Dieses angebliche Kult-Buch versagt auf vielen Ebenen
Die Ich-Erzählerin dieser (mithilfe des Nachworts der Autorin als solchen erkennbaren) stark autobiografisch grundierten Geschichte ist Ende Zwanzig, bisher in ihrem Leben ausschließlich mit Männern zusammen gewesen und lernt nun nach dem Umzug in eine größere Stadt eine 19 Jahre ältere Frau, Finn, kennen, aus deren Freundschaft eine „sexuelle Beziehung“ entsteht. Finn ist allerdings seit zehn Jahren in einer Langzeitbeziehung und gedenkt nicht, ihre Partnerin zu verlassen. Dass diese Liebe keine Chance hat, erfahren wir gleich zu Beginn der Geschichte. Nun ist es an uns, den Niedergang der Liebe zu beobachten. Leider muss man dabei gefühlt quälend lang eine wirklich ungesunde (man kann den aktuell überstrapazierten Begriff „toxisch“ verwenden) Beziehung begleiten und ist nur froh, wenn dann endlich endgültig Schluss ist mit den beiden.
Der Klappentext dieses schmalen Büchleins verspricht uns eine Geschichte über „Liebe, Sexualität und Identität und darüber, ob es nötig bzw. möglich ist, sich diesbezüglich glasklar zu definieren“. Außerdem wird das Buch als „Kult-Buch“ beworben, welches schon 2014 in den USA erschien und dort wohl in der lesbischen Szene sehr erfolgreich war. Ich hatte demnach hohe Erwartungen an diese Geschichte, hoffte einen Einblick in die Protagonistin, ihre Gedanken und Gefühle zu bekommen, bezüglich der Neuentdeckung ihrer sexuellen Orientierung. Also ich dachte, es geht wirklich mehr um diesen ersten Moment nach dem Kennenlernen der anderen Frau und was das alles in ihr selbst in Bewegung setzt. Wie hinterfragt man sich, wenn man so viele Jahre der Meinung war, nur auf Menschen des anderen Geschlechts zu stehen und plötzlich tritt dort eine Person in das eigene Leben, die das alles über den Haufen wirft? Und zwar so nachhaltig, dass danach auch nur noch Frauen als (Sexual-)Partnerinnen infrage kommen? Aber all diese und noch mehr Fragen bezüglich der eigenen Identität werden im Buch nur leicht tangiert. Tatsächlich konzentriert sich die Autorin auf die Darstellung einer massiv ungesunden Liebesbeziehung, die von Wutausbrüchen, Ablehnung, Streitigkeiten aber auch scheinbar mind-blowing Sex geprägt ist. Von der Ich-Erzählerin erfahren wir schnell, dass sie eine Borderline-Persönlichkeitsstörung hat und nicht nur entsprechende Stimmungsumschwünge an den Tag legt, sondern ihr Sex-/Liebesleben genauso eine Abhängigkeit darstellt, wie sie auch von Substanzen abhängig ist, oder sie zumindest aktuell noch missbräuchlich nutzt.
Nun könnte man denken, dass wenigstens diese Emotionalität der Erzählerin auch im Text emotional aufrüttelnd dargestellt sind, auch wenn sie einem selbst von der Art her massiv auf die Nerven gehen (gefühlt von Seite 10 an). Aber nein, die Autorin hat meines Erachtens einen so oberflächlichen, banalen, unterkomplexen Schreibstil, missachtet vollständig die gängige Empfehlung „Show, don‘t tell!“ und rattert einfach irgendwelche Gefühlszustände runter. Als Leserin habe ich kein einziges Mal im gesamten Text emotional mitschwingen oder kognitiv mitgehen können. Um dies zu unterstreichen, hier ein Zitat. Als Hinweis: Von dem Ex-Freund und seiner Mutter sowie der Freundin mit ihrer Katze, erfahren wie nichts vorher und nicht nachher in dieser Geschichte, dies taucht einfach so im Text auf:
S. 115 und 116:
mitten im Kapitel kommt plötzlich diese Stelle:
"Die Mutter meines Ex-Freundes stirbt an AIDS. Vor Trauer breche ich zusammen. Der Ex ruft mich jeden Tag an, trotzdem rechne ich nie damit. Wir reden zwischen zwei und fünf Stunden pro Tag, egal wo. Er geht durch Chinatown in New York. Ich sitze im Garten hinter dem Aquarium und rupfe Grashalme aus. Er erzählt mir, sein Leben sei eine Folge von Six Feet Under. In der Bibliothek schließe ich mich in einer Toilettenkabine ein, um seine Anrufe anzunehmen. Wir hören uns abwechselnd beim Weinen zu. Eine Freundin, die nicht in der Stadt ist, ruft mich an und bittet mich, ihre Katze einschläfern zu lassen."
Solcherlei Stellen gibt es immer im Text. Aber gut, jetzt könnte man behaupten, man müsse ja gar nicht sich in diese kleinen Anekdoten hineinfühlen können, solange man sich in diese große Liebe hineinfühlen kann zwischen Finn und der Erzählerin. Nur: Auch dies passiert nicht! Die Autorin spricht im Text immer wieder einmal ihre Leser:innen direkt mit „Du“ an und durchbricht auch die Vierte Wand, indem sie während man die Geschichte um die Erzählerin und Finn liest, Hinweise zum Entstehungsprozess des Buches gibt. So meint sie ziemlich zu Beginn des Textes, dass ihre Lektorin sich von Seite Eins an in Finn verknallt hätte. So wie die Autorin die Figur Finn beschreibt, kann man allerdings überhaupt nicht nachvollziehen, warum sie sich in diese Person überhaupt verliebt. Und auch wenn wir als Leserschaft das auch gar nicht müssen, so müsste die Autorin es zumindest plausibel darstellen können, warum dies ihrer Erzählerin so erging. Fehlanzeige.
Wichtig zu wissen, ist, dass das 192 Seiten dünne Büchlein nicht nur die eigentliche Geschichte (Novelle?) enthält, sondern auch noch in dieser Seitenzahl ein Vor- und ein Nachwort enthalten ist. Das Vorwort fand ich nicht uninteressant, aber letztlich auch eher eine "Fanstory" vor der eigentlichen Geschichte. Was ich vom Buchsatz her schlecht gemacht finde, ist, dass unter dem Vorwort nicht, wie das sonst meist der Fall ist, der Ort und Monat/Jahr des Verfassens abgedruckt ist. Aus zwei Gründen ist dies schlecht: Da das Buch ja eigentlich aus 2014 stammt, wäre es mir lieb gewesen zu wissen, wann Katie Heaney das Vorwort verfasst hat. Zum anderen fing dadurch einfach auf der nächsten Seite der Haupttext an, ohne im Grafikdesign hier einen Hinweis darauf zu geben. Ich war noch gar nicht richtig "raus" aus dem Vorwort, da fing schon die Geschichte an. Und ich merkte sehr stark über die ersten 20-30 Seiten des eigentlichen Textes "Women" hinweg, dass ich innerlich immer wieder die Lebensgeschichte von Katie Heaney, die mir ehrlich gesagt überhaupt nichts sagt, mit der autofiktionalen Geschichte von Chloé Caldwell vermischte. Zum Nachwort: Ehrlich gesagt ist dies wohl das bisher am meisten von sich selbst eingenommene Nachwort eine*r Autor*in, das ich je gelesen habe. Es geht über 17 Seiten hinweg nur darum, immer wieder zu betonen, wie unglaublich toll die Geschichte angekommen ist in der lesbischen Szene und wie scheinbar (!) alle lesbischen Frauen sich damit identifizieren könnten. Die Darstellung dysfunktionaler Beziehung und als ob alle oder zumindest ein Großteil alles lesbischen Beziehungen so dysfunktional ablaufen würden und dies auch innerhalb der Szene „normal“ sei, finde ich hoch bedenklich.
Letztlich konzentriert sich der ohnehin schon kurze Text dann mehr auf die ungesunde Beziehung zwischen den beiden Frauen. Und diese Art der Beziehungsführung empfand ich unglaublich anstrengend. Also inhaltlich wie stilistisch anstrengend im Sinne von wirklich „nervig“ und nicht „zu anspruchsvoll“. Leider kann ich von der Lektüre dieses Buches nur dringend abraten und, wenn man sich bezüglich dieses Themenkomplexes interessiert, ruhigen Gewissens zu „Das Archiv der Träume“ von Carmen Maria Machado raten. Schade.
2/5 Sterne