Inhalt Einstellungen Privatsphäre
jpc.de – Leidenschaft für Musik Startseite jpc.de – Leidenschaft für Musik Startseite
  • Portofrei ab 20 Euro
  • Portofrei bestellen ab 20 Euro
  • Portofrei innerhalb Deutschlands Vinyl und Bücher und alles ab 20 Euro
0
EUR
00,00*
Warenkorb EUR 00,00 *
Anmelden
Konto anlegen
    Erweiterte Suche
    Anmelden Konto anlegen
    1. Startseite
    2. Alle Rezensionen von Webervogel bei jpc.de

    Webervogel Top 100 Rezensent

    Aktiv seit: 10. April 2017
    "Hilfreich"-Bewertungen: 31
    161 Rezensionen
    Hauskonzert Igor Levit
    Hauskonzert (Buch)
    24.04.2021

    Pointiertes Porträt

    „Hauskonzert“ ist, wie auf den letzten Seiten auch noch einmal thematisiert wird, nicht das typische „Pianistenbuch“ (wobei es zugegebenermaßen das erste Pianistenbuch ist, das ich überhaupt gelesen habe). Und es handelt auch längst nicht nur vom Klavierspielen. Themen sind eine Erfolgsgeschichte mit vielen Rückschlägen, die Rezeption von Kunst, aber auch der Umgang von Menschen miteinander. Das Ganze ist klar und schnörkellos geschrieben und macht gleichzeitig die Faszination von klassischer Musik und die Leidenschaft dafür spürbar.

    Autor Florian Zinnecker ist stellvertretender Ressortleiter der Wochenzeitung „Die Zeit“ und auch das merkt man „Hauskonzert“ an: Es liest sich wie ein langes, fesselndes und immer wieder auch pointiertes Porträt, das ich gar nicht mehr zur Seite legen wollte.
    Dabei hatte ich mich mit Igor Levit bislang nur wenig beschäftigt und höre klassische Musik äußerst selten. Dass dieses Buch mich von Anfang an gepackt hat, lag sicher auch am ungewöhnlichen Blick hinter die Kulissen des Konzertbetriebs. Aber vor allem an der Skizzierung von Levits Person: Sie wirkt komplett authentisch, denn da wird ein Künstler mit Ecken und Kanten und Schwächen sehr menschlich beschrieben – und das im Kontext eines Jahres, das gerade für Künstler sehr schwierig war. Auch das macht den Reiz dieses Buches aus: Geplant wurde es im Dezember 2019, der Konzerttourneeplan für 2020 stand, und dass er ab Mitte März pandemiebedingt komplett umgeworfen werden würde, war noch nicht abzusehen. Levits Perspektive auf diese Zäsur – als Pianist, der sich Rang und Namen bereits erspielt hat – ist spannend zu lesen.

    Und dann beschäftigen sich Igor Levit und Florian Zinnecker noch mit Themen, die so gar nichts mit Kunst zu tun haben, mit denen ersterer aber immer wieder konfrontiert wird: Antisemitismus, Rassismus, Hetze. Der Hass im Netz flammt auf, seit Levit sich zu gesellschaftspolitischen und ökologischen Themen öffentlich äußert. Was ihn dabei antreibt und wie er damit umgeht, wird in „Hauskonzert“ ebenfalls angesprochen. Und so gibt es hier Einblicke und Denkanstöße, die dieses „Pianistenbuch“ tatsächlich einzigartig machen.
    Kim Jiyoung, geboren 1982 Nam-joo Cho
    Kim Jiyoung, geboren 1982 (Buch)
    22.03.2021

    Ausweglos

    Die Südkoreanerin Kim Jiyoung ist verheiratet und Mutter einer kleinen Tochter, als sie 2015 plötzlich schizophrene Schübe erleidet. Sie schlüpft gegenüber ihrem Mann in die Rolle ihrer Mutter, ihres Kindes oder einer Freundin und artikuliert deren Bedürfnisse, als wären es ihre. Danach kann sie sich an nichts erinnern. Im Folgenden arbeitet ein Psychiater Jiyoungs Lebensgeschichte auf, die in diesem Buch erzählt wird.

    Der Ton des Romans ist dann auch sachlich berichtend und hat mich gerade dadurch berührt. Hier wird nicht erklärt oder bewertet, sondern ein durchschnittliches Frauenleben beschrieben. Für Jiyoungs Familie beginnt es bereits mit einer Enttäuschung, hatte diese doch auf einen Sohn gehofft. Werden Jiyoung und ihre ältere Schwester dennoch von ihren Eltern geliebt? Nichts spricht dagegen. Aber sie sind eben „nur“ Mädchen. Mädchen, die in einer erschreckend patriarchalischen Gesellschaft von Beginn an systematisch diskriminiert werden. Und die dennoch viel mehr Möglichkeiten und Freiheiten haben als ihre Mütter und Großmütter und dadurch in einem seltsamen Spannungsfeld aufwachsen.

    Ungewöhnlich wird die Geschichte dadurch, dass Jiyoung eben nicht die rebellierende Heldin ist, über die normalerweise Romane geschrieben werden. Schon auf dem Cover ist sie gesichtsloser Durchschnitt. Jiyoung akzeptiert die Sonderstellung des kleinen Bruders. Sie geht nicht auf die Barrikaden, weil Mädchen keine Klassensprecherinnen werden können. Sie wird nicht wütend, wenn man ihr Schuldgefühle einredet, weil Jungen sie belästigen. Kurz gesagt ist sie so, wie die Gesellschaft sie haben möchte: folgsam, angepasst, diszipliniert und strebsam. Jiyoung ist von klein auf bewusst, dass sie besser sein muss als ihre männlichen Altersgenossen. Doch sie erfährt auch immer wieder, dass selbst das nicht reicht, um annähernd gleiche Chancen zu bekommen: in der Schule, im Studium, im Job.

    Autorin Cho Nam-Joo unterfüttert ihren Roman ab und an mit Fußnoten, in denen sie genannte Zahlen belegt, z.B. zu Abtreibungen oder zum Gender-Pay-Gap. Die lakonische Erzählung bekommt dadurch noch mehr Gewicht. Die männlichen Nebenfiguren bleiben blass in diesem Roman, Protagonistin Jiyoung ist es jedoch auch – auf eine erschütternde Weise. Sie ist nicht die sanfte Lenkerin ihres Mannes, wie ihre Mutter. Sie begehrt nicht auf, wie ihre Schwester. Sie erfüllt die Erwartungen, wie sie es von Kindesbeinen an gelernt hat. Und führt den Lesenden vor Augen, was sie davon hat: nicht das Leben, das sie wollte.
    Die Situation in Südkorea ist speziell, Jiyoungs Geschichte jedoch trotzdem universell – einzelne Aspekte ihres Lebens werden überall nachvollzogen werden können. Und so entwickelt dieser emotionslos und kompakt erzählte Roman einen ganz eigenen, traurigen Nachhall und rüttelt gerade dadurch auf.
    Hard Land Hard Land (Buch)
    09.03.2021

    Der Sommer seines Lebens

    Eine von Benedict Wells Figuren sammelt gelungene erste Sätze und ich bin mir ziemlich sicher, dass ihr auch der Beginn von „Hard Land“ gefallen hätte: „In diesem Sommer verliebte ich mich, und meine Mutter starb.“ Was für ein Einstieg! Ich-Erzähler Sam berichtet davon, wie sich sein ganzes Leben innerhalb weniger Wochen verändert. Ein Leben, in dem sich der fast 16-jährige Außenseiter nicht allzu wohl fühlt: Seine Heimatstadt Grady ist ziemlich verschlafen, sein einziger Freund weggezogen, sein Vater arbeitslos und seine Mutter hat einen Hirntumor. Doch als er in den Sommerferien einen Job im örtlichen Kino annimmt, lernt er Cameron, Hightower und Kirstie kennen, die Grady im Herbst verlassen und aufs College gehen werden. Erst belächeln sie Sam, aber schließlich wird aus der Dreier- eine Viererclique. Und so wird dieser Sommer aufregend, wundervoll und komisch, aber auch todtraurig. Und am Ende ist Sam ein anderer.

    Benedict Wells ist 1984 in München geboren, sein Roman spielt nur ein Jahr später in Missouri. „Hard Land“ liest sich allerdings so atmosphärisch dicht, dass nicht nur der Autor die staubigen Straßen des Mittleren Westens bestens zu kennen scheint, sondern man sie selbst vor sich sieht. Neben Gradys Kinoprogramm, das ein Wiedersehen mit „Zurück in die Zukunft“ und anderen Klassikern möglich macht, wird auch die Musik der 80er immer wieder erwähnt: sie läuft im Fernsehen, auf Partys und im Bruce-Mobil, in dem ausschließlich Springsteen-Songs gespielt werden dürfen. Am Ende des Romans hat Wells den Soundtrack zum Buch sogar aufgelistet; wobei ich schon beim Lesen Ohrwürmer von „I’m on fire“ und „Dancing with myself“ bekam.

    Die Geschichte wirkt bis ins kleinste Detail stimmig, aber vor allem berührt sie. „Hard Land“ ist ein sensibel erzählter Coming-of-Age-Roman, der weder vor den großen noch kleinen Emotionen zurückschreckt, ohne je ins Rührselige abzudriften. Einfühlsam und vor allem großartig geschrieben, widmet er sich einem ganz besonderen Sommer und enthält dabei ein paar Wahrheiten, die nostalgisch und nachdenklich machen. Absolute Empfehlung.
    Meine Produktempfehlungen
    • The Rising Bruce Springsteen
      The Rising (LP)
    • Vom Ende der Einsamkeit Benedict Wells
      Vom Ende der Einsamkeit (Buch)
    • Zurück in die Zukunft I Zurück in die Zukunft I (DVD)
    Die vier Gezeiten Die vier Gezeiten (Buch)
    26.02.2021

    Schicksalsüberladen

    Dieser Roman handelt von vielen Frauen: Von einer, die in den 1930er Jahren auf Juist aufwächst und miterlebt, wie sich der Nationalsozialismus auf der Nordseeinsel ausbreitet. Von einer, die dort in den 1960er Jahren vier Töchter an der Seite eines Mannes aufzieht, den sie nicht liebt. Von einer, die Ende der 1970er aus Verzweiflung im Watt verschwindet. Und von einer Neuseeländerin, die 2008 auf der Suche nach ihrer leiblichen Mutter nach Juist kommt.
    Aber das ist noch nicht alles: Neben weiteren Frauenfiguren gibt es noch einen narzisstischen Familienpatriarchen, Altnazis und Umweltschützer; es ereignen sich gleich mehrere ungeplante Schwangerschaften und die deutsch-deutsche Geschichte spielt auch noch eine Rolle. Ganz schön viel für 480 Seiten! „Die vier Gezeiten“ sind leider so überladen mit Dramen, dass der Roman längst nicht jedem Handlungsstrang gerecht werden kann. Durch eine Fokussierung auf weniger Figuren hätte die Geschichte vermutlich gewonnen. Irritierend fand ich auch die Häufung der Schicksalsschläge innerhalb einer Familie, die aber kaum darüber spricht. Und das ist dann auch mein zweiter Kritikpunkt: Ich fand es nicht stimmig, wie wenig sich die einzelnen, größtenteils miteinander verwandten Protagonisten untereinander austauschen. Sicher kommt es vor, dass Gespräche zwischen Familienmitgliedern an der Oberfläche bleiben, aber hier nimmt es sehr seltsame Züge an; naheliegende Reaktionen bleiben oft aus. Das Verhalten gleich mehrerer Figuren wirkt dadurch etwas bizarr. Autorin Anne Prettin fügt ihre vielen Handlungsstränge zwar am Ende des Romans zusammen, aber auch im Nachhinein wird so längst nicht jede Reaktion auch nur halbwegs schlüssig erklärt.

    Komplett überzeugend sind dagegen die Juist-Beschreibungen. Die Inselatmosphäre schwingt überall mit: Sonne, Strand und Sanddorn, Hammersee und Domäne Bill, Flughafen und Inselbahn – alles kommt vor und man fühlt fast, wie einem die Nordseeluft um die Nase streicht. Und so sind „Die vier Gezeiten“ schon ein gedanklicher Ausflug ans Meer, aber eben ein sehr überladener. Prettin hätte ihren vielen Protagonisten ruhig etwas weniger zumuten dürfen.
    Sprich mit mir T. C. Boyle
    Sprich mit mir (Buch)
    30.01.2021

    Zwischen Tier und Mensch

    In dieser außergewöhnlichen Geschichte geht es um verschwimmende Grenzen und darum, was möglich ist, was moralisch ist, was das Beste ist – aber auch um Liebe und Vertrauen aus einer gänzlich ungewöhnlichen Perspektive. Auch Kommunikation ist ein großes Thema, wie der Titel „Sprich mit mir“ schon erahnen lässt. Hauptfigur Sam kann zwar nicht sprechen, sich aber in Zeichensprache verständlich machen sowie zuhören. An und für sich mag das noch nicht so ungewöhnlich sein – doch Sam ist ein Schimpansenkind. Ein 10.000 Dollar-Menschenaffe, der im Rahmen eines Spracherwerb-Forschungsprojekts von Professor Guy Schermerhorn menschlich erzogen wird. Und so wächst Sam in einem kalifornischen Ranchhaus auf, lernt sich mit Menschen zu verständigen, isst Cheeseburger und schläft in einem Bett. Sogar ins Fernsehen schafft er es, als Guy mit ihm in einer Rateshow auftritt. Dadurch erfährt die introvertierte Studentin Aimee von dem Forschungsprojekt und wird kurz darauf von Guy als Hilfskraft eingestellt. Sie und Sam haben sofort eine Verbindung zueinander und schon bald ist die Beziehung zu ihrem Schützling die wichtigste in Aimees Leben. Für Guys Mentor, Dr. Moncrief ist der Schimpanse jedoch nur eines von vielen teuren Versuchstieren – und sein Eigentum. Und als er beschließt, die Forschung einzustellen und Sam in seinen Schimpansenstall nach Iowa zu holen, stellt das nicht nur dessen Leben auf den Kopf.

    In diesem Roman wechseln sich zwei unterschiedliche Perspektiven kapitelweise ab: Eine menschliche (meist Aimees) und Sams tierische. Die Kapitel aus Sams Sicht sind wesentlich kürzer und handeln von seinen Empfindungen und Bedürfnissen. Die Gedanken des menschlich aufgezogenen Affens erscheinen sowohl tierisch als auch ziemlich gut nachvollziehbar. Ob Mensch oder Schimpanse: T. C. Boyle hat facettenreiche Charaktere erschaffen, die aus sehr unterschiedlichen Motivationen handeln und dabei durch und durch authentisch wirken. Manche Episoden greift „Sprich mit mir“ zwei- oder sogar dreimal auf; aus Sams sowie aus Aimees und/oder Guys Perspektive. Langeweile kommt dabei nicht auf, denn die unterschiedlichen Bewertungen von Situationen lesen sich spannend. Und nicht nur Aimee und Guy sinnieren ab und an, was Forschung kann und Forschung darf – auch als Leserin habe ich mir diese Frage immer wieder gestellt. Denn Sam ist zwar kein Mensch, doch auch mit seinen Artgenossen hat er nicht mehr viel gemein. Ist das gut für ihn? Bis zum Schluss habe ich mit ihm und Aimee mitgefiebert und konnte den Roman kaum mehr aus der Hand legen.
    Miss Bensons Reise Miss Bensons Reise (Buch)
    17.01.2021

    Originell, warmherzig und spannend

    „Miss Bensons Reise“ nimmt 1950 im grauen Nachkriegs-London ihren Anfang. Und irgendwie grau wirkt auch Margery Benson: Sie ist eine 46-jährige, alleinstehende Hauswirtschaftslehrerin, die ein ziemlich freudloses Leben führt. Doch wie aus heiterem Himmel holt sie eine alte Leidenschaft wieder ein; ein früheres Hobby, vermutlich ihr einziges: Margery interessiert sich für Käfer. Und träumt seit ihrem elften Lebensjahr davon, eine goldene, nur auf Neukaledonien lebende Spezies für die Sammlung des Natural History Museum in London zu fangen. Es gibt allerdings mehrere Hürden zu überwinden: Auf Neukaledonien wird Französisch gesprochen, es liegt über 16.000 km von London entfernt (Luftlinie) und besagter goldener Käfer wurde bislang noch gar nicht entdeckt.
    Trotz dieser Hindernisse und wider alle Vernunft beschließt Margery, das Abenteuer zu wagen – aber nicht alleine. Sie sucht nach einer Assistentin und muss zu ihrem Leidwesen kurzfristig auf Enid Pretty zurückgreifen, deren angeblich fließendes Französisch sich bei genauerer Betrachtung auf „Bong Schuaa“ beschränkt. Lebenskünstlerin Enid hat keinerlei Interesse an Käfern, ist mindestens 20 Jahre jünger als Margery, redet wie ein Wasserfall und besitzt einen roten Handkoffer, den sie wie ihren Augapfel hütet. Kurz: Die beiden Frauen sind alles andere als ein Match.

    Vielleicht gerade deswegen ist dieser Roman über eine unerwartete Freundschaft einer der schönsten und ungewöhnlichsten, die ich in den letzten Monaten gelesen haben. Autorin Rachel Joyce hat zwei grundverschiedene, spleenige Protagonistinnen geschaffen, die einem schnell ans Herz wachsen und sich zu ihrer eigenen Überraschung doch ganz gut ergänzen. Ihr Abenteuer entwickelt sich natürlich längst nicht so wohlgeordnet, wie Margery es geplant hat – Enid Pretty bedeutet Chaos. Nicht nur wegen ihr ist „Miss Bensons Reise“ voller unerwarteter Wendungen, Komik, Dramatik und Spannung. Joyce ist außerdem ein wunderbar warmherziger Roman gelungen, der ohne jeden Kitsch auskommt. Dass es trotzdem keine reine Feelgood-Geschichte ist, macht ihn noch besser. Mit Marge und Enid nach Neukaledonien zu reisen, kann ich nur empfehlen!
    Ungezähmt Glennon Doyle
    Ungezähmt (Buch)
    18.12.2020

    Inspirierende und sympathische Selbstvermarktung

    „Ungezähmt“, das neueste Buch der amerikanischen Bestsellerautorin, Bloggerin und Rednerin Glennon Doyle, hat mehrere prominente Fans wie z.B. Adele, Reese Witherspoon und Emma Watson. Auch mich haben gleich die ersten Seiten fasziniert. Doyle beschreibt einen Zoobesuch, auf dem sie eine Gepardenvorführung erlebt. Das Tier hat sein ganzes Leben in Gefangenschaft verbracht, hält einen Hund für seinen besten Freund und jagt auf Kommando einem schmutzigen Stofftier nach. Doch obwohl ihm ein komplett artfremdes Leben antrainiert wurde, sieht die Autorin das Wildtier noch durchschimmern. Und vergleicht dessen Situation mit ihrer und der anderen Frauen, die darauf gedrillt wurden, zu funktionieren und die gesellschaftlichen Erwartungen zu erfüllen.

    Doyle hat mit 40 Jahren alle Erwartungen enttäuscht: Nachdem sie ihre Bilderbuchfamilie mit Mann und drei Kindern offensichtlich als Bloggerin, bei Vorträgen und in ihren ersten beiden Büchern vermarktet hat, hat sie sich in eine Frau verliebt, sich scheiden lassen und neu geheiratet. Wie sie ihre Entscheidungen getroffen hat und trifft, wie sie Beziehungen pflegt und ihre Kinder zu unabhängigen Menschen erzieht – davon handelt „Ungezähmt“. Das Buch gliedert sich in drei Teile, die sehr plakativ mit „Im Käfig“, „Schlüssel“ und „Frei“ betitelt sind. Fast jedes Kapitel schildert eine Situation aus ihrem Leben oder eine Unterhaltung mit ihren Kindern, manchmal greift sie auch auf Fragen ihrer Leserinnen und Fans zurück. Vielleicht war es das, was mir „typisch amerikanisch“ vorkam: Dass die Autorin ihr Privatleben und ihre Gefühle (sowie die ihrer Kinder) dermaßen detailliert darlegt, hat mich etwas befremdet. Zwar äußert sie sich nur in höchsten Tönen und mit sehr viel Liebe und Respekt über ihre Familie, aber dennoch zerrt sie sie natürlich zumindest schreibend in die Öffentlichkeit. Doyle schont sich dabei nicht; mit sich selbst geht sie am Härtesten ins Gericht. Dadurch wirkt sie höchst authentisch und sympathisch. An ihren Thesen zu Konditionierung und Gesellschaft ist sicher auch einiges dran. Trotzdem schien mir das Buch hier und da einen Tick zu privat – immer wieder hatte ich das Gefühl, dass Situationen geschildert wurden, die mich einfach nichts angingen. Vielleicht hätte ich „Ungezähmt“ außerdem etwas kürzer gefasst – gegen Ende hatte ich den Eindruck, dass der Autorin langsam die zum Thema passenden Anekdoten ausgingen. Aber insgesamt ist ihr autobiographisches Sachbuch trotzdem inspirierend, bestens lesbar und bietet viele interessante Denkanstöße.
    Der erste Tote Der erste Tote (Buch)
    08.12.2020

    Für Mexiko-Kenner

    Das farbenfrohe, morbide Cover hat mein Interesse sofort geweckt und passt außerdem perfekt zu einem in Mexiko spielenden Thriller. Es zeigt Santa Muerte, eine vor allem in Mittel- und Lateinamerika verehrte Todesheilige, von der ich allerdings noch nie gehört hatte. Insgesamt weiß ich nicht besonders viel über Mexiko und spreche auch kein spanisch. Beides erschwerte die Lektüre dieses Buches – tatsächlich würde ich diesen Thriller nur Lesenden empfehlen, die einiges an Hintergrundwissen mitbringen.

    Ich könnte immer noch nicht sagen, wer „Der erste Tote“ in Tim MacGabhanns gleichnamigem Thriller überhaupt ist. Zwar finden die Journalisten Andrew und Carlos gleich zu Beginn des Buches eine grausam entstellte Leiche an einem Straßenrand in Poza Rica, aber es ist nicht der erste Ermordete, den die beiden sehen – für Carlos allerdings der letzte. Zunächst werden sie von der Guardia Civil überrascht, die die beiden bedroht und verscheucht. Während Andrew nach Mexiko City zurückkehrt, beschließt Carlos, mehr über den Toten zu erfahren – und bezahlt seine Neugier sehr schnell mit dem Leben. Andrew betäubt Schmerz und Trauer zunächst, beginnt jedoch bald, Carlos‘ Recherche fortzusetzen, was nicht unbemerkt bleibt und ihn in größte Gefahr bringt.

    Der Ire Tim MacGabhann lebt in Mexico City und weiß, wovon er schreibt, das merkt man in jeder Zeile. Kartellkriege, Heiligenfiguren, Musik – „Der erste Tote“ schildert kein Mexiko für Anfänger. Da ich aber nicht zu den Kennern gehöre, hatte ich immer wieder das Gefühl, dass mir bei der Lektüre einiges entgeht. Ich hatte nicht damit gerechnet, dass für einen Thriller Vorkenntnisse vorteilhaft wären. Aber ist dieses Buch überhaupt ein Thriller? Zwar ist die Gefahr überall und es gibt immer wieder unverhohlene Drohungen, Verfolgungen und entstellte Leichen. Spannend war das allerdings in geringerem Ausmaß, als ich erwartet hätte. Zum einen lag das vielleicht daran, dass ich nicht alle Zusammenhänge begriffen habe. Aber zum anderen ist der Tod in diesem Buch überall nur einen Wimpernschlag entfernt. Eindringlich wird dargestellt, wie wenig ein Menschenleben in Mexiko wert ist und dass Dich niemand schützen kann, wenn Du den falschen Leuten auf die Füße trittst. Die Gefahr war stets diffus und allgegenwärtig, die Spannungskurve verlief dadurch aber eher flach.

    Das letzte Drittel war für mich das nachvollziehbarste. MacGabhann gelingt es hier, verschiedenste lose Fäden aufzunehmen, womit ich schon nicht mehr gerechnet hatte. Zwei abschließende Erläuterungskapitel helfen zusätzlich bei der Einordnung, auch wenn sie etwas spät kamen. Die nächsten Teile der Trilogie werde ich dennoch nicht mehr lesen.
    Der Metzger kanns nicht lassen Der Metzger kanns nicht lassen (Buch)
    05.12.2020

    Heilloses Durcheinander

    Auf den ersten Blick könnte man meinen, dass dieses Buch von Kundenbindung in einem Fleischereifachgeschäft handelt, aber nein: Es ist ein Krimi und der titelgebende Metzger heißt mit Nachnamen so. Eigentlich ist er Möbelrestaurator und ermittelnde Hauptfigur einer Buchreihe. Bei der Lektüre dieses Bandes ist davon jedoch nichts zu merken, denn hier gehört er eindeutig zu den Opfern.

    Willibald Adrian Metzger will in Thomas Raabs „Die Djurkovic und ihr Metzger“ seine langjährige Lebensgefährtin Danjela Djurkovic heiraten, mit der es allerdings gerade nicht so rund läuft. Dass sie ihn für die Wochen vor der Hochzeit in seine Werkstatt ausquartiert, könnte noch ihrer Aufregung geschuldet sein, dass sie ihn dann jedoch vor dem Altar stehenlässt, versetzt dem Metzger einen schweren Schlag – nicht den einzigen, den er in diesem Krimi einstecken muss.

    Doch nicht nur der titelgebende Metzger leidet – auch den Lesenden mutet Autor Raab einiges zu, z.B. fehlende Zusammenhänge, die sich erst im Laufe des letzten Buchdrittels einigermaßen herstellen lassen. Dann ist mir die Gewichtung der einzelnen Themen ein großes Rätsel geblieben; hier und da wird auch mal spontan die Biografie einer Nebenfigur runtererzählt, obwohl sie für die Geschichte keinerlei Relevanz hat. Zwei großen Eskalationen wirken komplett überzogen, mehrere Nebenschauplätze erscheinen wenig ausgereift – alles in allem besteht die Handlung aus einem heillosen Durcheinander. Skurrile Krimis können sehr viel Spaß machen. Auch hier gibt es zwei, drei Figuren, die so originell sind, dass mich die Kapitel mit ihnen auch ohne großen Durchblick interessierten und amüsierten, allen voran Danjela Djurkovic. Am Ende gelingt es Raab außerdem, doch noch viele Handlungsfetzen halbwegs zusammenzufügen, so dass der Schluss des Krimis einigermaßen rund wirkt. Doch logisch durchdenken sollte man die Geschehnisse wohl auch nach der Lektüre besser nicht. Alles in allem ist „Die Djurkovic und ihr Metzger“ ein recht konfuser Krimi, dem weniger Figuren und Randgeschichten definitiv gutgetan hätten.
    Manrique, M: Mama Superstar Manrique, M: Mama Superstar (Buch)
    01.11.2020

    Viva la Mama!

    Dieses Buch ist voller Liebe: Mutterliebe, Tochterliebe, liebevollen Texten und Illustrationen. Schon beim ersten Blättern wird klar, dass man ein Herzensprojekt in der Hand hält, das Mütter feiern will – und zwar ganz konkrete Mütter, die (bis auf eine) aus den verschiedensten Ländern (und Gründen) nach Deutschland migriert sind und ihre Kinder fernab der eigenen Heimat und des eigenen Kulturkreises bekommen und aufgezogen haben.
    Erzählt werden ihre Geschichten von ihren Töchtern, und sie lesen sich wie eine einzige große Liebeserklärung an die jeweiligen „Migrant Mamas“. Es wird die Migrationsgeschichte jeder Mama erzählt, hinzukommen dann noch vier weitere Anekdoten, die stets unter den jeweils eine Seite umfassenden Kategorien „Verblüfft“, „Glücklich“, „Nachdenklich“ und „Berührt“ zusammengefasst werden. Das Sprachniveau ist C1, damit das Buch nicht nur für Muttersprachler*innen und Lesende mit perfekten Deutschkenntnissen geeignet ist. Überschriften und Farbgebung sind in jedem Kapitel anders und auch die farbenfrohen Zeichnungen zeigen, dass sich die Illustratorin viele Gedanken gemacht hat, um jeder der porträtierten Frauen gerecht zu werden. Abgerundet wird die Vorstellung jeder Mutter mit einem ihrer Lieblingsrezepte.

    Die Mütter kommen z.B. aus Äthiopien, Bolivien, Südkorea und Kasachstan – insgesamt sind es 11 Frauen aus 11 Ländern plus eine als Teaser für ein weiteres Buch, das die beiden engagierten Autorinnen planen. Melisa Manrique und Manik Chandler sind beide Töchter von „Migrant Mamas“, die in diesem Buch auch vorgestellt werden. Spannend fand ich, dass sogar eine Deutsche vorkommt, die „nur“ in die Niederlande migriert ist – auch das ist Migration, auch das kann einen Kulturschock auslösen, auch das bedeutet, sich mit dem Leben in einem neuen Land auseinandersetzen zu müssen.

    „Mama Superstar“ feiert das Improvisationstalent, die Kraft und die Flexibilität von Müttern. Die erwachsenen Töchter, die ihre jeweiligen Mütter beschreiben, rufen dazu auf, kulturelle Vielfalt, Bonuswurzeln und Mehrsprachigkeit wertzuschätzen – und lassen dabei gleichzeitig durchblicken, dass das für das Kind einer Migrant Mama nicht immer einfach ist. Doch wer dieses Buch liest, dem wird auf wunderschöne Art und Weise vor Augen geführt, wie es das Leben bereichern kann, wenn man sich auf eine andere Kultur einlässt.
    Die große Pause Die große Pause (Buch)
    29.10.2020

    Themenbedingt etwas lahm

    Comedian Bastian Bielendorfer hat mit „Die große Pause“ ein mit kleinen Kritzeleien originell gestaltetes „Corona-Tagebuch“ veröffentlicht. Es beginnt im März, Bielendorfer tritt noch in Dieter Nuhrs Kabarettsendung auf, sagt sein wenige Tage später stattfindendes Gastspiel in der Hauptstadt dann allerdings aufgrund der unüberschaubaren Lage bereits ab. Die nächsten Wochen verbringt der Wahlkölner mit Frau, Schwiegermutter und Mops vor allem in den eigenen vier Wänden und schildert in seinem Buch Anekdoten aus dieser Zeit. Bielendorfer wirkt dabei sympathisch und warmherzig, die Episoden sind unterhaltsam. Allerdings auch etwas langweilig. Aber wen wundert das? Aufregend und abwechslungsreich war dieses Frühjahr für viele nicht. Und so schreibt Bielendorfer von Home Office, Video-Telefonaten, Einkäufen (mit leichten Hamster-Tendenzen) und Spaziergängen, gewürzt mit ein paar Geschichten aus dem familiären Nähkästchen und kleinen zwischenmenschlichen Reibereien. Nur das Treffen mit einer Unbekannten im Park, die dann noch auf die Lage in den Pflegeheimen zu sprechen kommt, wirkte auf mich überkonstruiert.

    Spannung kommt leider keine auf. Angesichts der beschriebenen Situation kann man Bielendorfer das kaum zum Vorwurf machen, aber ein Pageturner ist „Die große Pause“ wirklich nicht. Dass der Künstler seine Bühnen-Zwangspause zum Schreiben genutzt hat, ist verständlich. Dass er ein Händchen für amüsante Beobachtungen hat, unbestritten. Zudem ist es sicher schwierig, ein Buch zu einem Thema zu schreiben, das noch nicht ausgestanden ist – noch dazu ein Tagebuch, das Einblicke in einen eingeschränkten Alltag zeigen, aber sicher auch nicht alles Persönliche enthüllen soll. Und so liest sich „Die große Pause“ alles in allem etwas lahm. Ich hätte mir zumindest noch ein paar Reflektionen zur pandemiegebeutelten Veranstaltungsbranche gewünscht, ein paar Ideen für die Zukunft, irgendein Thema mit Biss, bei dem Bielendorfer sich klar positioniert.
    Und so vergebe ich nur drei Sterne für „Die große Pause“ plus – gedanklich – viele Sympathiepunkte an den Autor, den man nach seinem sehr persönlichen Epilog am liebsten in den Arm nehmen würde.
    Unter uns das Meer Unter uns das Meer (Buch)
    08.10.2020

    Psychogramm einer Ehe

    Dieser Roman ist größtenteils aus zwei Perspektiven erzählt, die durch ein unterschiedliches Schriftbild geschickt voneinander abgegrenzt sind. Die beiden Protagonisten sind ein Ehepaar, das seinen mehrmonatigen Segeltörn mit zwei kleinen Kindern schildert. Der Mann, Michael, ist die treibende Kraft dahinter, seine Frau Juliet hat irgendwann nachgegeben und so steuern sie ihre Familie schließlich in einem Boot über das Karibische Meer. Doch vor Problemen lässt sich nicht davonsegeln, und Probleme haben Michael und Juliet jede Menge – miteinander, mit anderen und mit sich selbst; beide schleppen unverarbeiteten, zum Teil nie ausgesprochenen Ballast mit sich herum. Immer wieder wird außerdem deutlich, dass es Juliet in der Romangegenwart absolut nicht gut geht. Sie sitzt in einem Schrank, während sie ihren Part der Geschichte erzählt. In Michaels Schrank. Michael dagegen schildert seine Gedanken im Logbuch des Schiffes. Die Diskrepanz zwischen den beiden Perspektiven erzeugt eine unterschwellige Spannung, die Sogwirkung entwickelt. Wie das Segelboot der beiden steuert die Geschichte auf etwas zu, aber Autorin Amity Gaige lässt die Lesenden lange im Unklaren darüber, wohin die Reise geht.

    Und so navigiert sie mit sicherer Hand zwischen Drama, Abenteuerroman, Familiengeschichte und Psychogramm einer Ehe hin und her. Es geht um den Wunsch nach Freiheit und Selbstbestimmung, aber auch um den Umgang mit Ängsten und Traumata. Verschiedenste zwischenmenschliche Untiefen werden nach und nach gnadenlos ausgeleuchtet. Und immer wieder fordert das Meer volle Aufmerksamkeit und nimmt dabei keinerlei Rücksicht auf die Befindlichkeiten der Protagonisten. Ein ungewöhnlicher Roman, bei dem mir sehr lange nicht klar war, worauf er hinausläuft, der mich aber trotzdem (oder gerade deswegen?) gefesselt hat. Intelligent geschrieben und packend erzählt.
    Die Sommer Die Sommer (Buch)
    01.10.2020

    Starkes Debüt, aufrüttelnd erzählt

    Die titelgebenden Sommer in Ronya Othmanns Romandebüt sind die Ferien, die Leyla Jahr für Jahr bei ihren Großeltern verbringt. So weit, so normal; allerdings wohnen die Großeltern nicht an Nord- oder Bodensee, sondern in Kurdistan – einem Land, das es offiziell gar nicht gibt und dessen Namen Leyla auf keinen Fall vor Dritten erwähnen soll. Das jedenfalls schärft ihr kurdischer Vater seiner Tochter von Kindesbeinen an ein. Und so lebt Leyla von klein auf mit einer Schere im Kopf: Hier ihr deutsches Leben in der Nähe von München, da ihre kurdischen Sommer bei den Großeltern in Nordsyrien. Hier Wohlstand, da einfachste Verhältnisse. Hier nur die Eltern, da eine Großfamilie. Hier das Leben eines Durchschnittsteenagers, da Angehörige einer stets bedrohten Minderheit als Jesidin.

    Leyla liebt ihre Sommer und Ronya Othmann gelingt es, sie für die Lesenden erfahrbar zu machen – immer wieder geht es um Licht, Gerüche, Haptik. Im Buch scheitert die Protagonistin dagegen daran, ihren deutschen Klassenkameraden und Freundinnen dieses andere Leben nahezubringen. Es rührt an, wie Leyla, die Außenseiterin mit der deutschen Mutter, im Laufe eines Sommers mehr und mehr im nordsyrischen Dorf ankommt, um dann durch ihre Abreise wieder in eine andere Welt katapultiert zu werden und im Jahr darauf erneut von vorne anzufangen.

    „Die Sommer“ ist ein wichtiges Buch – über Verfolgung, Flucht und Heimatlosigkeit, ein Leben als Außenseiterin und Fremdheit im eigenen Land. Gleichzeitig ist die Grundstimmung von einer unbestimmten Sehnsucht nach Menschlichkeit, Zugehörigkeit und Frieden geprägt. Wie nebenbei erzählt Ronya Othmann die Geschichte der Jesiden; von Vertreibung, Flucht, Schikane, staatlicher Willkür und ständiger Benachteiligung. Sie erzählt sie durch Leylas Vater, der seine gesamte Freizeit vor dem Fernseher verbringt und sämtliche arabische Nachrichtensendungen verfolgt, die er finden kann. Der davon träumt, dass verschiedene Ethnien und Religionen gleichberechtigt in einer Demokratie zusammenleben – und dessen Hoffnungen mit Ausbruch des Krieges in Syrien wieder einmal zerstört werden. Ab da verbringt Leyla, inzwischen fast erwachsen, ihre Sommer in Deutschland und entfremdet sich trotzdem mehr und mehr von ihrer Umgebung. Ihre Zerrissen- und Verlorenheit sowie ihre Ohnmacht werden dabei immer erdrückender. Blass bleibt dagegen Leylas Mutter, die allerdings auch nur eine Nebenfigur ist: eine pragmatische Krankenschwester, die ihren Ehemann und dessen kurdische Verwandtschaft bedingungslos unterstützt und offensichtlich keinerlei Verwandte oder Freunde hat, mit denen sie ihre Tochter auch in Deutschland etwas verwurzeln könnte. Das fand ich etwas unstimmig, aber es war auch das einzige.
    American Spy American Spy (Buch)
    05.09.2020

    Wenn die Vergangenheit Dich einholt

    Lauren Wilkinsons Debüt „American Spy“ beginnt mit einer Actionszene: Wir schreiben das Jahr 1992 und die alleinerziehende Marie Mitchell wird in ihrer Wohnung in Conneticut von einem Mann überfallen, den sie überwältigen und töten kann. Denn Mitchell ist kein leichtes Opfer, sondern eine frühere FBI-Agentin. Mit ihren beiden Söhnen und gefälschten Pässen flieht sie zu ihrer Mutter nach Martinique. Dort schreibt sie nach und nach ihre Lebensgeschichte auf und versucht gleichzeitig, Vorkehrungen für ihre Zukunft zu treffen, denn sie muss fürchten, dass dies nicht der letzte Anschlag auf ihr Leben war.

    Wilkinsons Protagonistin ist keine strahlende Heldin, kein Bond-Girl mit der Lizenz zum Töten in einer „Mission Impossible“. 1955 geboren, hat sie eine durchwachsene Kindheit, die mit einem furchtbaren Verlust endet. Als Beste ihres Abschlussjahrgangs ergattert sie einen Job beim FBI, muss aber bald feststellen, dass Erfolg und Anerkennung weißen Männern vorbehalten sind. 1987 scheint ein Spezialauftrag ihre Chance zu sein, sich zu beweisen. Doch selbst in den davon handelnden Kapiteln ist Wilkinson weit davon entfernt, das Leben einer Spionin zu glorifizieren oder auch nur als besonders aufregend dazustellen: Wilde Verfolgungsjagden sind selten, Wartezeiten und Botengänge deutlich häufiger.

    „American Spy“ handelt dann auch gar nicht hauptsächlich von Auftragskillern und Attentaten, sondern davon, in den 60er und 70er Jahren in Queens aufzuwachsen. Von der Bedrohung des Kalten Krieges, die Kindern schon in der Schule eingeimpft wurde. Davon, was es hieß, in den 1980er Jahren gleich doppelte Außenseiterin beim FBI zu sein: als Frau und als Schwarze. Und davon, wie ein westafrikanisches Land zum Spielball der Weltmächte wird – und eine Agentin zum Spielball ihrer Auftraggeber.

    Im besten Fall eröffnen Bücher einem neue Welten und dieses ist so eines. Wer einen hochspannenden Spionagethriller erwartet, wird von „American Spy“ vielleicht sogar enttäuscht sein. Mich hat dieses Buch allerdings nachhaltig beeindruckt.
    Der letzte Satz Robert Seethaler
    Der letzte Satz (Buch)
    30.08.2020

    Im Gedankenkarussell gefangen

    Robert Seethaler nimmt die Lesenden in „Der letzte Satz“ mit an Bord eines Passagierschiffes. Der berühmte Komponist Gustav Mahler und seine Familie reisen mit der „Amerika“ von New York nach Europa, doch weder seine Frau Alma noch die gemeinsame Tochter Anna treten in Erscheinung, während Mahler an Deck sitzt und dort seinen Gedanken nachhängt. Sein einziger Besucher ist ein Schiffsjunge, der dafür sorgen soll, dass es dem Herrn Direktor an nichts fehlt. Doch Mahler fehlt es an vielem: Sein Körper lässt ihn mehr und mehr im Stich, er ahnt den nahenden Tod und quält sich mit dem Gedanken an all die unvollendete Musik, die er noch erschaffen wollte. Auch seine Frau fehlt ihm – die Mahlers stecken in einer tiefen Ehekrise. Er vermisst seine ältere, verstorbene Tochter. Der Kranke lässt einschneidende Erlebnisse seines Lebens Revue passieren, während er Himmel und Wellen beobachtet und wartet – auf die Ankunft des Schiffes oder das Ende seines Lebens? Vermutlich auf beides.

    „Der letzte Satz“ liest sich fast wie ein einziger „stream of consciousness“; er besteht aus Mahlers unzusammenhängend treibenden Gedanken. Und so ist man dem Genie zwar sehr nahe, muss das Sortieren und Zuordnen der Eindrücke und Anekdoten aber komplett selbst übernehmen. Wenn man sich schon mal mit Mahlers Biografie beschäftigt hat, hilft das sicher.

    Sprachlich ist der Roman elegant: Mahlers Empfinden und seine Detailbeobachtungen werden in poetische Sätze gepackt. Wehmut und Fatalismus durchziehen die Kapitel, ab und zu kommt eine gewisse Bittersüße dazu. Das Buch bietet einen Einblick in das Seelenleben des Komponisten, wie es gewesen sein könnte. Gepackt hat mich das Ganze jedoch nicht. Während der Lektüre ist man nicht im Geschehen, sondern hängt im Gedankenkarussell der Hauptfigur fest. Dieses streift viele Themen, geht aber selten in die Tiefe – eine logische Konsequenz des gewählten Erzählstils. Es führte jedoch dazu, dass ich beim Lesen seltsam unbeteiligt blieb. Das Buch hat mich einfach kaltgelassen.
    Holmes, L: Weil alles jetzt beginnt Holmes, L: Weil alles jetzt beginnt (Buch)
    28.08.2020

    Aufstehen, Krönchen richten, weitergehen

    Blumiges Cover, nichtssagender Titel – und doch steckt in diesem Buch weitaus mehr als ein durchschnittlicher Frauen-/Unterhaltungsroman. Dabei scheinen die Rollen klassisch-klar verteilt: Bei Evvie, Anfangs 30 und seit einigen Monaten verwitwet, zieht Baseballprofi Dean als Untermieter ein. Schon ahnt man, was kommen wird – aber so einfach ist es ganz und gar nicht. Dean ist regelrecht aus New York geflohen, da er aufgrund von plötzlich aufgetretenen, unkontrollierten Muskelzuckungen keinen Korb mehr trifft. Und Evvie, die ihre Jugendliebe geheiratet und ihr ganzes Leben in Maine verbracht hat, hütet ein Geheimnis, an dem sie fast zugrunde geht.

    Und so ist Linda Holmes Roman „Weil alles jetzt beginnt“ längst nicht nur eine Liebesgeschichte. Hier gibt's die unterschiedlichsten Emotionen; Humor und Tiefgang blitzen immer wieder an unerwarteter Stelle hervor. Die Handlung umfasst ein Jahr, aufgeteilt auf die vier Jahreszeiten, die auch die Blätter und Blumen auf dem Cover aufgreifen. Auf den ersten Blick wirkt die Gliederung dadurch sehr klar, doch Holmes hat ein ganz eigenes Erzähltempo. Stellenweise plätschert die Geschichte irritierend langsam dahin, erzählte Anekdoten kommen ohne größeren Zusammenhang aus und grundlegende Themen werden lange, sehr lange außer Acht gelassen. Aber auch im wahren Leben baut ja nicht alles gleichmäßig aufeinander auf und gerade die gelegentliche Lethargie von Hauptfigur Evvie macht sie sehr menschlich. Mich hat positiv überrascht, wie rund die Geschichte am Ende doch noch wurde; das tröstete mich im Nachhinein über gelegentliche Längen und Auslassungen hinweg. Und endlich wurde auch klar, worum es ging: nicht um „happily ever after“, sondern um Neustarts – gleich mehrere. Darum, dass das Leben weitergeht, aber auch immer mal wieder einen kleinen Schubs vertragen kann. „Weil alles jetzt beginnt“ – auch, wenn der Weg dorthin steinig ist.
    Ein Mann der Kunst Kristof Magnusson
    Ein Mann der Kunst (Buch)
    11.08.2020

    Künstlerisch wertvoll

    Der Förderverein eines Frankfurter Museums macht eine Kulturreise zu einem zurückgezogen lebenden Maler. Dem Werk des verehrten KD Pratz könnte ein Neubau gewidmet werden – wenn er sich des Vorhabens würdig erweist. Blöd, wenn die Gastgeberqualitäten des Genies sich als überaus eingerostet erweisen. Schon bald ist nicht mehr klar, was Kunst ist, was wegkann und wie das alles weitergehen soll.

    Kristof Magnusson erzählt plaudernd-amüsant mit einem ganz besonderen Händchen für die von ihm erschaffenen Figuren. Sie sind nicht nur sehr nahbar, sondern voller liebevoll ausgestalteter Marotten. Bildungsbürger, Neureiche, Pensionäre und Fans – alle sorgen für kurzweilige Dialoge und werden augenzwinkernd karikiert. Wer Kunstliebhaber ist oder kennt, schmunzelt sicher noch etwas mehr als andere. Im überraschenden Finale nimmt der Roman dann richtig Fahrt auf. Eine originelle Lektüre!
    Paradise City Zoë Beck
    Paradise City (Buch)
    09.07.2020

    Gläserne Zukunft

    Schon der Klappentext dieses Thrillers löst ein leichtes Gruseln aus: „Deutschland in der Zukunft. Die Küsten sind überschwemmt, die großen Pandemien überstanden, weite Teile des Landes sind entvölkert (…)“ … und dann spielt auch noch eine staatliche Gesundheits-App eine Rolle, deren Gemeinsamkeiten mit der Corona-App allerdings schon nach dem Wort „App“ enden.

    „Paradise City“ mutet nur auf den ersten Blick erschreckend aktuell an, wartet aber dennoch mit zeitgemäßen Themen auf: Staatliche Kontrolle, Überwachung und Big Data im Gesundheitswesen bilden den Rahmen von Zoë Becks neuester Dystopie. Hauptfigur Liina wohnt in der Verwaltungseinheit Frankfurt, einer 10 Millionen Megacity, die gleichzeitig deutscher Regierungssitz ist. Vom Nahverkehr bis hin zum Grundeinkommen ist alles optimiert, nicht zuletzt der Mensch, der durch die Gesundheits-App KOS komplett überwacht wird, natürlich zu seinem eigenen Besten. KOS überwacht Vitalwerte, analysiert Blut- und Urinproben, verschreibt Medikamente und organisiert auch gleich ihre Lieferung per Drohne. Die App mahnt zu ausreichendem Schlaf, gesunder Ernährung und Sport und ruft, wenn nötig, auch eigenständig einen Krankenwagen. Liinas Chef, Mitinhaber einer der letzten nichtstaatlichen Nachrichtenagenturen, kann sie allerdings nicht mehr helfen: Er stürzt vor eine Bahn, während die Investigativjournalistin, mit der er zusammengearbeitet hat, ermordet wird. Kann das ein Zufall sein?

    Ich mag Dystopien, die noch einen gewissen Bezug zur Realität haben und „Paradise City“ gehört ganz klar in diese Kategorie. Beck erklärt zwar nicht im Detail, welche Entwicklungen zu der beschriebenen Zukunft geführt haben, streut aber immer wieder kleine Erklärungen ein. Das liest sich gut. Auch die Handlung beginnt recht vielversprechend und thematisiert komplexe Trade-offs: Exzellente Versorgung und Wohlstand versus Freiheit – was ist größtmögliche Bequemlichkeit wert? Wieso keinem Algorithmus das Denken überlassen, wenn der doch viel schlauer ist – und zudem streng darauf programmiert, nur das Beste für Individuum und Gesellschaft zu wollen? Und was ist eigentlich objektiv das Beste?

    Die Handlung enthält verschiedene Perspektiven auf diese Konflikte. Allerdings fand ich enttäuschend, dass ich weder an Liina noch an die anderen Figuren so dicht ran kam, dass ich mit ihnen gezittert oder gelitten hätte. Geschilderte Emotionen waren zwar nachvollziehbar, der Funke sprang aber einfach nicht über; da blieb immer eine gewisse Distanz. Und am Ende von „Paradise City“ fallen den Protagonisten jede Menge Erkenntnisse einfach so in den Schoß. 100 Seiten mehr hätten dem Ganzen vielleicht gutgetan – die Geschichte hätte sich langsamer aufbauen und glaubwürdiger entwickeln können, eventuell wären dann auch die Figuren greifbarer geworden. Dennoch: Die Grundidee ist spannend. Letztendlich geht es auch hier um die Frage, in welcher Gesellschaft wir eigentlich leben wollen und um was es sich zu kämpfen lohnt.

    Ich habe dieses Buch als Rezensionsexemplar erhalten.
    City of Girls City of Girls (Buch)
    15.06.2020

    Dranbleiben lohnt sich – oder: How I met your father

    In Elizabeth Gilberts „City of Girls“ erzählt die ca. 90-jährige New Yorkerin Vivian Morris ihr Leben nach dem „How I met your mother“-Prinzip. Sie kündigt an, von ihrer Beziehung zum Vater der danach fragenden Angela zu berichten, schildert dann jedoch erst einmal in aller Ausführlichkeit ihre Lebensgeschichte, in der dieser Mann – so viel sei verraten – längst nicht von Anfang an eine größere Rolle spielt. Vivian blickt auf ein für eine Frau aus ihrer Generation ungewöhnliches Leben zurück: Aus einer wohlhabenden WASP-Familie (weiß, angelsächsisch, protestantisch) stammend, scheint ihr Weg zwar vorgezeichnet, doch schon die erste Stufe, den Collegeabschluss, verpatzt sie mit 19 Jahren und wird daraufhin zu ihrer Tante Peg nach New York geschickt. Peg Buell besitzt ganz unkonventionell ein leicht heruntergekommenes Theater, das Lily Playhouse, in dem sich Vivian schnell heimisch fühlt – und außerdem nützlich machen kann: Als hochbegabte Hobby-Schneiderin ist sie schon bald für die Kostüme zuständig. Vivian freundet sich mit den Revuegirls an, geht aus, lernt Männer kennen und hat das Gefühl, zum ersten Mal richtig zu leben. Doch es ist der Sommer 1940; der Zweite Weltkrieg wirft auch in den USA schon seine Schatten voraus. Und unabhängig davon bringt sich Vivian noch in ganz andersartige Schwierigkeiten.

    Davor hat die von „Eat Pray Love“-Autorin Elizabeth Gilbert geschaffene Protagonistin allerdings erst einmal viel Spaß, auch bei der Vorbereitung des neuen Stücks „City of Girls“, das dem „Lily Playhouse“ zu ungewohntem Glanz verhelfen soll. Allerdings hat mir das alles zu lange gedauert. Vivians Erkundungen von New York, die Vorbereitung des Stücks … im Nachhinein machte es Sinn, dass dieser Teil ihres Lebens so ausführlich erzählt wird, aber die erste Hälfte des Romans hat durchaus Längen. Der amüsant-plaudernde Erzählton ist an und für sich kurzweilig, die Anekdoten über das Theaterleben auch und das New-York-Flair mit Händen greifbar, aber dennoch: Die Geschichte kommt lange nicht so richtig in Schwung. Umso überraschter war ich, als das Erzähltempo in der zweiten Romanhälfte plötzlich rapide anzog; inklusive unerwarteter Wendungen. Jetzt ging es mir stellenweise fast zu schnell: Figuren, an die ich mich lange gewöhnt hatte, verschwanden abrupt auf Nimmerwiedersehen. Die Ereignisse wurden dabei durchweg berührend und spannend erzählt, als hätte man sich das durch die erste Hälfte erarbeiten müssen.

    „City of Girls“ baut sich langsam auf, aber das Dranbleiben lohnt sich: Die gelungene zweite entschädigt für die vorbereitende erste Hälfte. Dennoch fand ich die Gewichtung der Ereignisse in dieser Lebensgeschichte mitunter etwas erstaunlich, habe mich aber fast immer gut unterhalten gefühlt.

    Ich habe dieses Buch als Rezensionsexemplar erhalten.
    Wie uns die Liebe fand Wie uns die Liebe fand (Buch)
    03.06.2020

    Viel Herz, aber kein Kitsch

    Dieses Buch ist zweifellos ein Liebesroman; um das zu erraten, reicht ein flüchtiger Blick aufs Cover. Liebesromane lese ich eher selten, aber dieser hier hatte mein Interesse geweckt, als ich feststellte, dass die von der Liebe erzählende Ich-Erzählerin bereits 92 Jahre alt ist – das ist doch mal ein ungewöhnlicher Einstieg! Madame Nan, wie sie genannt wird, blickt auf ein bewegtes Leben zurück. Wie sie und ihre vier Töchter einen Laden geschenkt bekamen und dieses Geschenk nach und nach nicht nur ihre Familie, sondern schließlich das komplette elsässische Dörfchen Bois-de-Val beeinflusste, davon handelt dieser Roman.

    Claire Stihlés „Wie uns die Liebe fand“ ist eine zauberhafte Geschichte, in der es um ganz verschiedene Arten der Liebe geht: Die Liebe Madame Nans zu ihren Töchtern, zu ihrem verstorbenen Mann, zu ihren Eltern und ihrer Großmutter; um Liebe, die durch den Magen geht, die Liebe zum Elsass und nicht zuletzt ihre Liebe zum früheren Ladenbesitzer Monsieur Boberschram, der seinerseits niemanden außer seiner schon lange verstorbenen Frau zu lieben scheint. Und als wäre das nicht schon genug Liebe, stellen Madame Nans älteste Tochter Marie und deren Freund Malou auch noch „Liebesbomben“ her, die magische Verkupplungsdienste leisten. Zuviel des Guten, könnte man meinen, doch dieser Roman kommt zwar mit ganz viel Herz daher, aber ohne übertriebene Süße.

    Grund dafür ist die Hauptfigur, die sich immer wieder in vertrauensvollem Ton direkt an den Leser wendet, erläutert, einordnet und ihre eigene Geschichte aus einer gewissen Distanz betrachtet. Ihr Leben ist untrennbar mit der Historie des Elsass verknüpft und so finden auch Kriegszeiten, tragische Ereignisse, Verrat und Enttäuschungen Erwähnung. „Wie uns die Liebe fand“ liest sich, als würde man mit Madame Nan auf ihrer Terrasse in Bois-de-Val sitzen und bei einem Glas Wein ihren Erzählungen lauschen. Manchmal waren sie mir einen Tick zu ausführlich und ausgeschmückt, aber alles in allem hätte ich ihr glatt noch länger zuhören können.

    Ich habe dieses Buch als Rezensionsexemplar erhalten.
    Das wirkliche Leben Das wirkliche Leben (Buch)
    02.05.2020

    Wilder Ritt in bedrohlicher Atmosphäre

    Adeline Dieudonné hat in „Das wirkliche Leben“ eine namenlose Heldin erschaffen, die ich nicht so schnell vergessen werde. Das Mädchen ist zu Beginn des Romans erst 10 Jahre alt. Sie wohnt mit ihren Eltern, ihrem vier Jahre jüngeren Bruder Gilles und einigen Haustieren in einem Einfamilienhaus in einer grauen Siedlung. Von außen mag alles normal wirken, doch der Schein trügt: Der Vater, ein passionierter Trophäenjäger, tyrannisiert seine Familie und verprügelt seine Frau. Deren einziges Glück scheinen die Tiere zu sein; die beiden Kinder bleiben weitestgehend sich selbst überlassen. Das Mädchen liebt seinen kleinen Bruder sehr, doch dann passiert etwas, das ihn von ihr wegtreibt. Gegen alle Widerstände beginnt die Protagonistin, um Gilles zu kämpfen.

    Die Belgierin Dieudonné erzählt die brutalen Geschehnisse knapp und präzise aus Sicht ihrer einsamen, zerbrechlichen und doch starken Heldin. Der nur 240 Seiten umfassende Roman deckt dabei die sich zuspitzenden Ereignisse von vier oder fünf Jahren ab. Es gibt durchaus auch ein paar ruhigere Passagen, doch insgesamt liest sich die Coming-of-Age-Geschichte wie eine Hetzjagd: Die unterschwellige Bedrohung, der das Mädchen in seinem Zuhause von Anfang an ausgesetzt ist, ist omnipräsent – und nimmt mehr und mehr zu. Die Ich-Erzählerin bleibt stets wachsam, was sich auf mich als Leserin komplett übertragen hat und mich zunehmend nervös werden ließ. Und obwohl das Ganze sehr packend erzählt ist, musste ich „Das wirkliche Leben“ ab und an beiseitelegen, weil ich es stellenweise kaum ertragen konnte – doch gleichzeitig wollte ich diese ungewöhnliche Protagonistin, die mehr schultert, als es irgendeine Heranwachsende sollte, nicht alleine lassen. „Das wirkliche Leben“ geht unter die Haut. Letztlich ist es kein Roman über vernachlässigte Kinder in einem dysfunktionalen Elternhaus, sondern die Geschichte eines atemlosen Kampfes um eine Zukunft, für ein besseres Leben; für den Menschen, den man liebt. Ein verstörender Roman, der gleichzeitig Hoffnung macht.

    Ich habe dieses Buch als Rezensionsexemplar erhalten.
    Beute Beute (Buch)
    11.04.2020

    Zwei Krimis in einem – erst sperrig, dann spannend

    Dieses Buch ist bereits der siebte Krimi um den südafrikanischen Ermittler Bennie Griessel. Er gehört zu einer auf Gewaltverbrechen spezialisierten Einheit der Kapstädter Polizei und hat ein Privatleben, das auch gut zu einem Tatort-Kommissar passen würde: Der trockene Alkoholiker ist zweifacher Vater, geschieden und neu liiert, kämpft gegen seine Dämonen und für ein friedlicheres Südafrika. Wer die früheren Bände gelesen hat, kann Kaptein Griessels Charakter sicherlich noch besser einschätzen; ich kannte bisher allerdings nur den fünften Teil der Reihe, „Icarus“. Bei der Lektüre gestört hat das nicht.

    In Griessels neuestem Fall „Beute“ hat Autor Deon Meyer zwei größtenteils unabhängig voneinander verlaufende Handlungsstränge geschaffen. Griessel und sein Partner Cupido untersuchen den Tod eines Mannes, der auf der Fahrt durch Südafrika aus einem Luxuszug gestürzt ist. 8.900 km nordwestlich davon gerät ein Landsmann von ihnen, der um keinen Preis auffallen möchte, in eine Schlägerei. Doch die ist nur der Auftakt zu ganz anderen Problemen, die der in Bordeaux lebende Daniel Darret im Laufe der Geschichte noch bekommen wird.

    Anfangs springt Deon Meyer noch kapitelweise zwischen Griessel und Darret hin und her. Später widmen sich dann auch mal fast hundert Seiten den Geschehnissen in Bordeaux, was mich ziemlich irritierte, weil Ermittler Griessel so gar keine Rolle mehr spielte und mein Südafrika-Krimi plötzlich ausschließlich in Frankreich angesiedelt war. Mit Safari-Romantik ist bei Deon Meyer allerdings eh nicht zu rechnen und auch sonst kommt kein Fernweh auf: Der in der Nähe von Kapstadt lebende Autor geht mit seinem Heimatland hart ins Gericht; Misswirtschaft, Korruption und Ungleichheit sind Themen, die immer wieder angesprochen werden.

    „Beute“ liest sich dennoch gut. Der Krimi kommt zwar eher langsam in die Gänge, fesselt aber trotzdem. Meyer seziert Probleme, bis es weh tut. Mit den Ermittlern, denen ein Stein nach dem anderen in den Weg gelegt wird, habe ich irgendwann richtiggehend mitgelitten – wie auch mit Daniel Darret. Vor dem Finale habe ich mich fast gefürchtet, doch dann kam alles anders – und die Weichen für Band acht sind bereits gestellt.

    Ich habe dieses Buch als Rezensionsexemplar erhalten.
    Was wir sind Anna Hope
    Was wir sind (Buch)
    29.03.2020

    Wenn nichts bleibt, wie es war

    In den ersten Kapiteln dieses Romans fällt folgender Satz: „Du solltest an Deinen Freundschaften festhalten […]. An den Frauen. Am Ende werden nur sie für Dich da sein.“ Doch das Festhalten an Freundschaften, auch oder gerade langjährigen Freundschaften, ist nicht immer einfach. Meist freundet man sich während einer ähnlichen Lebenssituation an, wenn man in räumlicher Nähe zueinander wohnt und zumindest teilweise ähnliche Interessen verfolgt. Aber was passiert, wenn sich diese Parameter ändern?

    Davon handelt „Was wir sind“, der dritte Roman der britischen Autorin Anna Hope. Ihre drei Hauptfiguren Hannah, Lissa, Cate kennen sich aus Schule und Studium. Das Buch beginnt mit einem Rückblick auf das Jahr 2004, als die drei 29-Jährigen gemeinsam in einer WG in London wohnen, das Wochenende und den Frühling genießen, im Park liegen, Wein trinken und den Tag vertrödeln. Doch schon sechs Jahre später sind die Weichen ganz anders gestellt: Cate hat eine Familie gegründet und ist nach Canterbury gezogen. Hannah und ihr Freund Nathan versuchen, ein Baby zu bekommen. Und Schauspielerin Lissa realisiert, dass sie ihren beruflichen Zenit mit Mitte 30 schon überschritten haben könnte.

    Anna Hope räumt jeder der drei Figuren gleichermaßen Platz ein, alle Frauen kommen selbst zu Wort und berichten von ihren Erlebnissen. Zwischendurch gibt es Rückblicke, die von ihrem Kennenlernen, von Wendepunkten in ihren Leben und ihren Beziehungen zueinander erzählen. Der Roman heißt „Was wir sind“, doch was sie sind, ist Hannah, Lissa und Cate gar nicht immer so klar. Denn selbst, wenn man seinen Platz im Leben gefunden zu haben glaubt, muss dieser nicht für alle Zeiten sicher sein.

    Die drei Protagonistinnen sind sehr unterschiedlich, doch Anna Hope schafft es, sie den Lesern gleich nah kommen zu lassen. Berührend dargestellt werden auch die inneren Nöte, die jede der Figuren hat – obwohl sie alle Leben führen, die Außenstehende als erfolgreich, angekommen und beneidenswert beurteilen könnten. Tatsächlich beneiden Hannah, Lissa und Cate sogar einander, und auch das ist nachvollziehbar: Was einer Freundin wichtig ist, fällt der anderen vielleicht mühelos in den Schoß, was die eine sich erkämpfen muss, bedeutet der anderen wenig. Doch wie viel Diskrepanz und Distanz hält ihre Freundschaft aus?

    Der Roman liest sich schnell und intensiv und hat mir aufgrund seiner abwechslungsreichen Darstellungen und der Tiefe der Figuren gut gefallen. „Was wir sind“ ist keine Feelgood-Lektüre, sondern bittersüß und stellenweise durchaus unter die Haut gehend.

    Ich habe dieses Buch als Rezensionsexemplar erhalten.
    Milchmann Anna Burns
    Milchmann (Buch)
    23.03.2020

    Anstrengend und Eindruck hinterlassend

    Mit „Milchmann“ verlangt die Autorin Anna Burns ihren Lesern einiges ab. Zum Beispiel stilistisch: Die Namen ihrer Protagonisten werden nicht genannt, nur ihre Spitznamen oder auch Bezeichnungen, die ausschließlich die namenlose Hauptfigur verwendet. Da gibt es „Vielleicht-Freund“, „Tablettenmädchen“ „Irgendwer McIrgendwas“, „Kleine Schwestern“ und natürlich „Milchmann“, nach dem dieser Roman benannt ist. Auch die Ich-Erzählerin wird ihrer jeweiligen Rolle gemäß angesprochen, z.B. als „Vielleicht-Freundin“, „Älteste Freundin“, „Tochter“ und „Mittelschwester“. Welche Position „Milchmann“ ihr zugedacht hat, ist allerdings lange unklar. Sicher ist nur: Der wesentlich ältere Mann sucht die Nähe der 18-Jährigen. Und dadurch fällt sie plötzlich auf, obwohl sie niemals auffallen wollte, denn das kann in einer Gesellschaft, in der jeder jeden belauert und verdächtigt, nur gefährlich werden.
    Der Roman spielt in den 1970er Jahren in Nordirland, wobei letzteres zu keinem Zeitpunkt explizit genannt wird. Es gibt sehr viel „uns“ und „die anderen“, wobei letztere sich noch einmal in die „auf der anderen Seite der Hauptstraße“ und die „auf der anderen Seite der See“ aufspalten. Es herrschen jede Menge ungeschriebener Verhaltensregeln, z.B. Paramilitärs zu unterstützen, in keinem Fall ein Krankenhaus aufzusuchen und nicht im Gehen zu lesen.

    Apropos lesen: Wie liest sich das Ganze denn nun? Wie sich vielleicht schon erahnen lässt: verwirrend. Anstrengend. Dass das Buch in größten Teilen als ein langer, innerer Monolog der zunehmend verunsicherten und verängstigten Hauptfigur daherkommt, macht die Lektüre nicht einfacher. Über lange Strecken passiert wenig, stattdessen wird viel reflektiert, wobei manchmal auch schwarzer Humor aufblitzt und die Absurdität der ganzen Situation immer stärker herausgearbeitet wird. Dabei hatte ich oft das Gefühl, dass mir zwischen den Zeilen eine ganze Menge entgehen könnte, da ich einfach viel zu wenig über die nordirische Geschichte weiß.
    Unverwechselbar ist der Roman zweifellos, inhaltlich und stilistisch habe ich sicher noch nichts Derartiges gelesen. Die eindringlichen Beschreibungen des Lebens in einer toxischen, von Willkür und allgemeinem Misstrauen geprägten Atmosphäre werden mir sicherlich im Gedächtnis bleiben. Beeindruckt hat mich „Milchmann“; weiterverschenken würde ich dieses Buch jedoch nicht. Der Roman ist eher schwere Kost – ob man sich darauf einlassen will, muss jeder für sich selbst entscheiden.

    Ich habe dieses Buch als Rezensionsexemplar erhalten.
    Der Gin des Lebens Carsten Sebastian Henn
    Der Gin des Lebens (Buch)
    13.03.2020

    Faszinierender Gin, schwacher Krimi

    Dass „Der Gin des Lebens“ ein Buch für Gin-Liebhaber ist, sieht man auf den ersten Blick: Am Cover, am Titel, an den Exkursen zum Thema Gin, die extra auf grauen Seiten gedruckt sind und dadurch sofort erblättert werden können. Ich mag Gin, hatte mir aber noch nie über seine Aromen Gedanken gemacht (und keine Ahnung, dass diese „Botanicals“ heißen). Was für eine Kunst Gin-Herstellung sein kann, war mir völlig neu. Alles rund ums Thema fand ich super erklärt und spannend zu lesen. Dieses Buch feiert den Gin: Jedem Kapitel sind ein Zitat zum Thema Alkohol und die Illustration eines „Botanicals“ vorangestellt, hinten finden sich neben einem Glossar auch noch Gin-Rezepte.
    Außerdem ist „Der Gin des Lebens“ mit viel Herz für den Handlungsort Plymouth geschrieben, der sehr pittoresk geschildert wird. Die Schauplätze sind in eine Karte eingetragen, die sich sowohl in der vorderen als auch in der hinteren Coverklappe verbirgt. Für die liebevolle Gestaltung würde ich diesem Buch fünf von fünf Punkten geben.

    Für die Geschichte allerdings nicht. Ich hatte die Leseprobe gelesen und war auf einen Krimi gefasst, in dem mehr gemenschelt als ermittelt wird. Und es menschelte dann auch sehr: Da hätten wir Cathy, die in Plymouth ein gemütliches Bed & Breakfast betreibt, mit viel Herz, schrulligen, aber liebenswertesten Stammgästen und einem verwunschenen Garten. Und sie ist Single – wie Bene, ein Deutscher, der auf den Spuren seines verstorbenen Vaters nach Plymouth reist. Klingt fast ein bisschen nach Rosamunde Pilcher, trotz des erstochenen Obdachlosen in Cathys Garten. Die Rollen sind außerdem klar verteilt: Es gibt die Guten und die Bösen, mehrdimensional sind nur wenige Charaktere.
    Die Handlung entwickelt sich dann komplett hanebüchen. Mir erschienen viele Stränge nicht ansatzweise zu Ende gedacht, die Figuren reagierten oft sehr unlogisch auf Ereignisse und das hat mir das Buch doch ziemlich verdorben. Zum Thema Gin war also alles super, der Krimi an sich jedoch sehr enttäuschend. Aber vielleicht war es auch mein Fehler, vielleicht hätte ich mir zur Lektüre einfach einen Dry Martini mixen sollen und dann alles gnädiger beurteilt?

    Ich habe dieses Buch als Rezensionsexemplar erhalten.
    76 bis 100 von 161 Rezensionen
    1 2 3
    4
    5 6 7
    Newsletter abonnieren
    FAQ- und Hilfethemen
    • Über jpc

    • Das Unternehmen
    • Unser Blog
    • Großhandel und Partnerprogramm
    MasterCard VISA Amex PayPal
    DHL
    • AGB
    • Versandkosten
    • Datenschutzhinweise
    • Barrierefreiheitserklärung
    • Impressum
    • Kontakt
    • Hinweise zur Batterierücknahme
    * Alle Preise inkl. MwSt., ggf. zzgl. Versandkosten
    ** Alle durchgestrichenen Preise (z. B. EUR 12,99) beziehen sich auf die bislang in diesem Shop angegebenen Preise oder – wenn angegeben – auf einen limitierten Sonderpreis.
    © jpc-Schallplatten-Versandhandelsgesellschaft mbH
    • jpc.de – Leidenschaft für Musik
    • Startseite
    • Feed
    • Pop/Rock
    • Jazz
    • Klassik
    • Vinyl
    • Filme
    • Bücher
    • Noten
    • %SALE%
    • Weitere Bereiche
      • Themenshops
      • Vom Künstler signiert
      • Zeitschriften
      • Zubehör und Technik
      • Geschenkgutscheine
    • Anmelden
    • Konto anlegen
    • Datenschutzhinweise
    • Impressum
    • Kontakt