre Ordnung, die im Allgemeinen der Klassik zugeschrieben wird. Die weiteren Beteiligten sind eifrig damit beschäftigt, die Stimmung kunstvoll aufzulockern, ohne Übermut walten zu lassen. Yin trifft auf Yang!

    Eine gewisse Eile befällt "Alpha Venom". Geräusche, die sich wie eine schnaufende Dampflok anhören, geben dem Electro-Pop zusätzlich den Anschein, rasch ein Ziel erreichen zu wollen. Dennoch gerät das Lied nicht aus den Fugen und wird diszipliniert zu Ende gebracht. Ein Triumph des Willens!

    Der nicht nur sprachlich merkwürdige Titel "Rote Beeten Aus Arsen" bezieht sich auf eine Suppe, die in dem geschilderten Zusammenhang von einer fiktiven, rationalen, desillusionierten deutschen Frau gekocht wird. Deren nicht grade schmeichelhaftes Psychogramm liegt dieser intensiven, romantisch-düsteren Piano-Ballade inhaltlich zugrunde. Die Seele kann ein dunkles Loch sein!

    Es folgt ein Kontrast: Das tanzbare, zweckoptimistische "Everything Is Good", will gute Laune unbedingt mit einer hüpfend-leichten Melodie erzwingen. Der Titel referenziert auf eine Zeichnung von David Shrigley, bei der drei Daumen überdimensional in die Höhe gestreckt werden. Humor ist, wenn man trotzdem lacht!

    Bei "Maria Magdalena" geht es um eine Prostituierte, die Sophie aus dem Fenster ihrer Wohnung beobachtete, was bei der pfiffigen Musikerin eine fantasievolle Vorstellung (oder nennen wir es "Halluzination") über ihre Motivationen ausgelöst hat. Der gewählte Jazz-Folk-Hintergrund hat Biss, lässt sich aber auch treiben und vermengt Elektronik und Akustik so eng, dass die Unterschiede irrelevant werden. Freiheit im Denken lässt alle Schranken fallen!

    Eine ähnliche Instrumentierung mit höherem Tempo gibt es bei "Security Check" zu hören. Der Jazz räumt dem Pop ein wenig mehr Platz als zuvor ein, bleibt aber spielbestimmend. Und wenn dann noch schaumige Schwebe-Klänge erklingen, verschmelzen Realität und Traum miteinander. Was wäre das Leben ohne Illusionen?

    Konzentration und Ruhe bestimmen "Stranger", das zunächst einsam am Piano mit eindringlichem Gesang versehen wird: Die Stimme wirkt dabei traurig, erzählt nüchtern oder transportiert sehnsüchtige Erwartungen. Erst gegen Ende sorgen ein himmlischer Chor und ein kaum merkliches Schlagzeug dafür, dass der Song die Bodenhaftung verliert und sich in der Unendlichkeit auflöst. Aber Alles ist mit Allem verbunden und so geht nichts verloren!

    Für Sophie Hunger ist "Halluzinationen" ein anderes Wort für Musik, wie sie im ZDF-Morgenmagazin am 27.08.2020 verriet. Wenn das so ist, dann sollen die Klänge also wie eine Droge wirken. Töne können sowohl geistige wie auch körperliche Impulse erzeugen, die gewöhnliche Musik-Erlebnisse vergessen lassen. Durch triviale und ungewöhnliche Einfälle, die manchmal unbedarft miteinander verheiratet werden, wird so für allerlei substanzielle Unterhaltung gesorgt.

    Für mich ist "Halluzinationen" das bislang überzeugendste Werk von Sophie Hunger geworden, denn ihr ist eine erfrischende Balance zwischen prickelnder Spontanität und gediegener Reife gelungen. Schade nur, dass die anregende Reise bereits nach 36 Minuten zu Ende ist.
    Meine Produktempfehlungen
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    05.12.2020
    Klang:
    5 von 5
    Musik:
    5 von 5

    Paul Armfield fragt sich: Was ist Heimat?

    Paul Armfield beschäftigt sich auf "Domestic" mit einer Frage, die schon seit längere Zeit kontrovers diskutiert wird: Was ist Heimat? Ist es das private Zuhause, der Ort in dem man ansässig ist oder das Land, zu dem man sich zugehörig fühlt? Oder handelt es sich dabei einfach um ein Wohlgefühl, das nicht unbedingt geographisch zugeordnet werden muss?

    Der in Birmingham geborene und auf der Isle Of Wight in Süd-Ost-England lebende Musiker berücksichtigt seit seinem ersten Album "Songs Without Words" von 2003 inhaltlich gerne das Innenleben der Menschen, ihre Gefühle, Wünsche, Neigungen und Schwächen. Aber die Zeiten sind so beunruhigend, dass es ohne die Einbeziehung von politischen und gesellschaftlichen Themen nicht mehr geht. Der Brexit, das Unvermögen von Regierenden, vernünftig für ihre Bürger zu sorgen, leere Sozialkassen, Ungleichbehandlung, Corona, Umweltzerstörung und Klimawandel sind ja schließlich Gründe genug, um schlaflose Nächte zu bekommen.

    Aber nicht nur die Welt steht vor einem Umbruch, auch Pauls privates Umfeld hat sich in den letzten Jahren gewandelt. Er gab seinen Buchladen auf und beendete sein Engagement in einem Kunstzentrum. Und nun sind auch noch die Kinder aus dem Haus. Das war ein schwerwiegender Einschnitt, weil dadurch ein Teil der Identität und des bisherigen Lebensinhalts wegfiel. Das brachte Denkprozesse in Gang, wobei Sinnfragen und Zielfindungs-Prozesse ausgelöst wurden. Daraus folgte unter anderem: Es war wieder Zeit, sich intensiver mit Musik zu beschäftigen.

    Aus den geschilderten, vielfältigen Beweggründen ist das siebente Werk "Domestic" ein besonders wichtiges Projekt des sanften Hünen. Die zehn neuen Lieder wurden in Stuttgart mit dem italienischen Gitarristen Giulio Cantore und den deutschen Musikern Johann Polzer (Schlagzeug) und Max Braun (Bass, Produktion) intim-zurückhaltend eingespielt.

    Paul Armfield hat als Solo-Künstler seinen persönlichen Ausdruck gefunden, der dem Folk verbunden ist, aber Genre-Grenzen ablehnt. Damit steht er in der Tradition von z.B. John Martyn oder Nick Drake. Er lernte aber auch von Lambchop oder den Tindersticks, wie eindringlich Musik mit wenigen Tönen sein kann. Diese Erkenntnis ist allerdings erst allmählich in ihm gereift: Der Folk-Noir-Gestalter, der jetzt über 50 Jahre alt ist, wuchs mit Musik im Spannungsfeld zwischen Frank Sinatra und Black Sabbath auf und spielte als Teenager zunächst Bass in einer Punk-Band. Nach und nach probierte er etliche Formen von Musik aus, verbrachte einige Zeit im Ostblock und kehrte dann in den 1990er Jahren in seine geografische Heimat zurück, gründete eine Familie, verkaufte Bücher, schrieb Songs und erweiterte erneut sein Musik-Verständnis.

    "Domestic" stellt in gewisser Weise einen Neuanfang in der Karriere des introvertierten Engländers dar, da seine letzte Veröffentlichung "Up Here" schon aus dem Jahr 2015 stammt. Es handelt sich bei der aktuellen Platte aber auch um eine Verdichtung der Fähigkeiten von Paul Armfield, die sich paradoxerweise in einem luftig-weitläufigen Sound kristallisieren. Die Konzentration auf die wesentlichen Bestandteile zeigt sich in einem inneren Halt und einem spannungsgeladenen Ausdruck der Lieder, der auf Erfahrung, Empathie und einen in sich ruhenden Geist hinweist. Letztlich zeigen die Tracks die prägenden Wertvorstellungen des Komponisten, Sängers, Gitarristen und Bassisten.

    Paul beschreibt die neuen Kompositionen als "Überlegungen zur Idee von Zuhause, dem Heimatort, der Zugehörigkeit und der Treue". Sie sind für ihn also eine besondere Herzensangelegenheit. Beim Opener "January" orientieren sich die Gitarren filigran im Raum und die Stimme nimmt vorsichtig abtastend ihre leitende Aufgabe war. Schließlich fügen sich die dadurch entstandenen dunkel schimmernden Sequenzen zu einer schlüssigen - wenn auch verschlungenen - rauschhaft-verträumten Folk-Jazz-Ballade zusammen.

    Auch das später auftauchende "Nowhere" erinnert an intim-kreative Westcoast-Hippie-Folk-Experimente. Dieses karg-romantische Stück bringt eine attraktive Gitarren/Bass/Schlagzeug/Keyboard-Zusammenstellung zu Gehör, die die Sinne betört und gleichzeitig die Konzentration auf das mysteriös knisternde, fragile Geschehen lenkt. Betrachtet wird der Rückzug aus Gemeinschaften, der die Gefahr mit sich bringt, dadurch irgendwann isoliert zu sein. Was unwillkürlich an den Brexit denken lässt.

    "I`m Not Here" ist die erste Single-Auskopplung und der einzige Song mit mehr als einem Wort im Titel. Es wird eine selbst gewählte Isolation geschildert, um dem Irrsinn der Gegenwart zu entgehen. Nichts hören, nichts sehen und nichts wahrnehmen, was von außen kommt, ist die Devise. Mit milder Ironie stellt Paul diese Alternative zum Umgang mit der Wirklichkeit zur Wahl. Dazu servieren die Musiker einen auf leisen Sohlen daher kommenden, unspektakulären Pop-Rock, der selbstzufrieden und genügsam erscheint.

    "You" ist tatsächlich das erste Liebeslied, das Paul für seine Frau geschrieben hat. Es beschreibt unaufgeregt tief empfundene Gefühle, die zart-elegant sowie geschmeidig fließend dargeboten werden. Das ist ein Liebesbeweis, der keine großen Gesten benötigt, sondern durch Aufrichtigkeit besticht und abgeklärt-ehrlich übermittelt wird. Das Stück macht einen warmherzigen, sanft-gnädigen Eindruck und ist romantisch gefärbt, ohne allzu kitschig zu wirken.

    "Home" ist das Schlüssel-Stück zur Einordnung des Heimat-Gedankens. Das Haus oder die Wohnung wird als Mikro-Kosmos des Daseins definiert. Die Musik bezieht seine meditative Wirkung aus einem beruhigenden Ablauf, wobei stützende Rhythmus-Impulse, die dem Bossa Nova entliehen sind, zugesteuert werden.

    Wird ein Vogel flügge, heißt es für ihn, das Nest zu verlassen und unabhängig zu werden. Dieses Lebensgefühl wird in "Fledgling" durch Töne symbolisiert, die teils innige Verbundenheit und teils positive Aufbruchsstimmung vermitteln. Genau das, was ansteht, wenn Kinder das Elternhaus verlassen.

    "Flagbearers" spaziert gemütlich-unaufgeregt im Walzer-Takt umher und versprüht eine Gelassenheit, die die Welt scheinbar in einen problemfreien Ort verwandelt. Dabei wird hier durch die Blume auf die spaltende Wirkung des Brexit hingewiesen und der Begriff der Nationalität hinterfragt.
    "Wrong" unterstützt ein Denkmodell, das konträre Meinungen zulässt und diese abwägt. Paul plädiert außerdem dafür, Fehler einzugestehen und gegebenenfalls zu korrigieren. Und schon wieder kommt der Brexit in den Sinn. Bei diesem Country-Folk überlagern sich manchmal die Instrumente, es bieten sich aber auch Szenen an, in denen die Töne nebeneinander stehen. Das führt trotz der melancholischen Grundausrichtung zu einer wachen Beweglichkeit.

    Bei "Heartache" wird es nochmal vielschichtig. Der Track beginnt als Jazz-Ballade mit flankierender Akustik-Gitarre. Dann setzt ein Raum füllender Gruppen-Sound ein, der einen coolen Tango/Surf/Swing-Mix erklingen lässt, der in ähnlicher Form auch von Calexico präsentiert werden könnte.

    Ein Hintergrund-Orgelpfeifen-Dauerton begleitet "Alone", bei dem dämmrig und gedämpft eine schwermütige, aber scharfsinniges Klima aufgebaut wird. Die Instrumentalisten lassen Jazz-Grooves und psychedelische Spritzer erklingen und Armfield singt dazu sanft und fürsorglich. Wie ein weiser, gutmütiger Schamane, der durch die Kraft seiner Worte heilen möchte.

    "Domestic" verdient es, konzentriert gehört zu werden, denn bei flüchtiger Betrachtungsweise könnten wichtige Details und musikalische Finessen überhört werden. Denn Paul Armfield macht Musik, die bei z.B. "I`m Not Here", "You" oder "Fledgling" unscheinbar empfunden werden kann. Dieser Eindruck wird dem Werk jedoch nicht gerecht, denn z.B. "January", "Nowhere", "Wrong", "Heartache" oder "Alone" geben dem Album darüber hinaus eine Ausrichtung, die den Folk weit aus seinen traditionellen Grenzen herausholt und ihm einen intellektuell-künstlerischen Anstrich verpasst.

    Diese Mischung sorgt für eine Lieder-Sammlung, die trotz der überwiegend gedankenverlorenen, getragenen Stimmung nicht langweilig wird. Der vollbärtige Menschenfreund füllt die Musik als ethisch-moralischer Taktgeber mit humanistischen Prinzipien aus und vertritt in dieser Rolle den Anstand und das gute Gewissen seiner Heimat.
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    • Up Here Paul Armfield
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    Øjeblikke Vi Husker (Moments We Remember) (in Deutschland exklusiv für jpc!) Øjeblikke Vi Husker (Moments We Remember) (in Deutschland exklusiv für jpc!) (CD)
    05.12.2020
    Klang:
    5 von 5
    Musik:
    5 von 5

    Hvalfugl sind die Zukunft des Piano-Trio-Jazz,

    Sind die Skandinavier die Kanadier Europas? Diese auf den ersten Blick merkwürdig erscheinende Frage drängt sich deshalb auf, weil kanadische Musiker häufig traditionelle, anerkannte Genres anders deuten als die dort schon etablierten Künstler. So klingen die Roots-Kompositionen von Blue Rodeo z.B. häufig etwas ausgefallener als die ihrer gleichgesinnten Kollegen aus den USA wie z.B. The Jayhawks, ohne deren Leistung schmälern zu wollen! Ähnlich ist es auch im Jazz. Vergleicht man die modernen Spielformen der sonstigen Kontinental-Europäer mit der Musik aus den skandinavischen Staaten, so sind deren Töne häufig an einem sphärisch-weitläufigen, Melodie-betonten Sound zu erkennen. Klarheit und Weite strömt oft aus diesen Klängen. Eigenarten, die aus dem Lebensstil, der Musikauffassung und der nationalen Kultur entstehen, manifestieren sich augenscheinlich in der Musik. Das ist auch beim dänischen Trio Hvalfugl (= Wal) aus Aarhus zu beobachten.

    "Øjeblikke Vi Husker" heißt das dritte Album der Formation und bedeutet "Momente, an die wir uns erinnern". Dreizehn davon erhalten eine Interpretation, die nicht nur von der Stammbesetzung, bestehend aus Jeppe Lavsen (Guitar), Jonathan Fjord Bredholt (Piano, Harmonium) und Anders Juel Bomholt (Bass), aufgenommen wurden. Auch die Gastmusiker Jakob Sørensen (Trompete), Lasse Jacobsen (Schlagzeug) sowie Gabriella und Rebecca de Carvalho e Silva Fuglsig (Cello) spielen eine gewichtige Rolle bei der klanglichen Ausgestaltung der ausgewählten Erlebnisse.

    Gleich beim Opener "Snefald Over Fjorden" (Schneefall über dem Fjord) erhalten wir eine genaue Vorstellung davon, wie die Musiker Eindrücke aus der Natur in Töne umsetzen. Die kristallklare Trompete versetzt dem Stück eine angenehme Kühle und diese Noten tanzen sinnbildlich wie Schneeflocken über der ruhigen, melancholischen Melodie dahin. Das hat kammermusikalische Züge, wirkt entspannend, bleibt aber trotzdem anregend. Klingt paradox, ist aber so. Oder anders ausgedrückt: Man stelle sich Pat Metheney auf Valium vor, der auf Johann Sebastian Bach trifft, nachdem der psychedelische Pilze genossen hat.

    Das Prinzip von Reinheit, verbunden mit melodischer Schönheit, setzt sich bei "Polardrømme" (Polare Träume) fort. Die sauberen E-Gitarren-Töne erzeugen unaufdringliche Minimal-Art-Muster und der Bass übernimmt phantasievolle Leitungs-Funktionen, die eigentlich von der Gitarre erwartet werden. Das Klavier träumt dazu einen wohltuenden Traum. Wo führt das hin? In eine gelassene Zufriedenheit, die den Geist wach und aufmerksam hält. "Funklende Blikke" (Funkelnde Blicke) setzt eine Dreifaltigkeit von Schwingungen um: Intellektuelles Improvisieren, melodisches Feingefühl und folkloristische Heiterkeit treffen hier zusammen. Das Cello-Duo sorgt dabei für den seriösen Rahmen, wobei die Ernsthaftigkeit nicht raumgreifend, sondern schmückend ist.

    Hübsch, gesittet und leichtfüßig findet "Forglemmigej" (Vergessen sie mich nicht) seinen individuellen Weg in einer Mischung aus Pop-Verständnis, Jazz-Gedächtnis und Klassik-Gewissen. Die Umsetzung bleibt unverkrampft und ist so lässig umgesetzt, wie es nur irgendwie in dieser Kombination möglich ist. Gitarre und Bass bilden für "Fraktaler" (Fraktale = geometrische Muster) ein Ton-Gerüst, das einen Nachhall wie das allmähliche Verklingen von Kirchenglocken hinterlässt. Das Piano sorgt bei diesem Gebilde für das Fundament, auf dem ein festes Gerüst errichtet wird.

    Was macht den besonderen Reiz aus, wenn man sich unter einem Viadukt befindet? Das man sich im Vergleich zu dem imposanten Bauwerk als Mensch klein und verloren vorkommt? Oder ist es das blanke Erstaunen über die technische Meisterleistung, die in der Konstruktion steckt? Wie dem auch sei: Die Musik zu diesem Ereignis versprüht bei "Under Viadukten" (Unter dem Viadukt) erhabene Demut und ehrfürchtige Bewunderung, indem sie zurückhaltende Eleganz und virtuoses Können ausstrahlt.

    Auch wenn Hvalfugl mit "Sommereufori" (Sommer-Euphorie) dem klassischen Piano-Trio-Sound nahe kommen, so hat die Gruppe gegenüber einem Großteil der Konkurrenz einen erheblichen Vorteil: Bei ihnen steht beseelte Harmonie gleichberechtigt neben ungebremster Kreativität. Die Balance zwischen Leichtigkeit und Schwermut bleibt stets gewahrt, so dass der Hörer nicht überfordert, aber dennoch stilvoll unterhalten wird. Das Stück besticht nicht unbedingt durch Innovation, schafft es aber, durch Kontinuität einen Wiedererkennungswert zu schaffen.

    "Dugvåde Asfaltstriber" (Tau-nasse Asphalt-Streifen) wurde als Ballade konzipiert, verbreitet Wehmut und besitzt mit der präzise und hell gespielten E-Gitarre ein Instrument, das für markante Farbtupfer sorgt. Der Einsatz des Harmoniums bringt in Teilbereichen eine spirituelle Sehnsucht in das Stück ein. "Regnen Falder Som Sne" (Der Regen fällt wie Schnee) bewegt sich auf verschlungenen Jazz-Pfaden, die sich durch wechselnde Tempi auszeichnen. Wobei der Track von einer leicht überblasenen, rauschenden Trompete begleitet wird, die grundsätzlich die Führung übernimmt.

    Für "Lysning" (Spielraum) wird die funkelnde E-Gitarre mit Hall versehen, was ihr in diesem kurzen Intermezzo eine psychedelische Ausrichtung verleiht. Das Harmonium greift diese Tendenz mit wolkig-verschleierten Tonfolgen auf. Und als sich diese Komposition grade zu entwickeln beginnt, ist sie auch schon wieder vorbei. Schade. Oder bildet sie etwa die Einleitung zu "Vandrer Mig Til Ro", das mit seiner traurigen Grundstimmung und den dominanten Celli an die Paul Winter Consort zu Zeiten von "Icarus" (1972) erinnert?

    Es bleibt wohlig, traurig und entspannt: "Hold Mig I Hænderne" (Halte mich in deinen Händen) sendet flehentlich-betrübte Signale aus, die zu Tränen rühren. So ergreifend sind sie und so empfindsam-überwältigend werden sie dargeboten. Wie die Adaption eines alten Volksliedes erscheint "Der Hvor Alting Ender" (Wo alles endet). Die Melodie hinterlässt einen altersweisen, bodenständigen Eindruck und die Instrumentierung sorgt trotz eines dominanten Bass-Solos für solide, urwüchsig-beständige Fundament.

    Die Künstler von Hvalfugl bewegen sich stilistisch auf dünnem Eis. Solch sanft-verträumte Klänge können leicht in pseudo-intellektuellen Kitsch abrutschen, wenn Schönklang im Gewand von sauberer Instrumentenbeherrschung zum Selbstzweck wird. Aber die Skandinavier beweisen Fingerspitzengefühl und guten Geschmack. Die Musik ist recht eingängig, präsentiert aber dennoch einige auffallende Momente. Sie ist sensibel, ohne in Gefühlsduselei zu verfallen und sie nutzt traditionelle Elemente, ohne dabei bieder zu wirken.

    In dieser Form sind das Trio und ihre Gefolgschaft die Zukunft des Piano-Trio-Jazz, weil die Musiker statt in starren Strukturen zu verharren, lieber bewusst (oder unbewusst) in dem weiten Spektrum anspruchsvoller Unterhaltungsmusik wildern und sich dabei keine kompositorischen Ketten anlegen lassen. Natürlich haben sie bestimmte Wertschätzungen und Vorlieben entwickelt, die in etwa zwischen populärer Kammermusik, bewährter Folklore, atmosphärischem Jazz und kunstvollem Pop angesiedelt sind. Diese stellen aber nur einen grundsätzlichen Rahmen dar, der gerne gesprengt werden darf. Das macht die Musik so flexibel, frisch und freundlich. Es entstehen kurzweilige kultivierte Klänge, was ein schönes, angenehmes und seltenes Erlebnis ist.
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    Dance Dance (CD)
    05.12.2020
    Klang:
    5 von 5
    Musik:
    4 von 5

    Album Nr. 7 des Jazz-Trios.

    Am Anfang war der Tanz. Als der Jazz um 1900 in den Südstaaten der USA von der afro-amerikanischen Bevölkerung zunächst als Ragtime entwickelt wurde, diente er dazu, den ausgelassenen Bewegungsdrang der Menschen zu befriedigen. Auch Dixieland und Swing zwangen die Menschen aufgrund des ansteckenden Schwungs auf die Tanzflächen. Der Bebop, der in den 1940er Jahren populär wurde, hatte da schon sehr viel mehr Improvisationsanteile und markierte den Anfang des intellektuell geprägten Modern Jazz. Seitdem gab es diverse Spielarten, die entweder eingängig oder komplex klangen. Beim Jazz gibt es bis heute keinen Stillstand: Es werden immer wieder Genre-fremde Stile eingebunden, Traditionen aufgearbeitet und verschiedene Instrumentierungen ausprobiert.

    Das Tingvall Trio bereicherte 2006 mit dem Studioalbum "Skagerrak" die gediegene, verspielte und neugierige Jazz-Szene. Nach einer dreijährigen Veröffentlichungs-Pause seit "Cirklar" ist "Dance" nun schon Studioalbum Nummer sieben. Dazwischen lagen Auszeichnungen und erfolgreiche Tourneen, die den Musikern einen guten, gefestigten Ruf einbrachten. Engagements neben der Trio-Arbeit erweiterten den Horizont und erschlossen neue Möglichkeiten. So arbeitete der schwedische Pianist Martin Tingvall mit Udo Lindenberg zusammen. Der deutsche Schlagzeuger Jürgen Spiegel nahm 2019 ein Album mit dem polnischen Pianisten Vladyslav Sendecki auf (Sendecki & Spiegel - "Two In The Mirror") und der Kubaner Omar Rodriguez Calvo (Bass) war ohnehin ständig ein gefragter Session-Musiker und Fotograf.

    Aber zum "tanzbaren Jazz" ließ sich der bisherige Output der international besetzten Formation trotz deutlicher Einflüsse aus Pop, Rock und Latin wirklich nicht zuordnen. Die Idee, Tanz-Rhythmen rund um die Welt einzusammeln, entstand bei der Probe zum neuen Stück "Cuban SMS". Die Künstler fühlten sich von der Komposition ungeheuer angeregt. Deshalb ging man musikalisch weltweit auf die Suche nach belebenden Zutaten und entdeckte im Orient, auf Jamaika, in Spanien und in Latein-Amerika spannende Takte, die zu weiteren Anregungen führten.

    Das transparente Klangbild der aktuellen Aufnahmen hilft dabei, auch kleinste Anspielungen an die Titel der Kompositionen herauszuhören oder zumindest zu erahnen. So lassen die feinen, hohen Piano-Töne am Anfang von "Tokyo Dance" an feingliedrige, japanische Miniaturen denken. Martin Tingvall erhöht hier die Dynamik, indem er wirbelnde, donnernde Klavier-Akkorde absondert, die in der Tradition eines McCoy Tyner stehen. Er kehrt aber immer wieder zu sanften Momenten zurück, die von Jürgen Spiegel im Hintergrund ständig unter Strom gehalten werden. Wie man sich denken kann, kommt auf ihn bei der Rhythmus-Gestaltung eine besondere Herausforderung zu, da Tänze nun mal in der Regel treibende Takte verlangen. Omar Rodriguez Calvo bleibt ganz cool und steuert wuchtig-gelassene Bassläufe bei.

    Ethnische Trommelklänge gehen bei "Dance" relativ schnell und elegant in swingende Jazz-Cluster über, so dass der Track den Tanz universell und nicht speziell betrachtet. Der melodische und fantasierende Anteil ist sogar deutlich höher ausgeprägt als die körperlich stimulierenden Anteile.

    Bei "Spanish Swing" ist der Name Programm. Der Titel wird mit tollkühner spanischer Folklore geimpft und prescht dadurch übermütig und ungebremst voran.

    Als Tanz gehört "Flotten" eher zu den langsamen Ausdrucksformen oder zum Ballett. Der Track erzeugt balladeske Windungen und lebt von den bewährten Wirkungsweisen des Tingvall Trio: Alle drei Musiker bekommen nämlich Raum, sich handwerklich auszuzeichnen und ergänzen sich dabei prächtig. "Riddaren" wirkt überwiegend heiter. Die Fröhlichkeit kommt jedoch von innen, ist bescheiden und nicht ausgelassen oder überschäumend. Hier tanzen die Gedanken, aber nicht die Extremitäten.

    "Cuban SMS" war also der Auslöser für die "Tanz-Idee". Und ja, der Titel macht ordentlich Tempo und die wild-ausgelassen klappernde Percussion trägt den Hörer gedanklich in die Karibik. Alle Beteiligten absolvieren ein hohes Energie-Pensum, was in Summe zu einem stark verdichteten, impulsiven Sound führt. Zwischen Thriller-Jazz und exotischer Verspieltheit pendelt "Arabic Slow Dance" und nimmt so auch die sinnliche Mystik des Bauchtanzes in sich auf.

    Das Piano läutet für "Puls" einen dynamischen Parforce-Ritt ein, bei dem das Stück ständig am Brodeln gehalten wird, auch wenn das Piano manchmal in ruhige Gefilde übergeht. Jürgen Spiegel bleibt auch dann aufmerksam und lässt es krachen, klacken und rumsen, als ginge es um sein Leben. Omar Rodriguez Calvo baut Spannung auf, ohne sich zu sehr in den Vordergrund zu spielen. Dabei behält er die Übersicht und hält alle Fäden zusammen.

    Einen direkten Bezug zum Tanz lässt sich bei "Det Lilla" nicht unbedingt sofort erkennen. Die Komposition trägt sowohl romantische wie auch als Tondichtung ausgeprägte Züge. Sie lädt somit in erster Linie zum Nachdenken und Innehalten ein. Reggae stand bei "Ya Man" als Taktgeber Pate und verleiht der Komposition dadurch eine gewisse Körperlichkeit. Interessant ist dabei der Gegensatz, der durch das kultiviert-verstandesmäßig aufgebaute Klavierspiel entsteht.

    Der "Bolero" gewinnt nur allmählich an Leidenschaft, groovt sich langsam auf einen strammen Tanzschritt ein und wächst mit der Steigerung der Vehemenz zu einem starken, selbstbewussten Stück heran. Die "Sommarvisan" (= Sommerlied) betitelte Komposition wartet mit einer Melodie auf, die leicht und eingängig wie ein Volkslied sein kann. Würde sie nicht durch freigeistige Auslegungen torpediert, verändert und umgekrempelt werden. "In Memory" ist ein traurig gestimmter Track. Durch die sensible Vortragsweise denkt man sofort ans Abschied nehmen oder es kommen sehnsuchtsvolle Erinnerungen in den Sinn.

    Nicht alle Stücke auf "Dance" suggerieren oder provozieren Bewegung. Manchmal geht es auch um fiktive Tänze oder einfach um das Leben als Tanz durch die Zeiten. Das Tingvall Trio hat eine Ebene des Zusammenspiels erreicht, bei dem sich die drei Akteure optimal ergänzen und offensichtlich blind verstehen. Die aktuelle Ausweitung des rhythmischen Spektrums hat ihnen augenscheinlich Spaß gemacht und mobilisierte zusätzliche Assoziationen.

    Jetzt würde ich mir bei allem Erstaunen über die virtuosen Fähigkeiten wünschen, dass das Tingvall Trio in Zukunft ihren Klangraum noch weiter ausweitet. Andere Mitspieler, neue Stil-Fusionen und ein Sprengen des üblichen, erwarteten Jazz-Rahmens könnte die Formation in ungeahnte Sphären katapultieren. Die Möglichkeiten dazu besitzen die Musiker allemal.
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    Stop & Frisk Stop & Frisk (CD)
    05.12.2020
    Klang:
    5 von 5
    Musik:
    4 von 5

    "Stop & Frisk" ist aggressiv, heftig und schwierig, aber auch anregend.

    Jazz ist Vielfalt. Jazz umfasst zahlreiche Ausdrucksformen: Neben traditionellem Dixieland findet man unter anderem sphärischen ECM-Jazz und nervenzerfetzenden Free-Jazz. Und welcher Jazz-Fan kann sich schon für alle Ausprägungen begeistern? Tribe ist ein Quintett, das vom Trompeter John-Dennis Renken, der auch für die Electronics zuständig ist, geleitet wird. Seine Formation hebt mal eben die Grenzen zwischen Jazz, HipHop, Dubstep, Pop und Rock auf und ist dabei abenteuerlustig, feurig und schwierig. Neben einem kraftvoll-explosiven Ensemble-Spiel gibt es auch immer wieder Demonstrationen der Fingerfertigkeit der Musiker zu hören.

    Der Titel "Stop & Frisk" bezieht sich auf das Recht der Polizei in den USA, jede Person ohne Grund anhalten und überprüfen zu dürfen. Das trifft erfahrungsgemäß besonders Menschen mit dunkler Hautfarbe. Mit diesem Missstand im Kopf hat die Gruppe das Eröffnungs-Stück wütend, freigeistig und brachial gestaltet. Der Bläsersatz, der neben John-Dennis Renken (Trompete) aus Angelika Niescier am Saxophon und dem Posaunisten Klaus Heidenreich besteht, spielt zunächst eckige, nervös-irritierende Fanfaren. Davon bleibt danach die Trompete über, die zu knallenden Schlagzeug-Break-Beats von Bernd Oezsevim ausufernde Improvisationen absondert. Der Sound erinnert in dieser Phase an den Jazz-Rock-Fusion-Sound von Miles Davis zu Zeiten von "Bitches Brew" (1970).

    "Meck" präsentiert den Gitarristen Andreas Wahl mit monoton-suggestiven Raumforderungs-Riffs, die jedoch rasch vom Bläser-Trio überlagert werden. Dies steuert gezügelte, kommunikativ zugängliche Töne bei und bringt das Stück so in eine recht melodische Ausgangslage. Im weiteren Verlauf sorgen einzeln eingesetzte Blasinstrumente für nahöstliche Exotik und freigeistige Enthemmung.

    "Dry Heat" agiert zunächst hektisch-nervös. Das äußert sich in Stakkato-haften Instrumenten-Einsätzen, die zunächst durch ein Posaunen- und dann durch ein Gitarren-Solo abgelöst werden. Danach geht es kurz mit einem druckvollen Ensemble-Sound weiter, bevor der Bass das Lead-Instrument wird und sich dann die Bläser wieder mit unterschiedlicher Intensität einmischen. "Einmal" ist überraschend lyrisch ausgefallen. Die Soli fallen nicht durch besonders übertriebene Exzentrik aus dem Rahmen und der Gruppensound swingt, wenn auch etwas neben der Spur. Aber das gehört zum Konzept.

    "XX" ist eines von drei Stücken, die John-Dennis Renken seiner Tochter gewidmet hat. Die Gitarre gebärdet sich hier anfangs wie ein wildes Tier, das sowohl an Ritchie Blackmore (Deep Purple) wie auch an Jimi Hendrix geschnuppert hat. Die Bläser-Sektion bringt Crime-Feeling ein, wobei das Tempo immer weiter heruntergefahren und die Stimmung immer friedvoller wird. Der Track endet dann mit etwa einer Minute Stille. "Quatschkopp" vermittelt tatsächlich den Eindruck von Gesprächen zwischen den Instrumenten. Mal wird durcheinander geredet, dann widersprüchlich argumentierend, später engagiert-aufbrausend oder beleidigt kommuniziert. Fun-Fact: Der Titel soll ziemlich gut den Charakter der Tochter von John-Dennis Renken beschreiben...

    Für "Löschversuch" wird das freie Spiel auf der E-Gitarre in den Mittelpunkt gerückt. Diese Auswüchse werden im Mittelteil der Komposition von einer ebenso dominanten Posaune verdrängt. Bis zum Schluss bleibt der Track dann überwiegend aggressiv und hektisch. Zu "Charlie`s Lullaby" berichtet John-Dennis Renken: " [Das Stück] habe ich geschrieben, weil Charlotte immer angefangen hat zu weinen, wenn sie meine Musik gehört hat, da musste etwas mit friedlichen Harmonien und Melodien her". Und so hören wir jetzt einen langsamen, sphärischen Track, bei dem die Blasinstrumente einen kühlen, weitläufigen Notenteppich ausbreiten und für eine ausgeglichene Atmosphäre sorgen. Dadurch hat die Tribe-Musik noch eine weitere Facette dazu bekommen.

    Über weite Teile kann man mit den Klängen auf "Stop & Frisk" - wie John-Dennis Renken ausgeführt hat - Kinder erschrecken, so wild und anstrengend sind sie. Glaubt man, den Sound zwischen Jazz-Rock und Free-Jazz erfasst und verdaut zu haben, dann kommen die Musiker schon wieder mit einer überraschenden Wendung um die Ecke. Immer hellwach und oft im Angriffsmodus rütteln sie an den Geduldsfäden und bringen unter Umständen Hörgewohnheiten tüchtig durcheinander. Auf diese Weise sorgt die Tribe-Truppe - je nach Auffassung - für anstrengende oder anregende Momente.
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    04.12.2020
    Klang:
    5 von 5

    Teil 2 des Jazz-Chanson-Pop-Mix von Inga Lühning & André Nendza.

    Auf der Homepage von Inga Lühning & André Nendza ist zu lesen: "Lühning & Nendza spielen Songs. Eigene. Und auch von Anderen. Auf eigene Art. Wagen einen Spagat von Degenhardt zu Michael Jackson. Und manches mehr. Lühning & Nendza spielen pur mit Stimme und Kontrabass. Und dann doch nicht so pur mit Loopern, E-Bass, Effekten und Bass-Schlitztrommel. Lühning & Nendza spielen Jazz, denn sie geraten sehr gerne auf improvisatorische Abwege. Und dann wieder zurück zu: Lühning & Nendza spielen Songs...". Das trifft es schon recht deutlich, denn wer sollte seine Kunst besser beschreiben können als die Künstler selbst.

    Ihre Ideen bringt das Duo jetzt schon zum zweiten Mal auf Tonträgern unter die Leute. Aber können die Musiker damit den in dieser Konstellation sonst oft üblichen verschnarchten Mief von steifer Kultur zum Zwecke der gesitteten Erbauung abstreifen? Hat ihr Eigen-/Fremdkompositions-Mix genügend Substanz, um eigenständig zu bestehen und auf hohem Niveau zu unterhalten, ohne konservativ zu wirken? Oder macht das Werk seinem Namen Ehre (Hodgepodge heißt soviel wie Mischmasch) und es hört sich wie ein unsortierter Gemischtwarenladen an? Wir werden sehen, beziehungsweise hören.

    "Hodgepodge Vol. 1" erschien 2017 und enthielt fünf Fremd- und sieben Eigenkompositionen. Dieses Verhältnis wurde auch bei der neuen Folge beibehalten. Sie beginnt mit einer Cover-Version von Shel Silversteins "The Ballad Of Lucy Jordan". Das Lied wurde durch eine zerschossen-kaputte Synthie-Pop-Fassung von Marianne Faithfull richtig bekannt. Hier geht es gesitteter zu. Inga singt sauber und harmonisch und André lässt seinen Bass wohlig grummeln. Der Schönklang wird durch rhythmische Loops und Effekte zwar ein wenig aus seiner Komfortzone geholt, behält aber trotzdem die Obrigkeit. Revolutionäre Auswüchse werden im Keim erstickt.

    Inga Lühnings "Healing Song" verwendet Minimal-Art-Takte, die mechanische und ethnische Töne zusammen bringen. Die makellose Stimme bringt dazu hoffnungsvolle Töne ein und so entsteht ein schöner Art-Pop-Song! Bassist André Nendza steuert dann mit "Until" eine Ballade bei, die sowohl im Jazz, wie auch im Pop angesiedelt ist. Beide Stile laufen sowohl zusammen, wie auch getrennt voneinander ab. Das wohl in diesem Zusammenhang unvermeidliche Bass-Solo stellt allerdings einen Bruch da, der nicht unbedingt erbaulich, zielführend und nötig erscheint.

    "Du kannst zaubern" ist die norddeutsche Übersetzung des Bap-Songs "Do kanns zaubere" von 1982. Die stimmliche Phrasierung und die Jazz-Chanson-Interpretation des Liedes erinnern an Lisa Bassenge & Nylon. Das Erfüllen von Hör-Erwartungen spielt hier jedoch keine Rolle, vielmehr werden nach Herzenslust verschiedene instrumentelle Begleitungen ausprobiert und spielerisch ein paar Gesangsspuren montiert.

    Franz Josef Degenhardt ist einer der Urväter des politischen, sozialkritischen Liedes in Deutschland, der seine Verse radikal und bissig formulierte. Er galt als einer der Sprecher der 1968-Generation und damit des Klassenkampfes und nahm im Laufe seiner Karriere insgesamt 32 Platten auf. Lühning & Nendza sind Fans des Barden und wählten für ihren aktuellen Mischmasch das Lied "Deutscher Sonntag" aus, bei dem der Text im Prinzip wichtiger als die Musik ist. Deshalb stellen die Jazz-Künstler das Wort in den Vordergrund und untermalen den gesellschaftskritischen Inhalt sachdienlich mit intellektuellen Noten.

    "Wie im Märchen am Ende" ist - wie auch die nächsten vier Tracks - wieder ein Eigengewächs, das versucht, Chanson, Jazz und Kunstlied in ein Pop-Gewand zu kleiden. So funktioniert Innovation. "Actually, Actually" und "Nice Little Sleep" können dagegen keine Akzente setzen. Zu durchsichtig und bekannt sind ihre Muster. "Alone" schafft es dann, sich aus einem drögen, nur vom Bass begleiteten Stück zu einem Track zu entwickeln, der die Abenteuerlust der Jazz-infizierten Joni Mitchell-Kompositionen atmet. Das rettet den Song - beinahe.

    Für "In deinem Licht" singt Inga Lühning flüssig wie kühles Wasser, ahmt mit ihrer Stimme das Hi-Hat-Becken eines Schlagzeugs nach und legt später noch einen wolkig-schwebenden Background-Chor oben drauf. Diese Form des Pop-Jazz wird hierzulande viel zu selten praktiziert. Bitte mehr davon! "Kreise" ist die deutsche Fassung von "Windmills Of Your Heart", einem Chanson von Michel Legrand, das unter anderem 1969 von Dusty Springfield und 1999 von Sting gesungen wurde. Die bittere Süße und anklagende Strenge des Gesangs wird hier von einem akademisch-trockenem Bass-Solo aufgelöst, um nicht zu sagen zerstört. Die Alltagsbeobachtungen von Sven Regener sind immer zeitlos und unpeinlich. Davon kann man sich bei "Am Ende denke ich immer nur an dich" von Element Of Crime ein Bild machen. Die Lühning & Nendza-Deutung stellt bei dem Lied Pop-Chanson und Jazz-Scat-Gesang nebeneinander dar. Der Komposition schadet dies nicht, bringt sie aber auch nicht weiter.

    Inga Lühning & André Nendza sind erfahrene, hochkompetente Musiker. Keine Frage. Inga veröffentlichte zum Beispiel schon zwei eigene Platten, war in China und Äthiopien Kulturbotschafterin für das Goethe Institut, stand mit Marla Glen und den Fantastischen Vier auf der Bühne, sang 2019 in "Gottschalks große 80er Jahre Show" im Background für Paul Young und Nick Kershaw und ist Teil von "Andreas Schnermann`s Poetry Clan". André Nendza studierte in Köln und Hilversum Musik, arbeitete unter anderem mit Jazz-Größen wie Dave Liebman, Kenny Wheeler, Dave Pike und Charlie Mariano zusammen, ist auf über 70 Tonträgern zu hören und ein gern gesehener Gast auf diversen Jazz-Festivals. Darüber hinaus unterrichtet er an Hochschulen und heimste schon hochrangige Auszeichnungen ein. Vor den Leistungen der beiden Musiker kann man nur den Hut ziehen.

    Deswegen sind meine kritischen Anmerkungen wahrscheinlich nur kleinkarierte Sichtweisen eines Musikhörers, der eine etwas andere Erwartungshaltung mitbringt. Sie kratzen jedenfalls nicht an dem Können des Duos: "Hodgepodge Vol. II" verfolgt im Grunde genommen ein interessantes Konzept, das zu einer ungewöhnlich-herausfordernden Mischmasch-Zusammenstellung führt. Aber der entscheidende, durchgängige Schritt in Richtung Innovation, musikalischem Abenteuer und Bruch mit Konventionen fehlt. Die Künstler verlassen den Weg des Entdeckens und Forschens, um im vermeintlich sicheren Hafen zu ankern. Mehr Mut zu Neuland und zum Experiment hätte auch mehr individuelle Eigenständigkeit bedeutet.

    Ich wünsche mir von solchen Projekten immer neue Ausprägungen, alternative Kombinationen und eine Erweiterung des eigenen Horizontes. Das ist aber wahrscheinlich nicht unbedingt in letzter Konsequenz das Anliegen der beiden Musiker. Deswegen geht unser Anspruch hier manchmal auseinander. Das soll aber in keiner Weise das herausragende handwerkliche Können schmälern, welches hier demonstriert wird.
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    27.11.2020
    Klang:
    5 von 5
    Musik:
    5 von 5

    Eine anregende musikalische Zeitreise mit Fooks Nihil.

    Da sage noch jemand, Zeitreisen seien nicht möglich. Fooks Nihil beweisen das Gegenteil. Das Trio aus Frankfurt am Main und Wiesbaden katapultiert die Zuhörer in eine Zeit zurück, in der es noch Schwarz-Weiß-Fernseher und bevorzugt Vinyl-Platten als Tonträger gab. Die Wahrnehmung von Pop-Musik war damals besonders wichtig und wertvoll. Sie hatte beinahe religiöse Züge. So spaltete die Wahl zwischen Beatles und Stones Familien, Klassengemeinschaften und Freundeskreise. Aber noch viel entscheidender war die Bildung einer Jugendkultur, einer sozio-politische Zugehörigkeit und einer Abgrenzung zur erziehenden Generation. Dies wurde durch die Musik entscheidend beeinflusst.

    Diese Zusammenhänge werden durch Fooks Nihil wieder lebendig, ohne dass den Tönen dabei eine Retro-Muffigkeit oder ein bieder-öder Oldie-Geruch anhaftet. "Insight Of Love" atmet den Freiheitsdrang der Westcoast-Hippie-Kultur und verbreitet einen Sound, der direkt aus den Garagen der Vorstädte zu kommen scheint, in denen frustrierte Teenager ihren Vorbildern wie The Seeds oder Jefferson Airplane nacheiferten und huldigten.

    "Down From Where She Comes" versöhnt den Liverpool-Beat mit dem Los Angeles-Folk Rock: Die klanglichen Visionen der Beatles und der Byrds werden locker zu einer homogenen Masse verschmolzen. "Lady From A Small Town" lehnt sich an die Anfänge des Country- & Folk-Rock an: So hätte es sich anhören können, wenn Neil Young & Crazy Horse und die Eagles gemeinsam eine lässige Strand-Party feiern würden. An den Übergang vom Country- zum Soft-Rock erinnert "The Seer" und kommt damit manchmal der Pop-Phase von Fleetwood Mac nahe, hat aber auch eine engagierte Gesangsleistung zu bieten, die an John Lennon erinnert. Zwischen "Exile On Main Street" der Rolling Stones und "Running On Empty" von Jackson Browne pendelt "Long Days" und bewegt sich dabei geschmackvoll unter Einbeziehung einer weinenden Slide-Gitarre zwischen Rock und Pop.

    Die Harmonie von Crosby, Stills & Nash, der knackig-eingehende Rock von Tom Petty und der psychedelische Sound von Quicksilver Messenger Service finden sich als Mix in "What`s Left" wieder. Der erwachsene Pop von Elvis Costello trifft bei "Tales" ungebremst auf den treibend-aufmunternden Power Pop-New Wave der Plimsouls um Peter Case. Mächtige Orgelwände lassen bei "Homeless" an die Zombies ("Time Of The Season") denken und die Melodieführung ist dabei an "Mr. Soul" von Buffalo Springfield angelehnt.

    Die Ballade "Misery" bringt Erinnerungen an "Knockin`On Heavens Door" von Bob Dylan hervor und das bedächtige, ausgeklügelte "Surface Of Things" vereinigt die Ausgeglichenheit der Youngbloods mit der straffen Komponier-Kunst von Creedence Clearwater Revival. Auch wenn jedem Song Referenzen an die 1960er oder 1970er Jahre zugeordnet wurden, so ist dies in erster Linie einer lebhaften Erinnerung geschuldet und soll nicht etwa ein Plagiatsverdacht ausdrücken. Ganz im Gegenteil: Max Ramdohr (Gitarre, Gesang), Max Schneider (Schlagzeug, Gesang) und Florentin Wex (Bass und Gesang) verstehen es, die Vergangenheit lebendig zu halten, ohne bereits verwendete Ideen auszukosten oder unnötig widerzukäuen. "Fooks Nihil" ist kein billiger Aufguss, sondern eine raffiniert-vielseitige Verwertung bewährter Stilmittel, um auf zeitlose Qualitäten aufmerksam zu machen und diese in der Gegenwart neu aufleuchten zu lassen.
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    27.11.2020
    Klang:
    5 von 5
    Musik:
    4 von 5

    Teil zwei des ursprünglich geplanten Doppel-Albums von Ane Brun.

    Vor vier Wochen erschien mit "After The Great Storm" ein neues Album von Ane Brun, dass es den Hörern nicht unbedingt leicht machte, aber nichtsdestotrotz (oder grade deswegen) lohnend ist. Und nun stellt sich die Frage: Welche Ausdrucksformen wurden für den schnell hinterher geschobenen Nachfolger "How Beauty Holds The Hand Of Sorrow" gewählt, der ja eigentlich der zweite Teil des geplanten Doppel-Albums ist. Werden experimentelle Ausgestaltungen gesucht oder bewährte Folk-Noir-Strukturen angeboten?

    Der Opener "Last Breath" ist offensichtlich noch vom Tod des Vaters beeinflusst worden. Denn was sich zunächst wie die Ankündigung des Sonnenaufgangs anhört, wird rasch in eine Untergangsstimmung überführt. Schwerblütige Streicher erzeugen Trauer und legen sich betrübt und dominant wie ein Leichentuch auf die Seele. Trostlosigkeit macht sich breit und erzeugt einen Soundtrack für den Totensonntag. "Closer" führt weiter durch die Dunkelheit und dient als Diener der verlorenen Seelen und Betrübten, indem es zwischen Diesseits und Jenseits vermittelt.

    "Song For Thrill And Tom" bringt dann die Hoffnung zurück und zeigt, dass es einen Weg ans Licht geben kann. Himmlische Chöre weisen die Richtung und Ane verbreitet in diesem Gospel-Folk wachsende Zuversicht. "Meet You At The Delta" knüpft zarte Banden und ist so filigran, dass man kaum zu atmen wagt, um dieses empfindsame Gebilde nicht zu zerstören. Zur Erzeugung dieser tongewordenen Spinnweben bedarf es nur des mitfühlenden Einsatzes von Stimme, Gitarre und Piano.

    "Trust" ist dann wieder auf dem Boden der Tatsachen angekommen. Das Lied lässt zwar noch Verbindungen in sphärische Gefilde erkennen, setzt sich aber letztlich durch selbstbewusste Strukturen als lockerer Folk-Rock gegen den Sog der Traumwelten durch. "Gentle Wind Of Gratitude" pendelt mechanisch ablaufende Percussion und romantische Easy-Listening-Färbungen miteinander aus. So verlieren die Klassik-Pop-Elemente ihre Süße und die Rhythmen ihre statische Ausrichtung. Wenn das keine Win-Win-Situation ist...

    Die Kraft der Ruhe und die Ausgeglichenheit der Langsamkeit verhelfen "Breaking The Surface" zu einer meditativen Einkehr. Ganz selbstvergessen gleitet das Stück dahin und nimmt die Hörer mit auf eine Reise, die jenseits von Zeit und Raum stattzufinden scheint. Der amerikanische Pianist Dustin O’Halloran trägt für "Lose My Way" weich gezeichnete Töne bei, die die ruhige Nummer rücksichtsvoll unterstützen. Auf diese Weise fügen sich die flehende Stimme und die dezenten Streicher zu einem zart-anrührenden Gesamtkunstwerk zusammen. Aus dem modern arrangierten "Don’t Run And Hide" von "After The Great Storm" ist hier eine traurig-verzweifelte Piano-Version geworden, die die Schönheit der Komposition ans Tageslicht bringt.

    "How Beauty Holds The Hand Of Sorrow" kann als geläuterte, auf innere Werte komprimierte Schwester von "After The Great Storm" bezeichnet werden. "After The Great Storm" setzt auf das trotzige, nicht akzeptieren wollen von dem, was das Leben so anbietet. "How Beauty Holds The Hand Of Sorrow" lenkt ein und behält sich zumindest die Möglichkeit offen, dass es eine göttliche Fügung gibt, die alles in die richtige Bahnen lenkt. Auch wenn nicht unbedingt sofort erkannt werden kann, dass das so ist. Beide Methoden haben nebeneinander ihre Berechtigung und präsentieren eine Künstlerin, die offen für neue Einflüsse ist und sich nicht scheut, schwierige Wege zu gehen.
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    20.11.2020
    Klang:
    5 von 5
    Musik:
    5 von 5

    "Idiot Prayer" transportiert die Intensität eines speziellen Konzert-Ereignisses.

    Nun also doch! Zunächst hieß es, dass das Livestream-Konzert von Nick Cave, dass am 19. Juni 2020 übertragen wurde, exklusiv den zahlenden Fans zur Verfügung stehe. Jetzt wird es die Show nicht nur auf Tonträgern (Doppel-CD, Vinyl, Download), sondern auch - wenn möglich - im Kino geben. Eine anschließende Vermarktung auf DVD/bluray ist dann wohl auch nicht mehr ausgeschlossen. Vielleicht war es der Druck der Fans, der diese Marketing-Kehrtwende möglich machte. Vielleicht auch die Intensität des speziellen Momentes, die Cave mit der Allgemeinheit teilen wollte. Er spricht im Zuge der Wirkung der Veranstaltung von einem "Gebet ins Nichts". Das mag man schon alleine aufgrund des Standortes nachvollziehen, denn das Alexandra Palace in London, in dem die Solo-Piano-Aufführung stattfand, ist im Grunde genommen nur ein riesiger leerer Raum.

    Bei seiner "Conversation with..."-Tour, die noch bis Anfang 2020 lief, hatte Nick Cave oft reduzierte, auf den Kern zusammengeschmolzene Versionen seiner Songs vorgetragen und sie auf diese Weise neu entdeckt und alternativ interpretiert. Er spielte mit dem Gedanken, diese Sichtweisen im Studio nach und nach festzuhalten. Mit der Pandemie kam die Idee, sich dabei auch filmen zu lassen. Das Ergebnis umfasst nun 22 Songs in 84 Minuten, von denen "Euthanasia" bisher noch unbekannt war.

    Das Repertoire zieht sich fast durch die ganze Karriere mit The Bad Seeds. Von "Your Funeral...My Trial" (1986) über "The Boatman`s Call" (1997, mit 5 Liedern vertreten) bis hin zu "Ghosteen" aus dem Vorjahr, das mit 3 Stücken dabei ist. Vom Projekt Grinderman fanden die Tracks "Man In The Moon" ("Grinderman", 2007) und "Palaces Of Montezuma" ("Grinderman 2", 2010) Einzug in diese intime Darbietung unter Corona-Bedingungen.

    Cave beginnt seine musikalische Andacht mit dem "Spinning Song", einer gesprochenen Hommage an den "King Of Rock & Roll", die die Zeilen "Eine Zeit wird für uns kommen...Frieden wird für uns kommen" enthält. Ein Ausblick auf bessere Tage, die uns hoffentlich bald begegnen werden. Das Piano kommt ab dem zweiten Stück ("Idiot Prayer") zum Einsatz und wird der einzige Begleiter bleiben, der nicht nur tröstet, aufrüttelt und schmeichelt, sondern auch sentimentale Fantasien malt oder aggressive Zwischentöne einstreut.

    Haben wir uns nicht schon lange gewünscht, den Barden ganz pur und unmittelbar erleben zu dürfen? Wie er sein Innerstes nach außen kehrt, sich verletzlich zeigt und dabei aber so stark auftritt, dass sich Ehrfurcht breit macht. Die ganze Bandbreite menschlicher Ausdrucksformen prasselt an die Ohren, regen das Hirn und die Hormone an. 84 Minuten voller Spannung, Leidenschaft, Dynamik, Sinnlichkeit, Wut, Zuneigung, Spiritualität, Liebe und Hingabe. Das muss man erst einmal aushalten - als Musiker, aber auch als Hörer.

    Es gibt keine Ansagen und keine Kommentare auf den "Idiot Prayer"-CDs. Bis auf ein Lachen am Ende von "(Are You) The One That I`ve Been Waiting For" finden keine ungeplanten Emotionen statt. Der konzentrierte Cave fordert ungeteilte Aufmerksamkeit und Durchhaltevermögen, dafür spart er nicht mit Eifer, Wucht und Zärtlichkeit. Der Musiker ist ein Schamane, der auf Seelenfang geht - nicht aus Bosheit, sondern als Prophet und Heiler. Die universelle Kraft der Musik wird beschworen, die zur Reinigung und Energieübertragung eingesetzt wird.

    Der galoppierende Irrsinn der Studio-Version von "The Mercy Seat" wird in zerstörerische Dramatik verwandelt. Es geht um Schuld und Sühne. Das sind schwere Mühlsteine, die dem Leben Sisyphus-Arbeit auferlegen können. Solch eine schwere Bürde verträgt keine leichte Muse. Aber auch dunkle Töne spenden Mut, versprechen Erlösung und zeigen Würde. Die Musik lässt sich bereitwillig auf die Transformation von Leid zu Zuversicht ein: Die Angst einflößende, körperlich bedrohlich wirkende Stimmung, die The Bad Seeds für "Stranger Than Kindness" erzeugen, weicht in der Solo-Fassung einer unglücklichen Ausdrucksweise, die stellenweise sogar Verzweiflung aufflackern lässt. Am Ende siegt dann aber doch der Lebenswille.

    Da kommt "Into My Arms" genau richtig, um Vertrauen und Hoffnung wieder herzustellen. Das ist ein Lied, welches bei den Cave-Fans häufig als Favorit genannt wird. Der Titel entfaltet auch als sparsamer Beitrag seine aufbauende Qualität. "Papa Won`t Leave You, Henry" ist im Original ein getriebener, giftiger Rockabilly-Blues. Nick hat das Tempo aktuell domestiziert, die Eindringlichkeit aber konzentriert, so dass Aussichtslosigkeit hinter jeder Note hervor blickt. Das ursprünglich sphärische, märchenhaft instrumentierte "Galleon Ship" bekommt in der Neuinterpretation eine lieblich-versöhnliche Ausrichtung, die die klare, unschuldige Reinheit der Komposition in den Mittelpunkt stellt.

    Wollten wir nicht immer schon erleben, wie uns Nick Cave in Beugehaft nimmt und wir demütig und verzückt seinen Predigten lauschen können, um danach ein wenig weiser, zufriedener und überzeugter zurück in unser Leben zu gehen? "Idiot Prayer" gibt uns die Gelegenheit dazu. Grade weil der Auftritt ohne Publikum eingespielt wurde, vermittelt er noch mehr den Eindruck, er sei speziell für uns entstanden. Cave steigt mit "Idiot Prayer" endgültig in den Olymp auf, denn nur wer alleine ein ganzes Konzert mit Haltung, Besessenheit und Charisma durchstehen kann, ohne langatmig zu sein, der gehört wirklich zu den ganz Großen. Und dieses Kunststück ist hier eindrucksvoll und überzeugend gelungen.

    Diese Kompositionen hat Nick Cave für die "Idiot Prayer"-Aufführung ausgewählt (in Klammern der Ursprungs-Fundort der Komposition):

    Disc 1:
    01. "Spinning Song" ("Ghosteen", 2019)
    02. "Idiot Prayer" ("The Boatman`s Call, 1997)
    03. "Sad Waters" ("Your Funeral...My Trial", 1986)
    04. "Brompton Oratory" ("The Boatman`s Call", 1997)
    05. "Palaces Of Montezuma" ("Grinderman 2", 2010)
    06. "Girl In Amber" ("Skeleton Tree", 2016)
    07. "Man In The Moon" ("Grinderman", 2007)
    08. "Nobody`s Baby Now" ("Let Love In", 1994)
    09. "(Are You) The One That I`ve Been Waiting For" ("The Boatman`s Call", 1997)
    10. "Waiting For You" ("Ghosteen", 2019)
    11. "The Mercy Seat" ("Tender Prey", 1988)
    12. "Euthanasia" (previously unreleased, 2020)

    Disc 2:
    01. "Jubilee Street" ("Push The Sky Away", 2013)
    02. "Far From Me" ("The Boatman`s Call", 1997)
    03. "He Wants You" ("Nocturama", 2003)
    04. "Higgs Boson Blues" ("Push The Sky Away", 2013)
    05. "Stranger Than Kindness" ("Your Funeral...My Trial", 1986)
    06. "Into My Arms" ("The Boatman`s Call", 1997)
    07. "The Ship Song" ("The Good Son", 1990)
    08. "Papa Won`t Leave You, Henry" ("Henry`s Dream", 1992)
    09. "Black Hair" ("The Boatman`s Call", 1997)
    10. "Galleon Ship" ("Ghosteen", 2019)
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    14.11.2020
    Klang:
    5 von 5
    Musik:
    4 von 5

    Jazz, Chanson und Klassik: Anna.Luca ist überall zuhause.

    Die deutsch-schwedische Musikerin Anna Luca Mohrhenn wurde 1983 in Deutschland geboren, wuchs in Schweden auf und lebt jetzt wieder in Wuppertal. Diese Dualität der Lebensmitten hat mit der Trennung der Eltern zu tun. Ein Thema, das sie - wie auch andere prägende Meilensteine - in ihrer Musik verarbeitet. So geht es bei "Hallonsommar" (= Himbeersommer) um den Tod des schwedischen Großvaters, der der Musikerin den Boden unter den Füßen weg gerissen hat. Die Suche nach Antworten auf existenzielle Fragen und die Forschung nach der eigenen Identität war eine Folge davon.

    Das alles hatte Einfluss auf die musikalische Entwicklung, bei der Kunstlied, Jazz und Pop Eckpfeiler sind. Dabei fing alles mit einer klassischen Klavierausbildung an. Daraus entstand eine innige Liebe zu den Klavierkonzerten von Brahms. Als Heranwachsende flirtete sie dann sogar mit HipHop, was für eine offene Herangehensweise an Musik spricht. Heute arbeitet die vielseitig begabte Künstlerin neben Kompositionen für Fernseh- und Kinofilme auch an eigenen Songs, von denen jetzt eine Sammlung als "Small Friendly Giant" unter dem Künstlernamen Anna.Luca erscheinen. Bei der Realisierung halfen ihr Roman Babik am Klavier, der Bassist Sebastian Räther und Yonga Sun am Schlagzeug mit einfühlsamen Verzierungen.

    Auf diesem dritten Werk verarbeitet Anna.Luca Kindheitserinnerungen und lässt sich von ihrer Sehnsucht nach dem ungezähmten Meer inspirieren. Sie sagt, die Faszination für den Ozean liegt darin, dass der Horizont eine stoische Gleichgültigkeit ausstrahlt, egal wie aufgewühlt das Wasser ist. Die Entstehung von "Hallonsommar" war nicht nur vom Tod des Großvaters, sondern auch von der Geburt des ersten Kindes beeinflusst. Entsprechend taumelt das auf schwedisch vorgetragene Jazz-Chanson zwischen Nachdenklichkeit und Zuversicht. Anna Lucas Stimme besitzt die Gabe, auch unterschwellig Kraft und Hoffnung zu transportieren, so dass bei ihr selbst ernste Momente nicht in Dunkelheit versinken.

    Der Gesang von "Hot Earth" lässt vermuten, dass die Künstlerin sowohl Tim Buckley wie auch John Martyn kennt. Sie moduliert ihre manchmal eingestreuten, kurzen wortlosen Vertonungen zumindest in einer ähnlicher Form wie die legendären Troubadoure. Aber diese Abschnitte sind relativ kurz. Überwiegend gibt es hier starken, klaren Jazz-Gesang zu hören, der sich selbstbewusst und überzeugend in Szene setzt. "Lost City" kombiniert stoische Minimal-Art-Elemente mit quicklebendigen Jazz-Grooves. Ruhende Pole sorgen dafür, dass der Song immer wieder neu aufgebaut werden kann, was der Dynamik zugute kommt.

    "The Giant" frönt dem Cabaret und dem dramatischen Musical. Das Lied besitzt den Eifer eines ernsten Schauspiels und die Sperrigkeit einer Kurt Weill-Komposition, wirkt also streng und bedeutungsschwer. Für "Take Your Armor Off" wird das Tempo erhöht, der Gesang verhält sich aber reserviert und bleibt abwartend. Den Mittelteil des Stückes nimmt eine Improvisation ein, die dafür sorgt, dass der Ablauf stockt. Es kommt danach zu einem Neustart, der den Track auf anderen Wegen als zu Beginn zum Ziel führt.

    Bei "Sea Of Sorrow" kommt die klassische Ausbildung von Anna Luca besonders auffällig zur Geltung. Der Song beginnt romantisch-ausgeglichen, zeigt aber auch aufgewühlt-hektische Seiten. Diese gemischten Gefühle halten den Track lebendig und verlangen den Musikern eine große Bandbreite an Ausdrucksmöglichkeiten ab. Holzhäuser verströmen eine besondere, behagliche Atmosphäre. "House Of Wood" steht aber eher für Abwechslung und Spritzigkeit. Die Komposition weist durchaus zeitweise eine Nähe zum Jazz-Rock aus. Aggressivität, intellektuelles Handeln und kontrastreiche Überleitungen stehen im Mittelpunkt des Stückes.

    Wenn Klassik und Jazz in Liedform aufeinander treffen, kann es peinlich kitschig und künstlich werden. Häufig degeneriert solche Musik zu biederer, lustloser Bildungsbürgertum-Unterhaltung. Das mündet dann quasi in pseudointellektuelle Rotweinmusik fürs Feuilleton. Bei dem ähnlich zusammengesetzten "All Long Gone" kommt es allerdings nicht zu solchen Anwandlungen, weil die jeweiligen Strömungen nicht bierernst und akademisch eingesetzt werden. Vielmehr werden die Stärken der Stile herausgearbeitet und diese forsch miteinander verknüpft.

    "Follow The White Rabbit" klingt, als würde skandinavische Folklore in die Komposition eingebunden werden, denn die zur Schau gestellte Fröhlichkeit findet sich selten im Jazz und in der Klassik. Auch in diesem letzten Stück wird klar, dass es Anna.Luca nicht darauf ankommt, das herkömmliche, angesagte, ein großes Publikum ansprechende Konzept von Jazz,- Chanson- und Klassik-Liedern zu reproduzieren. Sie findet eine Nische, in der sie sich ausgezeichnet darstellen kann und ihre Talente optimal einsetzen kann. Genregrenzen ignoriert sie standhaft und erfindet deshalb einen Sound, dessen Bestandteile zwar bekannt sind, in dieser Zusammensetzung aber dennoch frisch und hörenswert klingen.
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    Serpentine Prison Matt Berninger
    Serpentine Prison (CD)
    14.11.2020
    Klang:
    5 von 5
    Musik:
    5 von 5

    Zeitlos schön und künstlerisch wertvoll!

    Früher war mehr Provokation, mehr Kontrast, mehr extrovertierter Aufruhr. Aber in Matt Berningers Kompositionen steckte auch schon immer das Gespür für tiefschürfende Erkenntnisse, ergreifende Emotionen und zeitlos schöne Melodien, die er mit seinem einnehmenden Bariton zu Hymnen aufwertete. Mit den 1999 gegründeten The National reifte er rasch zum eigenständigen, besonderen Songwriter heran, der mit einem Fuß im experimentellen Art-Pop und mit dem anderen in traditionellen Roots-Rock-Bereichen steht.

    Aber warum musste jetzt ein Solo-Album produziert werden, hätten die entwickelten Ideen nicht auch mit The National umgesetzt werden können? Eigentlich war zunächst ein Cover-Versionen-Album geplant. Der Produzent Booker T. Jones (ex-Booker T. & The MG`s, größter Hit: "Green Onions") favorisierte aber die parallel geschriebenen eigenen Songs von Matt und so entstand mit Hilfe von etlichen Gastmusikern der aktuelle Song-Zyklus.

    Auf "Serpentine Prison" singt Matt stets ruhig, gelassen, souverän und anrührend. Er mutiert mehr und mehr zum reifen, keinem Genre direkt zuordenbaren, introvertierten Songwriter und befindet sich dabei in guter Gesellschaft mit z.B. M.C. Taylor von Hiss Golden Messenger, Bill Callahan, Bonnie "Prince" Billy, Sufjan Stevens oder Kurt Wagner von Lambchop.

    Matt Berningers Entwicklung ist grob mit der von Nick Cave zu vergleichen. Der Australier begann musikalisch ungestüm mit The Birthday Party und zelebrierte am Anfang seiner Karriere wilde Anarcho-Punk-Blues-Gemetzel. Nach und nach traten jedoch seine Crooner-Qualitäten zu Tage, die er authentisch, intensiv und subtil, auf jeden Fall aber auch nachhaltig und ausdrucksstark auslebte. Berninger war zwar nie so extrem wild, aber in ihm pochte auch ein Rock & Roll-Herz. "Serpentine Prison" zeigt jetzt einen abgeklärten und kultivierten Musiker. Ihn mit seinen grade mal 49 Jahren altersweise zu nennen, ist nicht despektierlich gemeint, sondern soll ausdrücken, wie durchdacht und souverän seine Musik wirkt. Seine Erfahrung führt jedoch nicht zu erstarrender, lähmender Routine, sondern begleitet den kreativen Prozess mit Übersicht und Intelligenz.

    So erscheint der Opener "My Eyes Are T-Shirts" im zurückhaltenden Erzählstil und wird durch ethnische Trommeln geerdet. Rauschhafter Folk-Jazz bestimmt die instrumentale Begleitung, die den Track beinahe frei fließend, sehnsüchtig und jauchzend begleitet, als würde er sich in dämmrigem Licht zurecht finden müssen.

    Die selbstbewussten Riffs auf der akustischen Gitarre kündigen bei "Distant Axis" dann doch einen gewissen Rock & Roll-Antrieb an. Das Stück enthält üppige Passagen, die es größer erscheinen lassen, als es in Wirklichkeit ist. Im Kern verbirgt sich nämlich ein ruhiger Folk-Song hinter der Fassade, der seine Verletzlichkeit nur notdürftig kaschieren kann.

    Wenn es besonders bedauernswert klingen soll, dann singt Matt für das locker swingende "One More Second" so leidend wie Stuart A. Staples von den Tindersticks. Aber der Song versinkt nicht im Jammertal, sondern lässt miterleben, wie der Sänger allmählich aufblüht, Kraft tankt und sich zu neuen Taten aufschwingt. Das kann überzeugend vermittelt werden, weil Booker T. Jones dem Stück einen erhebenden Southern-Soul-Groove verordnet. Berninger möchte den Song laut eigener Aussage als Antwort auf Dolly Partons "I Will Always Love You" verstanden wissen. Er wollte nämlich einfach ein verzweifeltes Liebeslied schreiben, das gut beim Auto fahren klingt. Das ist der Hit der Platte!

    Wenn Country & Western auf Irish-Folk und Late-Night-Jazz trifft, dann kann kommt dabei sowas wie "Loved So Little" raus. Nämlich ein nachtgrauer Song, der seine Geheimnisse nicht vollständig preis geben möchte, ständig zum Licht strebt und sich dabei erfindungsreich treiben lässt.

    Der nüchterne Duett-Gesang von Gail-Ann Dorsey (aus David Bowies Band) tut "Silver Springs" gut. Dadurch erhält das Lied eine stützende und ablenkende Klangfarbe, die den Eindruck einer konzentrierten Gesamtleistung unterstützt. Und das, obwohl Berninger bei dieser Vielseitigkeitsprüfung die Fäden in der Hand behält. Der Track weckt zahlreiche Assoziationen: Dem Ur-Americana-Sound von The Band wird gehuldigt, Bar-Jazz klingt an, Blues-Wurzeln kommen zum Tragen und Pop-Strukturen werden genutzt, um Harmonie zu etablieren.

    "Oh Dearie" könnte all jenen gefallen, die sich am Folk-Noir von Mark Lanegan nicht satt hören können. Das Stück strahlt trotz aller Melancholie eine tröstende Stimmung aus. Eine gleichförmig gepickte akustische Gitarre sorgt für Ausgeglichenheit und ein unaufdringliches Piano setzt erhellende Duftmarken. Ein zartes Schlagzeug und ein kaum wahrnehmbares, verbindendes Cello bereiten außerdem einen fruchtbaren Nährboden, auf dem sich Matts Bariton attraktiv ausbreiten kann.

    "Take Me Out Of Town" sucht den Schulterschluss zwischen eingängigem Pop und anspruchsvollem Roots-Rock. Hierzu kreieren die Musiker eine sanft rollende Gänsehaut-Ballade, die noch durch exquisite Einzelleistungen der Instrumentalisten aufgewertet wird. Es bleibt introvertiert: Für "Collar Of Your Shirt" wird Matts Stimme prominent in den Vordergrund und die Mitte des Klangbildes gesetzt. Trotzdem wirkt die Erscheinung des Liedes demütig und uneitel. Entsprechend feingliedrig unterstützen die Gäste diesen meditativ ablaufenden, an Kammermusik angelehnten Song.

    Mit "All For Nothing" baut Berninger eine Pop-Sinfonie auf, die das ganze Seelenleid der vorangegangenen Stücke in sich vereint und deshalb absichtlich pathetisch sowie relativ kurz gehalten wird. Alles andere wäre dem bisherigen Verlauf nicht gerecht geworden. Es musste irgendwann eine Konzentration auf die ausgelebten Empfindungen geben. Nun ist alles gesagt und getan, Normalität darf sich wieder einstellen. Deshalb kann das Titelstück auch keine neuen Akzente mehr setzen. Der Track glättet nur die Wogen und lässt das Album unspektakulär ausklingen. Berninger kümmert sich dabei nicht um die Schaffung von Innovationen, sondern sucht lediglich einen homogenen Weg zwischen Pop, Folk und Soul. Auf diesem wird der Hörer zurück in den Alltag begleitet. Der Kreis ist geschlossen.

    Der Solo-Ausflug von Matt Berninger macht Sinn. Hier hat er Gelegenheit, sein Ego zu pflegen, aber auch künstlerisch seinen weiteren Weg auszuloten. Unter welchen Bedingungen kann es mit The National weitergehen? Soll die eigene Karriere nebenbei weiterlaufen oder zum Hauptbetätigungsfeld werden? Das sind weichenstellende Fragen, die sicher nach der Fertigstellung von "Serpentine Prison" klarer zu beantworten sind. Egal wie entschieden wird, wichtig ist, dass uns Matt Berninger auch in Zukunft als Aktivposten erhalten bleibt.
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    Trip Lambchop
    Trip (CD)
    14.11.2020
    Klang:
    5 von 5
    Musik:
    5 von 5

    Mit Cover-Versionen zurück zu alter Stärke!

    Um eine Cover-Version interessant zu gestalten, kommt es nicht darauf an, das Original möglichst genau nachzuspielen. Ganz im Gegenteil! Viel wichtiger ist eine eigene Interpretation oder das Herausstellen der Essenz der Vorlage. Mit "TRIP" hat sich Kurt Wagner von Lambchop genau diesen Aufgaben gestellt. Im Herbst 2019 entschied er, statt auf Tournee zu gehen, sich mit den Bandmitgliedern in Nashville zu treffen, um eine Platte aufzunehmen. Das Konzept dafür war, dass jeder eine Fremdkomposition vorschlagen sollte, die dann innerhalb eines Tages fertig gestellt werden sollte. Wagner selbst wollte sich weitmöglichst aus dem Entstehungsprozess heraus halten und nur als beteiligter Musiker teilnehmen, nicht als Band-Leader.

    Schlagzeuger Matthew McCaughan wählte "Reservations" von Wilco aus dem "Yankee Hotel Foxtrot"-Album von 2002 aus. Der Song setzt sich aus psychedelischem Pop und spielerisch-experimentellen Improvisationen zusammen, deren Aneinanderreihung über sieben Minuten lang entwickelt wird. Die Stimmung ist gedrückt, erfährt aber durch den Gesang auch partielle Aufhellungen. Inhaltlich lässt sich darüber streiten, ob es um Depressionen und/oder Beziehungsprobleme geht.

    Lambchop dehnen das Stück auf dreizehn Minuten aus, wobei der lautmalerische Teil den größeren Raum einnimmt. Das lässt jetzt vermuten, das Ergebnis sei recht schwierig zu hören oder chaotisch zusammengesetzt. Schließlich waren die letzten beiden Lambchop-Alben "FLOTUS" (2016) und "This (Is What I Wanted To Tell You)" (2019) ja recht bizarr und seltsam geworden. Aber die Neuinterpretation stellt die Schönheit und Anmut des Liedes heraus, wobei diese Attribute zerbrechlich anmuten. Die integrierten Tondichtungen bilden auch hier einen unüblichen Kontrast, denn sie bewegen sich nahe am Stillstand. Es wird aber klar, dass eine Kombination von Komposition und Improvisation als Ganzes durchaus befruchtend sein kann und beide Bestandteile nebeneinander ihre Berechtigung haben können. Dennoch würde jeder Marketing-Experte, der für die Vermarktung von Musik zuständig ist, diesen Opener als kommerziellen Selbstmord bezeichnen.

    "Where Grass Won`t Grow" ist ein klassischer Country-Song, der sich mit dem entbehrungsreichen Leben der Landbevölkerung auseinander setzt. Er wurde vom Nashville-Songwriter Earl "Peanut" Montgomery 1968 geschrieben und von George Jones 1970 zum Hit gemacht. Jones verleiht dem Titel auf seine unvergleichliche Art und Weise sowohl Demut wie auch Empathie, denn er füllt die Töne aufgrund des zarten Schmelzes in seiner Stimme mit Wärme, Wehmut und Schmerz aus.

    Der Pedal-Steel-Gitarrist Paul Niehaus, der auch bei Calexico und den Silver Jews spielt, hat den Song ausgesucht und spricht davon, dass dieser quasi aus Mitleid, Pech und Erlösung besteht. Die Lambchop-Ausführung fußt auch auf Country-Grundlagen, ist allerdings noch entspannter als die Hit-Version, steht dieser aber hinsichtlich der verführerischen Süße in nichts nach. Wagner und seine Instrumentalisten harmonieren perfekt miteinander und bilden eine verbundene Einheit. Das lässt an die Country-Folk-Ausflüge von The Grateful Dead auf "Workingman`s Dead" (1970) denken.

    Szenenwechsel: "Shirley" von den Mirrors ist ein Power-Pop-Song, der im Velvet Underground-Rhythmus-Gewand steckt. Bassist Matt Swanson entdeckte den Track auf einer Zusammenstellung von lokalen Bands aus Cleveland, die Mitte der 1970er Jahre aufgenommen wurden. "Shirley" besitzt noch eine zweite Komponente, denn nach dem kraftvoll zupackenden Hauptteil wird das Stück behutsam, mit sphärisch-kosmischen Anklängen zu Ende gebracht.

    Die Cover-Version stellt diese Aspekte deutlich heraus: Der Pop-Bereich ist straffer und optimistischer. Der weichgezeichnete Schluss führt hier nicht in den Weltraum, sondern in die Weite der Prärie.

    Stevie Wonder hatte von 1972 bis 1976 seine kreativste und produktivste Phase. In dieser Zeit entstanden mit "Music On My Mind" (1972), "Talking Book" (1972), "Innervisions" (1973), "Fullfillingness` First Finale" (1974) und dem Doppelalbum "Songs In The Key Of Life" (1976) innovative Meisterwerke, die in jede bessere Platten-Sammlung gehören. "Golden Lady" von "Innervisions" wurde vom Schlagzeuger Andy Stack vorgeschlagen. Er wollte ein ernstes Liebeslied bestimmen, um tief empfundene Zärtlichkeit auszudrücken Aber die Erkenntnis war, dass dafür wohl immer auch etwas Melancholie mitschwingen muss. So wie bei "Golden Lady".

    Die Neuauflage schafft mit der Dampflok-artigen Rhythmus-Arbeit zunächst eine kühle, mechanische Basis. Gegen diese distanzierenden Takte lehnen sich die Musiker mit gefühlvollen Piano- und Saiten-Zutaten auf. Kurt Wagner spielt den geheimnisvollen Minnesänger, der seine Stimme leicht, aber nicht atonal verfremdet und so nur seine wahre Identität verschleiert. Anonymität schützt - auch vor nicht unter Kontrolle zu bringende Gefühlsregungen.

    "Love Is Here And Now Is Gone" ist ein Lied aus der Motown-Songschmiede um Holland / Dozier / Holland, das 1967 für die Supremes ein Nummer-1-Hit war und 1972 die B-Seite der Single "Rockin` Robin" von Michael Jackson zierte. Die Komposition besitzt nicht unbedingt die Qualität der ganz großen Songs aus der Detroiter Hit-Fabrik, die damit warb, den Sound des jungen Amerika zu präsentieren.

    Aber der Pianist Tony Crow fand das Stück passend. Die Interpretation von Lambchop macht deutlich, dass man aus einem Durchschnitts-Track nicht unbedingt einen außerordentlich spannenden Song machen kann. Immerhin werten sie den Track durch eine große Portion Ausgelassenheit noch auf.

    Der Musiker James McNew ist nicht nur ein Freund der Gruppe, sondern auch Mitglied der Alternativ-Rocker von Yo La Tengo. Er sendet Kurt Wagner ab und zu neue Ideen, um sich mit ihm auszutauschen. Dazu gehörte auch der "Weather Blues", der bisher unveröffentlicht ist. Wagner hat eine innige Beziehung zu diesem Lied, weil er es mit magischen Momenten verknüpft, die er am Sterbebett seiner Mutter erlebte. Entsprechend eindringlich, innig und ergriffen singt er diese Ballade. Die Pedal-Steel-Gitarre von Paul Niehaus weint dazu bittere Tränen, die akustische Gitarre sondert tröstendes Picking ab, das Piano perlt beinahe zuversichtlich und der Bass grummelt betroffen.

    Mit "TRIP" nehmen Lambchop quasi den Anschluss zu "Mr. M" von 2012 auf, das dem Singer-Songwriter Vic Chesnutt gewidmet war. Er war ein Freund von Kurt Wagner und sein Freitod traf den Lambchop-Chef schwer. "TRIP" zeigt Lambchop wieder intim, versöhnlich und ausgeglichen. Die Experimente mit verstellter Stimme sind nur noch schmückendes Beiwerk und nicht mehr Selbstzweck. Dennoch ist das Werk weit weg vom Americana-Mainstream. Es ist detailreich, fordert Aufmerksamkeit, schärft die Sinne für ungewöhnliche Arrangement-Details und belohnt dafür mit wirkungsvoll nachhallenden Emotionen und ungewöhnlichen Einfällen. Das Werk ist ein Garant für interessante Hörerfahrungen.
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    10.11.2020
    Klang:
    5 von 5
    Musik:
    4 von 5

    "After The Great Storm" ist eine auf angenehme Weise leicht verstörende Platte geworden, die man sich erarbeiten sollte.

    Ane Brun gehört zu den Personen, bei denen aufgrund ihrer Biographie eine Hinwendung zur Kunst nicht zufällig, sondern beinahe notwendig oder unvermeidbar erscheint. Geprägt durch die Mutter - die Jazzsängerin und Pianistin Inger Johanne Brunvoll - spielte Musik und Kunstverständnis eine große Rolle in der Familie. Aufgrund dieser "schöngeistigen, gestalterischen Vorbelastung" wurde der ältere Bruder Björn womöglich Fotograf und die jüngere Schwester Marie Kvien auch Sängerin.

    Ane wurde 1976 in Molde (Norwegen) geboren und verließ 1995 ihren Heimatort, um zwischen Barcelona, Oslo und Bergen zu pendeln. Während ihres Studiums in Bergen begann sie mit dem Schreiben von eigenen Songs, die sie erstmalig 1999 als Demo-Versionen aufnahm. Danach zog sie nach Schweden, wo etwa ab 2001 das Musizieren einen ernsthafteren Hintergrund bekam. 2003 nahm das Talent das Debütalbum "Spending Time With Morgan" auf und tourte danach intensiv durch ganz Europa. Nach einer erschöpfungsbedingten Pause kam die Karriere mit dem zweiten Album "A Temporary Dive" von 2004 und gemeinsamen Arbeiten mit z.B. Ron Sexsmith oder Teitur, die auf "Duets" 2005 zusammengefasst wurden, so richtig in Fahrt.

    "A Temporary Dive" beinhaltete schon alle Facetten, die die Musik von Ane Brun auszeichnet. Dazu gehört erzählerische Stärke, die dem Folk-Einschlag geschuldet ist und eine klare, überwiegend melancholisch geprägte Stimmlage, die Intimität genauso wie Zuversicht ausdrückt. Dann kommen noch kammermusikalisch-mystische Begleitungen zum Tragen, die das Experimentelle des Folk-Jazz mit den warmen, reifen Tönen des Adult-Pop verschmelzen. Und das alles wird von Melodien umgeben, die verschlungen-düster, aber auch anheimelnd-sanft sein können.

    Bis 2018 erschienen etwa ein Dutzend weitere Studio- sowie Live-Aufnahmen und Zusammenstellungen, die den exzellenten Ruf der vielseitig begabten, sensiblen Musikerin festigten und sie unter anderem im Umfeld von Peter Gabriel auftauchen ließ.

    In 2020 wird es gleich zwei neue Studio-Alben geben, die eigentlich als Doppelalbum erscheinen sollten. Aber durch die Pandemie hatte die Musikerin Zeit, das Konzept zu überdenken und sortierte die Stücke so, dass sie zwei unterschiedliche Ausrichtungen abdecken: Am 27. November 2020 erscheint "How Beauty Holds The Hand Of Sorrow", aber zunächst erblickt "After The Great Storm" am 30. Oktober 2020 das Licht der Öffentlichkeit.

    Diese Werke beinhalten die ersten Eigenkompositionen seit "When I`m Free" aus 2015. Der Grund für die lange Auszeit lag in der Trauer, die nach dem Tod des Vaters im Jahr 2016 bewältigt werden musste. Eigentlich bezieht Ane sonst alle ihre Erlebnisse in den Kompositionsprozess ein, aber in diesem Fall war sie wie gelähmt. Die Zeit musste Wunden heilen und erst im Sommer 2019 gelang es der Künstlerin, diesen Schicksalsschlag in Kreativität umzulenken.

    Die neuen Songs auf "After The Great Storm" scheinen im Prinzip einen Kampf zwischen Rationalität und Emotionalität auszufechten. Die exakt getakteten Drums stehen dabei als Beispiel für das berechenbare Element, während die schwelgenden Streicher oder Keyboards einen Hang zur sphärisch-übersinnlichen Wahrnehmung verkörpern. Ane Brun nimmt sich Zeit dafür, ihre Ideen wirken zu lassen. Die Songs sind jeweils über vier Minuten lang.

    Zwischen der edlen, delikaten Eleganz von "A Temporary Dive" und dem im Vergleich dazu unruhigen, mit Elektronik-Einschlag durchzogenen "After The Great Storm" scheinen Welten zu liegen. Denn die Laufzeit der Lieder wird nicht vorrangig dazu benutzt, um innere Einkehr herzustellen, sondern tendenziell dazu, einen verbindenden Groove zu generieren.

    So wie im Opener "Honey", wo hypnotische Rhythmen über sechs Minuten hinweg generiert werden, um einen Trance-ähnlichen Zustand zu erzeugen. Der flehentlich-durchdringende Gesang sorgt flankierend dazu für emotionale Spannung.

    Nicht so hektisch, stattdessen eher mystisch-verklärt zeigt sich das Titelstück "After The Great Storm". Dramatische Streicher und monotone Synthesizer-Klänge in Dauerschleife erzeugen einen aufgebauschten und suggestiven Sound.

    Belebend swingende Drum-Sounds sorgen bei "Don’t Run And Hide" für einen jugendlichen Pop-Appeal, der sich im Wesentlichen der bekümmerten Grundstimmung unterordnen muss. Das ist ein weiteres typisches Beispiel für die erwähnte innerliche Zerrissenheit, die den Stücken innewohnt. "Crumbs" könnte aus dem Dark-Wave der 1980er Jahre stammen: The Human League, The Cure oder auch This Mortal Coil kommen bei dem verschleierten Chanson in den Sinn.

    Für "Feeling Like I Wanna Cry" experimentiert Ane mit Break-Beats, singt aber trotzig mit dem Mut der Verzweiflung gegen die aufkommende Disharmonie und bedrohliche Dunkelheit an. Dabei stehen ihr wohlwollende Mächte in Form eines brummenden Basses und aufmunternd wehende künstlich erzeugte Schwebe-Klänge bei.

    Treibend-fordernde Elemente der Electronic-Dance-Music, die im Zaume gehalten werden, bestimmen die Stimmung von "Take Hold Of Me". In Verbindung mit dem introvertierten Gesang hört sich das unbequem an. Das ist die angenehme Form des Querdenkens, weil hier wirklich Erwartungen aufgebrochen und neue Horizonte auf Basis von Fakten und Erfahrungen geöffnet werden!

    Die Ballade "Fingerprints" verbindet Kammermusik mit Electro-Pop. Es kommt dem Stück zugute, dass es über sieben Minuten lang ist. Denn es dauert eine Weile, bis der Song sein süßes Gift so zielgerichtet versprüht hat, dass es den Hörer in seinen Bann zieht. Aber dann ist die Wirkung nachhaltig und betört die Sinne. Die hier erzeugte düster-unheimliche Atmosphäre erinnert an Hits von Procol Harum wie "A Salty Dog".

    Bei "The Waiting" fallen weitere selbstbewusste Frauen ein, die auch im Zusammenspiel von kühler Elektronik, emotionalem Gesang und sinnlich-harmonischer Melodik ihre Mitte gefunden haben: Joan As Police Woman und Sophie Hunger. Das mahnende "We Need A Mother" bildet einen künstlerisch schlüssigen Abschluss. Hier begegnen sich anspruchsvolle Art-Pop-Sequenzen sowie rührende Gesangseinlagen, die direkt zu Herzen gehen. Und so manifestiert sich nochmals der Eindruck einer tiefen Sinnkrise, die in Noten gefasst wurde, um verarbeitet werden zu können.

    Für "After The Great Storm" besinnt sich Ane Brun manchmal an Begebenheiten aus der Vergangenheit, die schöne Erinnerung hervorrufen. So wie eine Kassette, die im Alter von 18 Jahren für eine Brieffreundin aufgenommen wurde ("Honey") oder Reminiszenzen an die Tanzmusik, die sie in ihrer Jugend hörte ("Take Hold Of Me"). Neben der Nostalgie geht es dann auch wieder um Rationalität, was das Blühen und Vergehen von Blumen im Video zu "Feeling Like I Wanna Cry" symbolisieren.

    Das Werk hinterlässt unter Umständen immer dann zunächst einen zwiespältig-kantigen Eindruck, wenn die Erwartungshaltung an eine akustische, harmonisch überfließende Ane Brun geknüpft ist. Lässt man aber einfach den suchenden, mit sich ringenden Aspekt auf sich wirken, dann offenbart sich eine Künstlerin, die bewusst jeder Festlegung aus dem Weg gehen will und auf ihre Instinkte hört, den Moment auskostet und ihren Ideen freien Lauf lässt.

    Dafür bedarf es einer mutigen Haltung und es erfordert einen freien Geist. "After The Great Storm" ist also eine auf angenehme Weise leicht verstörende Platte geworden, die man sich erarbeiten sollte.
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    08.11.2020
    Klang:
    5 von 5
    Musik:
    5 von 5

    Skandinavische Americana in Deluxe-Form!

    Der schwedische Singer-Songwriter Kristofer Åström ist stets gespannt darauf, wie seine Kompositionen interpretiert und ausgelegt werden. Sein zehntes Studioalbum "Hard Times" wird von der Single "Inbetweener" eingeleitet, die im Vorfeld der Veröffentlichung von seiner Tochter Astrid beurteilt werden sollte. Statt in Worten drückte sie ihre Ansicht in einer Zeichnung aus, die das Cover des Werkes ziert. Darauf ist ein schöner, anmutiger, schlanker Hundekopf zu sehen, der aus einem Hemd heraus ragt. Der Hund strahlt Stolz, Eleganz, Wehmut und Freundlichkeit aus.

    Was für eine ausdrucksstarke Skizzierung, die ja sinnbildlich zumindest einen Track charakterisieren soll: "Inbetweener", der über sechsminütige Song zum Bild weist klare Strukturen, locker fließende Folk-Rock-Akkorde und warmherzig-leidenschaftliche Melodie-Linien auf. Die Besetzung aus Bass, Schlagzeug, E-Gitarre und Orgel erzeugt eine gelassene, aber dennoch wache Stimmung mit viel Soul zwischen den Noten. Außerdem gibt es wirkungsvoll eingeschobene, raffinierte instrumentale Delikatessen zu hören, die gezielt zur Aufmerksamkeitssteigerung eingesetzt werden. Kristofers Stimme tariert dabei Leidenschaft und Besinnlichkeit perfekt aus. Ein begeisternder Opener!

    Das sich anschließende "In The Daylight" klingt in etwa so, als würden Nick Cave und The Jayhawks gemeinsam musizieren. Die Essenz einer dunklen Piano-Ballade geht in Verbindung mit einem liebevollen, edlen Country-Rock eine heilige Allianz ein.

    Und mit "Our Thing" scheinen sogar die Country-Rock-Pioniere The Flying Burrito Brothers um Gram Parsons und Chris Hillman wieder auferstanden zu sein. So eindringlich-sinnlich ist dieser romantisch-verträumte Country-Got-Soul-Beitrag geworden.

    Das intim-intensive "Another Love" wird vom verzehrenden, bitter-süßen Duett-Gesang von Kristofer und Britta Persson durchdrungen. Als Begleitung dient lediglich eine akustische Gitarre. Diese Reduzierung auf das Wesentliche sorgt für besonders eindringliche Emotionen. Das Duo ist fokussierter als Nancy Sinatra & Lee Hazlewood, aber ebenso ergreifend. Nicht so düster wie Mark Lanegan & Isobel Campbell, aber genauso intensiv. Sie sind nicht so poppig wie Sonny & Cher, aber mindestens so melodisch. Die Beiden beschwören eigentlich den innigen Geist von Emmylou Harris & Gram Parsons herauf, dem ersten Traumpaar des Country-Rock. Die Luft knistert bei "Another Love" vor erotischer Spannung und die Kompositions- und Arrangierkunst feiert einen Triumph, der auf effektiver Reduktion beruht. Das ist meisterlich und wunderschön!

    "What´s Dangerous" bringt das Kunststück zustande, unglaublich aufbauend und aufmunternd zu klingen, obwohl kein hohes Tempo vorgelegt wird. Das Stück ist eingängig, verliert sich aber nicht in Beliebigkeit. In einer besseren Welt könnte der Titel die Charts aller an anspruchsvollem Pop interessierten Menschen anführen, die ansonsten The Beatles, Tom Petty, Big Star oder Joseph Parsons favorisieren. Wohlfühl-Roots-Pop der Güteklasse A!

    Der Walzer "And Then She Moved On" nimmt die Betrübten warmherzig an die Hand und signalisiert ihnen, dass sie mit ihrer Traurigkeit nicht alleine sind. Bei "Nowhere In Sight" bleibt es gemütlich und harmonisch. Mit ordentlich Hall auf der Stimme croont sich Kristofer durch diesen langsamen, kuscheligen Country-Folk, der bestens zur dunklen Jahreszeit passt. Der kratzige Rocker "Night Owl", der im Geiste von Neil Young epische Weiten und erhabene Coolness demonstriert, schließt die normale Version von "Hard Times" ab.

    Das Bonusvinyl der limitierten LP-Auflage verfügt noch über vier zusätzliche Stücke: "Strength Of Love" hört sich an, als wäre der Titel Ende der 1960er Jahre im Künstlerviertel Laurel Canyon - oberhalb von Los Angeles gelegen - entstanden. So entspannt, sonnendurchflutet und nach individuellen Zutaten suchend, klingt dieser angenehm ins Ohr gehende Country-Rock. "Michelle" ist dagegen ein simpler Singalong-Folk-Pop, der nicht so richtig überzeugen kann, weil Überraschungsmomente fehlen.

    Als richtiger Country-Schmachtfetzen entpuppt sich "My Heart Breaks Again". Wenn die Töne den Gehörgang finden, können sie eventuell spontan dazu führen, dass ein paar Tränen ins Bier fallen, so berührend sind sie. "First Down" lässt phasenweise an das tiefenentspannte "Harvest Moon" von Neil Young denken, rumort aber im Gegensatz dazu manchmal knurrig-unzufrieden im Hintergrund.

    Die Platte verkörpert alle Tugenden, die Kristofers Tochter im Cover-Portrait untergebracht hat: Stolz, Eleganz, Wehmut und Freundlichkeit. Kristofer Åström bleibt hinsichtlich seiner Veröffentlichungs-Politik ein stabiler, anspruchsvoller Partner für seine Fans und die, die es noch werden sollen. Er liefert wieder einmal skandinavische Americana in Deluxe-Form ab!
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    08.11.2020
    Klang:
    5 von 5
    Musik:
    5 von 5

    BRTHR schaffen die Hürde des schwierigen dritten Albums souverän!

    Das viel zitierte schwierige dritte Album, das häufig Stillstand oder Neuausrichtung einer Karriere anzeigt, heißt bei BRTHR "High Times For Loners" und wurde im März 2020 kurz vor dem ersten Corona-Lockdown fertig gestellt. Es waren also vorwiegend künstlerische Überlegungen in das Konzept des Werkes eingeflossen, auch wenn sich der Titel wie eine böse Vorahnung anhört.

    Der Opener "Speak Loud (When You Speak Love)" verschmilzt charmant Bob Marley mit J.J. Cale und zeichnet das Duo wieder einmal als Meister der leichten, verführerischen Töne aus. Sie können aufgrund ihrer smarten Art und Weise mit solch einem launigen Song nahezu jeden sofort um den Finger wickeln. Und das funktioniert auch noch nach diversen Hördurchgängen.

    Das unterschwellig karibisch angehauchte "Strawberry Love" kommt wesentlich ruhiger daher. Der Song deckt die nachdenklichen Stimmungen kurz nach Sonnenuntergang ab, wenn dem Tag gedanklich nachgehangen wird.

    Der munter pulsierende Folk-Rock "High Times For Loners" bekommt psychedelische und funkige Anstriche und lässt so die Töne in vielen Farben funkeln. "Lonely Night" lebt dagegen von einer starken, schwebend-verzahnten Melodieführung, sich verführerisch-monoton wiederholenden Gitarrenlinien und einer ausgeglichenen Atmosphäre. Diese wird noch durch den sensiblen Gesang begünstigt und ergänzt. Die Ballade "House Of Love" verliert durch ein wie zufällig agierendes, Glanzpunkte setzendes Piano kurzzeitig seine Tristesse, weil der Melancholie dadurch eine mildere Ausrichtung verliehen wird.

    "No Other Thing" lässt sich treiben. Ist es ein Rausch oder ein Fiebertraum, in dem sich die Musiker grade befinden? Trotz der schläfrigen Grundstimmung verlieren die Akteure ihr Ziel nicht aus den Augen, sondern steuern präzise ihren Heimathafen an. Disziplin + Eingebung = Kreativität. "If That`s What You Want Me To" ergötzt sich am psychedelischen Folk-Jazz und punktet mit verschlungenen Tempo- und Lautstärke-Wechseln. Das erinnert an Tim Buckley, John Martyn, Fred Neil oder Ryley Walker. Gefällig und weich lockert "The Way It Is" im Gegensatz dazu die Stimmung unspektakulär und unkompliziert auf.

    Ein zunehmend zwingender Groove macht aus "Right Before Our Eyes" einen aufbegehrend-spannenden West-Coast-Rocker mit schwarzer Seele. Beim lieblich-versponnenen "San Diego" spielt sich dann ein stiller Kampf zwischen mystischen und romantischen Elementen ab, bei dem es keinen Sieger gibt.

    Die Koordinaten von Carole Kings "It`s Too Late" und "Why Can't We Live Together" von Timmy Thomas kreuzen sich bei "What Took You So Long". Dieser Hybrid aus Soul, Rock und Fake-Bossa-Nova ist unerbittlich und gleichmäßig getaktet. Der Song weist deshalb ein stabiles Rhythmus-Geflecht auf, das wie ein Uhrwerk funktioniert und dem Lied ein allgemeingültiges Unterhaltungspotential verleiht.

    Die Schwaben Philipp Eissler (Gesang) und Joscha Brettschneider (Gitarre), die den Kern von BRTHR (= Brother) bilden, wurden bei der Umsetzung vom Produzenten Max Braun am Bass und Johann Polzer am Schlagzeug unterstützt. "High Times For Loners" zeigt gegenüber "A Different Kind Of Light" von 2018 eine künstlerische Weiterentwicklung im Rahmen des bisher abgesteckten musikalischen Territoriums auf.

    Die neuen Lieder bieten unterm Strich mehr beschaulich-introvertierte als beschwingt-ausgelassene Momente. Existenzielle Themen bestimmen die Themen und legen sich oft merklich belastend auf die Klänge. Aber das gerät nicht zum Nachteil, denn am Ende siegt die Liebe. Das Album funktioniert grade deswegen als gut durchhörbares Gesamtwerk mit Tiefe, Ausdruck und Ideenreichtum. Auch mehrere Durchläufe konnten der Attraktivität der anspruchsvollen Songs nichts anhaben und somit ist das dritte Werk nicht zum Stolperstein, sondern zum kreativen Aufbruch in angepasste Ausdrucksformen geworden. Respekt für diesen Mut!
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    28.02.2020
    Klang:
    4 von 5
    Musik:
    4 von 5

    Die fragilen Lieder von Julia Biel weisen bei "Black & White, Vol. 1" auf Polarisierungen hin.

    Der Gesang von Julia Biel bevorzugt gerne mal höhere Stimmlagen, die leicht kratzig sowie empathisch eingesetzt werden und forschend ihren individuellen Weg suchen. Er pendelt sich dabei in etwa zwischen den Stimmfärbungen von Rickie Lee Jones und Amy Winehouse ein und lässt an die Ausdruckskraft einer Trompete denken. Das klingt mal gelassen-melancholisch und mal metallisch scharf. Auf diese Weise wird für Aufmerksamkeit gesorgt, wenn die eigentümlichen Klänge ihre unvorhersehbaren Bahnen ziehen. Die in London lebende Sängerin, Komponistin, Gitarristin und Pianistin mit südafrikanischen Wurzeln lässt sich stilistisch zwischen Jazz, Art-Pop und Soul nicht festlegen. Das unterstreicht auch der programmatische Titel „Black And White, Vol. 1“, der für das vierte Album gewählt wurde und auf strikt trennendes, Ungerechtigkeiten hervorrufendes Schubladendenken hinweist. Darüber hinaus sind die schwarzen und weißen Tasten des Pianos ein Bezugspunkt zum Titel, denn das Klavier ist in der jetzigen Konstellation der einzige Begleiter der gefühlsbetonten Lieder.

    Gesang und Tasten bilden dabei eine Zweckgemeinschaft zur Bewältigung der Spannung, die für die Beherrschung der Intimität aufgebaut wird: Das Instrument wird zur Beruhigung von aufgewühlten Situationen eingesetzt, kurbelt eine getragene Stimmung an oder sorgt für phantasievolle Übergänge. Ganz im Sinne der auf das Wesentliche reduzierten Songs, von denen sieben schon in vielfältigeren Instrumentierungen auf den ersten drei Werken der Künstlerin zu finden sind. „License To Be Cruel“ orientiert sich hier z.B. an dem Schwermut klassischer Klavierstücke und weist sowohl expressionistische wie auch romantische Motive auf.

    Die Vorlage von „Love Letters And Other Missiles“ aus 2015 wird im Gegensatz dazu von einer geheimnisvollen Aura umgeben, die als cool swingende, dunkle Mystic-Jazz-Nummer ausgeprägt ist. Die Stücke zeigen also musikalisch relativ breite Unterschiede auf. Die neuen, puren Variationen stehen dabei ganz im Glanz der Persönlichkeit der Musikerin, die eine verletzliche Seele und kreativen Mut bei der Umsetzung offenbaren. Davor war eher eine dynamische Teamplayerin gefragt, die ihre Kompositionen zum Nutzen der Songs unterstützt.

    Julia Biel lädt zur gepflegten und gleichzeitig sensibel anregenden Unterhaltung ein. Dazu bedient sie sich der meditativen Wirkung von poetischen Piano-Tönen und reichert diese durch eine sanft-sperrige Gesangsleistung an. Das führt zu einem kontrastreichen Vortrag, der von auffallender Individualität und ungezwungener Musikalität getragen wird.
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    17.01.2020
    Klang:
    5 von 5
    Musik:
    5 von 5

    Emma Frank macht Musik, die schön und anspruchsvoll zugleich ist.

    Emma Frank wurde in der Nähe von Boston geboren, wo sie auch aufwuchs. Im Jahr 2006 zog sie nach Montreal in Kanada, um Literatur zu studieren. Nebenbei entwickelte sie sich zu einem wichtigen Teil der dortigen Jazz-Szene. In dieser Zeit entstanden auch zwei eigene Alben. 2015 kehrte die Sängerin in die USA zurück und machte New York zu ihrer neuen Heimat. Dort stellte die feingeistige, feinsinnige und vielseitige Künstlerin im Jahr 2019 mit „Come Back“ ihr viertes Solo-Werk fertig. In ihrer künstlerischen Ausrichtung brachte Emma Pop-Entspannung, Folk-Leichtigkeit und R&B-Grundierung in ihre Musik ein und hat nun eine luftige Folk-Jazz-Art-Pop-Dimension erreicht, die eine Einteilung in Genres überflüssig macht. Schon auf „Ocean Av“ aus 2018 arbeitete die nachdenkliche Musikerin mit dem kreativen Jazz-Pianisten Aaron Parks zusammen. Diese Symbiose wurde aktuell noch intensiviert und führte nicht zuletzt durch eine einfühlsame Band- Begleitung zu einer Sammlung von hinreißenden Ton-Gebilden.

    „I Thought“ ist lieblich und verführerisch schön. Diese Gefühle füllen Zeit und Raum voll aus und lassen keine Lücken für negative Schwingungen zu. Das ist Harmonie in Reinkultur, die die Sinne streichelt. Der Geist darf dabei aufmerksam und wach bleiben und wird sanft gestreichelt. Laura Marling und Bedouine fallen als Bezugsgrößen ein, ohne dass die Eigenständigkeit und Größe dieser ergreifenden Aufnahme in Frage gestellt wird. „Either Way“ von Wilco wird angemessen sowie gefühlvoll mit Wiedererkennungswert interpretiert und findet so seinen eigenen jazzig-romantischen Weg. Das Piano setzt klare Linien: Die Tasten werden verspielt, dabei jedoch deutlich angeschlagen, beinahe wie beim „Köln Concert“ von Keith Jarrett. Dadurch entsteht eine gewisse distanzierte Strenge. „Two Hours“ hat eine sakrale Seele, lässt einen großen, weiten Raum entstehen, der nur wesentliche, wichtige Inhalte enthält. Ein Effekt, der in ähnlicher Weise auch bei „House With No Door“ von Van der Graaf Generator Gestalt annimmt. Emmas Stimme verschmilzt mit den Piano-Klängen, so dass „Sometimes“ wie ein Duett zwischen zwei innig verbundenen Individuen klingt. Ein Zustand, der bei dem komplexeren „Promises“ auch auf die anderen Klangkörper übergreift. „Dream Team“ ist ein kurzes, kunstvolles Intermezzo mit lautmalerischer Stimme, dass den rhythmischen Jazz-Pop „See You“ einleitet, der in dieser melodisch anspruchsvollen Form auch von Norah Jones stammen könnte. „Lilac“ besitzt die Raffinesse vieler Aimee Mann-Kompositionen und die zerbrechliche Merkwürdigkeit der Lieder von Joni Mitchell, die entstanden, als sie noch im Laurel Canyon wohnte. Auch das zarte „Before You Go Away“ verfügt über eine seltsame, seltene Sensibilität, die den Song schutzbedürftig erscheinen lässt, damit er nicht in der rauen Welt beschädigt wird oder verloren geht.

    „Come Back“ lässt einige Referenzen, Einflüsse und Vorlieben erkennen, punktet mit kultivierter Kreativität und weist keinerlei Schwachstellen auf. Souveräne Lieder treffen auf einfühlsame Interpretationen und geschmackvolle Ausgestaltungen. So entsteht ein süßer Genuss ohne Reue. Die Songs transportieren in ihrer Grundform Geduld, Ruhe und Harmonie. Wie Landschaftsgemälde seien sie, so beschreibt Emma selbst ihre Schöpfungen. Die Kompositionen bekamen im Studio stützende Elemente von Streichern, Bläsern oder Keyboards zugewiesen, die ihnen die nötige Gestalt und Dynamik verleihen, um spezifische Aussagen und Gefühle treffend auszudrücken. Emma ist bei ihren Gesangsdarbietungen voll fokussiert. Dazu trägt bei, dass sich ihre Lebensumstände inzwischen gefestigt haben: Die 31jährige Musikerin ist verheiratet und hat ihre depressive, unsichere Phase überwunden. Diese Umstände wirken positiv auf die Lieder und lassen neben Empathie und Souveränität auch ein neues Selbstvertrauen erkennen. Für Emma Frank war es wichtig, ihre Mitte zu finden und irgendwo wirklich anzukommen. „Come Back“ legt Zeugnis darüber ab, dass es ihr gelungen ist.
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    Special Edition Part 1 Fat Freddy's Drop
    Special Edition Part 1 (CD)
    11.01.2020
    Klang:
    5 von 5
    Musik:
    5 von 5

    Einstimmung auf die Tournee: Nach fünf Jahren gibt es neues Material der innovativen neuseeländischen Reggae-Crossover-Formation Fat Freddy`s Drop.

    Zuerst eine gute Nachricht: Fat Freddy`s Drop aus Neuseeland sind ihrem Sound treu geblieben. So kann sich der Fan bei „Special Edition Part 1“ nach „Bays“ aus 2015 endlich auf eine neue Ausgabe mit einnehmenden, cool groovenden Dancefloor-Hits freuen. Die sechs Stücke beinhalten den ersten Teil eines Doppelalbums, dessen zweiter Teil auch noch im Jahr 2020 nach den über 35 angekündigten Shows in Neuseeland, Großbritannien und Europa veröffentlicht wird. Die Stücke „Raleigh Twenty“, „Trickle Down“ und „Six-Eight Instrumental“ wurden im heimischen BAYS-Studio in Wellington geschrieben und aufgenommen. Die restlichen Tracks („Special Edition“, „Kamo Kamo“ und „OneFourteen“) ergaben sich im Rahmen von Live-Jam-Sessions.

    Die Tanzmusik der siebenköpfigen Formation ist subtil und swingt ökonomisch. Es existiert kein halsbrecherisches Tempo und es werden keine effekthaschenden Verrenkungen unternommen, um den Songs den Groove mit der Brechstange einzuimpfen. Der ergibt sich wie von selbst auf leichtfüßige und elegante Weise, sofern der Hörer gewillt ist, dem Flow aufmerksam zu folgen. Fat Freddy`s Drop nutzen dabei bewährte organische Stilmittel aus Funk, Soul, Reggae und Jazz, um den Sound in die Beine gehen zu lassen. Die Musiker fügen modernere Elemente der Genres House oder Techno nur dann ein, wenn dadurch die Intensität gesteigert werden kann. Nicht als Selbstzweck, um jugendlich zu erscheinen.

    Spätestens nach zwanzig Sekunden, wenn Joe Dukies Gesang einsetzt, ist er wieder da, dieser typische, runde, mitreißende, dabei harmonische, vertraute Klang, der unweigerlich graue Wolken vertreibt und ein Fenster ins aktive Leben öffnet. Dabei geht „Kamo Kamo“ mit seiner Einleitung das Risiko ein, ungeduldige Hörer sofort wieder zu verlieren, denn der Titel definiert sich zunächst über Tonfolgen, die wie eine Hintergrundbeschallung für billige Jump & Run-Computerspiele klingen. Aber der nach der Ouvertüre einsetzende, souverän mild swingende Reggae-Rhythmus rettet dann nicht nur das Stück, sondern trägt mit seiner aufhellend optimistischen Stimmung dazu bei, so manchen trüben Tag vor der Bedeutungs- und Trostlosigkeit zu bewahren.

    Auch „OneFourteen“ fällt nicht mit der Tür ins Haus, sondern braucht Zeit, um eine entspannt-entschleunigte Atmosphäre zu schaffen, die die Außenwelt ausblendet und den geneigten Musikfreund auf eine sowohl anregende wie auch exquisit ausgestattete Reise mitnimmt. Der volle Bass, aufmerksam abgeschichtete Percussion, majestätische, selbstbewusste Bläser und gediegen ausschmückende Keyboards sorgen für geschmackvoll-anspruchsvolle Unterhaltung. Eine Computerspiel-Sound-Einleitung findet dann auch bei „Raleigh Twenty“ Anwendung. Das Lied ist vom Raleigh 20 Bike, einem BMX-Fahrrad aus den 1970er- und frühen 1980er-Jahren inspiriert und tummelt sich überwiegend im Big-Band-Fake- Jazz-Bereich. Es werden aber auch Funk-Elemente für die Erzeugung eines treibenden Taktes eingesetzt.

    Der Reggae-Jazz „Special Edition“ kommt leichtfüßig rüber und offenbart einen Hang zum eingängigen Pop, ohne dabei einen straffen Ablauf zu vernachlässigen. Hier werden Erinnerungen an die englische Ska-Band The Beat wach, die die Charts der frühen achtziger Jahre mit Songs wie „Mirror In The Bathroom“ (1980) oder „Save It For Later“ (1982) bereicherten. „Trickle Down“ weist hypnotische Züge auf, wie sie auf „Bays“ in den Stücken „Wheels“, „Fish In The Sea“ oder „Razor“ zu finden waren. Dub-Effekte sorgen hier zusätzlich für psychedelische Eindrücke. Das „Six-Eight-Instrumental“ nutzt ähnliche Konstellationen, kann aber wegen der schwachen Melodie und des uninspirierten Einsatzes von monotonen Synthesizer-Tönen nicht überzeugen. Davon abgesehen machen Fat Freddy`s Drop auch mit ihrer „Special Edition Part 1“ wieder vieles richtig und halten die Vorfreude auf „Part 2“ wach.

    Die Band geht im Frühjahr auf Tournee und macht auch in Deutschland halt. Sie kann auf ein reichhaltiges, abwechslungsreiches Repertoire zurückgreifen und dadurch mit Sicherheit ein pulsierendes Konzertereignis bieten. Es ist stark anzunehmen, dass es dann auch eine Begegnung mit den Tracks von „Special Edition“ geben wird.
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    A Beginner's Guide To Bravery David Keenan
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    11.01.2020
    Klang:
    5 von 5
    Musik:
    5 von 5

    David Keenan ließ sich Zeit für sein erstes Album, überzeugt damit aber jetzt auf ganzer Linie.

    Um die Kunst von David Keenan richtig einordnen zu können, ist es notwendig, etwas über seine Biografie und Motivation zu erfahren. Der Musiker ist nahe der irischen Kleinstadt Dandulk aufgewachsen, die zwischen Dublin und Belfast an der Grenze zu Nordirland liegt. Politische Spannungen gehörten also stets zum alltäglichen Umfeld im Leben des Musikers. Reibungspunkte, Kontroversen und emotionale Ausnahmesituationen spielen wohl deshalb eine gewichtige Rolle in den Kompositionen des außergewöhnlichen Talentes. Dundalk mag nicht der Nabel der Welt sein, aber die Bedürfnisse, Ängste, Wünsche und Leiden der dort lebenden einfachen Leute lösten Assoziationen aus, die neben den Beziehungen zu feingeistigen Literaten wie Samuel Beckett den Weg zu den Song-Ideen ebneten.

    Eine obsessive Leidenschaft für die englische Brit-Pop-Combo The La`s gab schließlich den Anstoß für einen Umzug nach Liverpool, als er 17 war. Geldmangel zwang ihn dazu, dort als Straßenmusiker aufzutreten, was als Konsequenz seine Kommunikationsfähigkeit und sein Selbstvertrauen stärkte. Mit der Erkenntnis, dass eine aufopfernd-anstrengende Art zu musizieren nur mit Disziplin sowie geistiger und körperlicher Gesundheit aufrecht zu erhalten ist, kehrte er vor ein paar Jahren nach Irland zurück, verschickte Demo-Aufnahmen und brachte so seine Karriere allmählich zum Laufen.

    Seitdem entstehen seine mutigen, intensiv-schneidenden Schöpfungen, die von Leidenschaft, Wut, konstruktiver Melancholie und missionarischem Eifer geprägt sind. Und der Wahnsinn lugt auch manchmal um die Ecke. Davids ungebremst durchdringender Gesang lässt dabei Erinnerungen an David Gray, Kevin Coyne, John Martyn, Damien Rice, Jeff Buckley oder David Crosby aufkommen. „Ich möchte riskieren, alles auseinander zu reißen, um vielleicht etwas Neues zu entdecken, und ich bin bereit, dieses Risiko einzugehen.“, hat er einmal in einem Interview betont und in diesem Sinne wirkt sein erstes Album, das hauptsächlich innerhalb von einer Woche in einer Situation zwischen Chaos und Ruhe in dem Hellfire Studio am Fuß der Dubliner Berge eingespielt wurde, abenteuerlich, drastisch, aufrichtig und bewegend.

    Die Eigenkomposition „James Dean“ wurde bereits 2018 auf der EP „Strip Me Bare, Vol. 2“ veröffentlicht und symbolisiert sowohl Zärtlichkeit wie auch Verwundbarkeit. Es geht inhaltlich um einen Traum, in dem die jung gestorbene Schauspieler-Ikone James Dean gesund und munter einem ruhigen Leben nachgeht: Er arbeitet für die irische Eisenbahn. Der schmerzlich-schroffe Folk-Song, der Solo zur verstärkten Gitarre vorgetragen wird, ist durch ausladende stimmliche Extravaganzen gekennzeichnet. So macht David gleich zu Beginn seines Werkes darauf aufmerksam, dass berechenbarer Mainstream nicht sein Ding ist.

    In voller Band-Besetzung, mit verlässlich aufmunternder Rhythmus-Abteilung und volksnaher, schmückender Geige ausgerüstet, hinterlässt „Unholy Ghosts“, das vollständig während einer Zugfahrt von Amsterdam nach Köln geschrieben wurde, oberflächlich ein schwungvolles Folk-Rock-Bild. Der Wille zum Aufbegehren und eine kritische Beobachtungsgabe lassen sich aber nicht andauernd unterdrücken: Die aggressiven Untertöne, die eine ungestüme Energie aussenden, können nicht zurück gehalten werden und so wird das Lied beinahe zum bersten gebracht.

    Im Video zu „Altar Wine“ geht es laut Regisseur Mark William Logan um die Dämonisierung des Weiblichen durch religiöse Institutionen, den Missbrauch unseres Planeten durch den Kapitalismus und das Trauma, das unsere Ahnen durch Unterdrückung an uns weiter geben. Schwere Kost also, die David dazu gebracht hat, sich quasi in Exorzismus-Manier auszutoben. Er berichtet jedenfalls davon, dass er sich noch nie so weit am Rande des Irrsinns bewegte - aber letztlich auch befreit gefühlt hat - wie beim Dreh zu diesem teils verstörenden Kurzfilm. Die Musik verhält sich dazu sowohl mystisch verhangen und poetisch verhalten wie auch rebellisch auflehnend.

    Die Ballade „Love In A Snug“ verharrt nicht in Sentimentalität, sondern präsentiert einen leidenden Sänger zwischen Tragik und Hoffnung. Diese nahegehende Berg- und Tal-Fahrt wird durch flexible, inspirierte Begleitmusiker in Szene gesetzt. Sie verzieren das Stück mit kunstvollen Tönen, die sowohl traditionelle folkloristische Muster bedienen, wie auch jazz-rockige Klänge zulassen. Für das bitter-süße Piano-Stück „Tin Pan Alley“ bietet Keenan danach die ganze Palette seines ausdrucksstarken Gesanges auf, was dem Stück ehrfurchtsvolle Dramatik verleiht.

    Die verschlungen-introvertierte Art eines Westcoast-Hippie-Songs leitet „Good Old Days“ ein, bevor der Track durch den sich allmählich steigernden Mystic-Folk-Überbau nahrhaft angereichert wird. Das mündet in eine Session, die so klingt, als würden die Dexys Midnight Runners und die Waterboys gemeinsam musizieren. Binnen einer Minute entwickelt sich dann „The Healing“ von einem introvertierten Stück über einen Fake-Walzer zu einem rockigen HipHop-Reggae-Verschnitt. Diese unüblichen Abläufe und Zutaten kommen wechselseitig zum Einsatz, ohne dass dadurch ein zusammengestückelter Eindruck entsteht. Im Gegenteil: Der Track steigert sich zum Schluss noch zu einem entfesselten gemeinschaftlichen Höhepunkt.

    Sechs Minuten lang hadert David bei „Origin Of The World“ mit seinen Gefühlen. Das Lied läuft erwartungsvoll, aber gleichförmig ab. Die letzte Minute füllt das Team dann mit gehetzt-unruhigen Klängen auf, die die innere Zerrissenheit des Protagonisten dokumentieren. „Eastern Nights“ ist wieder eine Solo-Nummer mit einer einsamen elektrischen Gitarre als einzigen Verbündeten. Der Track bemüht sich sperrig und unbeholfen darum, eine eindrucksvolle Melodie zu erzeugen, ergeht sich aber letztlich in einem gedankenverlorenen Seelengesang.

    „Evidence Of Living“ lebt lange von der innigen Zwiesprache zwischen Piano und Stimme. Beinahe unmerklich werden schwebende Orgelklänge dazu gesteuert, bevor irrlichternde Streicher, ein schwelgender Chor, ein mächtiges Schlagzeug sowie eine nun präsentere Orgel das anrührende Stück zu Ende bringen. Das epische, achtminütige „Subliminal Dublinia“ arbeitet sich im Anschluss von einem energischen, wortreichen Folk-Song zu einer hypnotischen Beschwörung voran, die durch einen monotonen Chor zwischenzeitlich noch intensiviert wird.

    Der 26jährige poetische Singer-Songwriter kann in der Plattensammlung zwischen Nick Cave und Benjamin Clementine angesiedelt werden, da sein kompromissloser Ausdruck und seine individuelle Klasse zu den Charakteren beider Musiker passt. Seine Songs mögen nicht beim ersten Hören zünden, aber die Energie und Inbrunst des Vortrags sorgen dafür, dass sie mindestens eine zweite Chance verdient haben. Spätestens dann leuchtet die einsame Klasse des kreativen Komponisten und Interpreten, der seine Texte als anspruchsvolle Lyrik formuliert, hell auf. „A Beginner`s Guide To Bravery“ ist nämlich die eindrucksvolle Schöpfung eines ganz großen hingebungsvollen Individualisten.
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    Tides Of A Teardrop (CD)
    26.07.2019
    Klang:
    5 von 5
    Musik:
    5 von 5

    Mandolin Orange zelebrieren mit „Tides Of A Teardrop“ herausragende, empfindsame Country-Folk-Gospel-Ambient-Musik.

    Mandolin Orange ist das Country-Folk Duo Andrew Marlin (Gesang, Mandoline, Gitarre, Banjo) und Emily Frantz (Gesang, Geige, Gitarre) aus Chapel Hill in North Carolina, das auf der mittlerweile sechsten Platte in zehn Jahren von ihrer Tour-Band (Josh Oliver (Gitarren, Keyboards, Background-Gesang); Clint Mullican (Bass, Bariton-Gitarre); Joe Westerlund (Schlagzeug, Percussion)) begleitet wird. Nichtsdestotrotz ist der Sound fragil und luftig, ländlich-gelassen und ausgewogen geworden. Zentrale Themen der Songs sind Verlust und Einsamkeit, die in sanfte, gefühlvolle, melancholische oder kontrolliert beschwingte Noten verpackt werden. Die Musiker lassen sich nicht hetzen und haben eine Gangart gefunden, die dem Stress und der Hektik entsagen. Musikalisch stützen sie sich auf alte Werte. Das Fundament dafür bilden die Errungenschaften von klassischen Americana-Songwritern wie Hank Williams, The Carter Family oder The Louvin Brothers. So entsteht zeitloses Liedgut von erlesener Qualität mit wechselndem, einfühlsamen Lead-Gesang und betörenden Duett-Stimmen. Was die Intimität der Lieder und deren Intensität und Gefühlstiefe angeht, spielen Mandolin Orange heute in einer Liga mit Gillian Welch & David Rawlings und The Milk Carton Kids.

    „Golden Embers“ mit seinem überraschenden Mittelteil aus der klassischen Romantik und das entspannte „The Wolves“ sind anrührend und entwickeln im Verlauf auch noch einen geschmeidig-milden Groove. Eine stoische Trommel gibt bei den Country-Pop-Balladen „Into The Sun“ und „Like You Used To“ dezent, aber unnachgiebig den Takt an. Emily singt dazu engelsgleich und Andrews Mandoline weint bittere Tränen, spendet aber auch Trost. Andrew trägt beim traurigen „Mother Deer“ die erste Stimme bei, Emily füllt gelegentlich mit ihrem ergänzenden Gesang Lücken aus und sorgt so für harmonischen Beistand. Beim locker schunkelnden „Lonely All The Time“ werden Erinnerungen an Gram Parsons & Emmylou Harris wach und das getragene, sehr langsame „When She's Feeling Blue“ bietet glasklar gepickte akustische Gitarrenklänge an, wie sie auch Willie Nelson gerne verwendet. Die herzzerreißende, aber schmalzfreie Ballade „Late September“ wird locker und gleichzeitig konzentriert vorgetragen und der Country-Walzer „Suspended In Heaven“ ist einer dieser ergreifenden Songs, mit denen Andrew Marlin den Tod seiner Mutter verarbeitet. „Time We Made Time“ weckt die Erinnerung daran, wie wichtig es ist, sich Zeit für die verbindenden und beglückenden Dinge im Leben zu nehmen. Was natürlich musikalisch mit viel Muße, Sanftmut und beruhigender Zärtlichkeit vermittelt wird. „Tides Of A Teardrop“ besitzt eine Ästhetik, die die Musik als im Kern ruhend, wissend, ja schon beinahe erleuchtet ausweist. Empfindsame Country-Folk-Gospel-Ambient-Musik wäre ein Etikett, welches die Wurzeln und die Wirkung des Sounds zusammenfasst. Obacht: Die Erstauflage enthält unter dem Namen „Sing And Play Traditionals“ eine EP mit vier historischen Songs, die berührend schön neuinterpretiert werden.
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    23.07.2019
    Klang:
    5 von 5
    Musik:
    5 von 5

    Mandolin Orange zelebrieren mit „Tides Of A Teardrop“ herausragende, empfindsame Country-Folk-Gospel-Ambient-Musik.

    Mandolin Orange ist das Country-Folk Duo Andrew Marlin (Gesang, Mandoline, Gitarre, Banjo) und Emily Frantz (Gesang, Geige, Gitarre) aus Chapel Hill in North Carolina, das auf der mittlerweile sechsten Platte in zehn Jahren von ihrer Tour-Band (Josh Oliver (Gitarren, Keyboards, Background-Gesang); Clint Mullican (Bass, Bariton-Gitarre); Joe Westerlund (Schlagzeug, Percussion)) begleitet wird. Nichtsdestotrotz ist der Sound fragil und luftig, ländlich-gelassen und ausgewogen geworden. Zentrale Themen der Songs sind Verlust und Einsamkeit, die in sanfte, gefühlvolle, melancholische oder kontrolliert beschwingte Noten verpackt werden. Die Musiker lassen sich nicht hetzen und haben eine Gangart gefunden, die dem Stress und der Hektik entsagen. Musikalisch stützen sie sich auf alte Werte. Das Fundament dafür bilden die Errungenschaften von klassischen Americana-Songwritern wie Hank Williams, The Carter Family oder The Louvin Brothers. So entsteht zeitloses Liedgut von erlesener Qualität mit wechselndem, einfühlsamen Lead-Gesang und betörenden Duett-Stimmen. Was die Intimität der Lieder und deren Intensität und Gefühlstiefe angeht, spielen Mandolin Orange heute in einer Liga mit Gillian Welch & David Rawlings und The Milk Carton Kids.

    „Golden Embers“ mit seinem überraschenden Mittelteil aus der klassischen Romantik und das entspannte „The Wolves“ sind anrührend und entwickeln im Verlauf auch noch einen geschmeidig-milden Groove. Eine stoische Trommel gibt bei den Country-Pop-Balladen „Into The Sun“ und „Like You Used To“ dezent, aber unnachgiebig den Takt an. Emily singt dazu engelsgleich und Andrews Mandoline weint bittere Tränen, spendet aber auch Trost. Andrew trägt beim traurigen „Mother Deer“ die erste Stimme bei, Emily füllt gelegentlich mit ihrem ergänzenden Gesang Lücken aus und sorgt so für harmonischen Beistand. Beim locker schunkelnden „Lonely All The Time“ werden Erinnerungen an Gram Parsons & Emmylou Harris wach und das getragene, sehr langsame „When She's Feeling Blue“ bietet glasklar gepickte akustische Gitarrenklänge an, wie sie auch Willie Nelson gerne verwendet. Die herzzerreißende, aber schmalzfreie Ballade „Late September“ wird locker und gleichzeitig konzentriert vorgetragen und der Country-Walzer „Suspended In Heaven“ ist einer dieser ergreifenden Songs, mit denen Andrew Marlin den Tod seiner Mutter verarbeitet. „Time We Made Time“ weckt die Erinnerung daran, wie wichtig es ist, sich Zeit für die verbindenden und beglückenden Dinge im Leben zu nehmen. Was natürlich musikalisch mit viel Muße, Sanftmut und beruhigender Zärtlichkeit vermittelt wird. „Tides Of A Teardrop“ besitzt eine Ästhetik, die die Musik als im Kern ruhend, wissend, ja schon beinahe erleuchtet ausweist. Empfindsame Country-Folk-Gospel-Ambient-Musik wäre ein Etikett, welches die Wurzeln und die Wirkung des Sounds zusammenfasst. Obacht: Die Erstauflage enthält unter dem Namen „Sing And Play Traditionals“ eine EP mit vier historischen Songs, die berührend schön neuinterpretiert werden.
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    This Remedy Larry & His Flask
    This Remedy (CD)
    08.11.2018
    Klang:
    4 von 5
    Musik:
    4 von 5

    Folk ist nur die Basis für ein Stilgemisch, das Larry & His Flask außergewöhnlich vielseitig erscheinen lässt.

    Das Quintett Larry & His Flask kommt aus Bend in Oregon, aber einen Larry sucht man vergebens unter den Bandmitgliedern. Stattdessen besteht die Gruppe aus Kirk Scatvold (Mandoline, Tompete), Andrew Carew (Banjo, Trompete, Posaune), Jeshua Marshall (Stand-Up Bass, Harmonika, Bariton-Horn) und dem Lead-Sänger und Gitarristen Ian Cook. Dieser besitzt eine flexible Stimme, die stilübergreifend einsetzbar ist. Sie kann verwöhnen, aufbrausen, trösten, zum Tanz auffordern und ernsthaft unterhalten. Diese Allzweckwaffe ist das große Plus der Formation und wird entsprechend prominent hervorgehoben. Die Gruppe bringt unterschiedlich intensiv diverse Folk-Bestandteile in ihre Musik ein, streift aber die reine Lehre nur am Rande.

    Der betrübten Folkie, der einsam zur Begleitung seiner Akustik-Gitarre singt, kommt dabei aber nicht zum Tragen.
    Diese Folklore enthält sowohl ländliche wie auch urbane Bestandteile und funktioniert stets als flexibles Ensemblespiel. Jazz, Blues, Rock & Roll sowie Pop-Wurzeln werden in den Sound eingearbeitet und sorgen für Abwechslung, wobei einige Vorbilder und Einflüsse klar auf der Hand liegen: The Band, Bruce Springsteen, Mumford & Sons, Country Rock und Bluegrass. Übermütig und aufgedreht nimmt der Opener „Atonement“ Fahrt auf und wird nur vom bedächtigen Gesang im Zaum gehalten. Folk-Ska trifft dabei auf Singer-Songwriter-Pop. Das balladeske „Doing Fine“ erreicht durch einen swingenden Dixieland-Rhythmus, dass sich die Melancholie in Grenzen hält.

    „This Remedy“ bedient sich schäumender Banjo-Riffs, um einen hymnischen Eindruck zu erzeugen. Der trabende Rhythmus und der geschmeidige Gesang sorgen dann dafür, dass sich die Mumford & Sons-Ähnlichkeit verflüchtigt. „Ellipsis“ sorgt erneut für Schwung und führt den Country-Folk auf die Tanzfläche. „Never All The Times“ versetzt uns mit behebigem, Bläser betonten Oldtime-Jazz zunächst nach New Orleans. Larry & His Flask wenden dann das Blatt und formen aus dem Song ein engagiertes, erwachsenes Pop-Stück, auf das auch Elvis Costello stolz gewesen wäre.

    „Begin Again“ plätschert zunächst freundlich, aber relativ ereignislos dahin, wird aber im letzten Drittel durch eine scharfe Trompete und eine quengelnde Gitarre befeuert. Der bittersüße Country- und Folk-Rock „Hoping Again“ hält gekonnt die Balance zwischen dunkler Ballade und zuckriger Schnulze. „The Place That It Belongs“ kommt bei ähnlicher Ausrichtung ohne viel Pathos aus, verfügt aber über einen lebhaften Rhythmus, der das Lied aus der Traurigkeit heraus befördert.

    „Dearly Departed“ kann schon beinahe als Hillbilly-Punk bezeichnet werden, so flott ist der Track unterwegs. Wieder ist es der ausgleichende, aber dennoch engagierte Gesang, der ein überkochen verhindert. Für den treibenden Folk-Rock „You Won`t“ zeigt die Band eine etwas aggressivere Seite, ohne allerdings aus der Fassung zu geraten. Für „Behind the Curtain“ wird Flamenco, Gypsy-Swing, Mariachi-Sound, Rock und Polka zu einem abwechslungsreichen Weltmusik-Gebilde mit Pop-Anstrich verarbeitet. Aber das abschließende „Three Manhattans“ ist dann doch zu unspezifisch und phasenweise zu schlagerhaft geraten, um eine nachhaltig positive Wirkung zu erreichen.

    Die Platte ist dennoch sehr abwechslungsreich und unterhaltsam geraten. Manchen eher aufwühlenden Stücken hätte es allerdings gut getan, wenn der hervorragende Sänger etwas mehr aus sich heraus gegangen wäre und seiner natürlichen Aggressivität freien Lauf gelassen hätte.
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    Inside Voice Joey Dosik
    Inside Voice (CD)
    08.11.2018
    Klang:
    4 von 5
    Musik:
    3 von 5

    Mit Marvin Gaye im Herzen präsentiert Joey Dosik ein elegantes Soul-Gospel-Gemisch.

    Joey Dosik aus Los Angeles schmachtet wie der große Marvin Gaye und bringt mit „Inside Voice“ nach einer EP sein erstes Album mit 13 Tracks raus. Gekrönt werden die Songs von einer unverfälschten Stimme, die aus einer reinen, unschuldigen Seele zu strömen scheint. In hohen Tönen lässt Joey gleich zu Beginn seine „Inside Voice“ jubilieren. Perlende, flirrende und bedächtige Töne schaffen sich ergänzende Bestandteile, die den Track zu einem romantisch-eleganten Soft-Soul aufblühen lassen. „Get It Right“ könnte einen Marvin Gaye-Gedächtnis-Preis gewinnen. Selbst die Handclaps und Background-Gesänge wurden den Arbeiten des Tamla Motown-Superstars nachempfunden.

    Bei der Bill Withers-Cover-Version „Stories“ regieren die Stimmen. Dosik steht einer Gesangs-Gruppe vor, die eine spirituell inspirierte Pop-Gospel-Darbietung zeigt. Der mild gestimmte Soul-Pop „Take Mine“ vermag aufgrund seiner unverbindlichen Art nicht zu überzeugen und das kurze Instrumentalstück „Down The Middle (VHS Interlude)“ ist auch nur ein Lücken füllendes Fragment. Genau wie „Inside Voice (Reprise)“. Für „Past The Point“ zieht der Sänger dann alle Register, um als gefühlvoller Interpret zu überzeugen. Er schmeichelt, gurrt und seufzt, was das Zeug hält.

    Bei der Ballade „Grandma Song“ gibt es eine innige Zwiesprache zwischen Piano und Stimme. In Coco O. hat der Retro-Soul-Musiker seine Tammi Terrell gefunden. Genau wie Marvin Gaye mit seiner Partnerin rhythmischen Motown-Soul produzierte, versucht jetzt auch Joey bei „Don`t Want It To Be Over“ mit solch einem Sound zu punkten. „Emergency Landing“ ist der innigste, ergreifendste und raffinierteste Song der Platte. Das ist kunstvoller Pop, wie er auch auf Elvis Costellos „Imperial Bedroom“ (1982) zu hören ist. Leichter, lockerer Soft-Rock mit Gospel-Background-Gesang wird für „In Heaven“ zubereitet. „One More Time“ ist nur ein kurzes Zwischenspiel, das noch einmal den Geist von Marvin Gaye heraufbeschwört. Der zarte Schmelz von Smokey Robinson hat zum Abschluss bei der Soul-Ballade „Game Winner (Stadium Version)“ Pate gestanden.

    Joey Dosik ist ein talentierter, sauberer Sänger, der den klassischen Soul der 1960er und 1970er Jahre aufleben lässt. Das passiert sehr authentisch, häufig so sehr an den Originalen angelehnt, dass eine etwas distanziertere Sicht wünschenswert gewesen wäre, damit nicht der Eindruck eines Plagiats entstehen kann. Die Kompositionen sind alle sehr solide, aber es ragen keine Smash-Hits heraus, so dass der Ablauf relativ gleichförmig ist. Nichtsdestotrotz sollten Soul-Liebhaber ein Ohr riskieren. Auch wenn sich Joey wahrscheinlich noch unter Wert verkauft, kann er aber bei Fokussierung seiner Ausrichtung auf Groove-betonte Songs der kommende Soul-Superstar vom Schlage eines John Legend werden.
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    226 bis 250 von 480 Rezensionen
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