4 von 5
opera
Top 25 Rezensent
20. Juni 2012
Künstlerische Qualität:
4 von 5
Inszenatorisch ambivalent - musikalisch zurück zu den Wurzeln -
Diese Norma beruht musikalisch auf der Rückkehr zum Originalmanuskript. Das bisher verwendete Aufführungsmaterial enthielt viele Zusätze und Änderungen, die Bellinis Originalmanuskript nicht entsprechen.
Rein optisch ist diese Inszenierung aber das Gegenteil einer traditionellen Umsetzung. Die Presse und Opernblogs lieferten ablehnende und begeisternde Kommentare, wie immer bei Konzepten, die nicht rein naturalistisch anschaulich sind.
Luc Joosten inszeniert eine vielschichtige Norma mit einem Bühnenbild von Johannes Leiacker, das eine Mischung aus modernen und traditionellen Ansätzen enthält. Gleiches gilt für die Kostümgestaltung, die für das Konzept der Ineinanderschachtelung von zwei Zeitzonen spricht. Norma findet auf der retrospektiven und der Jetztzeitebene parallel statt. Leider ist das Konzept nicht im Beiheft erläutert. Das Internet gibt entsprechende Auskunft. Damit ist klar, daß sich diese Umsetzung nicht für den rein traditionellen Geschmack eignet.
Das Konzept ist durchdacht und singschauspielerisch gut umgesetzt. Für mich leidet die Musik aber atmosphärisch unter der bildlichen Unausgeglichenheit. Das aber auf rein geschmacklicher Ebene angemerkt, denn die Bewertung solcher Nuancen ist stark subjektiv.
Die Norma wird von Hasmik Papian mit tendenziell schlank ziseliertem Sopran gesungen. Lyrisch überzeugend, dramatisch begrenzt. Gleiches gilt für Irina Tsarikadis als Adalgisa. Beide Stimmen sind dramatisch dynamisch begrenzt, für eine Norma etwas problematisch, je nachdem wie man subjektiv gewichtet. Ich habe live in Düsseldorf sowohl Alexandra von der Weth als auch Catherine Naglestadt als Norma gesehen, beides ganz herausragende, dynamisch expansive Interpretationen. Zudem mit Viktoria Vizin eine exzellente Adalgisa.
Giorgio Guiseppini überzeugt als Oroveso, Hugh Smith als Pollione interpretiert solide.
Julian Reynolds dirigiert das musikalische Konzept, welches im Beiheft ausführlich erläutert ist.
Wer also eine etwas andere Norma erleben möchte ist hier gut bedient, der Traditionelle läßt von dieser Aufführung besser die Finger.
Anmerkung zur Aufführungspraxis von Werken:
Insbesondere an der Entstehungsgeschichte der Norma läßt sich die immer wieder getätigte Forderung, "man möge Werke so zeigen, wie sie der Komponist angeblich erdacht hätte", ad absurdum führen.
Eine solche Froschperspektive verkennt in aller Regel die vielfältigen Faktoren, die eine Werkentstehung beeinflussen, ehe es zur Uraufführung kommt. Oft wurden Werke aus rein pragmatischen Gründen immer wieder geändert, erst kurz vor Aufführung spezielle Änderungen für bestimmte Sänger vorgenommen. Komponisten mußten ihre Werke am Markt platzieren und um zur Aufführung zu kommen, oft Kompromisse eingehen, die keineswegs künstlerischer Natur waren. Eine zu romatische Sicht unterstellt fälschlicherweise immer so etwas wie einmalige künstlerische Werdungsakte, eine in gewisser Weise pseudoreligiös überformte Vorstellung, die individuell sinnstiftend ist, aber von der begrenzten Denkmatrix völlig realitätsfern.
Bellini änderte noch am Vormittag der Uraufführung die Partitur, davor hatte er bereits unzählige Änderungen vorgenommen.
Im Hinblick auf die Gegebenheiten früherer Jahrhunderte ist es völlig abstrus heutigen Regisseuren generell zu lockeren Umgang mit Werken vorzuwerfen. Eher das Gegenteil ist der Fall. Früher waren Änderungen der Werksubstanz aus rein pragmatischen Gründen der Regelfall, heute begründet jeder Dirigent warum er welche Fassung eines Werkes wählt. Ein einzig originäres Werk mit einer einzig möglichen optischen Umsetzung ist nachweisbar realitätsfern. Der Zeitgeist hat die Interpretationsgeschichte von Werken geprägt, immer war Inszenierung auch Spiegel gesellschaftlicher Verhältnisse, auch traditionelle Umsetzungen sind Interpretation. Damit ist die Forderung nach dem kleinsten gemeinsamen Nenner, die naturalistisch sofort eingängige Umsetzung, für Künstler in aller Regel nicht das einzige Ziel, denn Kunst ist für sie nicht Weiheobjekt , sondern Auseinandersetzung mit Realitäten in subjektiver Verarbeitung. Die Freiheit der Kunst wird immer zu Kontroversen führen, aber Erstarrung und Weihekultur kann nicht das Ziel von lebendiger Kunst sein.