jpc.de – Leidenschaft für Musik Startseite jpc.de – Leidenschaft für Musik Startseite
  • Portofrei ab 20 Euro
  • Portofrei bestellen ab 20 Euro
  • Portofrei innerhalb Deutschlands Vinyl und Bücher und alles ab 20 Euro
0
EUR
00,00*
Warenkorb EUR 00,00 *
Anmelden
Konto anlegen
Filter
    Erweiterte Suche
    Anmelden Konto anlegen
    1. Startseite
    2. Alle Rezensionen von gaia bei jpc.de

    gaia

    Aktiv seit: 10. Oktober 2021
    "Hilfreich"-Bewertungen: 11
    99 Rezensionen
    Wir Gespenster Michael Kumpfmüller
    Wir Gespenster (Buch)
    15.08.2024

    Interessante Prämisse, die mir aber zu oberflächlich umgesetzt bleibt

    In seinem aktuellen Roman setzt Michael Kumpfmüller die Idee um, dass Verstorbene nach ihrem Tod noch weiterhin die Erde mit den Lebenden teilen. Sie existieren neben den Lebenden her und nach einer gewissen Zeit verschwinden sie dann doch von der Erde. In „Wir Gespenster“ trifft Lilli auf Andrä. Sie, frisch verstorben, betrachtet noch ihren toten Körper, der scheinbar gewaltsam umgekommen ist, und er, schon ein alter Hase und seit etwa zehn Jahren tot, hilft als ehemaliger Kommissar der Mordkommission den Verstorbenen dabei, sich selbst und die Umstände des Todes aufzuklären. Denn wenn man als Gespenst wiederkommt, fehlt die Erinnerung an das Leben „davor“, selbst der Name fällt einem nicht mehr ein. So nähern sich Lilli und Andrä auf der Jagd nach ihren Mörder immer weiter an und beweisen, dass auch Gespenster Gefühle entwickeln können.

    Mit recht simpler Sprache nähert sich Kumpfmüller geduldig dem Thema des Lebens nach dem Tod und neben den Lebenden an. Dabei werden Themen gestreift, die durchaus sehr interessant sind. Zum Beispiel wie so ein totes Leben neben den tatsächlich Lebenden aussehen kann, wo ruhen Tote, wenn die Welt doch von Lebenden besetzt ist. Das sind die rein praktischen Fragen. Aber auch psychologisch geht es beispielsweise darum, wie relevant es überhaupt ist, dass man herausfindet, wer einem in einem nun vergangenen Leben etwas angetan hat. Ist dies notwendig zu wissen, um im Tod weiterleben zu können? Auch streift er das Themengebiet des Suizids und wie die Verstorbenen nach ihrer Tat über die Entscheidung denken. Das sind alles interessante Gedankengänge, die durch den Roman angeregt werden, darin allerdings recht oberflächlich umgesetzt scheinen. Hier hätte ich mir mehr Tiefe erhofft.

    Letztlich wirkte für mich der Roman nach dem Schließen der Buchdeckel als ob er sich nicht recht entscheiden kann. Will er ein literarischer Roman sein, der kriminalistische Elemente enthält und Denkanstöße gibt? Dafür ist er mir ehrlich gesagt nicht literarisch genug ausgefallen. Oder trifft es nicht besser zu, dass es sich um einen tiefgründigeren Krimi mit einem eher unkonventionellen Setting handelt? Ich hatte ersteres erhofft und zweiteres bekommen.

    Die Figuren bleiben mir zu „durchscheinend“, wenn man beim Thema Gespenster bleiben möchte, zu flach und damit auch wenig damit identifizierbar. Das kann auch genau so von Kumpfmüller gewollt sein, keine Frage, mich konnte es allerdings nicht mitreißen durch diesen Schreibstil.

    So könnte ich mir gut vorstellen, das Krimileser:innen, die mal einen ganz anderen Ansatz für eine Kriminalgeschichte suchen, hier voll und ganz auf ihre Kosten kommen. Mich hat der Roman allerdings nur in einzelnen Facetten ansprechen können, die ich gern noch besser ausgeleuchtet gesehen hätte. Letztlich konnte mich die Sprache von Kumpfmüller nicht überzeugen, wobei ich nicht sagen kann, ob dies seinem Stil im Allgemeinen entspricht, da dies die erste Lektüre eines seiner Werke für mich ist.

    Insgesamt handelt es sich meines Erachtens also um ein gutes, solides Buch, welches einer interessanten Prämisse folgt, aber leider in seiner Gesamtheit nicht meinen Geschmack treffen konnte.

    Abschließend möchte ich allerdings noch anmerken, dass ich die Covergestaltung bezogen auf den Inhalt des Buches wirklich sehr gelungen finde!

    3/5 Sterne
    Ich komme nicht zurück Rasha Khayat
    Ich komme nicht zurück (Buch)
    13.08.2024

    Wirkt leider kaum nach

    In ihrem aktuellen Roman "Ich komme nicht zurück" entwirft Rasha Khayat eine Geschichte, die sich um die Freundschaft von drei Personen dreht, die so manche Ähnlichkeit aber auch so manches Trennendes ausmacht. Die Ich-Erzählerin Hanna sowie ihre beiden Freund:innen Zeyna und Cem wachsen im äußersten Westen des Ruhrgebiets auf. Einem Hinweis im Buch folgend sollte es sich um Bochum handeln. Das verbindet alle drei. Was sie trennt ist der Umstand, dass Hanna und Zeyna beide ihre Mutter auf tragische Weise verloren haben, Hanna sogar nie ihren Vater kannte, Cems Eltern aber noch leben und ihn unterstützen können. Hanna passt allerdings dahingehend nicht zu Zeyna und Cem, da diese Muslime sind und deren Eltern bzw. bei Zeyna auch sie selbst nicht in Deutschland geboren sind. Der Anschlag in Mölln macht schon deutlich, dass sie mit unterschiedlichen Ängsten zu kämpfen haben. Die Terroranschläge vom 11. September 2001 und die folgende Islamophobie macht den Unterschied zwischen den mittlerweile Jugendlichen noch deutlicher.

    Nun setzt die Handlung mit Hanna ein, die nach dem Tod ihrer Großmutter in ihre Heimatstadt zurückgekehrt ist und wieder intensiveren Kontakt zu Cem sucht und versucht nach einigen Jahren überhaupt wieder Kontakt zu Zeyna aufzubauen. Diese ist nicht auffindbar, zumindest möchte sie von Hanna nicht gefunden werden. Was der Auslöser für diesen massiven Bruch trotz intensiver Freundschaft war, werden wir bis kurz vor Ende des Romans nicht erfahren. Darauf läuft die Entwicklung einer sich immer wieder verändernden Freundschaft zu.

    Grundsätzlich reizt mich die Thematik des Romans sehr, leider muss ich festhalten, dass mich das Buch im Gesamten nicht überzeugen konnte. Das liegt zum einen an der Geschichte, die sich entwickelt, an sich. In den letzten Jahren habe ich sehr viele Roman ähnlichen Inhalts gelesen und das vorliegende Buch konnte mich leider nicht so mitreißen, wie das anderen gelungen ist. Zum anderen hat mir der Spannungsbogen nicht gefallen. Durch Rückblenden erfahren wir bröckchenweise mehr über die Freundschaft der drei sowie über Hannas aktuelle Lebensumstände. Immer wieder wird "der Grund für den Bruch" angeteasert und man fragt sich, welches großes Geheimnis, welcher Vorfall wohl diese innige Freundschaft hat zerbrechen lassen können. Man denkt sich wer weiß was und dann wird die Geschichte aufgelöst und verpufft irgendwie auf den letzten Seiten. Das hat mich einfach nicht mitgenommen bzw. erreichen können, auch wenn ich einige Einzelszenen im Buch durchaus als intensiv empfand.

    Zuletzt und das stört mich am meisten am Roman: der Schreibstil. Hatte ich während der Lektüre der Leseprobe noch gedacht, die Art von Hannas Gedankengängen hänge mit der Einstiegsszene zusammen, musste ich genervt feststellen, dass es sich doch durch den gesamten Roman zieht. Die Autorin lässt ihre Ich-Erzählerin sehr häufig in stichpunktartigen Sätzen denken, denen einfach nur das "Ich" zu Beginn des Satzes fehlt. Zunächst dachte ich noch, es handle sich um ein gezieltes Vorgehen. Dass vielleicht über den gesamten Text hinweg das "Ich" der Erzählerin fehlt. Oder dass erst zum Ende hin das "Ich" wieder zurückkehrt in die Gedanken der Protagonistin und damit auch eine inhaltliche Aussage mit der Form zusammenhängt. Dem ist leider nicht so. Die Autorin wechselt wild zwischen langen Passagen, in denen abgehakte Stichpunkte in Satzform stehen und dann aber doch immer wieder ganz normale Sätze auftauchen. Sodass ich hier keine Strategie dahinter vermuten kann. Zumindest keine, die für mich stimmig ist. So ging mir der gesamte Roman sprachlich wirklich unglaublich auf die Nerven. Zur Verdeutlichung habe ich mal eine beliebige Textstelle von Seite 31 aufgegriffen:

    "Presse meine Lippen aufeinander, schnaufe durch die Nase. Hatte wohl doch gehofft. Stecke das Telefon wieder ein und den Handbesen zurück in die Friedhofstasche, streiche noch einmal über den Stein. 'Bis morgen', flüstere ich, deute ein Winken an und drehe mich um."

    Dadurch, dass dann zwischendurch immer wieder ganz normale Sätze auftauchen, konnte sich bei mir nie ein richtiger Lesefluss einstellen. Erst stolperte ich über die Stichpunktsätze, hatte ich mich daran gewöhnt, taucht ein normaler Satz auf, der mich aus dem Rhythmus brachte, nur um dann beim nächsten Stichpunktsatz wieder zu stolpern. Vor allem zu stolpern, wenn durch die Deklination der Verben und die Anwesenheit anderer Personen nicht gleich deutlich wurde, welche Person jetzt eigentlich gemeint ist. Denn im Verlauf des Romans fehlen auch andere Personalpronomen. Aber nur ganz selten. Auch wieder so, dass man sich nicht darauf einstellen kann. Das mag alles Kalkül der Autorin sein. Mich hat es aber eben sehr gestört.

    Letztlich läge ich rein inhaltlich bei einer Bewertung von 3,5 Sternen für das Buch. Aufgrund des Schreibstils lande ich dann aber doch nur bei 3 Sternen.

    3/5 Sterne
    Kleine Monster Jessica Lind
    Kleine Monster (Buch)
    22.07.2024

    Nichts ist so wie es scheint

    Wer Jessica Linds Debütroman „Mama“ kennt, weiß, dass in ihren Romanen nichts ist, wie es zunächst anmutet. In „Kleine Monster“ erleben wir eine Mutter (Pia), die erfahren muss, dass ihr Sohn in der Grundschule einen – für die Lesenden - nicht näher bezeichneten sexuellen Übergriff gegenüber einer Mitschülerin unternommen hat. Das allein scheint für viele schon unvorstellbar und noch viel schwerer vorstellbar zu durchleben. Doch dabei bleibt es nicht, denn durch Rückblicke erfahren wir mehr über die Kindheit von Pia und bekommen ein erschreckendes Bild geliefert.

    Mehr soll inhaltlich gar nicht verraten werden, da der Roman gerade durch die allmähliche Aufdeckung immer mehr Details und das Erkennen von Zusammenhängen gewinnt. Lind flechtet ungemein geschickt die Vergangenheit Pias mit der Gegenwart in ihrer kleinen Familie zusammen. Dabei entsteht ein Eindruck davon, wie stark uns selbst die eigene Kindheit prägt und in der Erziehung der eigenen Kinder einfließt.

    Selten habe ich mit gleichsam so viel Interesse aber auch Furcht die Seiten eines Buches umgeblättert, da man nie vorausahnen konnte, welchen psycho(patho-)logischen Abgrund die Autorin als Nächstes aus dem Hut zaubert. Das passiert bei ihr allerdings immer im Rahmen des Authentischen. Ein ganz leiser Psychothriller ist dieser Roman, der durch seine klare Sprache mehr als besticht. Mich hat er vollkommen in seinen Bann gezogen und ich konnte und wollte das Buch kaum aus der Hand legen.

    Auf nur 250 Seiten fächert Jessica Lind hier gleich zwei Familiendynamiken auf. Die von Pia, ihrem Mann Jakob und ihrem Sohn Luca sowie der Ursprungsfamilie von Pia und wie diese sich von ihre Schwiegerfamilie (Jakobs Eltern und Schwester) unterscheidet. Großen Respekt habe ich davor, wie die Autorin in ihrem Roman verdichtet auf einzelnen Szenen dieses Familiengewebe beschreibt und gleichzeitig in die Psyche der Ich-Erzählerin Pia eintaucht.

    Dafür gibt es von mir ein uneingeschränkte Leseempfehlung! Man braucht übrigens auch keine Trigger-Warnung bezüglich des eingangs erwähnten Vorkommnisses zwischen Luca und der Mitschülerin, da Lind sehr gekonnt um das Ereignis herum schreibt und keinerlei voyeuristischen Tendenzen nachgeht. Das hat mir zusätzlich sehr gut gefallen.

    5/5 Sterne
    Nach uns der Sturm Vanessa Chan
    Nach uns der Sturm (Buch)
    28.06.2024

    Historisch wichtige Perspektive

    Die malaysische Schriftstellerin Vanessa Chan wirft in ihrem Debütroman einen Blick in die aufwühlende Vergangenheit ihres Heimatlandes. Dieses war zunächst von der britischen Kolonialmacht und später ab 1941 bis 1945 von Japan besetzt. Chan erzählt die schockierende Geschichte einer Frau, malayischem (da Malaysia früher Malaya hieß) und britischem Ursprungs, die noch in den 30ern die britischen Kolonialisten aus dem Land haben wollte und deshalb für die Japaner spionierte, nur um dann ab 1941 die volle Härte der japanischen Besatzungsmacht zu spüren. Cecilys Familie erleidet schwere Schicksalsschläge unter den Japanern, sodass die Mutter von drei Kindern unter ihrer Schuld zu zerbrechen droht.

    Die Besatzung vieler Gebiete in Südostasien durch die Japaner während des Zweiten Weltkriegs ist ein Thema, welches bisher kaum Eingang in das Allgemeinwissen von im Westen sozialisierten gefunden hat. Mit großer Brutalität unterwarf das japanische Militär die Gebiete unter dem vorgeblichen Ziel „Asien den Asiaten“, dass dabei mitunter mehr Menschen der besetzten Länder in kürzester Zeit umkamen als unter der Kolonialmacht unterstreicht Chan in ihrem Roman.

    Mir hat „Nach uns der Sturm“ (im englischen Original „The Storm We Made“, was mir inhaltlich passender erscheint) über weite Strecken wirklich sehr gut gefallen. Chan konstruiert den Roman so, dass wir zwischen einem Vergangenheitsstrang, der 1935 einsetzt und in dem Cecily beginnt für den Japaner Fuijwara zu spionieren sowie in eine gefährliche Abhängigkeit zu ihm rutscht, und mehreren Gegenwartssträngen in 1945 mit Wechseln zwischen den Perspektiven von Cecily sowie ihren drei Kindern Jujube, Abel und Jasmin. Alle Erzählstränge zusammen ergeben ein aufschlussreiches Bild von den damaligen Verhältnissen zunächst unter den Briten und später unter den Japanern, sodass sich einige Wissenslücken im Laufe der Lektüre füllen. Denn die große Schwester Jujube zeigt einen blinden Fleck im Interesse der Weltgemeinschaft während und nach dem Zweiten Weltkrieg auf, wenn sie auf Seite 66 über die Frontmeldungen aus Europa nachdenkt und dann auf ihr Heimatland blickt:

    „Vielleicht haben sie uns vergessen, dachte Jujube, diese westlichen Fronten, Städte mit Namen, die einem schwer von der Zunge gingen, Orte, die sie im Atlas fand, sich aber nicht vorstellen konnte. Vielleicht waren Menschen wie sie, Jasmin und Abel nicht wichtig – hier in einem kleinen tropischen Winkel im Osten, wo sie von Menschen brutal behandelt wurden, die fast genauso aussahen wie sie selbst.“

    Die Einwohner (damals noch) Malayas werden in Arbeitslager verschleppt und zu „Trostfrauen“ für die japanischen Soldaten gemacht. Und das alles unter dem Befehl von Fujiwara, der als General mittlerweile der Befehlshaber über Malaya ist. Als Cecilys Sohn verschwindet und die jüngste Tochter Jasmin versteckt werden muss leidet ihre psychische Gesundheit mehr und mehr unter ihrer Schuld. Das ist gut gemacht und hat mich durchgängig mit dem Schicksal der Familie mitfiebern lassen. Chan schreibt dabei eher einfach und legt mehr Wert auf die Darstellung des Leids der malayischen Bevölkerung. Gerade Abels Zeit im Arbeitslager ging mir dabei besonders an die Nieren.

    Leider lässt meines Erachtens gerade gegen Ende die Qualität des Romans nach, wenn die Autorin zu stark etwas herankonstruiert und damit die Wahrscheinlichkeitstheorie auch entsprechend strapaziert. Alles wird hoch dramatisch inszeniert, obwohl es dem Roman zuvor nicht an realer Dramatik gefehlt hätte. Die Figuren, welche zunächst für sich genommen interessante Entwicklungen durchliefen, neigen nun zu übertriebenem bis wenig nachvollziehbarem Verhalten. Die Autorin ändert im letzten Teil des Buches auch die Erzählgeschwindigkeit, was mir abschließend nicht sonderlich gut gefiel. Da sich alles um die letzten Tage im August verdichtet, nach den Atombombenabwürfen in Hiroshima und Nagasaki ab dem 09. August, der Radioansprache Kaiser Hirohitos am 15. August mit der Bekanntgabe der bedingungslosen Kapitulation Japans und noch vor der Unterzeichnung der offiziellen Kapitulation Japans am 02. September 1945 wird es schwer den historischen Abläufen zu folgen, da in Malaya scheinbar weiterhin japanische Soldaten das Sagen hatten. Zur Verwirrung trägt auch eine Stelle im Buch, die am 30. August 1945 spielt, bei, wo es heißt: „...im Radio kamen Nachrichten über Kapitulationen, über enorme Verluste in den von den Nazis besetzten Regionen, über lokale Aufstände in japanischen Gebieten.“ Welche von Nazis besetzte Gebiete gab es noch Ende August 1945?!

    So fällt mir die abschließende Bewertung dieses Romans sehr schwer. Über weite Strecken war er sehr informativ mit hoher historischer Signifikanz. Es ist wichtig, dass dieser Roman veröffentlicht wird und somit den Fokus auch auf andere Regionen der Welt und deren Schicksal während des Zweiten Weltkrieges richtet. Die Entwicklung der Figuren und ihr Innenleben ließ abschließend aber leider zu wünschen übrig und die „überzufällige“ Konstruktion zum Schluss haben mich gestört. Aufgrund der mithilfe des Romans eingenommenen historischen Perspektive durch die Augen einer malayischen Familie und der damit einhergehenden Denkanstöße entscheide ich mich im Zweifel für ein Aufrunden.

    3,5/5 Sterne
    Die Perserinnen Sanam Mahloudji
    Die Perserinnen (Buch)
    09.06.2024

    Vielschichtiges und Jahrzehnte umspannendes Bild einer persischen Oberschichtsfamilie

    Sanam Mahloudji nimmt eine interessante Perspektive ein, wenn sie über einen Zeitraum von fast 80 Jahren hinweg die weibliche Seite einer iranischen Familiengeschichte erzählt. Denn sie nähert sich in ihrem Debütroman „Die Perserinnen“ den Frauen einer Familie, die vor der Islamischen Revolution 1979 zur Oberschicht des Iran gehörte. Elisabeth ist schätzungsweise in den 1930ern als Enkelin des „Großen Kriegers“ geboren. Ein Mann, der laut Familiengeschichte sein Leben im Kampf für einen demokratischen Iran ließ. Das Familienvermögen und -prestige basiert auf diesem Vorfahr. Während Elisabeth in ihrer Kindheit und Jugend wie eine Prinzessin von der Bevölkerung Teherans behandelt wurde, gab sie später dieses Bewusstsein für Stellung an ihre Kinder weiter. Zwei davon sind Sima und Shirin, welche - ebenso wie ihr Bruder Nadar - im Zuge der Islamischen Revolution über Südfrankreich in die USA „flüchteten“. Deren Kinder Bita und Mo wuchsen dann in den USA auf, während Shirins älteste Tochter Niaz bei Elisabeth im Iran zurückblieb und dort aufwuchs.

    Die Gegenwartshandlung des Romans setzt im Weihnachtsurlaub des US-amerikanischen Teils der persischen Familie in Aspen in 2004/2005 ein. Wir erleben mit, in welch einem Überfluss diese Familie lebt. Und das macht für mich schon einmal einen kreativen Ansatz das Romans aus, werden doch sonst häufig Geschichten von stark benachteiligten und unterdrückten Familien aus dem Iran in der Literatur beschrieben. Auf den ersten Blick scheint diese reiche Familie in einer vollkommen sorgenfreien Sphäre zu leben. So auch Shirin, die mit um die 50 Jahren aufgetakelt in einer Bar verhaftet wird, weil sie angeblich ihre eigenen Prostitution anbahnte. Dabei liegt es eher daran, dass Shirin eine hoch theatralische Persönlichkeit hat und überall, wo sie hinkommt eine Szene machen muss. Sie möchte ununterbrochen im Mittelpunkt stehen und gerät dadurch auch sehr schnell zur anstrengendsten, aber nicht uninteressantesten Person dieses prosaischen Figurenreigens. Allerdings leitet die Autorin das Gehabe von Shirin sehr gut her, weshalb sie zu so einer „unsympathischen Figur“ wird, die man unterm Strich eigentlich doch gern begleitet. Wir folgen in wechselnden Kapiteln immer den einzelnen Frauen der Familie zu unterschiedlichen Zeiten von den 1940ern bis zum gegenwärtigen Plotverlauf, der sich um Shirins Anzeige in 2005 dreht. Dabei spricht eine Figur auch aus einer Zwischenwelt kurz vor dem Jenseits, denn wie wir gleich zu Beginn erfahren, ist Sima - Bitas Mutter - bereits im April 2004 verstorben.

    Durch diese multiperspektivische Herangehensweise bekommen die Lesenden ein facettenreiches Bild zur Familiengeschichte aber auch zu den einzelnen Lebensläufen der Frauen. Durch die Figuren Elisabeth und Niaz, die die letzten 25 Jahre im Iran verblieben sind, bekommt man neben den Eindrücken einer reichen, persischen Familie in den kapitalistischen USA auch einen sehr guten Einblick in das Leben von Zurückgebliebenen, die unter den Ayatollahs nicht mehr ihrem Leben in Saus und Braus nachgehen können.

    Obwohl ich schon einige informative Texte über die Geschichte und die Menschen des Irans gelesen habe, hat mir „Die Perserinnen“ doch immer wieder noch unbekannt Informationen vermittelt und neue Blickwinkel ermöglicht. Die Figuren werden in ihren Handlungen und Einstellungen sehr gut hergeleitet und man bekommt ein umfangreiches Bild ihrer Sozialisation und ihrer Lebensumstände. Auch zur iranischen Historie wurden politische Zusammenhänge leicht verständlich dargestellt, was das Buch zu eines äußerst lesenswerten Roman macht.

    Immer tiefer dringt man in die einzelnen Schicksale und Köpfe der Figuren, was einen starken Sog entwickelt. Allein zum Ende hin wird mir der Roman zu verkopft und zu erklärend. Bis zum Ende wurde mir außerdem nicht klar, warum die „Elisabeth“-Kapitel die einzigen sind, die aus der personalen Perspektive heraus erzählt sind. Alle anderen Frauen berichten aus der Ich-Perspektive, selbst die verstorbene Sima.

    Für mich stellt „Die Perserinnen“ ein starkes Debüt dar, welches eine klare Leseempfehlung von mir erhält. Ich freue mich darauf, von der Autorin noch mehr zu lesen.

    4,5/5 Sterne

    PS: Ein Kuriosum, welches ich so noch nie gesehen habe: Das Buch wurde in englischer Sprache verfasst, da die Autorin schon als Kind aus dem Iran in die USA auswanderte. Die deutsche Übersetzung des Romans ist allerdings die allererste Veröffentlichung des Textes. Der englischsprachige Orignaltext wird erst in 2025 (!) erscheinen, ebenso wie die Veröffentlichungen in anderen Ländern. Siehe sanammahloudji.com:

    „Her debut novel THE PERSIANS will be released in February & March 2025 with Fourth Estate (UK) and Scribner (US). It will also come out in translation in Germany (Piper), the Netherlands (Ambo Anthos), Hungary (Europa), Croatia (Fraktura) and Romania (Polirom). The German edition will be released first on May 31, 2024!“

    PPS: Falls jemand vom Verlag meine Rezi lesen sollte: Für eine (hoffentlich gedruckte) zweite Auflage: Auf S. 319 heißt es, dass Sima am „1. April 1994“ gestorben sei. Das ist ein Fehler, sie ist in 2004 gestorben. Das könnte beim Lesen so einige irritieren. ;)
    ruh Sehnaz Dost
    ruh (Buch)
    18.05.2024

    Mich hätte ein etwas anderer Fokus mehr interessiert

    Vielleicht hatte es Şehnaz Dosts Debütroman bei mir deshalb so schwer, weil ich erst kurz zuvor „Dschinns“ von Fatma Aydemir gelesen und geliebt habe. Beide Romane verfolgen eine ähnliche Thematik, sie beschäftigen sich mit den Familien von türkischen Gastarbeitern, die nun als erste Generation oder als Kinder nachgezogen in Deutschland aufwachsen und dabei auf verschiedenste Herausforderungen stoßen.

    In „ruh“ dreht sich die Geschichte um Cemal, der die ersten acht Jahre seines Lebens in der Türkei bei den Großeltern verbracht hat und danach von den Eltern nach Deutschland nachgeholt wurde. Seine Urgroßmutter Süveyde hat er nie kennengelernt, verstarb sie doch kurz vor seiner Geburt. Während der mittlerweile erwachsene Deutschlehrer mit der Scheidung von seiner ebenso türkischstämmigen Ehefrau Gül und dem geteilten Sorgerecht für die geliebte Tochter Ekin zurecht kommen muss und er eine leidenschaftliche Liaison mit Georg eingeht, ereilen ihn immer häufiger diffuse Träume, in denen seine Urgroßmutter Süveyde erscheint und er Lebensereignisse von ihr dadurch miterlebt. Ziemlich schnell stellt sich heraus, dass Süveyde selbst eine Wiedergeborene gewesen ist, die mittels Seelenwanderung in Träumen ein früheres Leben einer anderen Person miterlebte. Man erahnt schon in welche Richtung nun die Geschichte von Cemal geht.

    Dost beschreibt sehr solide und für mich auch sehr interessant die gegenwärtigen Erlebnisse von Cemal in einer großen deutschen Stadt, beleuchtet aber auch seine Vergangenheit ebenso wie viele Mikroaggressionen und rassistischen Erlebnissen, denen er bis heute und vor allem als türkischstämmiger Deutschlehrer (welch Skandal! - zumindest für so manchen Elternteil der Schulkinder) ausgesetzt ist. Mich hätte inhaltlich besonders der Erzählstrang um das Zusammensein mit dem deutschstämmigen Georg und damit die bisexuelle Beziehung, das daraus möglicherweise entstehende Spannungsfeld und auch die zusätzlich in der Öffentlichkeit auf Cemal fokussierte Außenwahrnehmung durch „anders aussehen“ und „anders lieben“ sehr interessiert. Leider beendet Cemal schon zügig im Roman Cemal diese Beziehung und ab diesem Zeitpunkt konzentriert sich der Plot mehr auf das Thema der möglichen Seelenwanderung sowie der Vergangenheit von der Urgroßmutter. Diese Träume, bei denen es mir manchmal schwerfiel durchzublicken, ob diese jetzt Süveyde oder Cemal träumt, helfen ihm im Verlauf besser, sich selbst zu finden.

    Ich muss zugeben, dass ich nach dem ersten Drittel des Romans diesen vorerst abgebrochen hatte, weil mir das Thema der Seelenwanderung hier zu viel Raum einnahm und der Fokus weg von Cemals Gegenwart wanderte. Mich hätte diese eindeutig mehr interessiert oder die getrennten Abschnitte im Sinne einer Rückschau ins Leben der Urgroßmutter hätten besser getrennt und etwas länger, tiefgründiger sein müssen, um mein Interesse zu halten. Ich habe das Buch dann doch – aber ehrlich gesagt durch ein bisschen Querlesen – noch beendet. So richtig überzeugen konnte er mich in seiner Gesamtkonstruktion leider nicht. Wie gesagt, sprachlich sehr solide und inhaltlich mit viel Potenzial, konnte er mich doch nicht so richtig mitnehmen. Durch das immer wieder Wegschwenken von Cemal blieb mir dieser recht fern, ebenso wie die Urgroßmutter in ihrer Zeitebene.

    Somit kann ich leider für den Roman „ruh“ keine Leseempfehlung aussprechen, vor allem da mir im Vergleich empfehlenswertere Romane einfallen. Das tut mir leid, gefällt mir doch die Gestaltung und auch Haptik des gebundenen Buches aus dem Ecco Verlag sehr gut.

    2,5/5 Sterne
    Windstärke 17 Caroline Wahl
    Windstärke 17 (Buch)
    15.05.2024

    Gute Fortsetzung zu „22 Bahnen“

    Ich muss zugeben, dass ich bezüglich dieses Fortsetzungsromans von Caroline Wahl zwiegespalten bin. Ihren Roman „22 Bahnen“ empfand nicht nur ich damals als ganz starkes Debüt und er wurde sogar zum „Lieblingsbuch des unabhängigen Buchhandels 2023“ gekürt. Meines Erachtens vollkommen zu Recht! Dort drehte sich alles um Tilda, Anfang Zwanzig, die mit Nebenjobs versucht nicht nur ihr eigenes Mathematik-Studium zu finanzieren, sondern auch noch das Leben der alkoholkranken Mutter und ihrer kleinen Halbschwester Ida. Sie trifft außerdem einen alten Schulkameraden Viktor wieder, verliebt sich nach ersten Anlaufschwierigkeiten, denn auch er hat familiär viel zu tragen, und schafft es letztlich sich mit ihrer schwierigen Familiensituation auseinanderzusetzen und für eine andere Stadt und damit ihren Traum von der Promotion zu entscheiden.

    Warum erzähle ich hier, was in „22 Bahnen“ passiert? Weil vom groben Konstrukt her ähnliches in „Windstärke 17“ passiert. Hier begleiten wir die nun auch Anfang Zwanzigjährige Ida, die ihr Literaturstudium weiterhin in der Heimatstadt verfolgte und bei der alkoholkranken Mutter wohnte. Nun erfahren wir allerdings, dass die Mutter vor wenigen Wochen verstorben ist und Ida muss mit ihrer Trauer aber auch mit der Entscheidung, wie ihr Leben weitergehen soll, zurechtkommen. Sie flüchtet auf die Insel Rügen, wird von einem liebevollen, alten Ehepaar aufgenommen und lernt Leif, der ebenso familiär und persönlich schon viel zu tragen hat, kennen und verliebt sich nach ersten Anlaufschwierigkeiten in ihn. Mithilfe von Leif und dem Ehepaar lernt sie mit ihrer Trauer umzugehen, sich mit ihrer schwierigen Familiensituation auseinanderzusetzen und für ihren Wunsch vom Schreiben zu entscheiden. Während für Tilda das Freibad und die Regelmäßigkeit des Bahnenschwimmens ein wichtiger Copingmechanismus ist, stellt dies für Ida die Ostsee und das lebensgefährlich weite Rausschwimmen dar. Fällt euch etwas auf?

    Für sich genommen ist „Windstärke 17“ wieder ein schön geschriebener Roman, der Menschen in belastenden Lebenssituationen zeigt und die Möglichkeiten diese mit Hilfe von anderen und durch eigene gefundene Stärke zu bewältigen. Das kann Caroline Wahl wirklich sehr gut. Allerdings drängt sich für mich die Frage auf, warum dieser Folgeroman unbedingt so stark dem erfolgreichen Debüt ähneln muss. Natürlich gibt es auch Unterschiede, keine Frage. Aber diese reichen mir nicht aus, um eine erneut hervorragende Leseerfahrung zu haben. Außerdem störten mich in diesem Buch die Dialoge ab und an. Diese wechseln zwischen in Anführungszeichen gesetzte Sätze, die im Fließtext auftauchen (so mag ich es) und Dialogen, die formell wie in einem Theaterstück über Seiten hinweg untereinander angeordnet sind. Mir kommt es generell so vor, als ob dieser Roman dialoglastiger ist als der vorherige. Und das, was ich hier gerade mache, ist auch ein Problem, welches mit der Entscheidung einen so ähnlichen Roman zu schreiben, einhergeht: Man vergleicht unwillkürlich oder auch willkürlich während des Lesens ständig „Windstärke 17“ mit seinem Vorgänger „22 Bahnen“. Diese Nähe tut meines Erachtens dem vorliegenden Roman nicht gut.

    Ich habe „Windstärke 17“ durchaus gern gelesen und auch an der ein oder anderen Stelle mit Ida mitgefiebert, fand viele Figuren sehr interessant und die Dynamiken gut dargestellt. Trotzdem habe ich im Hinterkopf wie sehr mir damals „22 Bahnen“ gefiel und ich finde, dieser hier kommt da nicht heran. Und es tut mir so leid, dass ich den Vergleich nicht einfach weglassen kann. Das provoziert die Autorin leider durch ihre Themen- und Plotwahl. Ich hätte gern mal ein ganz anderes Buch dieser vielversprechenden Autorin gelesen.

    3,5/5 Sterne
    Yellowface Rebecca F. Kuang
    Yellowface (Buch)
    10.05.2024

    Der Aufstieg und Fall der Juniper Song

    Bereits im Alter von 22 Jahren wurde Rebecca F. Kuang, eine chinesischstämmige, US-amerikanische Autorin, mit ihrem Debütroman „The Poppy War“ für so einige Buchpreise nominiert. Nun sechs Jahre später erscheint ihr fünfter Roman „Yellowface“ auch auf Deutsch.

    In diesem Werk webt die Autorin sehr wahrscheinlich eigene Erfahrungen als junger Shooting-Star in der Literaturbranche mit ein. Doch entwirft sie keine Ich-Erzählerin, die Kuang selbst entspricht, nein, sie macht das genaue Gegenteil. Wir lesen die Geschichte aus Sicht der weißen US-Amerikanerin June Hayward. Sie ist eine erfolglose Autorin, Ende Zwanzig, und zufällig einzige Zeugin als die im Vergleich massiv erfolgreiche chinesischstämmige Jungautorin Athena Liu bei einem Unfall verstirbt. June und Athena, so erfahren wir, waren seit dem Collage lose befreundet, aber schon immer und besonders nachdem Athena ihren ersten Buchvertrag bekam, überwiegt bei June der Neid gegenüber ihrer Mitstreiterin. Also schnappt sie sich nach deren Tod den aktuellsten Romanentwurf für „Die letzte Front“, ein Historischer Roman, der die chinesischen Arbeitercorps im Ersten Weltkrieg thematisiert. June passt den Roman an ihre Schreibe an, bekommt einen hochdotierten Buchvertrag bei einem angesehenen Verlagshaus, nimmt ihren von der Hippie-Mutter gewählten Geburtsnamen - Juniper Song (Hayward) -, der zufällig eine (nicht existente) chinesische Abstammung impliziert, und somit beginnt ein wilder Ritt durch die Literaturwelt.

    Kuang nutzt hier das Stilmittel der subjektiven, unzuverlässigen Erzählstimme, um ein Vexierspiel im Literaturbusiness auszubreiten, welches verschiedenste Themen rund um kulturelle Aneignung, Diversität in der Kultur, aber auch Hassmitteilungen im Internet und allgemeine Empörung aufgreift. Diese Erzählerin manipuliert uns und gibt uns bestimmte Informationen nur, wenn sie es will und es in ihre Agenda passt. Und auch wenn Juniper Song/June Hayward hier von Anfang an als von der Ungerechtigkeit ihr gegenüber (Nichtwahrnehmung ihrer Literatur) von Neid zerfressene Unsympathin dargestellt wird, so schafft Kuang doch Momente, in denen die Leserschaft durchaus mit Juniper mitfühlen kann und wird. Gerade wenn es um Hass und Gewaltandrohungen im Netz geht, wirkt das Mitgefühl für Juniper universell für alle in der Öffentlichkeit Stehende, die Anfeindungen ertragen müssen. Gleichzeitig muss man bei der Lektüre allerdings aufpassen, dass man nicht einmal zu schnell der Argumentation Junipers folgt und nickend ihr zustimmt, denn gerade dort versteckt sich häufig der sog. „white gaze“ (der „weiße Blick“), eine Perspektive, die besonders Menschen weißer Hautfarbe beim Konsum von Literatur und anderen Medienerzeugnissen einnehmen. Und genau das ist unter anderem auch wiederum Inhalt des Romans, wenn Juniper den von Athena entworfenen Roman auf die Sichtweise einer weißen Person umschreibt, obwohl es dort historisch um das Leid von chinesischen Arbeitern in Europa geht. Zu vielfältig sind die von Kuang aufgezeigten Mechanismen, die in „Yellowface“ vorkommen, um sie an dieser Stelle alle zu erläutern.

    Grundsätzlich kann man sagen, dass Kuang ein sehr hartes Bild der Literaturbranche zeichnet. Nach welchen Kriterien Autor:innen ausgewählt werden, Bücher beworben und Fakten verdreht, um maximale Gewinne zu erreichen. Ob es sich hierbei nun um eine überhöhte Satire oder eine annähernd realistische Darstellung der gegenwärtigen Literaturwelt handelt, kann ich nicht einschätzen. Überhöht oder nicht, der Roman gibt einen guten und facettenreichen Einblick und ist allein dafür schon äußerst interessant und lesenswert.

    Allein der Plot erschien mir im letzten Viertel etwas zu hinken. Immer mehr doppelte Böden und Möglichkeiten zieht die Autorin in die Geschichte ein, wodurch sie zuletzt etwas ihren Biss und Charme verliert. Insgesamt empfinde ich aber „Yellowface“ als einen sehr gelungenen Roman, der zeigt, dass die Autorin nicht ausschließlich Bücher mit phantastischem Setting erschaffen kann. Eine Leseempfehlung!

    4/5 Sterne
    Wir sitzen im Dickicht und weinen Felicitas Prokopetz
    Wir sitzen im Dickicht und weinen (Buch)
    25.04.2024

    Hier ist der Titel Programm

    „Wir sitzen im Dickicht und weinen“ ist ein gut gewähltes Motto für diesen Debütroman von Felicitas Prokopetz, denn ihre Hauptprotagonistin und in ihren Kapiteln Ich-Erzählerin des Romans ist eine unglaublich neurotische Person. Alles muss sie kontrollieren, ihr eigenes Leben, das des 16jährigen Sohnes, und alles zu einem Drama machen. Das hat sie scheinbar von ihrer Mutter, die an Krebs erkrankt ist und eine vollständige Ausrichtung ihrer Tochter auf sich einfordert. Um die Dynamik zwischen den beiden zu verstehen, wirft die Autorin mithilfe von Rückblenden immer wieder Schlaglichter auf die Vorfahren von Valerie (der Ich-Erzählerin) und das Leben von ihrer Mutter.

    Insgesamt hat mich dieser Roman fast gar nicht angesprochen. Mutter-Tochter-Dynamiken sind eigentlich Ausgangspunkte, die mich in Romanen immer interessieren, hier konnte mich die Autorin allerdings nicht überzeugen. Die Ich-Erzählerin und ihr Mutter sind unglaublich nervige Figuren. Das darf es geben, aber dann möchte ich auch mal andere Facetten von ihnen sehen. Bis kurz vor Schluss gibt es diese aber nicht. Valerie ist so lehrbuch-neurotisch, was dann zu Stellen führt wie diese hier nach einer der vielen Auseinandersetzungen mit ihrem Sohn, da sie die absolute Helikopter-Mutter ist S. 90:

    „‘Mir reicht‘s so mit dieser ganzen Mutterscheiße‘, sage ich zu mir selbst, und spüre, wie mir die Tränen in die Augen schießen. Ich ziehe die Decke enger um mich. Elend ist das alles, überhaupt nicht so, wie ich es will. Ich liebe Tobi doch so. Warum genügt das nicht?“

    Das ständig auftauchende Selbstmitleid der Figur ist kaum auszuhalten. Ebenso wie die massive Bedürftigkeit ihrer Mutter. Kann man diese zunächst noch nachvollziehen, immerhin hat sie eine Krebserkrankung, denkt man aber selbst hier irgendwann: „Jetzt reiß dich aber mal zusammen.“

    Unterbrochen wird dieses Leiden und Fordern durch Kapitel, in denen die Autorin in personaler Erzählweise bei den Großmüttern Valeries beginnt, die Geschichte der Frauen in der Familie zu erzählen. Hier muss ich zugeben, dass ich unglaublich Probleme hatte, die beiden Großmütter (also mütterlicher- und väterlicherseits) und deren Lebensgeschichten schlicht auseinanderzuhalten. Es werden immer nur kurze Schlaglichter geworfen, die Namen nicht immer genannt und selbst wenn ich mal in einem Kapitel schnell verstand, um wen es eigentlich ging, konnte ich nicht mehr aufrufen, ob das jetzt diejenige war mit dem Erster-Weltkrieg-Traumatisierten als Vater oder die mit der angespannten Beziehung zu wiederum ihrer Mutter etc. Das liegt neben der Sprache der Autorin meines Erachtens an der kürze der Texte. Auf 204 Seiten Gesamtvolumen wird hier ein ganzes Jahrhundert an Frauenschicksalen runtergerasselt, inklusive der eigentlich als intensiv angelegten Krebsgeschichte der Mutter von Valerie und die für Valerie unglaublich schwere Entscheidung, ihren Sohn zum Schulaustausch nach England zu lassen (Weltuntergang!).

    Und ein letzter Aspekt des Romans stellen eingefügte Kapitel dar, in denen von Valerie ausgedachte Grabreden für ihren eigenen, noch lebenden Vater zitiert werden. Den hatte es nicht lang bei der Familie gehalten und nun malt sie sich mal besonders schöne Momente, mal Gewaltfantasien im Splatterniveau über ihn aus.

    Das alles fügt sich für mich nicht richtig zusammen. Der Schluss wird fix irgendwie schnell inszeniert, mit ein bisschen Persönlichkeitsveränderung und Drama. Ich war froh, als ich das Buch zuklappen konnte. Allein weil ich zwar „nur“ genervt war, mich aber aufgrund der Kürze des Romans nicht das Gefühl hatte mich „durchkämpfen“ zu müssen, sondern das Elend dann auch schnell vorbei war, gebe ich noch 2 Sterne hierfür. Der Roman wirkt eher wie ein Romanentwurf und hätte meines Erachtens in mindestens doppelter Länge und mit weniger Neurotizismus besser funktioniert. Deshalb gibt es auch keine Leseempfehlung von meiner Seite. Andere Romane haben in den letzten Jahren besser und tiefgründiger Mutter-Tochter-Dynamiken darstellen können.

    2/5 Sterne
    James Percival Everett
    James (Buch)
    22.04.2024

    „Das ist kein lustiges Abenteuer, Huck.“

    Zumindest vom Namen her kennt so ziemlich jeder und jede „Die Abenteuer des Huckleberry Finn“ von Mark Twain. Dort erlebt der Halbwaise Huck zusammen mit dem entlaufenen Sklaven Jim so einige Abenteuer entlang des Mississippi Mitte des 19. Jahrhunderts. Percival Everett schnappt sich nun die Romanvorlage von Twain, den er sehr verehrt (siehe Danksagung: „Sein [Mark Twains] Humor und seine Menschlichkeit haben mich beeinflusst, lange bevor ich Schriftsteller wurde.“), und erweitert diesen Klassiker um den Blickwinkel des Sklaven Jim.

    Everett löst dies sehr geschickt, indem er die Passagen auserzählt bzw. hinzuerfindet, in denen im Originaltext Huck und Jim voneinander getrennt sind. Erfährt man bei Twain ausschließlich, was Huck in diesen Episoden passiert, ist es bei Everett umgekehrt. Wir begleiten die gesamte Zeit über Jim und mit zunehmenden Verlauf weicht Everetts Roman sowie Everetts Jim auch mehr und mehr vom Originaltext ab. Wir werfen quasi einen Blick hinter die Kulissen von Twains Roman, denn Jim erschien damals eher eine Kulisse für Hucks Abenteuer zu sein. Nun spielt er die Hauptrolle und somit erfahren sehr viel über die Lebensrealität von Sklaven in der damaligen Zeit.

    Hier macht sich Everett, wie auch schon in „Die Bäume“, das Stilmittel der phantastischen Elemente zunutze. Denn Jim kann nicht nur lesen und schreiben, was damals nur ganz, ganz selten überhaupt der Fall war, sondern er liest auch noch aus der Bibliothek von Richter Thatcher Bücher von Voilaire und anderen Philosophen und Gesellschafts-/Staatstheoretikern. Jim ist hochgebildet. Überhaupt erfährt man schon auf den ersten Seiten, dass alle Sklaven in diesem Roman „zweisprachig“ aufwachsen. Sie können ganz regulär Standardenglisch sprechen, was sie allerdings nur tun, wenn sie sich untereinander unterhalten, und wenn sie mit Weißen sprechen, nutzen sie eine vereinfachte und grammatikalisch falsche „Sklavensprache“. Denn die Weißen sollen sich überlegen fühlen. So heißt es im Buch „Es lohnt sich immer, Weißen zu geben, was sie wollen“, denn „je besser sie sich fühlen, desto sicherer sind wir.“ Eine Feststellung, die noch bis in die Gegenwart hineinreicht, wenn Schwarze Eltern ihren Kindern beibringen, wie sie sich weißen Polizisten gegenüber verhalten sollen, damit sie ja nicht aus Versehen bei einer Polizeikontrolle umgebracht werden. Und mit diesem Verweis in unsere heutige Zeit ist gleich die Tiefgründigkeit und Doppeldeutigkeit des vorliegenden Romans skizziert. Everett hat definitiv keinen einfachen historischen Roman geschrieben, nein es handelt sich meines Erachtens um Gegenwartsliteratur, die das historische Setting nutzt, um nicht nur die lebensbedrohliche Realität für Schwarze in der Vergangenheit aufzuzeigen, sondern auch immer wieder Querverweise in die Gegenwart zu geben und weiterhin bestehende Probleme anzuprangern.

    Hatte ich zunächst noch Probleme mit dem Tempo, der Struktur des Romans, der nun einmal stark an den Abenteuerroman angelehnt ist, waren mir die Episoden zu schnell erzählt und wechselten von einer Szene in die nächste hopplahopp. So ergriff mich „James“ im späteren Verlauf immer mehr. Ich habe den Roman zu Beginn als sarkastisch und beißend empfunden, nie lustig/witzig/amüsant, wie es bei Twain der Fall war. Später wird er immer ernster und tonnenschwer, indem er immer stärker von "Die Abenteuer des Huckleberry Finn" abweicht und - nicht nur - in die (Überlebens-)Realität von James eintaucht. Hier bleibt der Autor vom Stil her der Vorlage treu, es sind meist sehr kurze, "abenteuerliche" Sequenzen, die schnell wechseln. Das ist grundsätzlich ein Stil der mir nicht gut gefällt, aber ich kann nachvollziehen, warum sich hier Everett anpasst an Twains Vorlage. Umso stärker der Roman ein Eigenleben entwickelt und auch immer stärker der "Sklave Jim" zum "freien Mann James" wird, umso stärker hat der Roman mir gefallen. An einer Stelle sagt James zu Huck: „Das ist kein lustiges Abenteuer, Huck.“ als es um das Leben als Schwarzer geht. Und dieser Satz unterstreicht hervorragend nicht nur den Unterschied zwischen Twains und Everetts Werk sondern auch die Wichtigkeit von dieser literarischen Ergänzung Everetts zum Schlüsselwerk der US-amerikanischen Literatur.

    Mir hat der Roman als Ganzes sehr gut gefallen. Das liegt vor allem an Everetts Ideen, wie er das Thema Sprache, Intelligenz, Bildung und die damit einhergehende Gefahr für die Unterdrücker umgeht. Er zeigt auf, dass Schwarze eben nie per se "dumm" waren, sondern genauso intelligent (oder eben nicht), wie alle anderen Menschen auch. Gleichzeitig zeigt er, wie (überlebens)wichtig ein an die Unterdrückung angepasstes Verhalten für die damaligen Sklaven war.

    Die Übersetzung von Nikolaus Stingl finde ich, besonders unter Betrachtung der „Sklavensprache“, „eine spezielle Ausprägung des Südstaatenenglisch, die im 19. Jahrhundert von Schwarzen gesprochen wurde und in Grammatik und Aussprache stark vom Standardenglisch abweicht“ (aus den Nachbemerkungen des Übersetzers), äußerst gelungen und auch dessen Nachbemerkungen erscheinen mir interessant und wichtig.

    Somit handelt es sich hierbei um einen wichtigen Roman, der den Klassiker „Die Abenteuer des Huckleberry Finn“ von Mark Twain keinesfalls vollständig ersetzen will, sondern eine dringliche Ergänzung zu der bisherigen Charakterisierung und der Geschichte der Sklaven in den USA darstellt. Ein Roman, der definitiv eine Leseempfehlung von mir erhält, auch wenn er meines Erachtens an den Vorgänger „Die Bäume“ nicht heranreicht.

    4/5 Sterne
    Und alle so still Mareike Fallwickl
    Und alle so still (Buch)
    18.04.2024

    Eine feministische Utopie und Dystopie zugleich

    Mareike Fallwickl ist für ihre feministischen Inhalte bekannt. In ihrem aktuellen Roman „Und alle so still“ treibt sie dies auf die Spitze, indem sie ein Szenario entwirft, welches zu dem Zusammenbruch bekannter Strukturen führt, weil sich Frauen verweigern.

    Die Prämisse des Romans wird gleich mit dem ersten Kapitel mit der Überschrift „Die Pistole“ vorgelegt: Hier wird es gewaltsam und nicht friedlich bleiben. „Die Pistole“ ist neben „Die Berichterstattung“ und „Die Gebärmutter“ eine aus sich heraus sprechende Entität, die neben den im personalen Erzählstil gehaltenen Kapitel der Protagonist:innen Elin (Anfang 20jährige, gut situierte Influencerin und Tochter der Feministin der Dritten Welle Alma), Nuri (19jähriger Sohn einer sri-lankischen Mutter und eines deutschen Vaters aus der Arbeiterschicht, lebt in prekärsten Lebensumständen) und Ruth (55jährige Krankenschwester am absoluten Leistungslimit), im Buch auftreten. Fallwickl begleitet nun eine Woche lang diese Figuren und zeichnet nicht nur die Entwicklung der Personen sondern auch die besorgniserregenden Entwicklungen in der Gesellschaft nach. Denn plötzlich beginnen immer mehr Frauen ihre bezahlte und unbezahlte Care-Arbeit niederzulegen und sich selbst gleich noch mit dazu. Sie liegen regungs- und sprachlos vor Krankenhäusern, Kindergärten und anderen Einrichtungen. Habe keine Forderungen, schreien keine Parolen. Sie verweigern sich. Und es schließen sich immer mehr diesem stillen Protest an. Innerhalb weniger Tage passiert das, was schon seit längerem in der Theorie vorhergesagt wird: das System bricht zusammen, denn die Frauen sind durchaus systemrelevant. Nach erstem Unverständnis kippt die Stimmung schnell und es kommt zu gewalttätigen Übergriffen auf die Frauen, welche aber weiterhin still zusammenhalten und sich gegenseitig unterstützen.

    Fallwickl entwirft in ihrem Roman eine Utopie und eine Dystopie zugleich. Utopisch ist sicherlich die Idee, dass sich tatsächlich eine kritische Masse an Frauen zusammenschließt und vollkommen solidarisch sich verweigert. Schon Karl Marx und Friedrich Engels forderten „Proletarier aller Länder, vereinigt euch!“, hier könnte es heißen „Frauen aller Länder, vereinigt euch!“. Der erste Ruf war schon wünschenswert, aber utopisch, der zweite ist es ebenso. Trotzdem ist es hoch interessant dieses Gedankenexperiment einmal mit all seinen Konsequenzen durchdekliniert zu lesen. Denn hier kommt das dystopische Momentum ins Spiel: Welch schreckliche Szenarien muss man sich konkret dann vorstellen? Krankenhäuser, in denen Chaos herrscht und die Patient:innen unterversorgt wegsterben (wir sind nicht weit davon entfernt!), Gruppen von überforderten Männern, die unberechenbar werden, (aber auch Männer, die sich mit den Frauen solidarisieren und ihnen helfend zur Seite stehen!), ein Gesellschaftssystem, welches die Arbeit der Frauen nicht annähernd ausreichend wertschätzt und diese gleich verteilt, und deshalb über kurz oder lang zusammenbricht. In dieser Fiktion passiert es über kurz, nämlich innerhalb weniger Tage.

    Zunächst hatte ich Probleme in den Text hineinzufinden, da das erste Figurenkapitel mit der Influencerin Elin auf mich durch und durch abstoßend wirkte. Erst nach und nach habe ich in die Geschichte hineingefunden, die allerdings meines Erachtens nicht so genial konstruiert ist, wie dies bei „Das Licht ist hier viel heller“ der Fall war. Die Geschichte greift nicht so gut ineinander, der Spannungsbogen erscheint mir insgesamt nicht so richtig konsistent. Trotzdem hat mich die Autorin in vielen Einzelszenen richtig fest packen und sogar zu Tränen rühren können. Wie eindringlich sie den dreizehnten Nachtdienst am Stück von Ruth beschreibt, auf einer unterbesetzten Station, allein mit 24 hoch pflegebedürftigen Menschen, vollkommen überfordert und schon weit über der Leistungsgrenze. Wie aufrüttelnd die prekäre Lebenssituation und die scheußlichen Arbeiten, die Nuri für einen Lohn ausführt, der nicht mehr zum Leben reicht. Das ist schon großartig gemacht.

    Insgesamt macht dieser Roman unglaublich wütend. Wütend ist man über das Gefälle, welches immer noch existiert, welches geändert gehört. Aber auch die Autorin weiß darauf kein Patentrezept. Sie legt ihren Roman als Gedankenexperiment an, eines welches wahrscheinlich nie in der Realität umgesetzt wird. Aber sich damit zu beschäftigen, hat mir unglaublich angeregt. Auch wenn also der Roman für mich literarisch nicht ganz rund wirkte, so bekommt er doch von mir eine Leseempfehlung ausgesprochen. Inhaltlich hat er mich total angesprochen. Nun muss ich nur noch endlich „Die Wut die bleibt“ lesen, denn lässt doch Fallwickl eine ihrer Figuren im Roman, der wie eine Fortführung des eben genannten wirkt, fragen: „Und was kommt nach der Wut?“ Das vorliegende Buch scheint die Antwort zu geben, denn wie es dort auch heißt „[sind] diese Frauen […] die Knochen nach einem Ermüdungsbruch. Sie sind durchgescheuert, angeknackst, verschlissen.“ und nun gehen sie einen neuen Weg und es entsteht „Die Panik, das Wissen, wie verkehrt alles läuft und dass niemand es erkennt, aber auch die Ratlosigkeit und die Verlorenheit, weil es abseits der Norm keine Wege gibt, nur Dickicht.“ Dieses einmal außerhalb der Norm denken, gefällt mir am Roman.

    4/5 Sterne
    Wo die Asche blüht Nguyen Phan Que Mai
    Wo die Asche blüht (Buch)
    15.04.2024

    Über die ungewollten Kinder des Vietnamkrieges

    Die Autorin Nguyễn Phan Quế Mai hat aus der Forschung zu ihrer Promotion nach siebenjähriger Arbeit einen mitreißenden Roman über die vergessenen Kinder amerikanischer Soldaten des Vietnamkrieges geschaffen. Mit dem Kriegseintritt der USA 1963 in den Vietnamkrieg (welcher wohlgemerkt aus dem von Frankreich losgetretenen Indochinakrieg entstand) bis zu dem überstürzten Abzug der US-amerikanischen Truppen zehn Jahre später 1973 entstanden gewollt oder (meistens) ungewollt tausende Kinder aus Beziehungen oder Prostitutionsleistungen zwischen vietnamesischen Frauen und amerikanischen Männern. Nguyễn Phan Quế Mai erzählt nun aufgespalten in verschiedene Erzählstränge sowohl die Geschichte von jungen vietnamesischen Frauen zur Zeit des Krieges, amerikanischen Soldaten während und nach dem Krieg als auch sogenannten „Amerasiern“ (den Kindern aus den o.g. Verbindungen) nach dem Krieg und damit der Übernahme des Südens Vietnams durch die kommunistischen Truppen des Nordens.

    Die Autorin verwebt sehr geschickt die Geschichten verschiedener betroffener Personen in ihrem Roman. So begleiten wir die 18jährige Trang mit ihrer 16jährigen Schwester Quỳnh 1969 aus einer Provinz nach Saigon, die dort aufgrund von finanziellen Sorgen der als Reisbauern tätigen Eltern als sogenannte „Barmädchen“ anheuern und nicht nur mit amerikanischen Soldaten flirten sondern sie auch sexuell befriedigen sollen. In einem weiteren Zeitstrang im Jahre 2016 lernen wir Phong kennen, der nun knapp über 40 Jahre alt, versucht seine Eltern aufzuspüren. Denn er ist optisch eindeutig der Sohn eines Schwarzen Soldaten, wurde jedoch direkt nach seiner Geburt in einem Waisenhaus abgegeben und musste ein fürchterliches Leben fristen als „Kind des Feindes“. Zuletzt lernen wir noch Dan kennen, der als 20jähriger Soldat in Vietnam gekämpft hat und in 2016 mit seiner Ehefrau Linda als therapeutische Intervention aufgrund seiner Posttraumatischen Belastungsstörung zurück in das Land seiner Alpträume reist. Was seine Frau nicht weiß: Auch er hat damals ein Kind mit einer Vietnamesin gezeugt.

    Durch einen gekonnten Wechsel zwischen diesen Erzählsträngen entwirft die Autorin nun eine Geschichte um die Schicksale, die ein so fürchterlicher Krieg hervorbringt. Wobei sie die Auswirkungen des Krieges jenseits der daraus resultierenden Toten und Verletzten darstellt. Sie verzichtet größtenteils auf Gewaltdarstellungen, sondern deutet nur an. Es geht ihr um die Überlebenden, die ein Leben lang - und über mehrere Generationen hinweg - mit den Folgen umgehen müssen. Gleichzeitig schafft sie mithilfe ihrer Figuren und deren Erfahrungen und Unterhaltungen untereinander ein tiefgreifendes Verständnis dieses Krieges ganz ab von den in der westlichen Welt verbreiteten Filmen. Denn auch wenn in der westlichen Popkultur meist Antikriegswerke entstanden sind, sind diese doch fast ausschließlich aus Sicht von US-Amerikanern gezeichnet. Ein Manko, welches auch schon und noch deutlicher Nguyễn Thanh Việt (in Deutschland unter Viet Thanh Nguyen bekannt) in seinem großartigen Roman „Die Sympathisanten“ anprangerte.

    Nguyễn Phan Quế Mai gibt ihren Figuren die nötige Tiefe, sodass der Roman nie rein programmatisch wirkt, sondern immer auch emotional berührt. Er liest sich unglaublich süffig und fesselt bis zur letzten Seite. Ich konnte das Buch kaum aus der Hand legen. Und während man diese mitreißende Geschichte liest, lernt man unglaublich viel über diesen komplizierten Konflikt und die Folgen für das Land und die Menschen bis in die heutige Zeit hinein.

    Allein gegen Ende kommt es zu einer Plotentwicklung, die mir etwas zu überzufällig erschien, weshalb ich nicht ganz die volle Punktzahl vergeben kann. Mit Blick auf das gesamte Werk fällt dies jedoch nicht schwer ins Gewicht. Denn insgesamt handelt es sich um einen unglaublich lesenswerten Roman, der geschickt konstruiert ist und durch seiner Figurenzeichnung besticht. Deshalb gibt es von mir eine eindeutige Leseempfehlung für „Wo die Asche blüht“. Und wer sich noch weiter ins Thema einlesen möchte, dem seien die Werke von Nguyễn Thanh Việt ans Herz gelegt.

    4,5/5 Sterne
    Unlearn Patriarchy 2 Ireti Amojo
    Unlearn Patriarchy 2 (Buch)
    25.03.2024

    Sehr informative und abwechslungsreiche Zusammenstellung

    Im zweiten Band mit der Prämisse „Das Patriarchat verlernen“ stellen Emilia Roig, Alexandra Zykunov und Silvie Horch als Herausgeber:innen einen bunten Mix aus Themen zusammen, die aufzeigen, wie stark unsere heutige Gesellschaft weiterhin historisch fest verankerte, patriarchale Systeme als Grundlage haben und somit eine Ungleichheit weiterhin besteht. Die Essays zielen dabei allerdings nicht darauf ab, allein mit dem erhobenem Zeigefinger zu arbeiten, sondern weisen stets auch einen sowie persönlichen als auch systemischen Weg aus dem Ungerechtigkeitssystem.

    So versammelt der Band, nachdem er eingangs einige grundsätzliche Begrifflichkeiten wie z.B. „BIPoC“, „cis“, „intersektional“ etc. erläutert, 13 Essays von insgesamt 14 Autor:innen, darunter auch eine der Herausgeber:innen Alexandra Zykunov zu den Themengebieten Körper, Architektur, Erziehung, Sport, Ableismus, Recht, psychische Gesundheit, Klasse, Gender Pay Gap, Kreig und Genozid, Kirche, Medizin sowie Literatur. Aus dieser Liste geht bereits hervor, dass sich die Autor:innen bzw. Wissenschaftler:innen nicht „nur“ mit weißen feministischen Themen beschäftigen, sondern jedes Feld intersektional betrachten, d.h. „unter Beachtung der Verschränkung und Wechselwirkung (englisch: intersection) verschiedener Unterdrückungssysteme und Diskriminierungsformen wie Sexismus, Rassismus, Ableismus, Klassismus, Homo- und Transdiskriminierung“. Soll heißen, es ist nicht nur nachgewiesen so, dass weiße, cis Frauen eine schlechtere medizinische Versorgung erhalten, sondern vor allem dass – kommen mehrere Faktoren zusammen – eine noch viel schlechtere Versorgungssituation für z.B. eine Schwarze, arme Frauen, die zusätzlich eine geistige Behinderung aufweist, nachweisbar ist.

    Gerade diese immer wieder in den Texten anhand von Beispielen und wissenschaftlichen Untersuchungen nachgewiesenen Diskriminierungen in der heutigen Zeit rütteln auf und berühren beim Lesen immer wieder. Wichtig ist für mich, dass die Texte größtenteils auf wissenschaftlichen Daten basieren und dies auch sehr ausführlich durch die Anmerkungen im Anhang untermauert wird. So kann niemand mehr die Augen vor den Ungerechtigkeiten mit der Begründung verschließen, dass seien doch alles nur subjektive Einschätzungen und Befindlichkeiten. Da es sich um Essays handelt, gibt es meist zu Beginn oder zum Ende eines Textes hin durchaus auch persönliche Schilderungen von Lebensumständen oder Geschehnissen, die die jeweilige Autor:in betrifft, so funktionieren nun einmal Essays, aber dies wird immer im Text verdeutlicht und nie vermischt. Die Essays sind allesamt unheimlich kluge, wissenschaftlich fundierte Kommentare zur Entstehung und aktuellen Situation von gesellschaftlichen Problembereichen.

    Allein im allerersten Text zu Thema „Körper“ von Yassamin-Sophia Boussoud erschien mir die Wortwahl manchmal gefühlt etwas unwissenschaftlich. Dieser Text ist inhaltlich definitiv auch erhellend und lesenswert, leider enttäuschte er mich sprachlich, werden doch recht heftige Formulierungen genutzt wie „Fickbarkeit“ oder recht sperrige Formulierungen angewandt. Darin kommen Sätze vor wie: „Meines Erachtens lässt sich diese Theorie auch auf dicke, fette, dick_fette, mehr- und hochgewichtige, nicht normschöne Schwarze und Braune Frauen, weiblich gelesene und weiblich misgenderte Personen anwenden.“ Zum einen wird leider nirgends, auch in den Anmerkungen nicht, erläutert, wo der Unterschied zwischen den verschiedenen Bezeichnungen für Übergewichtigkeit liegt, zum anderen verliert man hier ab und an den Faden, wenn alle Varianten einzeln aufgezählt werden. Somit vermute ich, dass Leser:innen, die sich dieses Buch ganz unbedarft greifen, um einmal einen ersten Blick in diese Themenbereiche zu werfen, gerade vom ersten Text über „Körper“ abgeschreckt werden könnten. Hätten die Herausgeber:innen diesen in die Mitte des Buches gesetzt, wären die Leser:innen schon quasi „im flow“ und der Text dadurch leichter verständlich.

    Insgesamt kann man für dieser detaillierten, gehaltvollen Zusammenstellung nur den Hut ziehen und sich darüber bestens ein breites Wissen aneignen, um sich die vielfältigen, real existierenden Diskriminierungen in unserer Welt vor Augen zu führen. Wer darüber hinaus tiefer in gewisse Themen einsteigen möchte, bekommt durch die ausführlichen Literaturhinweise im Anhang die Chance dazu.

    Da mir persönlich noch der Vorgängerband fehlt (übrigens ist es nicht zwingend notwendig diesen vorab gelesen zu haben), werde ich diesen nun auch noch lesen, denn man wird durch die Lektüre definitiv klüger und auch schlagfertiger für gewisse Diskussionen.

    4,5/5 Sterne
    Essex Dogs Dan Jones
    Essex Dogs (Buch)
    21.03.2024

    Der Alltag von Söldnern im Hundertjährigen Krieg

    Der britische Historiker Dan Jones veröffentlicht mit „Essex Dogs“ seinen ersten historischen Roman und man merkt es diesem Buch an, dass es hier dem Verfasser um historische Genauigkeit ging und nicht um eine glorreiche Darstellung des Krieges und seiner Helden.

    „Essex Dogs“ ist in der Anfangszeit des Hundertjährigen Krieges (1337 bis 1453) zwischen England und Frankreich angesiedelt. Nun stehen sich 1346 die Heere vom englischen König Edward III. und seinem französischen Cousin König Philipp gegenüber, nachdem die 15.000 Mann mit mehreren Tausend Schiffen von England über den Ärmelkanal übergesetzt sind. Genau dort setzt die Handlung ein, auf einem kleinen Boot mit den zehn Kämpfern der Gruppe genannt „Essex Dogs“. Schnell wird klar, dass die Heere auf Söldnergruppen bestehen, denen es prinzipiell egal ist, für wen sie wo und gegen wen kämpfen. Es ist ihr Broterwerb, mehr nicht. Im Laufe des Buches verfolgen wir den sogenannten „Edward III. Feldzug (1346/47)“ und begleiten die Essex Dogs auf ihrem Weg durch die Normandie, bis kurz vor Paris und dann wieder nach Norden Richtung Calais.

    Jones macht in seinem Roman deutlich, dass der Kampf im Heer eines mittelalterlichen Königs keinesfalls ein glanzvoller Job war. Von tagelangen Fußmärschen, Hunger, wenn die Nahrung ausgeht, über verschlissenes Schuhwerk und Rivalitäten innerhalb des Heeres, lässt er nichts aus. Genauso wenig wie das Brandschatzen, den Mord, die Plünderungen. Das liest sich insgesamt sehr aufschlussreich und hält auch die nicht sonderlich bekannte Erkenntnis bereit, dass es damals z.B. schon ein Opiatpulver gab, von dem Kämpfer abhängig werden konnten. Wir sind also ganz nah am Arbeitsalltag dieser Söldner dran. Das liest sich recht unterhaltsam, wirkt über die 470 Seiten hinweg manchmal aber auch etwas ermüdend, da sich natürlich einiges auch wiederholt. Den Schlachtszenen konnte ich mit imaginierten Bildern nicht immer folgen, da das Ganze nun einmal auch tatsächlich damals ein ganz schönes Gewusel war. Die Figuren entsprechend schon den Standardcharakteren, die man in so einem Trupp vermuten würde. Ab und an blickt man etwas tiefer in ihre Köpfe (besonders in den des Anführers „Loveday“), da hätte ich mir aber definitiv mehr gewünscht. Manche Verhaltensweisen blieben mir auch nicht nachvollziehbar. Auffällig ist, dass diese kleine Gruppe von Söldnern irgendwie über den gesamten Feldzug hinweg immer wieder mit den Top-Rittern der Truppe zusammenarbeiten und dadurch natürlich immer ganz vorn bei den interessanten Kämpfen mit dabei sind. Soll heißen: Der Roman schwankt zwischen der unglaublich Genauigkeit, mit der der Alltag dieser Männer beschrieben wird, und gleichzeitig habe ich mich häufiger gefragt, wie wahrscheinlich es gewesen sein mag, dass dieses verranzte, zusammengewürfelte Grüppchen tatsächlich mit den höchsten des Stabs zu tun gehabt hätte. Hier sollte sicherlich ein Szenario geschaffen werden, welches die Action eines Blockbusters über die 470 Seiten hinweg aufrechterhalten sollte.

    Zuletzt muss ich sagen, dass mich zwei Dinge sehr gestört haben, die auch miteinander zusammenhängen. Es taucht ziemlich zu Beginn eine Frauenfigur auf, die dann immer mal wieder in merkwürdigen Szenen kurz erscheint, etwas nicht Nachvollziehbares tut und dann wieder verschwindet. Das ist im Roman vollkommen unzusammenhängend und wird auch nicht nachvollziehbar aufgelöst. Und das hängt sicherlich damit zusammen, dass es sich hierbei um den ersten Band einer Trilogie handelt. Hier stört mich, dass dies nirgends auf dem Buch ersichtlich ist. Allein in den biografischen Angaben zum Autor ist von der „Essex-Dogs-Trilogie“ die Rede. So könnte man sich vorstellen, dass diese mysteriöse Frauenfigur später noch einmal eine Rolle spielen wird und es auch Erklärungen für ihr Verhalten geben wird. Darauf muss man sich meines Erachtens aber auch einstellen können. Soll heißen: Mir wäre es wichtig gewesen, dass es einen deutlicheren Hinweis vom Verlag gibt, der aufzeigt, dass man sich gerade den ersten Band einer Reihe gekauft hat. So lässt man sich doch ganz anders auf die Geschichte ein.

    Abschließend muss ich sagen, dass ich gut unterhalten wurde und auch das ein oder andere zum damaligen Leben als Söldner erfahren habe. Das Buch habe ich nicht ungern gelesen, merke aber, dass ich die folgenden beiden Teile, welche sicherlich bald auch im Deutschen erscheinen werden, nicht zwingend lesen muss.

    3/5 Sterne
    Das andere Tal Scott Alexander Howard
    Das andere Tal (Buch)
    20.03.2024

    Interessant gemachtes moralphilosophisches Gedankenexperiment

    Mit seinem ersten Roman „Das andere Tal“ entwirft der promovierte Philosoph Howard eine Welt nicht nur mit einem interessanten metaphysischen Grundkonzept sondern auch mit Denkanstößen zu moralphilosophischen Fragen. Das geschieht im Gewand eines zunächst sogar eher wie ein Jugendbuch anmutenden Romans, der sich in der zweiten Hälfte zu einer hoch spannenden Lektüre entwickelt und eine unerwartete Auflösung bietet.

    Odile ist gerade sechzehn geworden und lebt auf den ersten Blick das Leben einer durchschnittlichen Jugendlichen, die aber nicht so recht in die Gruppendynamiken der Schule passt. Man merkt schnell, dass die Stadt, in der sie lebt, irgendwie anders ist, als das, was wir von unserer Gegenwart kennen. Die Stadt, die verwendete Technik, die Personen scheinen wie aus der Zeit gefallen. Unbestimmbar. Und mit „der Zeit“ hat es hier auch etwas ganz Besonderes auf sich, denn die Stadt befindet sich in einem Tal und würde man nach Westen reisen, ins nächste Tal, befände sich dort der gleiche Ort aber 20 Jahre in der Vergangenheit. Der nächste Ort im Westen, wieder weitere 20 Jahre (also insgesamt 40 Jahre) in der Vergangenheit. In Richtung Osten würden wir uns in die Zukunft, auch in 20er Schritten, bewegen. Nun steht Odile zwar eigentlich „nur“ vor der Entscheidung, die jede Person zum Abschluss der Schulzeit treffen muss, nämlich welche Ausbildung sie beginnen möchte. Doch ihre Geschichte ist komplizierter, da sie sich für das Conseil bewirbt, welches eine Art ethisches Gericht ist, welches entscheidet, wer im Trauerfall die Wanderung in die Vergangenheit antreten darf, um seine Liebsten noch einmal aus Entfernung sehen zu können. Gleichzeitig wird sie verstrickt in genau einen solchen Vorgang und folgenschwere Geschehnisse werden losgetreten.

    Scott Alexander Howard hat hier ein wirklich spannendes Gedankenexperiment um Zeitreisen, Trauer und ethisch-moralische Entscheidungen entworfen. Durch seine Prämisse der zeitverschobenen Täler umgeht er technische Fragen zum Thema Zeitreisen komplett, wenn auch nicht die daraus entstehenden Paradoxa. Es macht Spaß diesem Gedankenexperiment zu folgen, auch wenn in der ersten Hälfte des Romans es manchmal so wirkt, als ob der Autor Vignetten mit moralischen Fragestellungen aus seinen Philosophieseminaren eingebunden hat. Das wirkt zunächst ein wenig didaktisch und könnte daher auch durchaus für den Schulunterricht genutzt werden. Trotzdem bleibt der Roman für erwachsene Leser:innen auch immer interessant und wird im Verlauf immer spannender. Zuletzt habe ich richtig mit der Protagonistin mitgefiebert und wollte das Buch gar nicht mehr aus der Hand legen. Der Autor löst ein gewisses Problem des hiesigen Zeitreisekonzeptes geschickt auf und lässt die Geschichte von Odile wunderbar offen.

    Sprachlich liest sich der Roman, wenn man sich erst einmal an die mitunter wenig gängigen französischen Namen gewöhnt hat, sehr flüssig runter, ohne zu simpel geschrieben zu sein. Den Charakteren, auch neben Odile als Ich-Erzählerin, folgt man sehr gern. Howard kann die Atmosphäre dieses Tals ganz wunderbar heraufbeschwören, sodass man problemlos in die Geschichte eintauchen kann und vor dem inneren Auge einen spannenden Film sieht. Apropos Film: Das Buch soll als Miniserie verfilmt werden, was man sich bei diesem Stoff sehr gut vorstellen kann.

    Insgesamt hat mich der Roman nicht nur sehr gut unterhalten sondern gleichzeitig ein interessantes, für mich ein neues Konzept für Zeitreise entworfen und Fragen zum Thema Trauerarbeit aufgeworfen. Erfrischend.

    4,5/5 Sterne
    Weltalltage Paula Fürstenberg
    Weltalltage (Buch)
    12.02.2024

    Eine Annäherung über Listen

    Ich sitze hier und versuche mir einen schmissigen Titel für die Rezension zu diesem großartigen Buch einfallen zu lassen. Da „Weltalltage“ von Paula Fürstenberg aber so vielschichtig und im wahrsten Sinne des Wortes „unbeschreiblich“ ist, fällt es mir schwer, einen solchen Titel zu finden.

    Auf der aller obersten, oberflächlichen, inhaltlichen Ebene dreht sich der Roman um die Freundschaft der Erzählerin mit Max. Beide in der DDR kurz vor der Wende geboren und gefühlt schon immer befreundet. Dabei war Max immer der Aufpasser für die Erzählerin, denn diese ist chronisch krank seit der Kindheit, leidet unter anderem an einem medizinisch nicht erklärbaren Schindel, der sie häufig in die Knie zwingt und für sie lebensgefährlich wird, wenn sie z.B. schwimmen gehen will. Das Gefüge zwischen den beiden: Sie die Kranke, Er der Gesunde; bleibt bis sie Dreißig sind so bestehen, bis Max langsam in eine Düsternis abrutscht, die beide nicht schnell genug als eine Depression erkennen. So einfach, so profan. Aber dann kommen noch die anderen Ebenen zum Vorschein.

    So betrachtet Fürstenberg auch den Zusammenhang von Biografien und Erkrankungen mit gesellschaftlichen Rahmenbedingungen. Auf einer soziologischen Ebene begleiten wir Kinder, die in der strukturlosen Nachwendezeit aufwachsen, deren alleinerziehende Mütter überfordert sind und um die existenziellen Grundlagen ihrer Familien kämpfen müssen, wodurch sie fast keine Kapazitäten für die Bedürfnisse ihrer Kinder mehr haben. Diese retten sich durch das Klammern aneinander.

    Und eine Ebene weiter ist Fürstenbergs Roman eigentlich gar kein „richtiger“ Roman, denn er besteht ausschließlich aus Listen. Listen, welche nicht aus reinen Stichpunkten bestehen, aber nach denen der Zettelkasten dieser Freundschaftsgeschichte geordnet ist. Das Buch beginnt mit der „Liste möglicher Anfänge dieser Geschichte“. Wir finden bald heraus, warum hier ertastet werden muss, wie der Anfang der Freundschaft zustande gekommen ist. Denn die Erzählerin ist Schriftstellerin, Max ist Architekt. Die Schriftstellerin versucht ein Buch zu schreiben und muss ihre Ideen und Gedanken irgendwie zusammenbringen. Dies gelingt ihr durch Listen. So kommt die „Chronik einiger Verletzungen, die ihr euren Müttern zufügt“ ebenso vor wie ein „Amtliches Verzeichnis einiger Gespräche zwischen Max und dir, die im Nachhinein betrachtet nicht so optimal gelaufen sind“. Anhand dieser übergeordneten Punkte ergibt sich mehr und mehr ein tiefgründiges Bild nicht nur dieser besonderen Freundschaft, sondern auch der Biografien der Figuren, deren Befindlichkeiten und Sorgen.

    Weiterhin enthält dieses Buch fast essayistische Passagen, in denen Krankheitsentstehung, die Wahrnehmung von Krankheit in der Gesellschaft, Diagnoseodysseen, die misogyne Medizingeschichte, Krankheit als Metapher in literarischen Texten usw. erforscht werden. Hier werden viele konkrete Zitate eingebunden, die im Anhang des Buches durch ein entsprechendes Literaturverzeichnis unterlegt werden.

    Und auf einer Metaebene beobachten wir auch die Figur der fiktiven Schriftstellerin dabei, wie sie diesen Roman, den wir hier in Händen halten, überhaupt erst entwirft. Wie sie gegen Wände rennt, wie sie mit Max verhandeln muss, ob Passagen über ihn im Buch vorkommen dürfen, wie sie eine erzählerische Stimme findet: „Dies ist auch die Geschichte eurer Freundschaft und die begann 1999 in der siebten Klasse. Da hast du noch keine Selbstgespräche in der zweiten Person geführt, da hast du noch ich gesagt, wenn du ich meintest.“ Denn der Text ist vollständig in der Du-Form verfasst. Da muss man sich erst einmal zu Beginn des Buches hineinfinden, aber nach der Eingewöhnungszeit passt diese etwas distanzierte Form perfekt, wird mensch beim Lesen doch dadurch auch immer mit angesprochen.

    Und auch wenn das alles jetzt unglaublich überkonstruiert klingt, ist es das dann bei der Lektüre gar nicht so sehr. Alles fließt wunderbar dahin, alles greift ineinander und ergänzt sich, lässt sich wunderbar lesen. Der Text ging mir an vielen Stellen ganz nah, entlockte mir immer wieder Tränen. Dieses Buch ist ein „Ja genauso ist/war es“-Buch für Menschen mit chronischen Erkrankungen, mit Ärzt:innenodyssee, mit „Migrationshintergrund“ aus dem nicht mehr existenten Staat DDR, eine Migration, für die man nicht einmal umziehen musste, und mit vielem mehr in ihrem Erlebnishorizont. Und es ist ein Buch für Menschen, die zwar all diese Erfahrungen nicht gemacht haben, aber die es besser verstehen wollen, wie es sich damit anfühlen kann.

    Für mich persönlich stellt dieses Werk von Paula Fürstenberg ein wahres Highlight dar. Ein Roman, den ich in dieser kreativen Form und mit so eindringlich und authentisch vermittelten Inhalten noch nie gelesen habe. Ich bin restlos begeistert und ich weiß, egal, was ich hier schreibe, es wird sowieso weder dem Roman noch meiner Begeisterung gerecht, die ich beim Lesen empfunden habe.

    Deshalb:

    10/5 Sterne… nein natürlich 5/5 Sterne, geht ja nicht anders. ;)
    Die sieben Monde des Maali Almeida Shehan Karunatilaka
    Die sieben Monde des Maali Almeida (Buch)
    02.02.2024

    Komplizierter Roman für komplizierte Verhältnisse

    In seinem mit dem Booker Prize 2022 ausgezeichneten Roman „Die sieben Monde des Maali Almeida“ verarbeitet der Sri Lanker Autor die blutige Geschichte seines Heimatlandes. Im Roman dreht sich alles um einen Bürgerkrieg in den 1980er Jahren, der unter verschiedensten ethnischen Gruppen zu vielen Todesopfern, Gefolterten und Vermissten unter Einmischung anderer Großmächte wie den USA oder Indien geführt hat. Und man muss ganz ehrlich mit sich sein: Wer hat hier in Deutschland denn schon einmal davon überhaupt gehört? So ist es Karunatilaka hoch anzurechnen, dass er nun dieses Thema für ein breites Publikum öffnet und Bewusstsein für die Geschehnisse schafft.

    Karunatilaka wählt für seinen Roman ein sehr ungewöhnliches Setting. Sein Protagonist Maali Almeida ist schon zu Beginn des Romans tot. Trotzdem wird er und seine Geschichte die Triebfeder für den 540 Seiten langen Roman, denn es gilt für ihn rauszufinden, wie er umgekommen ist, denn er hat mit heiklem Material gearbeitet, welches die Machthaber potentiell in große Rechtfertigungsnot bringen könnte. Maali war nämlich Kriegsfotograf und hat einige der schlimmsten Massaker der sri-lankischen Geschichte abgelichtet. Diese belastenden Fotos müssen nun posthum zur Veröffentlichung gebracht werden, sonst scheint alles umsonst gewesen. Der verstorbene Protagonist Maali hat sieben Tage und Nächste (Monde) Zeit, in der er sich in einer von umherirrenden Geistern gefüllten Zwischenwelt aufhält, um nicht nur seinen Mörder ausfindig zu machen sondern sich auch um seinen Nachlass zu kümmern. So ist der Roman auch eingeteilt in die sieben Abschnitte passend zu den Monden. Maali interagiert mit anderen Geisterwesen aber auch noch Lebenden aus der Zwischenwelt heraus, beobachtet die Vorgänge unter den Lebenden und muss sich gleichzeitig gegen Wesen behaupten, die ihn (einfach gesagt) zur vorgeblich dunklen bzw. zur vorgeblich hellen Seite des Nachlebens bewegen wollen. Dieses mystische Konstrukt wird zum einen aufgebaut, zum anderen wird aber auch der Bürgerkriegskonflikt Sri Lankas dargestellt sowie ein krimihafter Plot entworfen, dem der Protagonist folgt. Formell muss der Roman also schon einiges leisten. Noch viel mehr muss er inhaltlich leisten, denn der Konflikt und das Verständnis darum, welche Konfliktpartei jetzt eigentlich gegen wen kämpft muss außerdem aufgebaut werden. Das ist für uns unwissende Mitteleuropäer:innen sehr schwer verständlich und über weite Strecken des Romans undurchsichtig. Somit ist der Roman auf der stilistischen wie auch der inhaltlichen Eben hoch kompliziert aufgebaut.

    Zugegeben über zwei Drittel des Romans hinweg hatte ich mit dem Verständnis des Grundkonflikts zu kämpfen. Es wird zwar auf Seite 42ff. mithilfe eines schriftstellerischen Tricks eine kurze Übersicht über die unzähligen Konfliktparteien geliefert, aber man behält trotzdem im Laufe der ausufernden Handlung nur schwer den Überblick darüber. Auch finde ich es schade, dass es zwar ein Glossar am Ende des Buches für die vielen Eigenwörter gibt, leider die Begriffe nicht im Text gekennzeichnet wurden. Hier habe ich im Zweifel immer einen klaren Wunsch an die Verlage: Nutzt Fußnoten direkt auf den Fließtextseiten! So kann man direkt im Lesefluss einen neuen Begriff verstehen und in das Gelesene einbinden.

    Der Protagonist Maali ist neben seiner riskanten Tätigkeit als Kriegsfotograf nun auch noch ein echter Player beim Thema Sexualkontakte. Das Thema der Homosexualität zu dieser Zeit in diesem Land wird aber wenig kritisch beleuchtet. Eher vögelt der Protagonist wild mit allem, was nicht bei drei auf den Bäumen ist, und man fragt sich am Ende des Romans wirklich, ob hier jede männliche Figur homosexuell sein soll. Gefühlt (und nach meiner Erinnerung sogar im Text genannt) gibt es hunderte Sexualpartner Maalis. Er ist aber auch im Casino ein Player, was ihn auf allen Ebenen zu einem Draufgänger-Typ macht. Ganz so eindimensional wird er dann aber doch nicht von Karunatilaka dargestellt, sondern bekommt schon noch die ein oder andere Facette.

    Insgesamt muss ich konstatieren, dass mir dieser Roman zu ambitioniert angelegt ist. Meines Erachtens ist es sinnvoll, um den Lesenden wichtige Themen näherzubringen, dass man ein komplexes Thema entweder formell in etwas einfacherem Rahmen darstellt oder man bearbeitet ein recht eingängiges Themengebiet, dieses dann aber stilistisch in der Schreibweise und Konstruktion des Romans anspruchsvoll bzw. komplex. Beides zusammen in einem Buch ist leider sehr undurchsichtig und hält ganz schwer die Motivation zum Weiterlesen aufrecht. Karunatilaka hat ja immerhin ein Anliegen, welches er vermitteln möchte. Im letzten Drittel des Romans, wenn man dann ein kleines Bisschen die historischen Zusammenhänge begriffen hat, entwickelt der Roman dann doch noch einmal einen Sog.

    Für diesen auf mehreren Ebenen hochkomplexen Roman braucht man also wirklich Durchhaltevermögen, dann weiß man auch nach der Lektüre ein wenig mehr über Sri Lanka als vorher.

    3,5/5 Sterne
    Wo ich wohne, ist der Mond ganz nah Cho Nam-Joo
    Wo ich wohne, ist der Mond ganz nah (Buch)
    22.01.2024

    Turnen auf dem Mond

    Die 36jährige Go Mani hat ihr gesamtes Leben in einem „Mondviertel“ Seouls verbracht. Nun könnte man denken, dass „Mondviertel“ für ein besonders exklusives Wohnerlebnis steht, leider ist dem nicht so. Es handelt sich hierbei um Viertel mit kleinen, ärmlichen Häuschen auf steilen Hügeln am Rande von Seoul, die durch die Höhenmeter „dem Mond nahe“ sind. Diese „Nähe zum Mond“ bedeutet aber im Umkehrschluss eine Distanz zum Seouler Stadtkern mit seinem Fortschritt und Wohlstand. So wächst Mani in Armut bei ihren Eltern auf, mit denen sie mit Ende Dreißig immer noch zusammen im verfallenen Elternhaus lebt. Sie gilt (vielleicht nicht nur) für südkoreanische Verhältnisse als gescheiterte Existenz. Aus dem Wunsch einer Karriere als Turnerin ist nicht geworden, nach zehn Jahren Anstellung in einer Firma als „Tippse für alles“ wird sie gefeuert, sie ist weiterhin unverheiratet und das Elternhaus soll abgerissen werden, um der fortschreitenden seouler Stadtentwicklung Platz zu machen.

    An diesem Punkt setzt der Roman von Cho Nam-Joo (Autorin von „Kim Jiyoung, geboren 1982“) ein und erzählt aus der Ich-Perspektive von Mani mithilfe ihren Erinnerungen in Form von Rückblenden deren bisherigen Lebensweg und weiteres Fortkommen. Durch konventionelles Erzählen versucht uns der Roman mit solidem Erzählstil die Geschichte dieser Frau näher zu bringen. Nun ist es aber so, dass ich eher unbeteiligt diesen Roman gelesen habe, die Charaktere blieben mir immer ein bisschen fern und kamen mir eben nicht nahe, jedenfalls nicht im Sinne von Sympathien. Denn der Umgang untereinander ist über weite Strecken sehr herzlos. So wird die Mutter von Mani von ihr als eine Frau beschrieben, die in früher Kindheitsjahren eine Entwicklungsverzögerung hatte und bis zum heutigen Tage geistig eingeschränkt ist. Das wird nicht so vorsichtig formuliert, wie ich dies gerade getan habe, sondern leider eher abfällig und wenig liebevoll. So erscheint mir auch die Personenzeichnung der Mutter inkonsistent. Wird zunächst beschrieben, dass es eine merkliche Entwicklungsverzögerung mit kognitiven wie auch emotionalen Einschränkungen gibt, heißt es nach einem Zusammenbruch der Mutter bei einem für sie überfordernden Elterntreffen in der Schule „Auch die Lehrerin musste gewusst haben, meine Mutter war vollkommen gesund, aber ich schämte mich für sie.“ Die Mutter wird aber eindeutig als nicht gesund im Buch beschrieben. An anderer Stelle geht es um die schlechte finanzielle Situation der Familie, die im Winter nur selten heizt und mitunter wenig Essen auf dem Tisch hat. Mani soll auf eine Schule mit Turnabteilung gehen, die Eltern verzweifeln über die finanzielle Belastung einer Privatschule, der Vater bekommt einen Herzinfarkt, aber im gleichen Absatz heißt es, ohne zu erläutern, wo denn nun das Geld für die Privatschule hergekommen ist: „Das (der Herzinfarkt) hätte wirklich böse enden können. In die neue Schule ging ich aber trotzdem wie geplant.“ So relativ plump werden Fakten häufig einfach proklamiert in diesem Roman. Cho Nam-Joo geht größtenteils nach dem Prinzip „Tell, don‘t show“, statt andersherum, vor. Keine Frage, dabei bekommt man einige Einblicke in die südkoreanische Gesellschaft, vor allem eben in die unterste Schicht dieser, lernt einiges zur Stadtentwicklung Seouls in den 1980er, 90er, 00er Jahren, aber packen konnte mich die Geschichte dadurch nicht so richtig.

    Sprachlich mutet außerdem etwas merkwürdig die zwischenzeitlich kurz auftretende lapidare Umgangssprache. An Stellen der direkten Rede, an denen gezeigt werden soll, dass die sprechende Person eben Umgangssprache spricht, ist das verständlich. Aber im Rahmen der Rückblicke, die und Mani aus ihrer nun Ende Dreißigjährigen Sicht erzählt, wirkt dies vollkommen unpassend, zumal wir wissen, dass sie mittlerweile das College besucht hat, also einen höheren Bildungsweg und Bürotätigkeiten nachgegangen ist. So kommt es wie Sätzen, die wie dieser hier endet: „Der eigenen Not durch Gesetzesvorstöße, Gesetzesumgehung und Tugendlosigkeit entgehen zu wollen, ist normal, den Dornenweg brav und ehrbar beschreiten zu wollen, ist bescheuert.“ oder „Ich sprang auf und zog meine Hose und Unterhose herunter. Ein dunkelbrauner Fleck. Scheiße. Da hatte ich dem beschissenen Gezanke nun also einen Schlusspunkt gesetzt, indem ich mir selbst in die Hose geschissen hatte.“ oder es ist von „beschissenen Schließfächern“ die Rede, etc. Die Übersetzung des vorliegenden Romans stammt von Jan Henrik Dirks, der nach Ki-Hyang Lee (die kongenial „Kim Jiyoung, geboren 1982“ übersetzte) und Inwon Park (Übers. von „Miss Kim weiß Bescheid“) nun schon der dritte Übersetzer ins Deutsche von Cho Nam-Joo Texten ist. Bei drei deutschsprachigen Übersetzungen insgesamt. Ob es nun an der Übersetzung liegt, oder am Originaltext kann ich nicht beurteilen, nur sind mir solche Formulierungen aus den beiden anderen genannten Veröffentlichungen nicht bekannt. Positiv anzumerken ist erstmalig das Nutzen von Fußnoten, die gewisse südkoreanische Begriffe im Anhang erklären. Leider sind diese ab und an obsolet. Steht zum Beispiel im Text (frei zitiert) „wie eine Braut trug ich folgende Kleidungsstücke…“ wird dazu im Anhang erklärt „Traditionelles Erscheinungsbild der koreanischen Braut bei einer Hochzeit“. Das ergibt sich dann durchaus schon aus dem Originaltext heraus. An anderer Stelle fehlt eine genaue Erläuterung, die man sich zum tieferen Verständnis gewünscht hätte.

    Inhaltlich bietet der vorliegende Roman als neue Facette sicherlich das Thema der Stadtentwicklung Seouls und der damit einhergehenden Verdrängung der ärmeren, einheimischen Bevölkerung im Rahmen des rasanten Fortschritts Seoul in den letzten Jahrzehnten. Bezüglich der vielen Beispiele an konservativen, mitunter misogynen, südkoreanischen Konventionen hat meines Erachtens „Wo ich wohne, ist der Mond ganz nah“ nicht viel Neues zu bieten. Dies kann auch am Veröffentlichungszeitpunkt des Originaltextes liegen und an dem, was wir mittlerweile an Texten aus Südkorea hier in Deutschland lesen konnten. Denn wichtig ist anzumerken: Der Originaltext stammt, wie auch „Kim Jiyoung, geboren 1982“ aus dem Jahre 2016! Nachdem mit „Miss Kim weiß Bescheid“, im Original 2021 erschienen (Dtl. 2022), eine aktuelle Kurzgeschichtensammlung veröffentlicht wurde, greift bei „Wo ich wohne, ist der Mond ganz nah“ der Verlag auf einen alten Text zurück. Und im direkten Vergleich, kann dieser Roman einfach nicht mit der Innovation und erzählerischen Raffinesse (wir erinnern uns an die Erzählperspektive!) mithalten. Sicherlich hat diese deutschsprachige Erstveröffentlichung auch ein Existenzrecht, keine Frage, ich wüsste aber im Zweifel, welches Buch der Autorin ich Interessierten empfehlen würde...

    Somit stellt „Wo ich wohne, ist der Mond ganz nah“ einen guten Roman dar, den man lesen kann, aber nicht muss, wenn man schon zwei, drei südkoreanische Romane mit ähnlichen Themenfeldern gelesen hat. Gestalterisch passt er auf jeden Fall sehr schön in die eigene Sammlung der Cho Nam-Joo Romane.

    3/5 Sterne
    Nachbarn Diane Oliver
    Nachbarn (Buch)
    22.01.2024

    Einblicke in einen segregierten Alltag

    Die Wiederentdeckung der Kurzgeschichten der Schwarzen Autorin Diane Oliver ist ein Glücksfall für die heutige Zeit. Wäre die 1943 geborene Autorin nicht mit nur 22 Jahren tragisch bei einem Motorradunfall ums Leben gekommen, sie hätte eine Wegbegleiterin der Literaturnobelpreisträgerin Toni Morrison werden können.

    In diesem nun erstmals im Deutschen veröffentlichten Erzählungsband greift die Autorin immer wieder alltägliche Situationen aus dem Leben in den Südstaaten der USA zur Zeit der Rassentrennung auf. Damals galt zwar schon, die Bürger der USA seien „gleich“ aber man hielt sie weiterhin voneinander getrennt. Getrennt in den Bussen, getrennt in der Schule, getrennt in Restaurants oder auf Toiletten. Genau während der Hochphase der US-amerikanischen Bürgerrechtsbewegung zwischen den späten 1950er und späten 1960er Jahren spielen die Geschichten von Diane Oliver. Hier geht es um Alltagsheldinnen, deren Ängste, Wünsche und Freuden nie den Weg in die allgemeine Geschichtsschreibung gefunden haben.

    So dreht sich die titelgebende und auch erste Geschichte des Bandes „Nachbarn“ um eine Familie, die am Tag vor der Schuleinführung des Sohnes mit sich aufgrund der Anfeindungen, die bereits eingegangen sind und noch bevorstehen werden, hadert, ob sie ihn tatsächlich als erstes und einziges Schwarzes Kind auf eine rein weiße Schule schicken sollen. Es wäre nun ihr Recht, aber was steht dabei auf dem Spiel? In einer anderen Geschichte begleiten wir eine junge Frau, die ihren gesamten Schulweg immer „die erste Schwarze“ unter Weißen gewesen ist und nun auf dem College an dieser Bürde psychisch zerbricht. Aber Diane Oliver bewegt sich mit ihren Geschichten keinesfalls nur in der Gruppe der intellektuellen und tatkräftigen Vorkämpfer:innen der damaligen Bewegung, auch auf die Menschen, die weit davon entfernt sind, überhaupt die Kraft erübrigen zu können, für ihre Rechte zu kämpfen, wirft sie ein Schlaglicht. Auf die Schwarzen Frauen, die sich alltäglich unter Weißen abrackern und doch ihre Familie kaum über Wasser halten können. Die in einem diskriminierenden Gesundheitssystem unvorstellbare Hürden auf sich nehmen, um eine Grundversorgung zu erhalten. Die ihre Kinder vor dem Hungertod retten müssen, während sich ihre Männer aus dem Staub machen. Es werden aber nicht nur ausschließlich Schwarze Protagonistinnen in den Geschichten vorgestellt, auch gibt es weiße Personen, die langsam ihre traditionell konservativen, rassistischen Südstaatler-Ansichten hinterfragen und versuchen neue Wege zu gehen.

    Diese Kurzgeschichtensammlung besticht durch ihre Intersektionalität von Race, Gender und Class und wirkt trotz der historischen Gegebenheiten nie veraltet, sondern im Gegenteil brandaktuell, sind doch dunkelhäutige Frauen aus einer niedrigen sozioökonomischen Schicht immer noch weitverbreitet die am meisten benachteiligte Bevölkerungsgruppe. Die Gruppe, die am meisten für ihre Rechte kämpfen muss. Diesen Kampf zeigt Oliver mithilfe der antirassistischen sozialen Bürgerrechtsbewegung Mitte des vergangenen Jahrhunderts in den USA auf. Dieses Buch wird auch heutzutage noch zu Diskussionen anregen und ist durch die mitunter überraschenden Wendungen in den einzelnen Geschichten und Durchmischung der Themen durchgängig interessant. Sprachlich bewies die Autorin schon in jungen Jahren ein Talent für das pointierte Geschichten erzählen, schade dass wir sie nie als sich noch weiter entwickelnde Autorin kennenlernen können. Wie es bei solcherart Zusammenstellungen immer ist, stellt nicht jede Erzählung ein Highlight dar, das liegt in der Natur der Sache, trotzdem erkennt man eindeutig das Talent der Autorin sowie die Dringlichkeit ihrer Anliegen und liest (fast) jede Geschichte atemlos und begeistert. Eine wirklich wichtige Wiederentdeckung!

    4,5/5 Sterne
    Meine Männer Victoria Kielland
    Meine Männer (Buch)
    29.09.2023

    Schwammig, verschwurbelt, vage

    Die Norwegerin Victoria Kielland beschäftigt sich in ihrem Roman „Meine Männer“ mit der historischen Figur der Brynhild/Bella/Belle Gunness, einer Frau, die aus Norwegen um die Jahrhundertwende 1900 herum in die USA auswanderte und dort begann ihre Ehemänner bzw. später auch Anwärter auf eine Ehe umbrachte. Der Roman setzt bereits beim ärmlichen Leben der Siebzehnjährigen (damals noch) Brynhild auf einem norwegischen Bauernhof, auf welchem sie als Magd angestellt ist, ein. Sie scheint wild verliebt in den Hoferben, lässt sich auf sexuelle Kontakte ein, die zwischen leidenschaftlichem und gewaltvollem Sex oszillieren und wird von ihm schwanger. Nach der Offenbarung ihm gegenüber prügelt er nicht nur das Kind aus ihr heraus, sondern scheinbar auch einen Teil ihres Vertrauens in die Menschen, spezieller die Männer. Nach dem Umzug in den Norden der USA beginnt sie Männer aus dem Weg zu räumen und sackt deren Geld ein, um vorgeblich ihre Kinder zu ernähren.

    Das, was in der oben zusammengefassten Inhaltsangabe so verständlich und übersichtlich klingt, ist es im Text von Kielland keinesfalls. Kielland schreibt in einer Art und Weise vage, verschwurbelt, schwammig und nichtssagend, dass man zwischenzeitlich vergisst, um was es im Roman eigentlich geht. Obwohl nur 185 Seiten kurz, erschien dieser Roman so unaushaltbar lang, wie die Sätze der Autorin. Da der Schreibstil nicht immer mal wieder zwischendurch nur einen verschachtelten, vagen Satz präsentiert, über den man dann genüsslich nachdenken könnte, sondern durchweg derart formuliert wird, verliert man irgendwann die Lust daran, das Geschrieben tiefgründig verstehen zu wollen. Was zu Beginn noch wie die poetische, intensive Darstellung der ersten, verhängnisvollen Liebe dieser zukünftigen Serienmörderin wirkt, stellt sich schnell als durchgängiger Schreibstil heraus, der in seiner Schwammigkeit und künstlicher Aufgeladenheit mit philosophischer Tiefe das eigentliche Geschehen vollkommen überdeckt. Zwischenzeitlich hatte ich sogar vergessen, dass es um eine Mörderin geht, so vage werden ihre Handlungen dargestellt. Man springt von einer Anekdote zur nächsten, ohne sich irgendwo festhalten zu können.

    Um vorab besser einschätzen zu können, ob man diesen Schreibstil aushält, habe ich hier nur drei Stellen herausgegriffen, die aber exemplarisch für den gesamten Roman stehen, für jeden einzelnen Satz in diesem Buch:

    „Der durchgeprügelte Kopf, der Druck hinter den Augen, es hörte nie auf, jedes Mal explodierte dieselbe Erinnerung und rieselte langsam zu Boden, das schmelzende schwarze Licht breitete sich in jeden Winkel aus und stachelte hoch ins Gesicht, Gottes große Hand hob sie empor durch die Nacht, hinauf ins Licht, durch die Wolken hindurch, bis sie unter sich das sandig wüste Flussbett sah, alles was noch immer dort am Grund lag, trug sie zwischen den Bäumen hindurch, zu der stinkenden schwarzen Lache.“ (S. 51)

    Am Anfang eines solchen Bandwurmsatzes hat man noch das Gefühl: Okay, ich habe eine Ahnung, was gemeint sein könnte. Aber mit zunehmender Aneinanderreihung von merkwürdigen Metaphern, verliert man jeglichen Halt und fragt sich, warum man das noch liest.

    Im Verlauf wird es aber auch nicht besser:

    „Bella war umgeben von ihresgleichen, Blut, Tränen und Urin, es flimmerte lautlos und ruhig, die Trauerweiber, die dasselbe Schiff genommen hatten wie sie, Familien, die lebten und starben, und trotzdem erkannte sie sich nicht wieder, es gab keine bewährte Liebe, nur einen Hauch Routine.“ (S. 121)

    oder

    „Und die anhaltendste Bewegung war weder Sehnsucht noch Liebe, sondern das Schlagen der Schmetterlingsflügel im Garten, war der Tod, das Auge, das dauernd Blickkontakt aufnahm, das anhaltendste, ewige Flimmern.“ (S. 157)

    Alles verstanden? Es ändert übrigens nichts, wenn man den Kontext kennt, aus dem diese Zitate stammen.

    Es tut mir leid, sehr hätte mich dieses Thema der ersten großen weiblichen Serienmörderin der USA literarisch aufgearbeitet interessiert. Aber bei dieser unglaublich vagen Sprache, konnte ich leider nicht viel bis gar nichts aus der Lektüre mitnehmen, denn an keiner Stelle (außer zu Beginn) hat mich dieser Roman abgeholt und mitgenommen in das Leben und die Psyche von Brynhild/Bella/Belle, von der ich so gern mehr erfahren hätte. So bleibe ich ahnungslos zurück und kann leider auch meinerseits nicht die Lektüre weiterempfehlen. Und dabei hat mich das tolle Cover doch gleich angelockt, die Leseprobe zumindest Interesse geweckt, der Roman dann aber doch enttäuscht. Schade.

    2/5 Sterne
    Das Ende ist nah Amir Gudarzi
    Das Ende ist nah (Buch)
    30.08.2023

    Vom nur scheinbaren Aufstieg aber der Psyche im freien Fall

    In Amir Gudarzis Debütroman „Das Ende ist nah“ entwirft er die Geschichte des jungen Mannes A., welcher nach den Protesten 2009 in seinem Heimatland Iran eigentlich nach Kanada flüchten will, aber in Österreich hängen bleibt. Wir begleiten ihn nun nicht nur auf seinem Weg durch den unbarmherzigen Dschungel der Bürokratie und des gesellschaftlichen Lebens in Österreich hin zum anerkannten Asyl, sondern auch durch Rückblicke in seine Vergangenheit und zu den Geschehnissen, die ihn letztlich zur Flucht gezwungen haben.

    A. ist Student des Faches „Szenisches Schreiben“ in Teheran als die Proteste gegen das Mullah-geführte Regime immer dringlicher und auch gefährlicher für die Teilnehmenden wird. Im sozialen Brennpunkt im Süden Teherans aufgewachsen, geht A. den Weg der Bildung, der ihn mitten ins Herz der Proteste führt und damit auch zu polizeilichem Arrest und Folter. Als ihm später eine Gefängnisstrafe droht, verlässt er das Land und landet in Österreich. Dort wird zwar zum Glück keine Folter mehr angewandt, trotzdem scheint der Aufenthalt im Transit zwischen anerkanntem Asyl und einer unvorhersehbaren Ausweisung zurück nach Iran psychisch immer belastender für A. zu werden. Häufig mit Ignoranz und Hass konfrontiert und nur selten mit Mitmenschlichkeit und Wärme verschlechtert sich A.s Zustand rapide. Die wankelmütige Beziehung zur deutschen, in Wien lebenden Sarah scheint A. eine Zeit lang Halt zu bieten, ihn jedoch auch zunehmend zu belasten.

    Amir Gudarzi, dessen Erlebnisse aus seinem eigenen Leben sicherlich in diesem Roman mit eingeflossen sind, wobei das Ausmaß nicht abzuschätzen ist, brilliert in seinem im Deutschen verfassten Debütroman mit einer überraschenden Romankonstruktion und einer fesselnden Sprache zwischen poetischen Formulierungen und berichtartigen Beschreibungen von grauenvollen Erlebnissen sowohl im Iran als auch in Österreich. Wie klar und ungeschönt sich Gudarzi mit seinem Heimatland aber auch der österreichischen Gesellschaft und ihre Reaktion auf den Geflüchteten A. auseinandersetzt, ohne ausschließlich einseitig zu erzählen, hat mich vollends überzeugt. Ist der Roman noch zu Beginn von schwer verdaulicher, physischer Gewalt geprägt, nimmt mit dem Wechsel nach Österreich immer stärker die psychische Gewalt zu, die auf A. trifft. Grandios ist letztlich gemacht, wie Gudarzi unter anderem durch die Einteilung des Buches in die Abschnitte von „Mezzanin“ (für alle, die es nicht wussten – ich gehöre dazu – ist dies ein in Österreich gebräuchlicher Begriff für ein Halbgeschoss) bis „Vierte Etage“ den bürokratischen Aufstieg A.s bis zur Anerkennung des Asylantrags darstellt und gleichzeitig in einer Gegenbewegung sich der psychische Zustand der Figur aufgrund der massiven Belastungen, unter denen er zu leiden hat, zunehmend verschlechtert. Die Figur Sarah, welcher immer ausgedehntere Kapitel für ihre Sichtweisen zur Verfügung gestellt werden, spielt dabei eine wichtige Rolle. Sind teilweise ihre Passagen durchaus anstrengend in der Lektüre, hat das alles doch einen Sinn, den wir allerdings erst zum Schluss erfahren. Somit lohnt sich bei diesem Roman eine Zweitlektüre ganz besonders.

    Mir hat der Roman wirklich ausgesprochen gut gefallen. Sowohl der Erzählstil als auch die Konstruktion des Romans haben mich von Beginn an ganz fest gepackt und bis zuletzt nicht mehr losgelassen. Ich konnte mit jedem Szenenwechsel sofort in die Atmosphäre der Szenerie, ob nun Rückblick in die Vergangenheit oder Geschehen in der Gegenwart des Romans, eintauchen und habe alles bildlich vor mir gesehen. Gudarzi spielt auch mit den Zeitformen und den Erzählperspektiven, begründet dieses Spiel aber ganz klar mit Hinweisen Text:

    „Ich schreibe auch jetzt im Präsens, weil ich versuche, alles zu rekonstruieren, alles aufs Neue zu erleben. Ich könnte auch in der Vergangenheitsform schreiben, aber ich schaffe es nicht, weil ich offensichtlich etwas verloren oder vergessen habe und es dort wiederfinden muss. Beim Schreiben springe ich immer zwischen den Zeiten hin und her – die Sprache als Zeitmaschine.“

    Ich habe durch den Roman von Amir Gudarzi wirklich sehr viel Neues sowohl über die Zustände im Iran als auch bezogen auf die Zeit nach dem Ankommen in einem Land, welches noch nicht das Asylgesuch einer geflüchteten Person anerkannt hat, entdecken können, weshalb er von mir definitiv die volle Punktzahl bekommt. Diesen Autor werde ich auf jeden Fall im Blick behalten, denn er ist eindeutig für unkonventionelle Überraschungen gut.

    5/5 Sterne
    Terafik Nilufar Karkhiran Khozani
    Terafik (Buch)
    30.08.2023

    Nilufars Reise nach Iran und in die Vergangenheit

    Die Veröffentlichung „Terafik“ der Autorin Nilufar Karkhiran Khozani trägt die Beschreibung „Roman“ auf dem Cover, erscheint aber sehr nah an der Autorin selbst und ihrer ersten Reise als erwachsene Frau in das Geburtsland ihres Vaters entlang geschrieben zu sein.

    Die Romanfigur Nilufar Karkhirian Khozani begibt sich nicht nur rein physisch das erste Mal nach Iran, sondern kehrt mithilfe von Erinnerungen zurück in ihre eigene Kindheit und das Aufwachsen in ihrem Heimatland Deutschland mit einem iranischen Vater, der, als Nilufar auf der Schwelle zur Teenagerzeit steht, kurz nach der Trennung von ihrer Mutter Deutschland wieder verlässt und nach Iran zurückkehrt. Auch seine Erlebnisse in Deutschland während des Ingenieurstudiums und darüber hinaus flechtet die Autorin – hier sicherlich besonders stark fiktionalisiert – in ihren Roman ein. So entsteht ein Geflecht aus autobiografischen Anteilen aus Ereignissen während der Reise Nilufars nach Iran, ihren eigenen Erinnerungen an das Aufwachsen und (kursiv im Text hervorgehoben) den Erlebnissen des Vaters in Deutschland, welches Nilufars Familiengeschichte vor allem väterlicherseits formt.

    Für mich besonders interessant an diesem Roman sind die Beschreibungen des Besuches in Iran. Hier erleben wir mit Nilufar, wie es ist, in Deutschland nicht als „Deutsche“ zu gelten und in Iran nicht als „Iranerin“. Ein Eindruck, welchen viele - wenn nicht gar fast alle - Menschen, deren Eltern aus verschiedenen Kulturen stammen, teilen. Nilufar muss sich in die iranische Gesellschaft mit ihren rigiden Vorgaben für Frauen einfinden und bleibt stets wie ein Fremdkörper in diesem ausgeklügelten Tanz aus Verboten und kleinen Grenzüberschreitungen im Privaten. Die Beobachtungen in Iran sind damit die eindrücklichsten des Romans für mich. Auch die geschilderten Erfahrungen des Vaters in Deutschland und das Aufwachsen Nilufars sind nicht uninteressant, gleichen sich aber auch naturgemäß bereits existierenden Berichten von Eingewanderten und deren Nachkommen.

    Sprachlich erschien für mich der Roman besonders zu Beginn sehr stark. Wenn immer wieder Gleichnisse verwendet werden, um die Eindrücke des Vaters zu verdeutlichen. Eine unheilvolle Atmosphäre entsteht hier sehr drängend:

    „In der Dämmerung zogen schwarze Wolken auf, vereinzelte Tropfen schlugen auf dem Asphalt ein wie Granaten, ein Vogel schoss auf das Fenster zu, ein dumpfer Klang wie ein Fingertipp auf ein Mikrofon. […] Jeder Schritt, den er den Flur hinab tat, erschütterte die alten Dielen unter dem Linoleum, mit jedem Schritt hinterließ er kaum sichtbare Kerben im Boden der Fachhochschule. Ein Wasserfall strömte auf die angestaubte Stadt. […] Seine Hände waren immer schon Fäuste gewesen.Ein ganzer Fluss rann seinen Körper hinab, er watete durch einen Ozean. […] Der Himmel war Zement. […] Eine Maschinengewehrsalve aus Wassertropfen hämmerte gegen die Fenster.“

    Leider hatte ich das Gefühl, dass diese angedeutete, brutale Intensität dann aber im Roman inhaltlich wie auch sprachlich nicht so richtig eingelöst wird. Eher berichtartig geht es danach weiter, was ich zwar interessiert gelesen habe, aber nicht in das Geschehen mitgerissen wurde.

    Insgesamt ist der Autorin Nilufar Karkhiran Khozani ein sehr guter Blick von innen und außen auf das Leben ihrer Familie in Iran gelungen. An der Figur Nilufar konnte ich allerdings nicht so stark andocken, wie es mir bei anderen Büchern mit ähnlichem Inhalt (z.B. „Die Sommer“ von Ronya Othmann o.ä.) besser gelungen ist. Aus dem Roman werden mir einzelne gesellschaftliche Beschreibung aus Iran im Gedächtnis bleiben, die gesamte Geschichte jedoch leider weniger. Trotzdem gibt es von mir definitiv eine Leseempfehlung für alle, die einen Blick ins Innere dieses kontroversen Landes werfen möchten.

    3,5/5 Sterne
    Sommerwasser Sarah Moss
    Sommerwasser (Buch)
    31.07.2023

    Episoden eines verregneten, schicksalhaften Sommertags

    Wer denkt beim Wort „Sommerwasser“ schon an einen verregneten Urlaub in einer Ferienhaussiedlung an einem schottischen Loch (See)? Bei unserem derzeit (zum Glück!) verregneten Sommer hier in Mitteleuropa ist dieses Szenario vielleicht sich gar nicht so schwer vorzustellen. Aber wem es an Vorstellungskraft fehlt, der wird durch diese großartige Geschichte von Sarah Moss und ihren unbestechlichen Schreibstil definitiv abgeholt und mitgenommen in die Highlands.

    Sieben alte, morsche Holzhäuschen gehören zur kleinen Feriensiedlung, in der der Roman von Moss angelegt ist. Sie werden von jungen und alten Paaren sowie von Familien mit noch ganz kleinen Kindern oder schon fast ganz ausgewachsenen Teenagern bewohnt. Während sich die Handlung über nur einen Sommertag hinweg erstreckt, tauchen wir ganz tief in die Geschehnisse dort ein und schauen fast in jedem Häuschen vorbei. Dabei schnappt sich Moss in jedem Personen-Kapitel ein Familienmitglied und beschreibt deren Gedanken, Gefühle und Handlungen in genau diesem Moment durch die Brille der personalen Erzählerin. Zwischengeschoben sind Kurzkapitel, die die Stimmung in der umgebenden Natur widerspiegeln und immer mehr von Unheil künden.

    Beginnt der Roman noch meines Erachtens recht amüsant mit Einblicken in die Gedanken z.B. einer bei Tagesanbruch joggenden, jungen Mutter, eines pensionierten Arztes, der verwundert die frühmorgendliche Joggerin beobachten oder einer jungen, frisch verlobten Frau, die während des morgendlichen, sportlichen Sexes sich nicht so recht konzentrieren kann. Die Stimmung kippt jedoch zunehmend und das Unheil, welches bereits durch die Zwischenkapitel durch die Naturbeschreibungen angedeutet wird, wird scheinbar immer konkreter. Menschliche Abgründe tun sich auf, wenn Moss so unglaublich authentisch und glaubhaft in die Köpfe von Jungen und Alten, Männern und Frauen hineinspringt und deren Motivationen erforscht. Psychologisch vollkommen schlüssig konstruiert sie ihre Figuren, sodass ein Puzzleteil nachvollziehbar ins nächste passt.

    Wirklich brillant inszeniert Moss diesen nur 180 Seiten kurzen Episodenroman zu einem echten menschlichen Drama, steigert die Spannung sowohl über den großen feriensiedlungsübergreifenden Bogen aber auch immer wieder im Kleinen bezogen auf die Erlebnisse jeder einzelnen Figur, sodass man gar nicht mehr aufhören will, dieses Bravourstück zu lesen, bevor man nicht genau erfahren hat, wie das alles nur ausgehen wird.

    Während der Text ganz nah an den Gedanken der Protagonist:innen entlanggeführt wird, scheint aber auch immer wieder Gesellschaftskritisches durch diese hindurch bzw. wird durch sie verdeutlicht. Somit bekommt der Roman nicht nur eine kluge psychologische Tiefe sondern auch im übergeordneten Sinne weitere Dimensionen.

    Insgesamt konnte mich Sarah Moss‘ Roman von Anfang bis Ende durch seine großartige Figurenzeichnung, die mit Auslassungen spielende Sprache, welche immer zur entsprechenden Figur passt, die heraufbeschworene, unheilvolle Atmosphäre, die Spannung, die Gesellschaftskritik und die kluge Konstruktion der übergreifenden Geschichte uneingeschränkt überzeugen. Deshalb gibt es von mir eine ebenso uneingeschränkte Leseempfehlung für diesen auf vielen Ebenen ausgezeichneten Roman.

    5/5 Sterne
    Die Einladung Emma Cline
    Die Einladung (Buch)
    24.07.2023

    Eine Hochstaplerin betrügt die Schönen und Reichen

    Der englische Originaltitel von Emma Clines Roman „Die Einladung“ ist eigentlich „The Guest“. Meines Erachtens passt dieser Titel dann doch besser als die deutsche Auswahl. Warum? Weil es hier um eine 22jährige, ehemalige Escort-Dame und Hochstaplerin handelt, die sich im Laufe des Romans eine Woche lang durch die High-Society-Strandhäuser in den Hamptons lügt und betrügt. Sie macht sich selbst zum ungebetenen „Gast“, bekommt mitunter nicht einmal eine „Einladung“.

    Aufgrund von Drogenkonsum und entstandenen Schulden ist die junge Alex nämlich gerade nicht gern gesehen in „der Stadt“, in New York. Ihr auf den Fersen: der On-Off-Ex-Freund Dom, ein ungemütlicher Geselle, der das Geld wiederhaben möchte, welches sie nach dem letzten Techtelmechtel hat mitgehen lassen. Nun hat sie sich auf eine neue Masche eingestellt. Statt als Escort-Dame von bessergestellten Männer gebucht zu werden, flirtet sie sich an Simon in einer Bar ran. Dieser ist im Kunstmarkt tätig und nimmt sie als seine „Aushänge“-Freundin mit in seine Villa in den Hamptons. Nach einer Meinungsverschiedenheit wird sie von ihm allerdings eine Woche vor seiner großen Labor-Day-Festivität rausgeworfen und feiert, mogelt, vögelt sich nun bis zum großen Tag der von ihr geplanten Versöhnung durch die Villen der Schönen und Reichen.

    Emma Cline hat einen mitreißenden Schreibstil, sodass man von ihr eingelullt wird, den Betrügereien der Antiheldin Alex auf Schritt und Tritt zu folgen. Zum einen ist man schockiert von ihrer Kaltschnäuzigkeit, wenn sie sich jegliche Vorteile verschafft und diese Menschen skrupellos ausnutzt, zum anderen freut man sich aber auch ein kleines bisschen darüber, dass diese schamlos reichen Menschen ebenso schamlos abgezockt werden. Denn eins beherrscht Cline perfekt, das Darstellen des klaffenden Unterschieds zwischen arm und reich, zwischen Ober- und Unterschicht. Über den Luxus, den sich die Bewohner der Sommerhäuser leisten, schwebt immer auch das Wissen, wie hart das Leben für einen Großteil der Gesellschaft meistens ist. Immer wieder tauchen Bedienstete auf, die legal dort arbeiten, sich aber ebenso verstellen müssen wie Alex. Alex ist zwar eine Betrügerin, was nicht zur feinen englischen Art gehört, aber sie hat eben auch selbst keine Wohnung mehr, steht vor dem Nichts sollte sie nach New York zurückkehren müssen, hat all ihr Hab und Gut in einer Reisetasche dabei, und selbst dieses besteht fast ausschließlich aus den Kleidungsstücken, die Simon ihr gekauft hat.

    Des Weiteren schafft es Cline darzustellen, wie sich diese weibliche Figur Alex in die Köpfe anderer Menschen eingräbt, wie sie in ihrer Zeit als Escort-Dame gelernt hat, sich hundertprozentig auf die Wünsche und Bedürfnisse anderer Menschen einzustellen und sie damit gefügig zu machen. Die tatsächliche Persönlichkeit von Alex verliert sich hinter ihrer Scharade vollkommen. Nie kann man sich beim Lesen des Romans in irgendeiner Weise sicher sein, wie die „wahre“ Alex denkt und fühlt. Vielleicht gibt es sie schon gar nicht mehr hinter den unzähligen Fassaden.

    Das Ende des Romans empfand ich zunächst als zu uneindeutig, zu wenig abschließend bis mir klargeworden ist, dass alles nicht anders hätte kommen können. Man kann Alex‘ Geschichte nicht einfach abschließen, denn für sie geht es ja immer irgendwie weiter. Das sollte man nach den vorangegangenen 300 Seiten begriffen haben.

    Insgesamt hat mir der Roman sehr gut gefallen und ich würde ihn Leser:innen empfehlen, die Antiheld:innen aushalten und sich von einer Begegnung zur nächsten treiben lassen können, ohne immer alles auserzählt zu bekommen. Hier ist eindeutig der Weg das Ziel und es ist interessant dieser Hochstaplerin auf ihrem Weg zu folgen.

    4/5 Sterne
    Idol in Flammen Rin Usami
    Idol in Flammen (Buch)
    19.06.2023

    Zündet leider nicht so richtig

    Für Akari, eine Teenagerin in Japan, steht ihr Idol Masaki, ein Mitte 20jähriger J-Popstar, metaphorisch in Flammen, nachdem er sich einem medialen Shitstorm stellen muss. Er hat nämlich angeblich einen weiblichen Fan geschlagen. Für Akari endet damit nicht etwa ihr Fanatismus für Masaki, nein, sie möchte ihn nun mehr denn je unterstützen und füllt damit eine Leere, die sich in ihr selbst schon seit längerem breitmacht.

    Die junge japanische Autorin Rin Usami gewann mit diesem Debüt im Alter von nur 21 Jahren bereits einen angesehenen, japanischen Literaturpreis. Doch kann sie mit diesem Roman um die Fankultur, ja man kann sagen den Fanatismus einer Teenagerin, in Japan, die massive Konsumorientierung des Pop-Universums und die emotionalen Nöte der Protagonistin auch hier überzeugen?

    Mich hat der Roman besonders zu Beginn stark gefangen genommen. Die Prämisse eines weiblichen Fans, dessen Leben sich tatsächlich ausschließlich um ihr Idol zu kreisen scheint, welcher potentiell ins Schwanken geraten könnte, durch die Enthüllungen um das angebetete Idol bietet viel Sprengkraft. Sehr genau und eindrücklich schildert Rin Usami, wie stark in Japan die Fankultur im Kapitalismus angekommen ist. Dass Fans für ihre Idole all ihr Geld ausgeben. Dass psychologisch geschickte Taktiken angewandt werden, um ihnen noch mehr Geld, mehr als sie vielleicht besitzen, auszugeben. Diese Vereinnahmung der Fans durch die verhängnisvollen Strategien der Pop-Industrie ist aber leider auch das einzige, was mir aus diesem Roman relevant vorkam und auch während und nach der Lektüre in mir weitergearbeitet hat. Diesbezüglich hätte ich mir allerdings auch einen Artikel zum Thema oder eine Doku anschauen können.

    Bezüglich der Figuren, dem Plot und der Entwicklung dieser beiden Komponenten eines Romans bin ich leider enttäuscht worden. Obwohl Akari in ihrer Besessenheit aus der Ich-Perspektive heraus diese sehr deutlich darstellen kann, so bleibt mir die Figur ansonsten recht blass. Das kann Kalkül sein, wird doch – recht trocken – erwähnt, dass sie an einer Depression leide. Mit welcher Verbissenheit sie ihrem Fan-Dasein jedoch nachgeht, lässt jedoch an einer ausgeprägten depressiven Erkrankung zweifeln. Auch wenn man durchaus das Gefühl bekommt, dass diese Art Fanatismus für ein Pop-Idol nicht gesund sein kann. Er wirkt eher, als ob sie diese Diagnose, wie so viele junge Leute heutzutage, wie ein gelegenes Label vor sich herträgt. Der zunächst recht interessant wirkende Plot verläuft sich im Laufe des mit seinen nur 125 Seiten recht übersichtlichen Romans sehr schnell. Es entsteht kein Konfliktpotential und wir kochen auf kleiner Flamme so dahin, ebenso wie Akari.

    Der Schreibstil bleibt ebenso blass und gewöhnlich. Durch große Zeitsprünge innerhalb der Geschichte, hat man das Gefühl hier ganz schnell und eher oberflächlich durch die Geschichte geschickt zu werden, ohne dass eine Bindung zur Figur entstehen kann. So bleibt zwar unterm Strich eine kurzweilige, solide Lektüre aber davon nur wenig letztlich im Kopf hängen. Kann man lesen bei Interesse an den Vermarktungsstrategien der J-Pop-Industrie. Man verpasst allerdings auch nichts, wenn man dieses Buch auslässt.

    3/5 Sterne
    26 bis 50 von 99 Rezensionen
    1
    2
    3 4
    Newsletter abonnieren
    FAQ- und Hilfethemen
    • Über jpc

    • Das Unternehmen
    • Unser Blog
    • Großhandel und Partnerprogramm
    MasterCard VISA Amex PayPal
    DHL
    • AGB
    • Versandkosten
    • Datenschutzhinweise
    • Impressum
    • Kontakt
    • Hinweise zur Batterierücknahme
    * Alle Preise inkl. MwSt., ggf. zzgl. Versandkosten
    ** Alle durchgestrichenen Preise (z. B. EUR 12,99) beziehen sich auf die bislang in diesem Shop angegebenen Preise oder – wenn angegeben – auf einen limitierten Sonderpreis.
    © jpc-Schallplatten-Versandhandelsgesellschaft mbH
    • jpc.de – Leidenschaft für Musik
    • Startseite
    • Feed
    • Pop/Rock
    • Jazz
    • Klassik
    • Vinyl
    • Filme
    • Bücher
    • Noten
    • %SALE%
    • Weitere Weitere Bereiche
      • Themenshops
      • Vom Künstler signiert
      • Zeitschriften
      • Zubehör und Technik
      • Geschenkgutscheine
    • Anmelden
    • Konto anlegen
    • Datenschutzhinweise
    • Impressum
    • Kontakt