Spannend durch Sachlichkeit
Biografien handeln oft von allbekannten Persönlichkeiten, über die der Leser bestätigende, kontroverse oder pikante Details erfahren will. Nicht so diese. Wer kennt heute Paul de Lagarde? Vermutlich wenige. Und doch ist die Arbeit von Ulrich Sieg mit das Beste, was mir an biografischer Literatur bisher zu Augen kam. Der Orientalist, der 1827 bis 1891 lebte und neben seinen religions- und sprachwissenschaftlichen Publikationen als Pamphletist von sich reden machte, wurde bis in die letzten Jahre des Dritten Reichs hinein als Prophet des Deutschtums und einer völkischen Religion gefeiert. Nach 1945 versank er verständlicherweise in der Versenkung.
Lagardes teilweise krudes, teilweise gescheites poltisches Schrifttum bietet jedoch eine herausragende Hilfe. den modernen Antisemitismus zu durchleuchten mit allen seinen Wurzeln und Verzweigungen, die nachvollziehen einem heutigen Mitteleuropäer schwerfällt. Nietzsche, Thomas Mann gehörten zu seinen Lesern, Hitler hielt ihm zeitlebens die Treue. Wobei zu bemerken bleibt, daß Lagarde zwar rassistisch ausschlachtbare Metaphern benutzte, aber Deutschtum bzw. Judentum als Frage des "Gemüts", nicht des "Geblüts" definierte. Er sah im Judentum, wie übrigens auch in den christlichen Konfessionen - der Islam spielte in Mitteleuropa noch keine Rolle - Fremdkörper, die die innere Einheit des in materieller Beliebigkeit sich zerreibenden Bismarck-Reichs blockierten. Beim Judentum trete erschwerend hinzu, daß Juden, über ihr Judentum befragt, je nach Situation religiöse oder nationale Kriterien ins Feld führten, was sie ungreifbar als eine "Nation in der Nation" erscheinen ließe.
Auf der Folie der bestechend umsichtigen Darstellung erscheinen viele Erscheinungen von heute nicht mehr neu: die verbreitete ideologische Indifferenz, das Bedürfnis vieler nach neuer Orientierung, xenophobe Tendenzen bei Modernisierungsverlierern und die Anziehungskraft kulturpessimistischer Verallgemeinerungen und pathetisch vorgetragener, in der Sache aber schwammiger Heilsversprechen.
En passant punktet Ulrich Sieg mit seinen eigenen Einblicken in den akademischen Alltag. Sie lassen ihn Lagardes Jahre als Schullehrer, Stipendiat, schließlich Professor und Ordinarius ebenso eindenkend erfassen wie seine Rolle in der Antisemitismusbewegung und seine schwierige persönliche Biografie.