Kontemplativer, introvertierter Bach
Kuijken (2009) – Gerlinde Sämann (Sopran I), Petra Noskaiová (Alt I), Christoph Genz (Evangelist, Tenor I), Jan Van Der Crabben (Jesus, Bass I), Marie Kuijken (Sopran II), Patrizia Hardt (Alt II) Bernhard Hunziker (Tenor II) Marcus Niedermeyr (Bass II), La Petite Bande [157:38]
Wenn ich diese Aufnahme höre, so erinnere ich mich unweigerlich an die Sonntage, an denen ich einst früh am Morgen als ganz jungen Chorsänger mit triefender Nase und nicht so recht bei Stimme im Hochchor der Hildesheimer Michaeliskirche gestanden habe, um im Frühgottesdienst mit 3 bis 7 anderen Choristen Schütz-Motetten zu singen. Der Gesang schwebte langsam verklingend durch den großen, schlichten ottonischen Kirchenraum und nicht selten war ich berührter von diesen ganz intimen Momenten als von den Aufführungen großer Oratorien. Ich stellte mir nicht selten vor, wie einst auch Bachs Knaben durch den Regen gelaufen sind, um in der ungeheizten Thomaskirche auf der Empore zu stehen und Musik zu machen: „War es auch in etwa so, als im April 1727 erstmalig die ‚Matthäus-Passion’ durch das Schiff der Thomaskirche schwebte?“
Sicher war es ein insgesamt eher kleinformatiges Ereignis, das sicherlich weder klang wie bei Klemperer, Karajan, Van Beinum noch wie bei Harnoncourt, Herreweghe, Koopman oder Suzuki. Wahrscheinlich gab es keinen Chor, sondern nur Solisten, die sich in den Chorsätzen zusammenfanden. Die bekannten Thesen (und die ebenso bekannte Kontroverse zum Thema) muss ich hier nicht wiederholen, sie sind am Anfang dieses Fadens nachzulesen. Die Aufnahme Sigiswald Kuijkens, die nach ihrem Erscheinen großen Anklang gefunden hat, geht indem er sie solistisch besetzt (wie auch McCreesh) einen großen Schritt zurück zu diesen Wurzeln. Den letzten Schritt – nämlich wie Leonhardt oder Harnoncourt I Knaben singen zu lassen -, den geht Kuijken allerdings nicht. Sein Sängerensemble ist gemischt, es gibt auch keine Counter.
Der „Chorklang“ lässt sofort aufhorchen. Das klingt natürlich im ersten Moment etwas ungewohnt: vollkommen verschlankt, überaus transparent, licht und doch ganz weich im Ton, absolut homogen. Die einzelnen Sänger sind hier ein Klangkörper, keiner sticht hervor keiner gibt den „Primus inter pares“ (mE eine Schwäche der McCreesh-Aufnahme). Die Eckchöre, sowie der Schlusschor des ersten Teiles klingen auf diese Weise ganz wunderbar – geradezu meditativ. Immens eindrucksvoll gelingt im Eingangschor die Darstellung des Sopran-Chorals. Er schwebt ganz leise im Hintergrund, das Geflecht der konzertierenden Stimmen wie der innewohnende Geist, das Pneuma durchziehend.
Die Choräle empfinde ich als ausgesprochen natürlich im Fluss, ganz an der Choralzeile orientiert, sehr dezent, jeder Ton wird wohldurchdacht geformt: alles in allem jeder eine kleine Meditation. Kuijken nimmt sie – wie auch Frans Brüggen – ziemlich zügig, sodass sie kaum nach Gemeindegesang klingen.
Die Turbae sind sehr schwingend, mit viel Drive gespielt, aber im Affekt moderat. Ich kann, wenn ich hier das „Sind Blitze, sind Donner“, das „Er ist des Todes schuldig“, das „Weissage, weissage“ höre, nicht umhin für mich persönlich zu konstatieren: Hier habe ich – historisch korrekt oder nicht – einfach gern etwas mehr Fleisch am Gerippe. Das muss nicht rasend schnell musiziert werden, aber etwas beängstigender darf das für mich schon sein. Sonst können beispielsweise – an dieser Stelle wird mE ein entscheidendes Problem deutlich - die deutlichen Kontraste innerhalb der Kreuzigungsszene verwischen und nur undeutlich wahrgenommen werden. (die „Lass ihn kreuzigen“-Chöre unterscheiden sich klanglich nicht entscheidend vom Choral „Wie wunderbarlich ist doch die Strafe“).
Überhaupt ist die etwas gehemmte Affektivität dieser Aufnahme ihr vordringliches Charakteristikum. Kuijkens Deutung ist durch und durch dezent, bescheiden, verinnerlicht. Diese Haltung scheint mir nicht aufgesetzt, man hört vielmehr eine echte Passionsmusik, ohne jeglichen Tand, demütig, vergeistigt, fast ohne jegliches weltliches, ja: dramatisches Element. Dieser Gestus durchzieht mE das gesamte Musizieren, nicht nur die Darstellung der Chorsätze, sondern auch die der Arien und Rezitative.
Christoph Genz’ Stimme klingt sehr jung, leicht, in der Höhe und auf manchen Vokalen bisweilen mit etwas flachem Ton. Seine Darstellung des Textes hat mE einen stark erzählenden Duktus, er singt durchweg wenig Ton. Manchmal wirkt dadurch die Erzählung auf mich etwas nebensächlich. Ein Sich-Involvieren, ein Aus-Sich-Herausgehen erlebe ich selten.
Die Tenor-Arien und – accompagnati werden ebenfalls sehr zurückgenommen, in „Mein Jesu schweigt zu falschen Lügen stille“ werden Affekte von Bernhard Hunziker zwar angetupft, aber natürlich nicht ausgesungen. Die „Geduld“-Arie steht Hunziker nicht übermäßig gut zu Gesicht. Das Stück bewegt sich am Rande dessen, was für ihn gut machbar ist, sein die melismatischen Passagen auf dem Vokal „e“ („stechen“) klingen dann schon recht quäkig.
Jan Van der Crabben klingt sehr ähnlich. Eine junge, eher kleine Stimme, als Bass sehr hell, in der hohen Lage fast tenoral, vollkommen unpräteniös und in der Darstellung der Jesus-Rolle sehr menschlich. Es ist nicht so sehr der Gottessohn, kein „Meister“, der hier spricht, sondern der Sohn eines Zimmermanns, ein Mann aus dem Volk.
Die Bass-Arien – auch so eine eher expressive wie „Gebt mir meinen Jesum wieder“ (gesungen von Marcus Niedermeyr) – sind (ganz im Sinne der Gesamtanlage) eher weichgezeichnet, werden ohne spürbare innere Erregung vorgetragen. Auch so ein tiefschürfendes Accompagnato wie „Am Abend, da es kühle war“ ist von vollkommener Gleichmut, von barocker Serenitas durchzogen. Die folgende und in meinen Ohren schönste Bass-Arie der Passion „Mache Dich, mein Herze, rein“, gefällt mir Van Der Crabbens sehr zarter Herangehensweise sehr – und das nicht zuletzt, weil sie bisweilen auch etwas Gefühl zulässt.
Gabriele Sämann verfügt über eine außergewöhnlich engelsgleiche Stimme, nicht sonderlich voluminös, dafür ganz licht, irgendwie kindlich und fast schwebend, bisweilen mit einem ganz leichten, angenehmen Vibrato. Dass ihre Tiefe eher dünn ist, vergesse ich angesichts ihres besonderen Tons in der Höhe gern. Allerdings würde ich mir bisweilen doch einen Deut mehr an Expressivität wünschen, was aber wiederum nicht ins Gesamtkonzept passen würde. In der Darstellung der Arie „Aus Liebe will mein Heiland sterben“ kann sie die Vorteile ihrer Stimme wunderbar einsetzen.
Petra Noskaiovás Darstellung der Altarien und –accompagnati ist mE ebenfalls sehr delikat, immer sehr zurückgenommen, selten lauter als Mezzoforte. Das „Erbarme Dich“ nimmt Kuijken zügig (06:01) und ausgesprochen schwingenden. Petra Noskaiová schwebt wie aus dem Nichts hinein, ätherisch, sphärisch, aus einer anderen Welt. Das kann man als stille, fast stumme Trauer verstehen, mich persönlich geht aber ein Vortrag, wie ihn Christa Ludwig oder Anne Sofie von Otter mehr an. Gleiches gilt für das von Patrizia Hardt gestaltete große Accompagnato „Erbarm es Gott!“ und die sich anschließende Arie „Können Tränen meiner Wangen“ (05:57), die mir einfach ein wenig zu beschwingt daher kommen.
Insgesamt finde ich diese Einspielung der „Matthäus-Passion“ auf ihre Weise sehr reizvoll, obwohl ich von dramatischeren Einspielungen schneller mit ins Passionsgeschehen hineingezogen und von ihm angegangen werde. Kuijkens protestantisch-schlichter Ansatz, meidet so gut wie jede Zuschaustellung von Gefühlen und die im Werk mE durchaus aufzufindende Emotionalität. Man mag ihm also, wenn man denn will, eine gewisse interpretatorische Askese vorwerfen. Doch auf der anderen Seite fordert diese Einspielung – und darin liegt mE ihr großes Verdienst – die Mitarbeit des Zuhörers und lässt diesem den Raum zur individuelle Auseinandersetzung mit der Leidensgeschichte, indem sie ihm kaum Affekte zum einfachen Hineinfühlen mit an die Hand gibt. Die eigene Kontemplation wird auf diese Weise nicht von äußeren Reizen gestört. Andererseits kann ich mir vorstellen, dass der Hörer, der die Matthäus-Passion in keiner anderen Interpretation kennt, das Werk so für eher gleichförmig und wenig abwechslungsreich halten mag, was es – ich denke mit der Behauptung stehe ich nicht allein – in keinem Falle ist.