Inhalt Einstellungen Privatsphäre
jpc.de – Leidenschaft für Musik Startseite jpc.de – Leidenschaft für Musik Startseite
  • Portofrei ab 20 Euro
  • Portofrei bestellen ab 20 Euro
  • Portofrei innerhalb Deutschlands Vinyl und Bücher und alles ab 20 Euro
0
EUR
00,00*
Warenkorb EUR 00,00 *
Anmelden
Konto anlegen
Filter
    Erweiterte Suche
    Anmelden Konto anlegen
    1. Startseite
    2. Alle Rezensionen von LittleWalter bei jpc.de

    LittleWalter Top 25 Rezensent

    Aktiv seit: 03. September 2010
    "Hilfreich"-Bewertungen: 1112
    472 Rezensionen
    The Ghost And The Wall Joshua Radin
    The Ghost And The Wall (CD)
    25.07.2021
    Klang:
    4 von 5
    Musik:
    4 von 5

    Ein Mann, eine Haltung und ihre konsequente Umsetzung.

    Über die Kraft der Musik ist schon viel geschrieben und philosophiert worden. Manche halten sie für esoterischen Quatsch, für andere ist die Aneinanderreihung von Tönen pures Lebens-Elixier. Die letztgenannte Position nimmt auch der Singer-Songwriter Joshua Radin aus Los Angeles für sich ein: "Ich sehe, wo ich heilen muss, und schreibe Songs darüber. Wie das Führen eines Tagebuchs ist das Songwriting für mich etwas sehr Persönliches. Es ist immer kathartisch, nicht nur zu schreiben, sondern auch auf Tour zu gehen und jeden Abend vor Leuten zu spielen. Bei jedem Projekt erlebe ich, wie sich die verletzlichsten Momente meines Lebens auf andere auswirken."

    Der 1974 in Shaker Heights, Ohio, geborene Joshua Radin ist kein Neuling im Musik-Geschäft. Seit 2004 hat er von seinen acht Alben und mehreren Singles mehr als eine Million Exemplare verkauft und über eine Milliarde Streams verzeichnet. Bekannt wurde er durch die Ausstrahlung seines Songs "Winter" in der schräg-genialen Krankenhaus-Serie "Scrubs - Die Anfänger" mit Zach Braff als J.D. (= John Dorian) in der Hauptrolle. Braff ist ein guter Freund von Radin, der seine Musiker-Karriere aus Überzeugung förderte. Joshua bekam sogar einen langfristigen Deal mit dem Label Sony angeboten, aber der Record-Company gefiel sein zweites Werk nicht, weil es keinen offensichtlichen Hit enthielt. Daraufhin kaufte sich der Musiker aus dem Vertrag raus und ging einen eigenen Weg jenseits des großflächigen Marketings. Das nenne ich konsequentes Handeln! Trotz der kommerziellen Verweigerungshaltung verzeichnete der Künstler einen riesigen Erfolg, der ihn jedoch demütig stimmte. Er blieb auf dem Teppich und engagierte sich karitativ. So unterstützt er Organisationen wie Little Kids Rock, die Musikunterricht an öffentlichen US-Schulen ermöglicht und North Shore Animal League America, die sich für Tier-Rettungen- und Adoptionen einsetzt.

    Das neue Werk "The Ghost And The Wall", das am 23. Juli 2021 der Öffentlichkeit zugänglich gemacht wird, sollte eigentlich wie gewohnt in einem Studio entstehen. Aber COVID-19 hatte was dagegen. Was sich zunächst wie ein Ärgernis anfühlte, wurde dann aber zum Glücksfall: Jonathan Wilson, der für seine psychedelischen Klänge bekannte Musiker und anerkannte Produzent von zum Beispiel Father John Misty, Conor Oberst oder Dawes erklärte sich bereit, die Aufnahmen online zu betreuen, wobei die Kompositions-Entwicklung und die Arrangement-Ideen wechselseitig ausgetauscht und überarbeitet wurden. Wilson kümmerte sich dabei um die instrumentelle Ausgestaltung und Radin nahm zuhause die Gesangs-Spuren sowie die akustische Gitarre auf. Innerhalb von einem Monat wurden auf diese Weise 10 Songs fertiggestellt. Die beiden Künstler verstanden sich auf Anhieb und Joshua Radin fand Produktionsbedingungen vor, die ideal für ihn waren. Zum ersten Mal fühlte er sich bei den Einspielungen nicht durch andere Teilnehmer eingeschüchtert, was sich befreiend auf den kreativen Ausdruck seiner Empfindungen auswirkte.

    Dennoch ist es so, dass Radin zum ersten Mal Songs herausbringt, die er nicht vorher bei seinem Publikum testen konnte. Es ist also eine sehr persönliche Liedersammlung geworden, die ungefiltert die Innenansicht des Musikers widerspiegelt. Joshua verbrachte die Pandemie alleine und versuchte in dieser Zeit seine Selbstliebe zu stärken, um in besseren Zeiten auch andere Menschen intensiver lieben zu können. Der Titel "The Ghost And The Wall" steht für die Beziehungen, die im Laufe der Jahre zu Geistern geworden sind und die Mauern, die er als Schutz vor Enttäuschung um sich herum aufgebaut hat. Joshua Radin ist ein nachdenklicher Musiker, der romantisch-intime Musik macht. Vergleiche sind da schnell gefunden: Elliott Smith, Damien Rice, Nick Drake, Leonard Cohen und Paul Simon.

    Wie findet der Künstler eigentlich seinen Weg und seine Nische bei so übermächtigen Einflüssen? Eindringlichkeit und emotionale Tiefe haben kein Verfallsdatum und viele Gesichter. Von daher ist es irrelevant, ob die Musik an große Namen erinnert, die auf diesem Gebiet schon hervorragendes geleistet haben. Viel wichtiger ist, ob die Kunst authentisch vermittelt wird und die Klänge intensiv berühren.

    Los geht es mit einem Abschied: "Goodbye" ist zart und zerbrechlich und wird sozusagen zu Radins persönlichen "Sounds Of Silence". Die Stimme bewegt sich im Flüstermodus und Jonathan Wilson hat die Akustik-Gitarren-Untermalung noch durch gedämpfte, weiche Instrumenten-Beigaben ergänzt, die den Gesang mild unterfüttern, ohne sich in den Vordergrund zu spielen. Alles wird vorsichtig-behutsam angerührt. Textlich kommt Zerrissenheit zur Geltung: Der Protagonist verlässt seine Liebe, obwohl sie ihm gut tat und er sich an ihr aufrichten konnte. Die Unsicherheit und der Freiheitsdrang waren dann doch stärker. Das Prinzip der zurückgelassenen Beziehungs-Geister der Vergangenheit und der übermächtigen Ego-Mauern wird an diesem Beispiel deutlich.

    "Fewer Ghosts" ist ein Schlüssel-Song des Albums, weil er erklären soll, warum der Musiker noch nicht für eine romantische Liebe bereit ist: Er muss erst zu sich selbst gefunden haben. Daran hinderte ihn, dass er sich bisher selbst zu oft im Wege stand. Eine wachsende weise Gelassenheit soll dieses Problem beseitigen. Hier setzt die Musik als akustischer Wegweiser an und zeigt ein ausgleichendes, erkenntnisreiches, von entspannter Freundlichkeit gekennzeichnetes Gesicht. Ein gemütlicher Takt führt gemächlich durch den Track, der Synthesizer zirpt im Hintergrund leise und lässt an Zykaden denken. Der Gesang versprüht dazu einen ehrgeizigen Willen zur Veränderung.

    Der optimistisch gestimmte Sunshine-Folk-Pop von "Better Life" stellt die Hoffnung in den Mittelpunkt und vertreibt jegliche Melancholie. Das Lied sollte laut beim Fahren im Cabriolet gehört werden, weil es so lebensfroh und beschwingt erscheint! Der Zweifel ist dann wieder bei "Make It Easy" der Vater der Gedanken: "Soll ich bleiben oder gehen - willst du bleiben oder gehen" sind die quälenden Fragen, die dem Lied ihren sorgenvollen Stempel aufdrücken. Joshua tut alles dafür, das Stück hoffnungsvoll klingen zu lassen, aber die bedrückende Schwere der Thematik lässt ihn immer wieder in Wehmut verfallen. Die akustische Gitarre und das Piano bilden zwar eine solide, stärkende Allianz, aber die Orgel lässt bedenkliche Situationen am Horizont erscheinen.

    "Es ist schwer, vor dem Schmerz im Innern davonzulaufen", bekennt Radin in "Hey You". Aber trotzdem möchte er so schnell wie möglich fort von seinem Aufenthaltsort und hofft, so seinen Problemen entfliehen zu können. "Manchmal rennt man, um am Leben zu bleiben", heißt seine Parole. Wie wahr, daraus sprechen erlebte oder beobachtete quälende Erfahrungen! Jonathan Wilson untermalt diese Erkenntnisse mit einem souverän groovenden Country-Folk, der weder sentimental, noch aufbrausend ist.

    Joshua Radin verkündet uns sein Evangelium. Da ist es nur folgerichtig, dass "I'll Be Your Friend" sakral ausgefallen ist. Mit Hall auf der Stimme und mit Unterstützung von schwermütigen Geigen bietet er seine Hilfe an, ist quasi ein "Heiland", der die Last des anderen mittragen möchte. Dick aufgetragen und pathetisch, aber wirkungsvoll und schön. In "You're My Home" scheint die Hauptfigur die große Liebe gefunden zu haben. Zumindest machen romantisch aufgeladene Versprechungen und Angebote die Runde, die für den Versuch einer Beziehung werben. Der kunstvolle Bluegrass wird durch Klatschen und einem aufwühlenden Refrain zu einem schwungvoll-mitreißenden Country-Pop umgewandelt, wie er manchmal von Mumford & Sons praktiziert wird.

    Corona-Panik und die Hoffnung auf bessere Zeiten bestimmen "Not Today". Der Song ist als leichter Folk-Pop angelegt, der unbeschwert daherkommen soll, auch oder grade weil er thematisch Unbehagen erkennen lässt. Bei "Till The Morning" geht es schon wieder ums bleiben oder gehen. Und wieder zerreißt es die handelnde Person beinahe, weil es keine eindeutige Entscheidung zu geben scheint. Das Piano klimpert nervös und erzeugt somit eine gewisse Unruhe. Synthesizer-Ton-Schwaden beschwichtigen, aber die Stimme ist zwischen Vertrauen, Zwiespalt und sinnlicher Verzückung hin und her gerissen. "Next To Me" trägt nochmal den Wunsch nach Harmonie in sich. Hier findet Jonathan Wilson einen würdigen Rahmen, der sowohl seine herausragenden instrumentalen Fähigkeiten beim filigranen Einsatz verschiedener Instrumente betont, gleichzeitig wird aber auch eine Atmosphäre aufgebaut die sowohl luftig, wie auch gedankenvoll ist.

    "The Ghost And The Wall" hat den Charakter einer öffentlichen Sitzung beim Psychotherapeuten. Schmerzliche Innenansichten, die sich inhaltlich überschneiden, werden an die Oberfläche gespült und mit Hilfe von intimen Tönen in Szene gesetzt. Aber nicht nur der Künstler kann dadurch seine Seele reinigen, sondern auch die Zuhörerinnen und Zuhörer gewinnen etwas, wenn sie sich der Herausforderung nach Ehrlichkeit gegenüber sich selbst stellen. Der unkonventionelle und erfahrene Musiker, Produzent und Hippie-Sound-Nerd Jonathan Wilson war genau die richtige Wahl, um "The Ghost And The Wall" davor zu bewahren, zu einem jammervollen Selbstmitleids-Album zu werden. Selbstredend sind die melancholischen Töne in der Mehrzahl, aber die Darreichungsform der Songs entscheidet, wie die Botschaft ankommt. Und da hat Wilson für Abwechslung in der Instrumentierung und unterschiedliche Takt-Formen gesorgt, so dass die Gefahr der Gleichförmigkeit gebannt werden konnte. Letztlich transportiert Wilson durch seine sensibel-ausgleichenden Arrangements eine Sehnsucht nach Geborgenheit, die er selbst schon in ähnlicher Form mit der ländlich geprägten Musik seines Albums "Dixie Blur" (2020) und hier besonders beim Track "69 Corvette" eingefangen hatte. Joshua Radin bekam durch die Zusammenarbeit die Möglichkeit, seinen größten Trumpf, nämlich seine innige Feinfühligkeit unverstellt einzubringen und auszuspielen, wobei er vollkommene künstlerische Rückendeckung bekam. Eine klassische Win-Win-Situation also.
    Meine Produktempfehlungen
    • Elliott Smith (25th Anniversary Edition) Elliott Smith (25th Anniversary Edition) (CD)
    • O (Digipack) O (Digipack) (CD)
    • Five Leaves Left Nick Drake
      Five Leaves Left (CD)
    • Songs From The Road Songs From The Road (CD)
    • The Rhythm Of The Saints Paul Simon
      The Rhythm Of The Saints (CD)
    Yellow Yellow (CD)
    16.07.2021
    Klang:
    5 von 5
    Musik:
    5 von 5

    Wenn Mut über Kalkül siegt, kann wahre Kunst entstehen.

    Etwa die ersten 30 Sekunden eines unbekannten Musik-Stücks entscheiden bei vielen Menschen darüber, ob sie weiterhören möchten oder nicht. Wenn das so ist, dann wird Emma-Jean Thackray mit dem Opener "Mercury" ihres ersten Albums "Yellow" all diejenigen verschrecken, die mit Jazz so gar nichts am Hut haben. Eine mutige Wahl! Und schade für die Personen, die nicht die Geduld aufbringen, mehr anzuhören. Sie werden wohl nie erfahren, was sie aufregendes verpasst haben.

    Die Bandleaderin, Multiinstrumentalistin und Produzentin, die in Yorkshire/England geboren wurde und nun in London lebt, hat eine klare Linie und ein genaues Ziel vor Augen. "Ich wollte, dass die ganze Sache wie ein psychedelischer Trip klingt. Du legst den ersten Track auf, er führt dich fast eine Stunde lang durch diese intensive Sache, und dann kommst du auf der anderen Seite verwandelt wieder heraus", sagt Thackray über "Yellow". Bei aller denkbaren Lautmalerei gibt es für sie einen ehernen Grundsatz: "Der Groove ist das Wichtigste. Selbst wenn es ein Stück ist, das wirklich verrückt und frei ist und alle möglichen durchgedrehten Sachen passieren, gibt es normalerweise einen Groove - einen Anker, der es festhält." Jawoll, die Frau hat verstanden, worauf es ankommt! Spontane Spielereien sind was für intellektuelle Überflieger, der Groove als Herz und Motor ist was für gewandte, erfahrene, anspruchsvolle Sound-Gourmets.

    Emma-Jean Thackray steht eine eingespielte Begleit-Band zur Verfügung, die sie rigoros und kompromisslos für ihre eigenen Zwecke und Vorstellungen ausschlachtet. Wenn es dem großen Ganzen nützt, baut Emma-Jean nämlich brauchbare Elemente aus den Studio-Sessions so um, dass sie zu ihren Kompositionen passen. Alles andere, also Arrangements, Fills, instrumentale Ergänzungen und Gesang bringt sie sowieso selber ein. Sie liebt reichhaltige Sound-Collagen. Brian Wilson, Gil Evans, Alice Coltrane, Madlib und Sun Ra gehören zu ihren Vorbildern, wobei auch Soul und Funk den Sound beeinflussen.

    Der Eröffnungs-Track "Mercury" hält Klangsplitter bereit, die Außerirdischen und Klanginstallations-Liebhabern gefallen werden. Aber auch Space-Jazz-Momente finden statt, wie sie in ähnlicher Form schon Alice Coltrane Anfang der 1970er Jahre erdachte. Das hört sich an, als ob Spiritualität mit freiem Jazz und kosmischer Energie zu einer universellen Klangorgie zusammen geführt wird. "Say Something" geht in eine völlig andere Richtung. Moderner Rhythm & Blues bestimmt die Außenwirkung, entführt auf den Tanzboden, lässt den Jazz-Groove aber nicht aus der Verantwortung. Wer Angst vor anspruchsvollem Dance-Pop hat, der animalische Gefühle heraufbeschwört, aber trotzdem kopflastige Prozesse ablaufen lässt, wird sich wundern, wie anregend sowas klingen kann. Das Leitbild des Stückes, das grundsätzlich für das ganze Album gilt, beschreibt Emma-Jean so: "Es ist eine Platte über Zusammengehörigkeit, die Einheit aller Dinge im Universum, das Zeigen von Liebe und Freundlichkeit, menschliche Verbindung. Ich bin an die Platte herangegangen, indem ich versucht habe, eine lebensverändernde psychedelische Erfahrung zu simulieren, eine Stunde, in der wir hinter den Vorhang zu einer verborgenen Dimension sehen, in der die physische Welt wegschmilzt und wir endlich sehen, dass wir alle eins sind."

    Und schon wieder dreht sich die Ausrichtung: "About That" ist im improvisierten Jazz angekommen. Blasinstrumente bestimmen mit ihrer Vorherrschaft die Klang-Landschaft, die ungezwungen und aufrührerisch erscheint. "Venus" widmet sich nach einer Orientierungs-Phase dem vom Gospel geprägten Jazz-Funk, bei dem das E-Piano eine gestaltende Rolle übernimmt. Das Stück reißt gesanglich mit und versprüht mit positiver Energie einen unbändigen Tatendrang. "Green Funk" hält mit Emma-Jean Thackray (Stimme, Synthesizer, Trompete), Lyle Barton (Wurlitzer E-Piano, Orgel), Ben Kelly (Sousaphone), Tamar Osborne (Bariton-Saxophon), Chelsea Carmichael (Tenor-Saxophon) und Rosie Turton (Pausaune) eine schlagkräftige Besetzung bereit, um schweißtreibend-komplexe Brass-Band-Töne lässig unter die Leute zu bringen. Betty Davis und George Clinton standen wahrscheinlich für diesen selbstbewussten Track Pate.

    Neben einer üppigen Bläser-Fraktion wird für "Third Eye" noch ein Streicher-Terzett und ein dreistimmiger Chor integriert, um einen großformatigen Sound im Stil der freigeistigen Arbeiten des Pianisten und Komponisten Keith Tippetts (Centipede, Tapestry) zu realisieren. Keine Überraschung, denn Tippetts war ein Mentor von Emma-Jean. Das Ergebnis erinnert zusätzlich an aufwändige Broadway-Musicals wie "West Side Story". "May There Be Peace" dockt an die fernöstliche spirituelle Tradition des Taoismus an, die Emma-Jean Thackray durch ihren Vater kennen lernte. Unter Einbeziehung von Gebetsglöckchen wird hier für etwa eineinhalb Minuten ein Mantra beschworen ("May there be peace and love and perfection throughout all creation."/ Möge es in der ganzen Schöpfung Frieden und Liebe und Vollkommenheit geben").

    Der cremige Smooth-Soul von "Sun" lässt puren Optimismus gedeihen. Mitreißender Afro-Jazz, glühende Gospel-Opulenz und verdreht aufgeweckter Swing bilden eine verschworene Gemeinschaft, um die Sonne aus der Reserve zu locken. "Golden Green" beschwört dann eine schillernde Pop-Sinfonie herauf, bei der zugunsten einer nachhaltigen Seelenmassage auf schnelllebige Eingängigkeit verzichtet wurde. "Spectre" spinnt diesen Faden weiter. Hier wird ein Tongebilde erzeugt, bei dem der Groove-Grundgedanke als hypnotischer Minimal-Art-Takt die Bodenplatte bildet und die einzelnen Räume des Klang-Gebildes mit Motiven aus Jazz, Soul, Rhythm & Blues und Soundtrack-Fantasien eingerichtet werden. Das alles miteinander verbindende Dach besteht aus dem luftigen, mit Echo versehenem Gesang von Emma-Jean.

    Triebhafte Trommeln, beschwörender Gesang und dralle Funk-Jazz-Madness bestimmen den Sound von "Rahu & Ketu", das durchgängig einen erregten Instrumenteneinsatz vorweist, bevor das Stück am Ende in sich zusammenfällt. Das titelgebende, hypnotische "Yellow" setzt auf die manipulative Wirkung des Wortes und ist nach zwei Minuten schon wieder vorbei. New Orleans-Jazz-Druck, schnelle Polyrhythmen, leidenschaftliche, teils monotone Gesangseinlagen und ein streitsüchtiges E-Piano-Solo bestimmen danach das Klangbild von "Our People", bevor für "Mercury (In Retrograde)" einige Akkord-Folgen des Openers umgekehrt werden, wodurch eine psychoakustische Desorientierung erzeugt werden soll.

    "Yellow" kann durch Vielfalt, Kreativität und Virtuosität beeindrucken, wobei Emma-Jean Thackray ihre künstlerische Entwicklung einer kommerziellen Ausrichtung vorzieht. Das ist ihr hoch anzurechnen. Sie scheut sich überhaupt nicht, unbequem zu agieren. So hat sie sogar schon für die aggressive Post-Punk-Truppe Squid auf deren Album "Bright Green Field" Trompete gespielt. Die Musikerin legt es generell darauf an, dass sich ihre Hörer und Hörerinnen intensiv mit der Musik auseinandersetzen, denn anders lässt sich ihre Kunst nicht honorieren. Wer sich darauf einlässt, wird als Belohnung mit einem sehr anregenden, anspruchsvollen und befriedigendem Hörerlebnis belohnt. Aber die Hauptsache ist immer, dass der Groove am Leben gehalten wird!
    Meine Produktempfehlungen
    • The Complete Pet Sounds Sessions Vol.1 (Papersleeves im Schuber) The Complete Pet Sounds Sessions Vol.1 (Papersleeves im Schuber) (CD)
    • Journey In Satchidananda Journey In Satchidananda (CD)
    • The Nubians Of Plutonia / Bad & Beautiful (Ltd. Edition) The Nubians Of Plutonia / Bad & Beautiful (Ltd. Edition) (CD)
    • Sound Ancestors (Arranged By Kieran Hebden) Madlib
      Sound Ancestors (Arranged By Kieran Hebden) (CD)
    • The Individualism Of Gil Evans The Individualism Of Gil Evans (CD)
    • Blueprint Blueprint (CD)
    Ein Kommentar
    Anonym
    24.09.2023

    Volltreffer!

    Sowie das Klangprodukt ein Volltreffer ist, so ist's mit der Besprechung! Habe vor zwei Tagen Jaimie Branch entdeckt - RIP Jaimie! Aber sie war Gestern! Emma is Today! Was für ein Talent!!!
    Septet Septet (CD)
    26.06.2021
    Klang:
    5 von 5
    Musik:
    5 von 5

    John Carroll Kirby: Ein Jazzer mit Hang zum Wohlklang.

    Da sage noch jemand, Jazz-Musiker spielen immer dasselbe. Na gut, das würde niemand über Miles Davis oder Herbie Hancock behaupten, aber im allgemeinen bewegen sich Jazzer ausschließlich in der von ihnen gewählten Ausdrucksform. Egal, ob es nun Dixieland oder Free-Jazz ist. Systemsprenger gibt es zwar auch einige, sie sind aber nicht die Regel.

    John Carroll Kirby ist nicht nur in diesem Zusammenhang ein Vorzeigemusiker: Der in Los Angeles geborene, lebende und arbeitende Künstler ist ein Stil-Chamäleon. Er kennt keine Scheuklappen, wenn es darum geht, mit und für andere Kollegen tätig zu sein. So hat er für so unterschiedlich ausgerichtete Musiker und Musikerinnen wie Miley Cyrus, Sebastien Tellier, Harry Styles, Norah Jones, Frank Ocean, Jonathan Wilson und Solange gearbeitet. Noch nicht berücksichtigt ist dabei seine Soundtrack-Arbeit zum Animations-Film "Cryptozoo".

    Wahrscheinlich hängen Fleiß und Kreativität miteinander zusammen. Zumindest ist es Kirby gelungen, sich gute Ideen zu verschaffen, denn 2020 erschienen kurz hintereinander zwei unterschiedlich gestaltete Alben: Am 2. April das ruhige, meditative, spirituell erscheinende, vom Piano dominierte "Conflict" und am 22. April "My Garden", welches eine breite Palette aus der Kategorie des atmosphärisch-einfühlsamen Jazz aufzeigt.

    Die Idee zu "Septet" ist sogar noch älter. Im September 2019 fand ein Auftritt von Kirby (Keyboards), Deantoni Parks (Schlagzeug), Tracy Wannomae (Holzbläser), Logan Hone (Holzbläser), John Paul Maramba (Bass), Nick Mancini (Vibra- und Marimbaphon) und David Leach (Percussion) im Jazz-Club "The Blue Whale" in Los Angeles statt. Das brachte den Entstehungsprozess des aktuellen Werkes in Gang, das am 25. Juni 2021 als CD, Download und Doppel-LP mit drei Bonus-Tracks ("Sensing Dub", "Jubilee Dub", "Nucleo Dub") erscheint.

    Kirby ist ein Tüftler und Sound-Architekt mit Weitblick und Traditionsbewusstsein. Das ist eine seltene Kombination, die originelle, ausgereifte, visionäre und erhellende Musik entstehen lässt. Solo-Einlagen sind dabei kein Selbstzweck zur Demonstration von Virtuosität, sondern dazu da, um interessante Fixpunkte zu setzen. Bei "Rainmaker" darf und kann alles passieren: Behaglicher Easy Listening-Sound, groovender Space-Jazz mit fiependen, quäkenden und quietschenden Synthesizern sowie dezenter brasilianischer Rhythmik bilden eine Sound-Ästhetik, die Coolness in Verbindung mit Schrulligkeit salonfähig macht. John Kirby erinnern die Tonfolgen sogar an "einen rotierenden Sprinkler, der an einem heißen Tag über den Rasen hin und her tuckert".

    Querflöten sind nicht unbedingt ein Garant für reizvolle Unterhaltung. Zusammen mit ausgleichenden, tropfenden Marimba- und Xylophon-Klängen und weichen, synthetischen Streichern bilden sie für "P64 By My Side" die Basis für leichtfüßige Exotik. Es gibt also doch eine Welt zwischen New Age und Jazz. "P64" ist übrigens die Bezeichnung für einen wild lebenden Puma, der durch Los Angeles streift und das Stück soll die Vorstellung reflektieren, wie es wäre, dieses Tier als Haustier zu halten.

    Unbekannte Kulturen scheinen bei "Sensing Not Seeing" mit mystischen Klangfarben zu locken, die heißblütig und leidenschaftlich in schnellem Takt und durch geheimnisvolle Rhythmen die Ohren und den Verstand verführen möchten. Das gelingt exquisit und lässt Klänge entstehen, die genauso Trance wie Ekstase erzeugen können. "Wo es traditionell ein improvisiertes Solo gäbe, unterstützt die Rhythmusgruppe einen stummen Instrumentalisten, als ob er durch die Dunkelheit wandert, ohne sich von etwas leiten zu lassen", so lautet die Eingebung, die Kirby bei der Realisierung dieses Tracks hatte.

    Wie Santana auf Valium, so schläfrig wurde der Takt von "Swallow Tail" eingestellt. Über die lateinamerikanischen Rhythmen hinweg verteilt Kirby schmierige, betont künstlich klingende Synthesizer-Motive. Von den Flöten kommen folkloristisch-verträumte Sequenzen dazu und so ergibt sich eine melodische Klanglandschaft, die sowohl griffige Jazz-Grooves wie auch malerisch-dekorative Ton-Dichtungen liefert. Vögel und Schmetterlinge, die Kirby von seinem Fenster aus beobachten konnte, inspirierten ihn zu dieser Komposition.

    "Weep" saugt die Bossa Nova auf und gibt sowohl ihre Melancholie wie auch die leichtfüßigen Rhythmen wieder ab. Das Keyboard modelliert den melodischen Verlauf auf intellektuelle Weise und das Vibraphon verbreitet noch zusätzliche stilvolle Extravaganz. "Jubilee Horns" wird durch spritzige Keyboard-Läufe eingeleitet, die in ein Solo übergehen, das sich temperamentvoll steigert. Die Bläser spielen also nicht die alleinigen Hauptrollen bei diesem Track. Sie werden vielmehr in einen warm fließenden, swingenden Latin-Sound eingebettet, bei dem das E-Piano lange die Führung übernimmt. Dann darf sich aber besonders die Flöte noch solistisch auszeichnen, bevor das Vibraphon nochmal für turbulentes Aufsehen sorgt.

    Chico Hamilton war ein legendärer Jazz-Schlagzeuger, der unter anderem für Billie Holiday, Ella Fitzgerald, Lester Young und Miles Davis arbeitete. Ihm wird mit "The Quest Of Chico Hamilton" ein akustisches Denkmal gesetzt. Das Stück ist eine romantisch gefärbte Jazz-Ballade, bei der das E-Piano viel zu erzählen hat und quasi vor Mitteilungsbedürfnis überschäumt. Im Verlauf wird es dann vom ebenso gesprächigen Vibraphon überlagert. "Nucleo (Boy From The Prebiotic Birth)" beruht auf einem imaginären Schöpfungsmythos über einen Jungen namens Nucleo, der in einer präbiotischen Brühe gezüchtet wird und die Ur-Erde allein durchstreifen muss. Für den Track wird ein Stimmungsbild aufgebaut, dass an einen belebten Marktplatz erinnert, bei dem sich unterschiedliche Sinneseindrücke geschäftig begegnen.

    Musik lebt von Inspirationen. John Carroll Kirby findet sie für "Septet" unter anderem bei den Schöpfungen von Bobby Hutcherson, Roy Ayers, Chic Corea oder Herbie Hancock aus den 1970er Jahren, als die Fusion von Jazz mit allem, was den Musikern in den Sinn kam, das große Ding in der Jazz-Szene war. Aber der Musiker, Produzent und Komponist ist klangtechnisch nicht festgelegt und zu einfallsreich, um sich auf einen bestimmten Retro-Stil reduzieren zu lassen. Schon in den 1950er Jahren gab es eine Jazz-Spielart, die sich Exotica nannte und besonders karibische und andere tropische Musik-Formen adaptierte. Es sollten fremde und freundliche Sehnsuchtsorte erschaffen werden, an die die Menschen aus ihrem Alltag flüchten konnten. Eine ähnliche Wirkung hat auch "Septet". Der Klang ist aufgrund seiner lieblich-abstrakten Fülle nicht nur für Jazz-, sondern auch für Pop-Ohren ansprechend. Außerhalb des Jazz finden sich solche Strömungen, die aufwendige, wohlklingende, orchestralen Arrangements einbeziehen, zum Beispiel in den Aufnahmen von den High Llamas, von Quantic oder von Stereolab wieder. John Carroll Kirby präsentiert sich als Allrounder, der mit seiner einfallsreichen Musik durchaus in der Lage ist, sowohl Jazz-, Weltmusik-, Pop und Soundtrack-Liebhaber zu beglücken.
    Meine Produktempfehlungen
    • My Garden My Garden (CD)
    • Ubiquity Ubiquity (CD)
    • Atlantic Oscillations Quantic
      Atlantic Oscillations (CD)
    I Know I'm Funny Haha Faye Webster
    I Know I'm Funny Haha (CD)
    26.06.2021
    Klang:
    5 von 5
    Musik:
    5 von 5

    Faye Webster: Kann eine neue Liebe die künstlerische Integrität hörbar beeinflussen?

    Faye Webster ist nicht mehr Solo, sie lebt mit ihrem Partner zusammen und ist glücklich. Ist ein glückliches, unbeschwertes Leben nicht ein Killer für jegliche kritische Distanz, für kreative Leidenschaft und unbequeme musikalische Wendungen? Das wird sich zeigen.

    Außer der Musik liebt Faye gestellte Fotos, dafür gibt sie sich genau soviel Mühe wie für ihre Songs. Das neue Cover zeigt eine offensichtlich nicht erheiterte Frau, die mit vielen "haha"-Aufklebern dekoriert ist. Der Spaß findet - wenn überhaupt - nur im Kopf statt. Das provokante, etwas eklige, unappetitliche Cover-Bild ihrer letzten Platte "Atlanta Millionaires Club" aus 2019 hat sie in drei Tagen zusammen mit Eats Humans entwickelt. Es zeigt, wie sie Schokoladen-Geld isst, wobei ihr die Kakao-Masse aus dem Mund läuft und ihr Gesicht damit verschmiert ist.

    Die Frau aus Atlanta hat ihren eigenen Kopf, auch was Arrangements angeht. So hat sie ein Faible für den Klang einer Steel-Gitarre entwickelt, was sie genüsslich bei ihren Liedern auskostet. Ein Überbleibsel aus den Erfahrungen ihrer Kindheit, denn ihre Mutter stammt aus Texas und zuhause wurde ständig die Western-Swing-Band Asleep at The Wheel gehört. Der mitreißende Sound brennt sich ein und prägt, ob man das nun will oder nicht.

    Am 25. Juni 2021 ist das vierte Album "I Know I`m Funny haha" erschienen, bei dem Faye Webster auf eine feste Begleitung gebaut hat: Produzent und Mixer Drew Vandeberg (Deerhunter, Of Montreal, Kishi Bashi), Harold Brown (Schlagzeug), Bryan Howard (Bass), Nic Rosen (Keyboards) und der prägende Matt “Pistol” Stoessel an der Steel-Guitar bilden die Crew, die für einen direkten, ungefilterten, homogenen Sound mit hohem Wiedererkennungswert sorgen soll.

    Schüchtern und zurückhaltend berichtet uns Faye beim Opener "Better Distractions" von ihrer Sehnsucht zu ihrem Partner. Der Song wird durch einen runden, voluminösen Bass geerdet, der eine effektive Verstärkung durch das Schlagzeug erhält. Gut, dass Matt Stoessel mit an Bord ist, denn grade durch seine weinend-flehenden Töne entsteht die fesselnd-sentimentale Stimmung des cool swingenden Liedes. Der sanft groovende Country-Soul trägt die wehmütigen Töne in schwindelnde Höhen, wo sie durch perlende Piano-Einschübe wieder auf den Boden der Tatsachen begleitet werden.

    Und wieder demonstriert Faye, was für eine außerordentlich sensible und sinnliche Sängerin sie ist. Leise und dennoch prägend schlüpft sie bei "Sometimes" in die Rolle der Verlassenen, die die Gründe der Trennung nicht verstehen und verarbeiten kann ("Und dann verließ er mich für jemanden, der genauso aussieht wie ich"). Ein ruhiger, langsamer Folk-Jazz bildet die Basis für die Übermittlung dieser bleiernen Tristesse.

    Die Schilderung einer alltäglichen Beziehungs-Situation ist die textliche Grundlage für "I Know I’m Funny haha". Es geht dabei um Streit, Zukunftspläne und Erinnerungen an Verwandten-Besuche. Der ganz normale Wahnsinn also. "Dinge, die die Leute vielleicht leicht übersehen und nicht für würdig oder schön genug halten, um sie zu singen", möchte Faye beim Komponieren berücksichtigen. Hin und wieder denkt die Singer-Songwriterin dann: "I Know I`m Funny haha", verrät sie zur Motivation für die Entstehung ihres Platten-Titels. Ein schläfrig-trockener Country-Folk-Rock untermalt die Gedanken, die spontan entstanden zu sein scheinen, mit der gleichen stoischen Abgeklärtheit, mit der Faye auch singt.

    Bei "In A Good Way" geht es darum, dass man vor Glück auch weinen kann. Die Musikerin feiert eine glückliche Beziehung, tut dies aber nicht mit süßlich-schmalzigen Tönen, sondern mit einem Soft-Funk auf Art-Folk-Basis. Also mit romantischer Musik, die Haltung und Niveau beweist.

    Nanu, ist das ein Eagles-Song? Deren "Peaceful Easy Feeling" hat nämlich Einzug in "Kind Of" gehalten. Diese Komposition ist beinahe so friedvoll, gelassen und aufbauend, wie es der Klassiker der kalifornischen Soft-Rocker um Don Henley und Glen Frey ist. Allerdings weist "Kind Of" neben harmonischen Abschnitten auch gefahrlose Sollbruchstellen und unnötige Endloswiederholungen auf.

    "Cheers" ist wesentlich härter, aggressiver und direkter als alle anderen Tracks auf dem Album. Zumindest, was die instrumentelle Unterstützung angeht. Die Rhythmus-Fraktion zeigt sich druckvoll und bestimmend, wobei der Gesang im Kontrast dazu überlegt und überlegen bleibt. Der Heavy Metal-Rhythmus trifft ab und zu auf lieblich-entzückte Gitarren-Einspielungen, die ausgleichend wirken und dem Stück etwas die Schärfe nehmen.

    "Both All The Time" schafft es, alleine durch Lässigkeit und einem verschleppten Tempo eine Stimmung aufzubauen, die sowohl traurig wie auch zuversichtlich wirkt. Es ist viel Platz zwischen den Noten, der durch eine bittere Süße gefüllt wird. Für "A Stranger" werden große Geschütze aufgefahren, um reichlich Pathos zu erzeugen. In Wehmut schwelgende Streicher, die von der winselnden Steel-Gitarre unterstützt werden, sind nur ein Eckpfeiler der Melancholie-Offensive. Der Rhythmus befindet sich kurz vorm Herz-Stillstand und der Gesang wird soweit zurück gefahren, dass es bisweilen zu Erzählungen kommt. Die Zeichen stehen also auf Resignation.

    Bei "A Dream With A Baseball Player" geht es darum, wie eine Schwärmerei für einen Star das Leben verändern und beeinflussen kann. Gemeint ist hier der Atlanta Braves-Baseballspielers Ronald Acuña Jr., den Faye tatsächlich treffen konnte, als sie 2019 eingeladen wurde, bei einem Spiel der Atlanta Braves zu singen. Das Stück kommt elegant, erfahren und mit gebremstem Funk rüber. Das Saxophon wird einschmeichelnd-sanft geblasen und der Rhythmus ist weich, exakt und ausgeruht. So erotisch kann Soft-Rock klingen.

    "Overslept" könnte als hypnotisierend langsame Folk-Tronic-Ballade beschrieben werden, die unter gesanglicher Mithilfe der gleichgesinnten japanischen Singer-Songwriterin Mei Ehara entstand. Die hellen, hohen Stimmen erzeugen dabei eine kristalline, kühl schimmernde, unwirkliche Atmosphäre. "Half Of Me" präsentiert Faye zum Abschluss pur an der akustischen Gitarre. Zerbrechlich, verloren und einsam legt sie nochmal ihre Seele frei.

    Das Album "I Know I`m Funny haha" ist von der neuen Beziehung von Faye Webster geprägt, was sich zwar thematisch auswirkt, aber musikalisch nicht dazu führt, dass es seicht, nachvollziehbar oder langweilig ausgefallen ist. Die Platte wurde überwiegend in Moll gehalten, verursacht aber trotzdem keine schlechte Laune, weil die Songs eine dezente erotische Ausstrahlung versprühen. Wie schon angedeutet, ist auf die Begleitmusiker Verlass. Sie verpassen Faye Webster ein schützendes Korsett, das es ihr ermöglicht, sich auszuleben und ihre gesanglichen Qualitäten voll einzubringen. Diese bestehen besonders darin, eine verletzte oder verletzliche Persönlichkeit zu offenbaren, die authentisch mit den Themen verschmilzt. Mit dem Steel-Guitar-Player Matt “Pistol” Stoessel scheint es sogar eine telepathische Verbindung zu geben, denn die Interaktionen wirken wie eine unsichtbar abgestimmte, sensible und wirkungsvolle Aktion zweier Individuen.

    Nicht ohne Grund hatte Barack Obama das Stück „Better Distractions“ von "Atlanta Millionaires Club" auf seine Jahres-Playlist für 2020 gesetzt. Der Mann weiß schließlich was er tut und er hat einen erlesenen Musik-Geschmack. Auch "I Know I`m Funny haha" hält wieder einige potentielle Lieblings-Stücke parat. Man darf gespannt sein, welchen Song der ex-Präsident für seine Bestenliste von 2021 auswählt. Jedenfalls sind trotz veränderter Lebensbedingungen keine Qualitätseinbußen zwischen dem hervorragenden "Atlanta Millionaires Club" und "I Know I`m Funny haha" festzustellen.
    Meine Produktempfehlungen
    • Faye Webster (Limited Edition) (White with Dark Blue Splatter Vinyl) Faye Webster (Limited Edition) (White with Dark Blue Splatter Vinyl) (LP)
    • Atlanta Millionaires Club Faye Webster
      Atlanta Millionaires Club (CD)
    3 3 (LP)
    12.06.2021
    Klang:
    4 von 5
    Musik:
    4 von 5
    Pressqualität:
    4 von 5

    Eine halbe Stunde voller wohlklingender skandinavischer Melancholie.

    Der Schwede Kristoffer Bolander ist der Chef der Alternative-Folk-Band Holmes und gehört zu den Singer-Songwritern, die durch ihre Verletzlichkeit, Intimität und Fragilität an Leonard Cohen oder an den akustischen, sensiblen Neil Young oder an die schmerzvollen Lieder von Elliott Smith erinnern. Der Multiinstrumentalist präsentiert seine Kompositionen jedoch aktuell nicht als purer Folk-Sänger, sondern stattet sie gerne mit einem verheißungsvoll-mystischen Grundrauschen, einem energischen Rhythmus sowie elektrischen, melodischen Gitarren-Soli aus. Das verleiht ihnen neben Farbe auch Kontrast und verschafft abwechslungsreiche Gestaltungsmöglichkeiten. Dies belegte der introvertierte Künstler erstmalig 2015 auf dem von Samuel Beckett inspirierten Solo-Debüt "I Forgive Nothing". 2018 folgte dann "What Never Was Will Always Be" und nun gibt es mit "3" acht neue Songs zu hören.

    Für "The Child" projiziert Kristoffer eine verträumte Landschaft in die Hirnwindungen. Die Rhythmus-Abteilung demonstriert parallel auch Kraft und Tatendrang. Bolander windet seine leidvoll-schwerelose Stimme - die Betroffenheit und Mitgefühl ausdrückt - um die elegischen Gitarrentöne, was dem Stück zusätzliche Inbrunst verleiht. Eine sakrale Demut paart sich wie selbstverständlich mit einem lebensbejahenden Puls, der von dem Herzschlag-Takt des Schlagzeugs ausgeht. Die E-Gitarre sendet gleichzeitig ein souveränes und starkes Durchhaltesignal aus. Gemischte Gefühle bestimmen ständig unser Dasein und beeinflussen das Denken und Handeln so lange, bis sich eine Entscheidung eingependelt hat. Kristoffer Bolander bereitet genau diesen Entscheidungsprozess mit seiner Musik sorgfältig und nachvollziehbar auf.

    Auch bei "Am I Wrong?" arbeitet ein treibender Rhythmus gegen einen nüchternen, vorsichtigen Erzählstil an, der den Musiker geläutert erscheinen lässt. Die Musik erinnert spontan an The Cure in einer Light-Version. Diese Illusion bezieht sich allerdings nur auf wenige prägende Bestandteile, wobei die besonderen Eigenarten im Sound der Düstermänner nicht ungefiltert nachgeahmt werden, sondern wie eine flüchtige Erinnerung erscheinen.

    Bei "Evelyn" konkurriert die Klarheit des Folk mit einem dumpf grollenden Bass, der wie ein Donnergrollen eine erhöhte Wachsamkeit aktiviert, weil sich Gefahr ankündigt. Deshalb gerät das Stück zwischen die Gegensätze Frohsinn und Bedrohung und wird von ihnen erbarmungslos eingeklemmt. Die erschütternde Traurigkeit in der Stimme des Schweden wird bei "Replace Me" durch eine feinsinnige, aber raumgreifende Begleitung aufgefangen und zu Gunsten einer cremigen und leicht prickelnden Stimmung abgeschwächt. Es ist sehr plastisch nachzuempfinden, wie die Reinheit der Gitarren den Nebel der Keyboards verdrängt.

    Der Gesang schwelgt in Wehmut und das Harmonium verbreitet Behaglichkeit, bevor eine gradlinige Orgel, eine singende Pedal-Steel-Gitarre und eine melodische E-Gitarre dafür sorgen, dass "The Rogue" vollends in einen von wohliger Sentimentalität geprägten Klang-Rausch versetzt wird. Bei "Attaboy" klingt sowohl der getriebene Dark-Wave solcher Bands wie Echo & The Bunnymen, wie auch der weitläufige, silbrig schimmernde Country-Rock der Byrds von ihrem "Notorious Byrd Brothers"-Album aus 1968 an. Wohlgemerkt als Referenz und Inspiration aus der Ferne, nicht als Kopie.

    Der Country-Folk von "Her World" trägt eine Heiterkeit in sich, die deutlich zum Tragen kommt, aber nicht überschwänglich, sondern gezähmt übermittelt wird und von freundlicher Distanz geprägt ist. Dadurch erhält der Titel eine innere Spannung, die sich aus rhythmischer Eleganz und melancholischer Feinsinnigkeit ergibt. Ein monotones, akustisches Leonard-Cohen-Gedächtnis-Gitarren-Picking bestimmt die sorgsam und exakt gestaltete Erzähl-Geschwindigkeit und die erwartungsvolle Grundstimmung von "The Animal". Das ist ein Song, der sich aus eigener Kraft aus dem traditionellen Folk-Gerüst heraus schält und zu einem symphonischen, opulenten Pop heran wächst.

    Kristoffer Bolander bekommt bei der Formung seiner wohltuenden Tristesse bei seinem dritten Werk Hilfestellung von Joakim Olsson am Schlagzeug und Theo Stocks an der Pedal Steel Gitarre. Die schwedische Electro-Ambient-Künstlerin ANNELIE (Johansson) soll außerdem mit ihrer Stimme bei zwei Stücken für eine sehr diskrete, einfühlsame Begleitung sorgen.

    Skandinavische Kunst wird häufig von Schwermut und von der Vorstellung von einer weiten, leeren Landschaft geprägt. Introvertierte Sänger sind typisch für diese Region, aber auf beinahe wundersame Weise wirken sie oft trotz ähnlicher Herangehensweise interessant, glaubwürdig und originell, ohne dass es einen Abnutzungseffekt bei der Darstellung ihrer Traurigkeit gibt.

    Da macht auch "3" keine Ausnahme. Die halbe Stunde geht ans Herz, wirkt sowohl vertraut, wie auch neu erfunden und bildet instrumentell und gesanglich eine Symbiose. Wobei gegenläufige Stimmungen, wie aktiver Rhythmus und ruhiger Gesang, keine offensichtlichen Gegner sind, sondern sich ergänzen und harmonische Reibungen hervorrufen. Mit anderen Worten: Die Musik von Kristoffer Bolander ist wie alter Wein in neuen Schläuchen und so angenehm wie ein guter Freund, der jederzeit willkommen ist.
    Meine Produktempfehlungen
    • You Want It Darker Leonard Cohen
      You Want It Darker (CD)
    • Hard Times Kristofer Åström
      Hard Times (CD)
    • About Love And Loving Again Christian Kjellvander
      About Love And Loving Again (CD)
    • The Killing Moon: The Singles 1980 - 1990 Echo & The Bunnymen
      The Killing Moon: The Singles 1980 - 1990 (CD)
    Rare Pleasure Mndsgn
    Rare Pleasure (CD)
    04.06.2021
    Klang:
    4 von 5
    Musik:
    5 von 5

    Die Pop-Symphonie "Rare Pleasure" wird vom Bewusstsein und vom Unterbewussten gespeist.

    So verschroben und geheimnisvoll wie die Buchstabenkombination des Künstlernamens ist, so verwunschen, aus der Zeit gefallen und ungewöhnlich ist auch die Musik von Ringgo Ancheta, der sich Mndsgn nennt, was "Mind Design" bedeuten soll. Das neue Werk "Pure Pleasure" ist ein Testament der Reife, der Schönheit und des gestalterischen Eigensinns. Laut Aussage des Künstlers reflektieren die Kompositionen, an denen bereits seit 2018 gearbeitet wurde, seine Wertschätzung für das Leben. Mndsgn wurde ursprünglich von Rap und HipHop geprägt und hat jetzt seine Berufung in der Erzeugung von harmonischen Soundscapes und luftigen Art-Pop-Songs gefunden.

    Ringgo Ancheta wurde in San Diego in eine Familie mit philippinischen Wurzeln hinein geboren und wuchs in New Jersey auf. Seit 2011 lebt er in Los Angeles. 2014 erschien nach ein paar Jahren als Mitglied des Künstler-Kollektivs Klipmode sein erstes richtiges Solo-Debüt ("Yawn Zen"), gefolgt von diversen digitalen und physischen Veröffentlichungen wie "Vivians" (2015), "Bodywash" (2016) sowie "Snax" (2018) und "Snaxx" (2019). Ihn trieben stets philosophische Themen rund um die menschliche Existenz um. So fragt er sich, wie es gehen soll, dass wir uns selbst treu bleiben, wie wir Schönheit im Alltäglichen und Unbekannten ergründen können und was die Magie der Vergänglichkeit ausmacht. Bei der Übersetzung dieser Fragen in Noten waren Kiefer Shackelford (Klavier), Swarvy (Gitarre, Bass), Will Logan (Schlagzeug), Carlos Niño (Percussion), Fousheé, Devin Morrison und Anna Wise (Gesang) sowie Miguel Atwood Ferguson (Streicher) beteiligt, die die 13 Stücke zu einem in sich geschlossenen Gesamtkunstwerk verknüpften.

    Das einleitende, kurze, instrumentale "Rare Pleasure I" baut eine Atmosphäre auf, die gefälligen Jazz-Rock und unverbindliche, manipulative Feuilleton-Musik zu einer erwartungsvollen Mischung zusammen setzt, die keine Aufschlüsse über den weiteren Verlauf zulässt. Dieses Eröffnungs-Thema wird noch drei weitere Male aufgegriffen und in abgewandelter Form über das Album verteilt. Das Stück "Rare Pleasure II" lebt von einem lockeren Jazz-Groove und die dritte Variante läuft verlangsamt ab. Wobei sowohl ein perlendes E-Piano, das zwischen dem linken und rechten Kanal hin und her schwingt, wie auch eine hoch gestimmte E-Gitarre den Klang bestimmen. Mit "Rare Pleasure IV" ist der Track zum schnellen Samba mutiert und strotzt somit vor überschäumender Lebensfreude.

    Mit "Truth Interlude" folgt dann eine originalgetreue Cover-Version eines Jingles des brasilianischen Radio-Senders Jovem Pan aus den 1970er Jahren. Auch hier liegt - wie schon bei den "Rare Pleasure"-Einschüben - in der Kürze die Würze. Schon nach einer Minute endet dieser gefällige, seidige Easy Listening-Track, der mit Bossa Nova-Lässigkeit flirtet.

    Der ausgeglichene Lead-Gesang von "3 Hands/Divine Hand I" übernimmt zunächst eine beruhigende, sanftmütige Rolle, die eine schöne neue Welt simuliert, welche durch einen synthetischen Beat kontrolliert wird. Dann gerät die Stimme in einen rauschhaften Strudel und der Rhythmus wechselt von mechanisch-künstlich zu wandelbar-individuell. Im Zuge dieser Veränderung wird der Track ausgeblendet, lebt aber mit einem an Walgesänge erinnernden Saxophon und sphärischem Rauschen als Begleitung nochmal auf. Der Song kann grundsätzlich mit einer exakten und eleganten Raffinesse punkten, auch wenn der zunächst geschmeidige Klang später zu Gunsten der Abwechslung aufgegeben wird. Auch dieser Titel hat einen zweiten Teil bekommen ("Divine Hands II"), der sich am Ende des Werkes befindet und die sirenenhaften Gesänge sowie ein Stakkato-Schlagzeug in den Mittelpunkt stellt.

    "Hope You`re Doin` Better" ist ein wohlklingendes Chanson geworden, das Soft-Rock-Eleganz mit elastischem Smooth-Soul und spritzigem Cocktail-Jazz anreichert. Das Lied ist als Zeichen der Verbundenheit mit Ringgos Vater gedacht, der einen heftigen Burn-Out erlitten hatte, was sich auf den Zustand aller Familienmitglieder negativ auswirkte.

    Der "Slowdance" fängt eine Gefühlslage ein, als würde Müdigkeit den Antrieb verringern. Das vorhandene Wohlbefinden sorgt aber parallel für eine geistig wache, angeregte Entspannung. Der Titel steht auch als Sinnbild für die verletzlichen Gefühle, die in einer frischen Beziehung vorherrschen. Solch eine fragile Verbindung sollte wie ein junges Pflänzchen gehegt und gepflegt werden, um gedeihen zu können. Entsprechend rücksichtsvoll und vorsichtig werden die Töne zusammengesetzt. Sie bilden einen zarten Schleier, der jedoch für Zuneigung und Hoffnung durchlässig bleibt. Böse Falle für Radio-DJ`s: Auch dieser Track wird ausgeblendet und bekommt dann noch ein sensibles, introvertiertes Outro verpasst.

    Das kurze, instrumentale "Abundande" ziert sich nach anfänglichem Jubel, in einen gelösten Zustand überzugehen und verfällt stattdessen in einen zurückhaltenden Art-Jazz-Klang. "Masque" verbindet Minimal-Art-Abläufe mit inniger Spiritualität und verträumt-gelöstem, psychedelischem Folk-Jazz-Flair. Der Song entführt in ein musikalisches Märchenland, bei dem Singspiel, Kunst-Lied und Traum-Sequenzen eine wichtige Rolle spielen. Es geht bei den Masken ausnahmsweise mal nicht um Corona, sondern sinnbildlich um die Fassaden, hinter denen wir uns verstecken, wenn wir nicht wollen, dass unser wahres Ich zum Vorschein kommt, weil wir Schutz benötigen.

    "Medium Rare" zeigt auf, dass Kunst und Kitsch manchmal eng beieinander liegen, sich aber zum gegenseitigen Vorteil gehaltvoll befruchten sollten. Der sentimentale Gesang und die gefühlvoll-weiche Begleitung treffen hier auf ein komplexes Instrumentengerüst mit feinsinnigen Abstufungen und originellen Einfällen. "Colours Of The Sunset" offenbart dann die Essenz aus allen Bestandteilen, die "Rare Pleasure" als Konzeptalbum prägen: Charmante Experimente, betörende Gesänge, eingängige Melodiephrasen und eine brillante, konstruktive Begleitung.

    Mndsgn versucht mit "Rare Pleasure" eine Palette von Emotionen abzubilden, die wiederkehrende und einzigartige Momente im Leben ins Gedächtnis rufen. Heraus kommt eine individuelle Sicht, die für die Zuhörer und Zuhörerinnen etliche Identifikationspunkte bereit hält. Und falls diese Übereinstimmungen nicht nachvollzogen werden können, so entführen die Klänge zumindest in eine nicht alltägliche, anziehend-feinsinnige, verführerisch-elegante, exotische und freundlich gestimmte Welt, so dass sich das musikalische Abenteuer wie ein Kurzurlaub in unbekannte Gefilde anfühlt.

    Aber es handelt sich eigentlich um eine Simulation dessen, was landläufig als Easy Listening bezeichnet wird. Wobei hier nichts "leicht" im Sinne von "banal" ist! Die geschmackvollen Details sind wichtig für die Beurteilung des Unterschieds zwischen Esoterik-Schund und Ambient-Kunst. Manche Klänge sind so weich und rund, dass das Gehirn sie eigentlich gar nicht richtig wahrnimmt und deshalb Tür und Tor für manipulative Prozesse geöffnet werden. Dieses Verfahren wird nicht genutzt, um seichte Töne zu verbreiten, sondern um facettenreich-anspruchsvolle Klänge ansprechend und appetitlich zu verpacken. Ringgo nutzt den Wohlklang mit der Absicht, niemanden von vornherein vor den Kopf zu stoßen, was er im Rap und HipHop ganz anders kennen gelernt hat.

    Die aktuellen Töne dienen als selig machender Impfstoff gegen das allgegenwärtige Mittelmaß und als Bastion gegenüber den schrillen, Effekt-haschenden Dünnbrettbohrern und unflexiblen, auf Einheitsbrei konditionierten Chart-Abonnenten. Das ist ein guter Ansatz, um mehr Substanz unter die Leute zu bringen. Es wäre wünschenswert, wenn dieser Plan aufgehen würde. Aber es ist leider nicht grade verkaufsfördernd, sich stilistisch in einem Sound zu suhlen, der zwischen Steely Dan ("Aja"), Mark-Almond, Stereolab, Sergio Mendes ("Crystal Illusions"), Esquivel und Beach Boys ("Friends") angesiedelt ist. "Rare Pleasure" ist eine Life-Balance-Suite, die für Achtsamkeit, Lebensfreude und Ausgeglichenheit wirbt. Mndsgn befindet sich dabei mit seinem retro-gestützten, intellektuell-behaglichen Sound in guter Gesellschaft mit The High Llamas und Jazz Is Dead.

    Die Pop-Symphonie "Rare Pleasure" wird vom Bewusstsein und vom Unterbewussten gespeist und singt ein Loblied auf das menschliche Dasein. Die Instrumente und Stimmen - die teilweise auch wie Instrumente eingesetzt werden - drücken mit jeder Idee das Besondere aus, das jedes Individuum grundsätzlich ausmacht: Die Fähigkeit zum selbstlosen Lieben, eine einzigartige Ausdruckskraft und eine natürliche Begabung, über den Tellerrand zu sehen. Das ermöglicht unter anderem, durch die Verzahnung von Realität und Wunschdenken Innovationen aufzuspüren und freizusetzen. So, wie es bei "Rare Pleasure" geschehen ist. Was für ein seltenes Vergnügen!
    Meine Produktempfehlungen
    • Aja Steely Dan
      Aja (CD)
    • Fifty-Year Anniversary Edition Mark-Almond
      Fifty-Year Anniversary Edition (CD)
    • Crystal Illusions(Reissue) Crystal Illusions(Reissue) (CD)
    • The Space Age Sound Of Esquivel The Space Age Sound Of Esquivel (CD)
    • Emperor Tomato Ketchup (remastered) (Expanded Edition) Emperor Tomato Ketchup (remastered) (Expanded Edition) (LP)
    • Friends / 20/20 Friends / 20/20 (CD)
    • Retrospective Retrospective (CD)
    • Jazz Is Dead 3: Marcos Valle Jazz Is Dead 3: Marcos Valle (CD)
    Wir rufen dich, Galaktika Dota
    Wir rufen dich, Galaktika (CD)
    30.05.2021
    Klang:
    5 von 5
    Musik:
    5 von 5

    Dota bietet durchweg gute Unterhaltung.

    "Dota Kehr schreibt die Lieder, singt und spielt Gitarre, Jan Rohrbach spielt E-Gitarre, Janis Görlich ist am Schlagzeug, 2017 ist Patrick Reising dazu gekommen und spielt Keyboards und Synthesizer und seit 2020 ist Alex Binder am Bass mit dabei." Das ist auf der Homepage von Dota zu lesen, die auch als Dota und die Stadtpiraten und als Kleingeldprinzessin bekannt geworden ist.

    Die Berliner Band Dota praktiziert deutschsprachige Pop-Musik, die von Kleinkunst, Kulturbotschaft, Kabarett, Kirmes und Kindergeburtstag durchdrungen ist und sowohl nach dem Mikrokosmos des (Zusammen)-Lebens wie auch nach der großen weiten Welt riecht. Die Lieder basieren auf Erkenntnis-Texten voller poetischer Be- und Umschreibungen, bei denen gerne mal um die Ecke gedacht werden darf. Dota Kehr reichert die luftig arrangierten Kompositionen, die sich nicht an gängige Trends anpassen wollen, durch eine heitere Gelassenheit in ihrer Stimme mit sympathischen Schwingungen an. Das verleiht den Liedern einen gewinnenden, kumpelhaften Anstrich.

    "Wir rufen dich, Galaktika" ist der Titel der neuesten Platte, die am 28. Mai 2021 erscheint. Er wurde aus einer Szene der Kindersendung "Hallo Spencer" abgeleitet. Auf der Fanseite der Hand-Puppe ist dazu folgendes zu lesen: "Ich rufe dich, Galaktika, vom fernen Stern Andromeda..." - So fängt das Lied an, mit dem die Dorfbewohner die gute Fee herbeirufen, wenn im Runddorf mal wieder irgendein Problem aufgetreten ist, dass sie nicht alleine lösen können! Die beiden folgenden Zeilen des Liedes, die sich unbedingt reimen sollten, beinhalten für gewöhnlich das Problem, zu dessen Beseitigung Gali von Andromeda herbeizitiert wird. Leider rufen die Dorfbewohner die arme Gali oftmals aufgrund irgendwelcher Kleinigkeiten, was unsere Fee verständlicherweise auf die Palme bringt. Aber ihr bleibt nichts anderes übrig, denn sie muss sich an die berühmt-berüchtigten "Andromedanischen Gesetze" halten, die nicht nur für die Dorfbewohner schwer verständlich sind..."

    "Wir rufen dich, Galaktika" ist das sechste Werk unter dem Namen Dota und enthält im Gegensatz zu den Gedicht-Vertonungen auf "Kaléko" vom Vorjahr wieder eigene Texte. Die Veröffentlichung kommt als Standardwerk mit 12 Liedern (+ 1 Bonus-Titel) oder als erweiterte Ausgabe mit 11 zusätzlichen Stücken (inklusive eines ungelisteten Bonus-Tracks) auf den Markt. Dann gibt es noch eine limitierte Edition, die die Doppel-CD sowie ein Strandtuch, zwei Postkarten (davon ist eine signiert) und ein Buch mit Texten und Akkorden enthält.

    Die Darbietung beginnt mit "Als ob". Dieser ruhig-intime, teils (zweck)optimistisch gestimmte Folk-Pop scheint mit seiner Anmut die Worte zu vergolden und ihnen damit noch mehr Glaubwürdigkeit zu verschaffen. Inhaltlich geht es darum, dass es manchmal ganz angenehm sein kann, gedanklich die Routine des Alltags zu durchbrechen. Es kann gut tun, sich zwecks Erhaltung des Seelenfriedens in eine Scheinwelt zu begeben. Das ist dann wie ein Kurzurlaub aus der Realität.

    "Bademeister*in" ist musikalisch die kleine Schwester von "Die Diebe" aus dem Album "Keine Gefahr" (2016), kommt also unbekümmert, flott und auf charmante Weise eingängig rüber. Dreimal gehört und nicht mehr aus dem Kopf bekommen. Und die Moral von der Geschicht`: Unterschätze Frauen in "Männerberufen" nicht! Das sollte ein Hit in allen Frei- und Hallenbädern werden!

    Bei der unsentimentalen Ballade "Besser als nichts" wird wieder einmal deutlich, worin ein besonderer Reiz der Dota-Kompositionen liegt: Die jeweils darzustellende Gefühlslage wird nicht extrem ausgewalzt, vielmehr wird sie ausgewogen und emotional austariert präsentiert. So ist diese Ballade nicht etwa tieftraurig, sondern zeigt trotz großer Wehmut auch ermutigende Tendenzen. Die Band findet einen Sound, der die Geschichte verträumt, aber trotzdem selbstbewusst und zielstrebig untermalt. Andere Lieder offenbaren ähnlich ausgleichende Verfahren: Manche sind witzig, aber nicht albern. Und einige Stücke klingen leicht, ohne dabei leichtgewichtig zu sein.

    Einsichtig formuliert Dota Kehr in "Ich bin leider schuld" ihren Anteil an der Umweltzerstörung und am Klimawandel: Das schädliche Handeln und das begünstigende Denken, welches zu Fehlverhalten und Ignoranz führt, wird als Selbstanklage und Schuldeingeständnis in Szene gesetzt. Die Schlussfolgerungen daraus sind entwaffnend ehrlich und schon beinahe grotesk. Eine herrliche Real-Satire! Ein Pseudo-Reggae mit Folk-Jazz-Einschlag umweht die sorgsam ausgewählten Worte und trägt sie gefühl- und ausdrucksvoll durch die Noten.

    Ein fingerschnipsender Takt gibt dem Track "Wir rufen dich, Galaktika" sofort Schwung und erzeugt eine sonnige, kindliche Unbeschwertheit, die auch im weiteren Verlauf des Liedes beibehalten wird. Die Erfüllung des Wunsches, eine lila Fee möge kommen und die drängenden Probleme der Zeit lösen, wird händeringend herbeigesehnt. Aber ohne unser Engagement ist keine Besserung zu erwarten. Galaktika wird uns jedenfalls nicht retten.

    Im Kontrast dazu wirkt "Ich halte zu dir" demütig. Die Protagonistin gibt ein Plädoyer dafür ab, dass an einer guten Freundschaft festgehalten werden sollte, selbst nach einem Fehlverhalten. Reue, Vergebung und ein Bekenntnis zum Zusammenhalt können das Vertrauen wieder herstellen. Das Gerüst für die Untermalung des zur Schau gestellten Innenlebens bildet ein swingender Folk-Jazz, dem ein synthetischer Break-Beat und ein paar Space-Sounds als Begleiter an die Seite gestellt werden. Die anfänglichen Riffs auf der akustischen Gitarre lassen übrigens an "Seven Nation Army" von The White Stripes denken.

    Dota Kehr verfügt über ein abgeschlossenes Medizinstudium. Im Rahmen dieser Ausbildung bekam sie ein Stipendium für einen Auslandsaufenthalt in Brasilien. Dort konnte sie ihre Erfahrung mit Bossa Nova intensivieren. Die Bossa Nova kann sowohl melancholische wie auch ausgelassene Stimmungen erzeugen und beide Möglichkeiten haben auf "Sommer für Sommer" abgefärbt. Deshalb transportiert der Track bei aller Lockerheit auch eine gewisse Melancholie.

    "Ich hasse es" handelt davon, dass uns durch einen Algorithmus im Internet vermittelt wird, was wir gut finden sollten. Wenn das denn auch noch stimmt, fühlen wir uns durchsichtig. Entsprechend aufmüpfig und angeschrägt ist dieser kurze, im New Wave-Milieu von Devo beheimatete Electro-Pop ausgefallen.

    Eine der größten Herausforderungen im Leben ist es, mit einem anderen Menschen eng verbunden zu bleiben, ohne dass dabei der Respekt leidet. "Funken schlagen" beschreibt diesen Spagat zwischen Hoffen und Glauben oder Begeisterung und Resignation, den es zu bewältigen gilt. Flüchten oder Standhalten, das ist hier die Frage. Als musikalische Begleitung zu diesem Thema wurde ein cool groovender Alternative-Pop gewählt. "Fotosynthese" gehört textlich eher zu den amüsanten Ausflügen und musikalisch zu den unkomplizierten Mitsing-Nummern. Bei aller Spaßigkeit schwingt aber trotzdem noch eine Portion Gesellschaftskritik mit.

    "Wenn`s am schönsten ist, dann soll man gehen, wenn`s am allerschönsten ist, dann soll man bleiben," lautet die Alltagsweisheit, die als Extrakt den Inhalt von "Bleiben" ausmacht. Dota verwöhnen uns mit allerlei Redewendungen, die zu geflügelten Worten werden können. Hier ist es die Bemerkung: "Es ist so still, man hört in tausend Kilometern Gletscher kalben." Akustische und elektronische Instrumente haben sich hier zu einer harmonischen Einheit zusammen gefunden und üben sich in einer aktuellen Ausprägung von erwachsenem Pop.

    Das ausgeglichen-friedvolle Lied "In allem Gedankenlosen" vermittelt sachlich und lyrisch Selbstbesinnung. Diese gelassene, folkloristische Stimmung wird von sphärischen Geräuschen umwoben, die den Track aus den irdischen Problemzonen in die Weiten des Kosmos entführt. Und wieder gibt uns Dota einen Vers mit auf den Weg, der zum Innehalten anregt: "In allen Gedanken ist ein Haken und in allem Gedankenlosen auch."

    Es folgt noch der Bonus-Track "Einfach so verloren", der nochmal den Blick auf schwierige Beziehungs-Situationen legt. Manchmal kommt es vor, dass man sich - ohne es vorzuhaben - aus den Augen verliert. Das Interesse aneinander geht verloren. Einfach so - ohne Absicht. Der Soundtrack zu dieser Misere schaukelt locker-sanft dahin, klagt nicht an, sondern stellt nur fest, dass etwas nicht richtig gelaufen ist. Die Stimmung pendelt sich entsprechend zwiegespalten zwischen leichter Trauer und trottender Bequemlichkeit ein.

    Die 11 Songs auf der Bonus-CD sind nicht nur für Fans interessant, denn sie sind kein Ausschuss. Es gibt hier Glanzstücke, Ergänzungen, Früh-Versionen sowie Lieder, die nicht auf das Hauptwerk passten, zu hören. Zu den Highlights gehören "Halluzinogene" und "Die Flut". Das sind Lieder mit klugen Texten und Hang zum psychedelischen Folk-Rock.

    "Der erste Samstag im Frühling" verbreitet eine lebendige, menschenfreundliche Atmosphäre, wie sie häufig auch von Reinhard Mey dargeboten wird. Mit einer Variante von "Besser als nichts", die nur an der akustischen Gitarre begleitet wird, gibt es dann einen Einblick in den Entstehungsprozess der Komposition, die als fertige Version auf dem Standardwerk zu finden ist.

    "Keine Zeit" hat den Untertitel "Fridays For Future Song" und ist als Protest-Song und Unterstützung für die Klimaschutzbewegung anzusehen. Das intime "Nicht das Paradies" besticht durch eine präzise Analyse dessen, was bei einer Beziehung an Erwartungshaltung bestehen kann. Verbunden mit musikalischer Einfühlsamkeit ergibt sich ein stimmiges Gesamtbild der Schilderung einer Konflikt-Situation, die zu oft romantisch verklärt wird.

    Für "Boot fahren" konnte Moritz Krämer von Die Höchste Eisenbahn als Duett-Gesangspartner bei diesem Gute-Laune-Lied gewonnen werden. "Meine Liebe aus der Ferne" lässt danach die Tradition des Jazz-Schlagers wieder aufleben, wie es auch Lisa Bassenge und Götz Alsmann praktizieren.

    "Brandenburg Laziness" orientiert sich stilistisch in etwa am entspannten ECM-Jazz, so dass sich die instrumentale Begleitung wie eine Light-Version von "Crystal Silence" von Chick Corea & Gary Burton anhört. "Ein bisschen zu still" erweist sich als ein unbeirrbarer, zielstrebiger Art-Pop und der Bonus-Titel "Die Oberfläche" ist als Chanson-Noir mit TripHop-Ambitionen überwiegend in sich gekehrt

    Dota bietet durchweg gute Unterhaltung. Das ist ein schwieriges Geschäft, denn dazu gehört es, die Balance zwischen Eingängigkeit und Anspruch zu wahren. Naiv klingende Einschübe werden durch ernste Abläufe kompensiert, so dass unterm Strich eine breite Vielfalt herrscht. Oder wie es in "In allem Gedankenlosen" heißt: "Spaßig und traurig und schön soll es sein...". Genau diese Attribute machen die einnehmende Wirkung der Stücke aus und sorgen für Abwechslung, Anregung und Anziehungskraft.

    Dota zeigt zum Beispiel auf, dass es durchaus auch mal sentimental zugehen kann, ohne dass dabei billiger Kitsch heraus kommt. Das funktioniert übrigens wie selbstverständlich ohne Qualitätseinbußen. Auf die Haltung kommt es eben an und auf die vermittelnde Persönlichkeit. Wenn diese glaubhaft, überzeugend und charmant agiert, wird alles gut. Die Lieder sind herzerfrischend uneitel, aufrichtig, intelligent und sensibel. Die Musik besitzt eine unaufdringliche Brillanz, die sie mit jedem Hördurchgang wachsen lässt. Dota bietet eben genüssliche Unterhaltung für Menschen mit Herz und Verstand.
    Meine Produktempfehlungen
    • Keine Gefahr Dota
      Keine Gefahr (CD)
    • Die Freiheit Dota
      Die Freiheit (CD)
    • Kaléko (+ Bonus CD) Dota
      Kaléko (+ Bonus CD) (CD)
    • Wo soll ich suchen Dota
      Wo soll ich suchen (CD)
    Flora Fauna Billie Marten
    Flora Fauna (CD)
    30.05.2021
    Klang:
    5 von 5
    Musik:
    5 von 5

    Geheimtipp: Billie Marten zelebriert originell und sensibel mit sinnlich-ergreifender Musik.

    Wenn man draußen unterwegs ist, kann man schon mal richtig dreckig werden. So wie es Billie Marten für das Foto auf dem Cover ihres Albums "Flora Fauna" dokumentiert hat. Zurück zu den Wurzeln, zum Ursprung, zum (Er)Leben. Billie Marten ist naturverbunden und liebt Alpacas. Sie wuchs in den Hügeln von Ripon bei North Yorkshire in England auf und jetzt stellt sie ihren Bezug zur Umwelt dar. "Wenn das Album ein Gemälde wäre, würde es wie Flora und Fauna aussehen - es umfasst jeden Organismus, jeden Winkel der Erde und ein Gefühl der totalen Erfüllung", erklärt die Musikerin den Titel ihres dritten Werkes.

    Billie wurde am 27. Mai 1999 als Isabella Tweddle geboren und war quasi ein "Kinderstar", denn bereits mit 9 hatte sie einen YouTube-Kanal, auf dem sie Cover-Versionen von Pop-Songs veröffentlichte. Mit 12 Jahren nahm sie an den Ont` Sofa-Sessions teil und sorgte mit ihrer Version von Lucy Rose`s "Middle Of The Bed" für Aufmerksamkeit. Das gab einen gewaltigen Schub in Richtung einer professionellen Karriere und 2014 kam dann auch die erste Single ("Ribbon") auf den Markt. Ein Jahr später folgte die EP "As Long As". Von der BBC wurde ihr daraufhin ein kommerzieller Durchbruch vorhergesagt. 2016 erschien mit "Writing Of Blues And Yellows" der erste Longplayer, der im Vereinigten Königreich auf Platz 53 der Album-Charts landete. Die Schattenseiten des Erfolges trafen die junge Frau dann völlig unvorbereitet mit voller Wucht. Sie bekam Ängste und Depressionen und brauchte eine Auszeit. Trotzdem hielt sie an der Musik fest und veröffentlichte 2019 das Album "Feeding Seahorses By Hand". Aber das Musik-Business ist schnelllebig und unbarmherzig. Die Platte bekam jedenfalls nicht mehr die Resonanz des Debüts.

    Aber nun ist sie präsenter denn je. An "Flora Fauna" kommt man nämlich nicht vorbei, sofern Interesse an intelligenten, Folk-basierten Sounds besteht. Der Einfluss einiger Vorbilder ist bei der Musik von Isabella als Energie- und Vorlagenspender nachvollziehbar und wertvoll. Sie heftet sich an deren Spuren und besonders die Innovationen von John Martyn, Laura Marlings lasziver Coolness und die Wandlungsfähigkeit von David Bowie sind omnipräsent. Miss Marten scheint diese Inspirationen intravenös aufgenommen und sie in ihre DNA überführt zu haben, denn die neuen Stücke sprühen vor Kreativität und wurden raffiniert arrangiert und liebevoll produziert. Es wird deutlich, welche positiven Kräfte musikalische Schwingungen bei Isabella Tweddle freisetzen konnten. Es ist nahezu unglaublich, wie stark, selbstbewusst und qualitativ hochwertig die Lieder geworden sind. Keine Spur von Selbstzweifeln, Unsicherheit oder Mittelmäßigkeit ist zu spüren.

    Beim Eröffnungs-Stück "Garden Of Eden" geht es darum, dass wir wie alle Lebewesen Raum zum Gedeihen benötigen und dabei gehegt und gepflegt werden müssen. Der gegenseitige Wettbewerb, in dem wir häufig miteinander stehen, behindert uns jedoch in unserer natürlichen Entwicklung, meint Billie Marten. Der Song drängelt sich im rumpelnd-groovenden Folk-Jazz-Kontext in den Vordergrund und nutzt die Erholungsphasen, um sich geläutert, weise und melodisch verzückt in Szene zu setzen.

    Man stelle sich vor, die Existenz der Erde stehe am unumkehrbaren Abgrund und es gibt die Chance, der Apokalypse zusammen mit nur einer anderen Person zu entkommen. Wen würde man warum auswählen? Dieser Frage geht "Creature Of Mine" nach. Billie singt verführerisch und sanft mit besorgtem Unterton. Zu dem ernsten Thema wird eine Atmosphäre voller Harmonie, Ausgeglichenheit und natürlicher Leichtigkeit erzeugt, die Anregungen aus Westcoast-Folk und vollmundig-rundem Jazz zu einer sinnlichen Erfahrung zusammenführen.

    Mit "Human Replacement" macht die Musikerin darauf aufmerksam, dass es für Frauen oft nicht möglich ist, in der Nacht alleine irgendwo hingehen zu können, ohne Angst haben zu müssen. Passend zum Thema erzeugt der Bass ein dumpfes Grummeln, dass auch als Bedrohung gedeutet werden kann. Und die Stimme klingt eingeschüchtert, versucht aber, Haltung zu bewahren und sich Mut zuzusprechen. Der stramme Rhythmus gibt Rückendeckung und trägt das Alternative-Rock-Stück sicher über die Zeit.

    Für "Liquid Love" lässt die Sängerin einige letzte Silben der Worte lange fließen und erzeugt so ein Gefühl von Wohlbefinden, vielleicht sogar Lust. Zumindest ist der Track fried- und genussvoll angelegt und bedient sich gemächlicher TripHop-Rhythmen zur Steigerung der Intensität.

    Die Poesie von Billie Marten hält sich oft mehrere Deutungsebenen offen. In "Heaven" geht es sowohl darum, zu ergründen, welche Eigenschaften für eine erfüllende Liebe wichtig sind, wie auch darum, himmlische Unterstützung und eine Möglichkeit zu finden, Körper und Geist ins Gleichgewicht zu bringen. Aber der Text lässt durchaus auch andere Sichtweisen zu. Der inhaltliche Themenkomplex wird in einen Ablauf von vertraut wirkenden Pop-Mustern und psychedelisch wirkenden Tönen eingebunden, wobei der Wohlklang eindeutig gegen die Exzentrik gewinnt.

    In Interviews sprach Billie über ihre problematischen Zeiten: "Ich hing mit den falschen Leuten rum, hatte flüchtige und nichtssagende Beziehungen, trank viel und aß nicht." In "Ruin" verarbeitet sie diesen Krieg, den sie gegen den eigenen Körper führte. Ein trockener Rockabilly-Rhythmus gibt das schlaksige Tempo der zarten Ballade vor. Er wird dabei von klaren Surf-Gitarren und dröhnenden Hintergrund-Riffs flankiert. Die ganze Garde musikalischer Gegensätze zwischen Dur und Moll symbolisiert den Kampf, den Billie Marten auf dem Weg zu "Flora Fauna" durchstehen musste.

    Der Schlüsselsatz bei "Pigeon" lautet: "Ich brauche dich mehr, als du mich brauchst". Es geht wohl um fehlendes Selbstvertrauen in der Beziehung und das sich daraus entwickelnde Gefühl, in dieser unbefriedigenden Situation festzusitzen. "Da kann ich nicht mithalten" heißt es an anderer Stelle, was diesen Eindruck bestätigt. Das Lied läuft entsprechend schleppend und bedrückend ab und vermittelt eine schutzbedürftige Unschuld. Die Musik dazu klingt gehaltvoll, mehrschichtig und bodenständig.

    Die klaren Linien von "Kill The Clown" lassen den Track sanft gleiten und die Streicher unterstützen diese Schwerelosigkeit dezent. Ansonsten versorgen akzentuierte Percussion-Fills und ein ruheloser Bass die bewegliche Basis dieses hinreißenden Folk-Pop-Songs mit Energie. Unnachgiebig schwellende Töne begleiten "Walnut" in eine dunkel gefärbte Sound-Landschaft, die wenig Licht zulässt. Aber die Hoffnung stirbt zuletzt und so strebt die Komposition unablässig danach, nicht die Zuversicht zu verlieren. Der Ausgang dieser Bemühung wird aber offen gelassen, denn der Text endet mit der widersprüchlichen Aussage: "Ich werde Dich nie verlassen. Du musst mich verlassen."

    "Aquarium" reflektiert nochmal eine Krisensituation, in der sich Billie Marten befand. Sie rief ihren Vater an, den sie für weise hält, weil er immer direkt auf den Punkt kommt, wenn sie ihn um Hilfe bittet. Als sie ihm berichtete, wie niedergeschlagen sie sich fühle, sagte er nur: "Der schwarze Hund wird verschwinden." Danach schrieb sie sofort diesen Song, der einen geläuterten Eindruck hinterlässt und nicht zufällig an Nick Drake erinnert. Schließlich litt er auch unter psychischen Problemen und vermochte es wie kaum ein anderer, tiefgründige Gefühle so in Noten und Gesang zu gießen, dass sie unmissverständlich, plastisch und unheimlich ergreifend dargestellt wurden.

    Billie Marten begibt sich mit "Flora Fauna" in eine Liga mit Laura Marling, Maria Taylor, Joan Shelley, Judith Owen oder Eilen Jewell. Diese starken Frauen scheuen sich nicht, ihre Emotionen offen zu legen und sie unabhängig, originell und sensibel mit sinnlich-ergreifender Musik zu garnieren. Die besondere Stärke von Billie Marten liegt in ihrer anpassungsfähigen Stimme, die für alle Themen die passende Tonlage findet. Die flexible Instrumentierung unterstützt außerdem vortrefflich die klug inszenierten, substantiell hochwertigen Songs durch ihren lebhaften, transparenten und einfallsreichen Einsatz. Schönheit, Charme, Intimität und Originalität verbinden sich bei "Flora Fauna" zu einer qualitativ hochwertigen Einheit. Willkommen in der Champions League!
    Meine Produktempfehlungen
    • Song For Our Daughter Laura Marling
      Song For Our Daughter (CD)
    • Solid Air: Classics Revisited Solid Air: Classics Revisited (CD)
    • Zeit! 77 - 79 David Bowie
      Zeit! 77 - 79 (CD)
    Full-Throated Messianic Homage Sons Of Raphael
    Full-Throated Messianic Homage (LP)
    23.05.2021
    Klang:
    4 von 5
    Musik:
    5 von 5
    Pressqualität:
    4 von 5

    Die Sons Of Raphael bieten opulente Pop-Musik zwischen Traum und Realität.

    Die Sons Of Raphael sind die Brüder Ronnell und Loral Raphael, die sich zwar äußerlich unterscheiden mögen, aber inhaltlich eine homogene Masse bilden, wenn es darum geht zu definieren, welche Bestandteile interessante Musik beinhalten sollte. Dadurch erinnern sie an Ron und Russell Mael von den Sparks. Die Lieder der Sons Of Raphael dürfen gerne ungewöhnlich, bizarr oder verlockend anders sein. Hauptsache ist, sie sorgen für Erstaunen, beeindrucken nachhaltig und regen an oder sogar auf.

    Die besten und skurrilsten Geschichten schreibt immer noch das wahre Leben: Die Entstehung von "Full Throated Messianic Homage" hat unglaubliche sieben Jahre voller Irrungen und Wirrungen mit allerlei richtungsweisenden Ereignissen gedauert. So spülte eine zufällige Wette auf ein NBA-Spiel soviel Geld in die Kasse, dass sich die Brüder ein 35-köpfiges Begleitorchester samt Chor für die Studioaufnahmen leisten konnten. Das war ein entscheidendes Plus für die Verwirklichung ihrer komplexen Sound-Vorstellungen.

    Mit dieser Verstärkung im Rücken beginnt "Revolution" wie eine religiöse Messe, bevor eine geschlechtlich nicht eindeutig zuordenbare Stimme mit einem Disco-Beat im Gepäck das geistliche Klima plötzlich auflöst und die Tanzfläche in den Mittelpunkt des Geschehens rückt. Dieser Zustand ist allerdings nicht von Dauer, denn das Wechselbad der Gefühle wiederholt sich ständig. Es klingt, als würden die feierlaunigen Pet Shop Boys ihren ausgelassenen Electro-Pop gegen den vertrackten, barocken Art-Pop-Sound eines Van Dyke Parks verteidigen müssen. Manchmal hört es sich auch an, als wäre der Gesang aus einem entfernten Nachbarraum dazu gespielt worden. Ein munter pfeifendes Theremin verbreitet zum Ende hin noch skurrile, gut gelaunte Easy Listening-Space-Age-Sounds. Aus dieser Synthese heraus gelang ein gefälliger, schwungvoller Pop-Song voller Dramatik und schräger Ideen. Ein Widerspruch in sich? Nicht für Ronnell und Loral Raphael.

    Anfangs wabern noch 1960er Jahre Science Fiction-Sounds und Heavy Metal-Riffs dumpf durch den Äther. Bis dann Philly Soul-Euphorie um die Ecke lugt und sich Harmony-Pop breit macht, der bei "He Who Makes The Morning Darkness" allmählich konzertante Strukturen annimmt und den Song genüsslich mit Glücksgefühlen auffüllt. Ein Rap-Versuch gleitet bei "Siren Music" sauber und beweglich in einen psychedelischen Groove über. Die Stil-Akrobaten ermöglichen so die Entstehung eines belebenden Cocktails mit positiv geladenen, fremdartigen Klangnebeln, die sich betörend und suggestiv in die Großhirnrinde brennen, um dort die Sinne zu verwirren.

    Absichtlich verstimmte Gitarren führen bei "On Dreams That Are Sent By God" noch tiefer hinein in das psychedelische Wunderland. Überall zirpt, surrt, schnurrt, klingelt und geigt es. Der Gesang wirkt wie leicht betäubt, führt aber trotzdem sicher durch dieses unbekannte Terrain. Wäre da nicht der gleichmäßige, herzschlagartige Rhythmus, würde sich das Lied im Rausch der verzaubernden Klänge verlieren.

    Das schläfrige "# 9 Dream"-Gedanken-Karussell von John Lennon kollidiert bei "Devil Devil" ansatzweise mit dem punk-poppigen Aufruhr der Buzzcocks und entfesselt auf diese Weise ein vitales Assoziations-Gewitter. Bubblegum-Pop trifft dann bei "Yeah Yeah Yeah" auf eine Progressive-Rock-Fassade und gemeinsam gehen sie eine tolerante, vergnügliche Symbiose ein. Der daraus abgeleitete Refrain zerfrisst die Gehörgänge, weil er sich dort unvermittelt und penetrant festsetzt.

    "Oh Momma" ist ein trauriger Walzer, der langsam und schleppend abläuft. Im Hintergrund geht es verwunschen zu: Synthesizer, Theremin und Geigen pfeifen und surren, als wollten sie den Soundtrack zu "Alice im Wunderland" neu interpretieren und als Drogenhymne aufführen, was die Erzählung ja vielleicht sogar ist. Da ist er wieder, der schon bei "Revolution" als brachial empfundene Lebenslust-auf-Teufel-komm-raus-Schwung. Der verleiht "I Sing Songs For The Dead" ein hohes Tempo und könnte bei passender Gelegenheit wahrscheinlich tatsächlich Tote zum Leben erwecken. Das Lied bleibt überwiegend aufwühlend-pompös, wird aber in den kurzen Verschnaufpausen auch mal pathetisch-theatralisch.

    Der vertonte Todeswunsch von "Let’s All Get Dead Together" lässt die intim-erhabene, prachtvoll klingende Atmosphäre des Beach Boys-Meisterwerks "Pet Sounds" in einem veränderten Gewand aufleben: So übernimmt der Synthesizer hier den Orgel-Part, die Streicher sind dominanter als bei der Vorlage und der Chor klingt optimistischer. Der sakrale, balladeske Dream-Pop "The Sand Dunes Lift Up" badet in schwelgerischem Gesang und wird mit allerlei stimmungsvollen Details gefüttert, so dass er das Album opulent und verzückt zu einem würdigen Abschluss bringt.

    Man muss schon positiv verrückt sein, wenn man solch ein aus der Zeit gefallenes Projekt nach sieben Jahren Reife auf das Publikum loslässt, ohne moderne, verkaufsfördernde Attribute einzubauen. Das dokumentiert Leidenschaft, Enthusiasmus und Liebe zur Pop-Kultur, die Respekt abfordert.

    Die Musik vermittelt über weite Teile den Eindruck, als käme sie aus einer Welt zwischen Traum und Realität, so verwaschen, verspielt und unwirklich klingen dann die Töne. Die Musik ist eine sinnvolle, willkommene Erweiterung der aktuellen Pop-Landschaft, denn sie ist kunstvoll oder verträumt und bewegt sich dynamisch zwischen Leichtigkeit und Nachdenklichkeit unbekümmert hin und her. Das gibt es nicht so oft in dieser Qualität. Für die Brüder ist die Schallplatte eine "Hymne an das Leben und den Tod, an Sünde, Liebe und Wiederauferstehung", was sich auch in den mit spirituellen Metaphern durchzogenen Texten widerspiegelt. Sieben Jahre der Hungersnot lägen hinter ihnen, behaupten die kreativen Brüder. Mögen sie durch "Full Throated Messianic Homage" reich und berühmt werden. Verdient hätten sie es.
    Meine Produktempfehlungen
    • Song Cycle (SHM-CD) Van Dyke Parks
      Song Cycle (SHM-CD) (CD)
    • The Complete Pet Sounds Sessions Vol.1 (Papersleeves im Schuber) The Complete Pet Sounds Sessions Vol.1 (Papersleeves im Schuber) (CD)
    Showtunes Lambchop
    Showtunes (CD)
    23.05.2021
    Klang:
    4 von 5
    Musik:
    5 von 5

    Showtunes für Leute, die die üblichen Showtunes nicht mögen

    2019: "This (Is What I Wanted To Tell You"), 2020: "TRIP", 2021: "Showtunes". Von Album zu Album entfernten sich Lambchop zunehmend von den elektronischen Spielereien und dem verfremdetem Gesang, die "FLOTUS" (2016) so befremdlich erscheinen ließ. Dafür ließen die Künstler wieder mehr Raum für verdeckten Soul, klare Americana-Strukturen und anmutige Tondichtungen zu. Lambchop ist zwar ein offenes Projekt von Freunden, aber der Denker und Lenker ist eindeutig Kurt Wagner. Der charismatische Musiker bestimmt, welcher Weg eingeschlagen und welches Konzept verfolgt wird. Und auch, welche Musiker an den Produktionen beteiligt werden.

    Für "Showtunes" holte er sich Ryan Olson von den Bands Gayngs und Poliça ins Boot, der für die Produktion, die Arrangements und Sound-Manipulationen zuständig war. Dann noch seinen alten Freund James McNew am Kontra-Bass, dessen "Weather Blues" für das Cover-Versionen-Werk "TRIP" ausgesucht wurde und dessen Stammband Yo La Tengo heißt. CJ Camerieri kümmerte sich um alle Blasinstrumente und Andrew Broder (von Fog) saß am Flügel und bediente die Turntables. Co-Produzent Jeremy Ferguson und Schlagzeuger Eric Slick sorgen für Percussion-Fills und der Kölner Hip Hop Produzent Twit One (der 2016 den Song "FLOTUS" remixte) steuerte Beats und Effekte dazu. Wagner singt, spielt MIDI-Piano sowie Gitarre und gibt seinen Kompositionen den letzten Schliff.

    Die "Showtunes" hinterlassen den Eindruck einer abstrakten Rekonstruktion der opulenten Kompositionen von George & Ira Gershwin, Cole Porter und Richard Rodgers & Oscar Hammerstein, die dem sogenannten Great American Songbook zugeordnet werden. Von Lampchop werden sie wie durch einen Zerrspiegel in die Gegenwart gelenkt und umgedeutet. Die aktuellen Lambchop-Schöpfungen würden also besser im abstrakten Musik-Theater funktionieren, als im Musical-Kontext, dazu sind sie einfach zu skurril und bizarr. Kurt Wagner entwickelt außerdem einen individuellen Ausdruck, der Traurigkeit zulässt und sie auf eine hoffnungsvolle Ebene hievt. Zusammen mit künstlerischen Elementen wird so eine neue Hörerfahrung hervorgerufen. Das ist vergleichbar mit den Arbeiten der Tindersticks oder von The Blue Nile. Diese konstruktive Melancholie in Verbindung mit gehaltvollen, fordernden Tonfolgen führt zu einer Besinnung auf das Wesentliche und somit zu einem Blickwinkel, von dem aus sich neue Perspektiven eröffnen.

    Der Opener "A Chef's Kiss" wirkt in diesem Zusammenhang anfangs durch eine andächtige, moll-lastige Kirchenorgel noch bedrückend. Aber im weiteren Verlauf bekommt der Track bei aller Zurückhaltung und Schwere in der Stimme von Kurt Wagner trotzdem eine beinahe schwerelose Komponente verliehen, als wäre inzwischen jeglicher irdischer Ballast abgeworfen worden. "Drop C" ist das Ergebnis einer Klang-Collage, die aus einigen, über eine lange Zeit gesammelten Einfällen zu bestehen scheint. Monotone Akkord-Wiederholungen, Spoken-Word-Einblendungen, elektronische Percussion und Wall Of Sound-Bläser sind dabei nur ein paar der Zutaten, mit dem dieser anspruchsvolle, barocke, um Wohlklang bemühte Art-Pop garniert wurde. Gesanglich hat Kurt Wagner in Bill Callahan einen Gleichgesinnten, denn er setzt seine Stimme genauso betont und bedächtig ein und verfügt über die gleichen stimmlichen Ausdrucksmöglichkeiten.

    Der witzige Titel "Papa Was A Rolling Stone Journalist" hat musikalisch nichts mit der Funk-Nummer "Papa Was A Rolling Stone" der Temptations zu tun. Mit diesem Stück zeigen Lambchop, dass es zwischendurch auch mal gut tut, die Instrumente eine Geschichte erzählen zu lassen. Sprache stört nur, wenn Schwingungen erzeugt werden können, die für sich selbst sprechen. Dramatik, Romantik, lasziver Bar-Jazz und mächtige Fanfaren treffen unkonventionell zusammen und gestalten einen Soundtrack für einen Film, den es gar nicht gibt.

    Es ist mutig, seinen Fans solch ein abstraktes, um Harmonie bemühtes, aber in surrealen Sequenzen gefangenes Stück wie "Fuku" zuzumuten. Darin hat Kurt Wagner inzwischen Routine. Auf dem Vorgänger "TRIP" war die Deutung von Wilcos "Reservations" auch schon solch eine anspruchsvolle Herausforderung. Bei diesen Stücken geht die konsequente Abkehr von traditionellen Mustern in Richtung der Spätwerke von Scott Walker oder erinnert an "Arrythmia" von Stuart A. Staples. Das sind alles Gleichgesinnte, wenn es darum geht, Hörgewohnheiten aufzubrechen.

    Bei "Unknown Man" lässt Kurt Wagner quasi die Stille atmen, bevor sich das Geschehen verdichtet und sich der Track zu einem fiktiven, abstrakten The Band-Song entwickelt. Das ist genau der Moment, wo der Americana-Sound und das Great American Songbook zu einem Konstrukt verschmelzen und es entsteht Musik, die auch für das epische Theater von Bertold Brecht geeignet gewesen wäre.

    Für "Blue Leo" verfremdet Wagner seine beruhigende, weise Stimme, so dass sie einer kaputten Computer-Ansage gleicht. Ein klopfender, elektronisch erzeugter Takt schlägt sich auch noch auf die Seite der Maschinenklänge. Aber ein sonorer Bass, ein für edle Schönheit sorgendes Piano und eine mild angeblasene, gestopfte Trompete vermitteln als Gegengewicht Geborgenheit und Sanftmut. Siehe da: Die Gitarre wurde doch nicht gänzlich eingemottet. Beim gesanglosen, ruhigen, von verhaltenen Bläser- und Keyboard-Teppichen getragenen "Impossible Meatballs" steuert sie silbrige Töne bei, die Bilder von weiten Landschaften hervorrufen, die von Sehnsucht begleitet sind. Wer dabei an "Paris, Texas" von Ry Cooder denkt, liegt nicht falsch.

    Wie aus einer fremden Welt oder einem nicht beachteten Radio dringt bei "The Last Benedict" gelegentlich weiblicher Opern-Arien-Gesang ans Ohr. Diese Begegnung ist ungewöhnlich und trägt seltsame Züge, als ob sich die Töne unabsichtlich eingeschlichen hätten. Oberflächlich betrachtet stören sie den einträchtigen Ablauf dieser um Harmonie bemühten Ballade, aber eigentlich bereichern sie den Song, weil sie grundsätzlich unvereinbare Bestandteile zusammen bringen möchten.

    Die neuen Lieder entstanden an einem Midi-Piano, nicht wie sonst an der Gitarre. Die Beschäftigung mit dem Tasten-Instrument schuf neue Möglichkeiten und machte andere Ausdrucksformen erst möglich. Der Sound kann manchmal sowohl als entschleunigend wie auch wohlklingend angesehen werden, so dass er nur noch von der Stille an Intensität übertroffen wird. Aber einen abstrakten Kunstverstand sollte man auch haben, um alle Tracks einordnen und würdigen zu können. Die Musik, die nur knapp eine halbe Stunde dauert, ist nämlich manchmal auch vertrackt, komplex arrangiert und nicht einfach zu hören. Es gibt im Sinne eines traditionellen Pop-Songs nur wenige markante Melodielinien und keine mitreißenden Rhythmen. Dafür Atmosphäre satt, erhabene Stimmungen, interessante Sounds und eine Stimme mit hohem Wiedererkennungswert und besonders eindrucksvollem Timbre.

    Die Kompositionen sind Showtunes für Leute, die die üblichen Showtunes nicht mögen, sagt Kurt Wagner. Mit etwas Fantasie kann man sich diesen Song-Zyklus tatsächlich als Grundlage einer Bühnenshow mit wild-romantischem, teilweise verwirrendem Ablauf vorstellen. Lambchop haben jedenfalls mit "Showtunes" ein Gesamtkunstwerk vorgelegt, in das Zeit investiert werden muss, um es vollständig zu ergründen.
    Meine Produktempfehlungen
    • Trip Lambchop
      Trip (CD)
    • Bish Bosch Bish Bosch (CD)
    • Distractions Tindersticks
      Distractions (CD)
    • Shepherd In A Sheepskin Vest Bill Callahan
      Shepherd In A Sheepskin Vest (CD)
    You Are The River You Are The River (CD)
    23.05.2021
    Klang:
    4 von 5
    Musik:
    3 von 5

    Zwischen Pop und Americana: Anders Enda Barnet sucht seine Identität.

    Anders Enda Barnet ist der Künstlername des schwedischen Musikers Anders Göransson und "You Are The River" ist sein zweites Album nach "I Was Quiet" von 2016. Anders ist unter anderem Fan von Warren Zevon und Elton John. Dessen Musik brachte ihm sein Vater - ein Jazz-Schlagzeuger - nahe, um ihn als Kind zum Klavier spielen zu animieren (hat ja auch geklappt).

    Auf "You Are The River" wird der Schwede von erfahrenen Musikern auf seinem Weg begleitet. Das sind im Einzelnen: Anders Grahn, der auch für die Black Eyes Peas und Anastacia arbeitete und in der Band von Daniel Norgren Bass spielt. Dann unterstützt ihn noch Daniel Skoglund, der als Songs Of Boda beispielsweise im Jahr 2018 das wunderbare Album "Iago" einspielte sowie der Schlagzeuger Per Svenner, der Mitglied der Bands Räfven und Maybe Canada ist. Vervollständigt wird das Ensemble noch durch Lars Niklas Hedström, der als Rambling Nicholas Heron "Indiefolkrockboogieblues" zu seinem Markenzeichen gemacht hat.

    Anders Enda Barnet liebt das Spiel mit Identitäten und Verweisen. Für das unkompliziert groovende "Sunshine Hits Your Eyes" setzt er eine quäkend-fiepsende Farfisa-Orgel ein, die direkt an The Black Keys erinnert. Andere schwirrende Keyboard-Töne lassen eher an Creedence Clearwater Revival denken. Rhythm & Blues, Roots-Rock und Sunshine-Pop begegnen sich hier auf Augenhöhe.

    Der erste Eindruck bei "Easy Way Of Living" war: Das ist leichter Pop fürs Radio, sicherlich angenehm bei langen Autofahren, gewinnt aber keinen Innovations-Preis. Helle, hohe Keyboard-Töne unterstützen die Melodie und wirken wie aus einem Billig-Synthesizer der 1980er Jahre entliehen. Die Rhythmus-Fraktion hält stark, druckvoll und tapfer dagegen und am Ende des Stückes gibt es durch ein engagiertes Gitarren-Solo noch Rettung vor dem klebrigen Pop-Sumpf. Der zweite Eindruck war: Was für ein freundlicher, gradliniger Ohrwurm!

    Bei "You Turned Off All The Lights" erinnert der Gesang und der Songaufbau tüchtig an Conor Oberst und Bright Eyes. Das ist sicher nicht unbedingt eine schlechte Referenz, aber die Ähnlichkeit ist doch zu frappierend. Allerdings sorgt die Flöte für eine besondere, seltene Klangfarbe. Im Rahmen der Entwicklung von "A Heavier Lid" hat Anders dann jedoch sein Gespür für interessante, geschmackvolle Arrangements eingebüßt. Der Song ist seicht und schmalzig. Die Panflöte vermittelt außerdem noch den Eindruck von aufgesetzter, schnöder Touristen-Unterhaltung.

    "Easy To Leave" entstand, als Anders mit einer alten Drum-Machine rumspielte, die aus dem Bestand seines Vaters stammte. Der elektronische Beat erinnert an "In The Air Tonight" von Phil Collins, zumindest meint Anders das. Die schwermütige Ballade wird von schwirrenden Tönen umgeben, die sie in einen Traum-ähnlichen Zustand versetzt. Der Track "You Are The River" beschwört gesangstechnisch die Eindringlichkeit und bittere Süße von Gram Parsons. Aber dessen wehmütiger Schmerz in der Stimme bleibt wohl einzigartig und unerreicht. Zumindest beweist Anders Enda Barnet, dass er starke Vorbilder hat, nach denen er sich ausrichtet.

    Mit "High Like Mountains" legt es der Schwede wieder einmal darauf an, einen anrührenden Dauerbrenner zu installieren. Das Prinzip: Eine sanfte Melodie, die zum schwelgen einlädt, macht den Türöffner. Der zuckersüße Refrain erwischt einen dann eiskalt, wickelt die Sinne ein und ob man will oder nicht, der Song hakt sich fest. Der Instrumentaltitel "Back To Back" verbindet danach Tragödien-Soundtrack-Stimmung mit Jazz-Improvisation und schafft sowohl eine spannende wie auch undurchsichtige Atmosphäre.

    Anders Enda Barnet setzt leichte Duftmarken, aber noch keine eindeutigen, bedeutenden Zeichen, was seine musikalische Souveränität angeht. Jeder Song liefert Referenzen, transportiert verlässliche Werte und schmeichelt den Ohren. Aber bei der Einverleibung von Inspirationen leidet manchmal doch die Originalität, weil das Gedankengut zu offensichtlich eingesetzt wird.

    Die besondere Stärke von Anders Enda Barnet liegt darin, dass er entwaffnende Pop-Songs schreiben und interpretieren kann. Diese Lieder sind zwar einfach und durchsichtig strukturiert, aber man kann sich ihrer einnehmenden Wirkung nicht entziehen ("Sunshine Hits Your Eyes", "Easy Way Of Living", "Easy To Leave", "High Like Mountains"). Das abschließende Instrumental-Stück geht in die entgegengesetzte Richtung und zeigt den Musiker als ernsthaften Erzeuger von Kopfkino stiftenden Tönen. Auch das gelingt überzeugend. Wie gesagt, "You Are The River" ist noch nicht der große Wurf, dürfte aber ein wertvoller Schritt auf dem Weg zur eigenen Identität sein.
    Meine Produktempfehlungen
    • Garland Garland (CD)
    • Original Album Series Warren Zevon
      Original Album Series (CD)
    • Jewel Box (Limited Edition) Elton John
      Jewel Box (Limited Edition) (CD)
    Daddy's Home St. Vincent
    Daddy's Home (CD)
    14.05.2021
    Klang:
    5 von 5
    Musik:
    5 von 5

    "Daddy`s Home" vermittelt übersprudelnden Ideenreichtum.

    Annie Erin Clark wurde 1982 in Tulsa, Oklahoma geboren und als sie sieben Jahre alt war, zogen ihre Eltern in die Einöde von Texas. Schon früh wurde das Mädchen vom Künstler-Virus infiziert, denn sie lernte bereits mit 12 Jahren Gitarre zu spielen und hatte das Privileg, als Teenager mit ihrem Onkel Tuck Andress vom Jazz-Duo Tuck & Patti auf Tournee gehen zu dürfen. Nach dem Abitur studierte das strebsame Talent an der Berklee School Of Music und nahm 2003 zusammen mit anderen Studenten unter dem Namen Ratsliveonnoevilstar eine EP auf. 2004 war es verlockender, sich dem ausgeflippten Chor The Polyphonic Spree als Gitarristin und Sängerin anzuschließen, als auf der Uni zu bleiben. Nach Stationen bei Glenn Branca, Arcade Fire und Sufjan Stevans war es Zeit für eine eigene musikalische Identität und für einen passenden Künstlernamen. Das Pseudonym St. Vincent wurde sowohl von der Großmutter wie auch vom Namen des New Yorker Hospitals inspiriert, in dem der Poet Dylan Thomas starb.

    Innerhalb weniger Jahre nach Veröffentlichung des ersten Longplayers "Marry Me" in 2007 hat sich St. Vincent dann vom Insider-Tipp über einen Kritiker-Liebling zu einer etablierten, festen Größe im Alternative-Rock gemausert. Dazu beigetragen hat sicherlich auch die Unterstützung renommierter Musiker wie David Byrne, mit dem sie 2012 die Platte "Love This Giant" aufnahm. Eine besondere Ehre wurde ihr jetzt durch Paul McCartney erwiesen, der sich persönlich für ihren Remix von "Women And Wives" auf "McCartney III Imagined" bedankte. Bei soviel Wohlwollen und Anerkennung ist die Erwartungshaltung an das neue Werk, welches am 14. Mai 2021 erschienen ist, besonders hoch.

    St. Vincent geht bei ihrem sechsten Solo-Album "Daddy`s Home" mit großem Selbstbewusstsein zu Werke und vertraut voll auf ihre Erfahrungen sowie den zahlreich erworbenen Fähigkeiten. Die neuen Schöpfungen wurden entsprechend zielsicher mit unverbrauchter Energie und großen Gesten ausgestattet. Der Titel der Platte spielt auf den Sachverhalt an, dass Annies Vater 2010 wegen Wirtschaftskriminalität inhaftiert wurde und nach dem langen Gefängnisaufenthalt wieder nach Hause kam. Die lange andauernde Verarbeitung der surrealen Situation, plötzlich eine enge Bezugsperson verloren zu haben und die Überlegungen, was eine Vaterrolle eigentlich ausmacht, inspirierten sie zu dem aktuellen Werk. Die Beschäftigung mit der Vergangenheit hat auch Erinnerungen an die Musik zurückgebracht, die sie als Kind hörte und auch diese Eindrücke haben Spuren bei "Daddy`s Home" hinterlassen.

    Los geht es mit "Pay Your Way In Pain", wo nach einem Vaudeville-Intro kokette, kräftige Funk-Merkwürdigkeiten im Stil von "Come" (vom gleichnamigen Prince-Album) die Regie übernehmen. Oder sind hier etwa Streiflichter der Funk- und Disco-Pioniere aus den 1970er Jahren eingeflossen, die womöglich durch die Räume und Flure des Elternhauses von Annie hallten? Auf jeden Fall geistern David Bowies Ausflüge in schwarze Musik - und hier besonders der Song "Fame" von "Young Americans" (1975) - durch die Komposition. Der Bass pumpt kräftig und der Groove wird durch einige Breaks abgelenkt, was den Track in die Jetztzeit befördert. In dem Lied geht es um die tägliche Bewältigung des Alltags, die ohne Kampfeswillen nicht zu meistern wäre. Eindeutig retro-orientiert ist auch "Down And Out Downtown". Hier gibt es psychedelischen, harmonisch swingenden Jazz-Folk zu hören, wie er ab Mitte der 1960er Jahre von Fred Neil, Tim Buckley oder Pentangle entworfen und kultiviert wurde. Annie Clark trägt den Song voller Leidenschaft mit Würde und einer großen Portion Optimismus vor.

    Lasziver Nachtclub-Jazz hat den Track "Daddy's Home" geprägt. Das Stück verbreitet den distanziert-erwartungsvollen Charme einer Schleichkatze und die Frivolität einer Burlesque-Show. Eine lässige Eleganz - wie sie von Steely Dan`s "Gaucho" bekannt ist - umschlingt und umweht die Noten und bringt noch eine coole Cleverness mit ein, die den Song zu einem besonders raffinierten Kleinod werden lässt. Der perfekte Easy-Listening-Pop der Carpenters stand Pate für die zuckersüße Verpackung des zeitlupenhaften "Live In The Dream". Aber St. Vincent wäre nicht St. Vincent, wenn ihr nur diese eine Assoziation für die Gestaltung eines Songs reichen würde. Und so gibt es auch noch ein kurzes Gitarren-Solo, das sehr gut auf "Wish You Were Here" von Pink Floyd gepasst hätte.

    Country-Rock, Joni Mitchell-Referenzen, Space-Rock, spirituelle Gesänge und Fleetwood Mac-Pop-Harmonien sind nur ein paar Zutaten, die für "The Melting Of The Sun" zu einem betörenden Art-Pop-Gebilde zusammen geführt wurden. Der Song ist als Liebeslied an starke Künstlerinnen gedacht und symbolisiert unter anderem, dass edler Sanftmut wahre Stärke bedeutet.Das Chanson "The Laughing Man" wirkt mondän, souverän, ausgeglichen und frivol. St. Vincent zeigt sich als verführerische Dame von Welt, die alle um die Finger wickeln kann und die Gestaltungs-Fäden fest in der Hand hält. Das Lied ist also sexy, geheimnisvoll und entspannt zugleich.

    Der Disco-Funk "Down" wirkt euphorisierend und wurde angenehm vertrackt gestaltet. Es soll sich hier eigentlich um eine Rache-Phantasie handeln. Annie Clark versteht es aber, durch differenzierte Rhythmus-Linien zu überzeugen, statt wild aufzutrumpfen. Sie muss nicht klotzen, um leidenschaftliche Töne zu erzeugen, sie erschafft diesen Effekt schon alleine durch das gezielte Setzen von markanten Ausrufezeichen. Der Country-Folk-Pop "Somebody Like Me" weist Dream-Pop-Tendenzen auf, geht aber aufgrund seiner entwaffnenden Natürlichkeit zu Herzen. Die Krönung vollbringt hier Greg Leisz mit seiner hinreißenden, jauchzenden Pedal-Steel-Guitar-Einlage. "Liebe ist eine einvernehmliche Täuschung. Das ist für mich sehr poetisch und sehr romantisch.", sagt St. Vincent zum Inhalt des Textes.

    "My Baby Wants A Baby" ist ein klassischer Pop-Song, der von Wohlklang-Spezialisten wie den beinahe vergessenen Künstlern The Zombies, The Left Banke, Emitt Rhodes oder Seals & Crofts ersonnen worden sein könnte. Ist er aber nicht. Es ist ein Original von St. Vincent. Der Funk-Jazz-Pop "At The Holiday Party" wäre neben einigen anderen Songs auf dem Album in einer besseren Welt ein Radio-Hit. Das Lied hat alles, was ein Sympathieträger benötigt: Einen Gesang mit Wiedererkennungswert, eine einprägsame Melodie, einen Ohrwurm-Refrain und Ecken und Kanten, die den Track lange interessant und spannend halten.

    "Candy Darling" war eine transsexuelle Schauspielerin aus dem Umfeld von Andy Warhol. Diese Hommage an sie ist genauso einfühlsam wie wehmütig und schon nach kurzer Zeit vorbei. Wie das Leben der Protagonistin, die mit nicht einmal 30 Jahren in New York an AIDS starb. Auf dem Cover-Foto von "Daddy`s Home" zeigt sich Annie Clark in ähnlicher Kleidung und mit ähnlichem Haarschnitt wie die Warhol-Ikone. Um die vielen Eindrücke zu verwischen und Verwirrung zu stiften, werden an Position 6, 9 und 14 kurze, atmosphärisch verwehte Einspieler unter dem Namen "Humming (Interlude 1-3)" eingeblendet, die dem Werk eine geheimnisvolle Aura verpassen.

    Wird Annie Clark nur von ihrer Vergangenheit eingeholt oder hat sie den richtigen Zeitpunkt gewählt, um auf Spurensuche zu gehen und Bewährtes aus der Pop-Historie mit Umsicht, Feingefühl und kreativem Bewusstsein aufzuarbeiten? Egal, jedenfalls passt alles wundersam zusammen, denn "Daddy`s Home" ist das vielseitigste, stilistisch offenste Werk geworden, welches St. Vincent bisher veröffentlicht hat. Die intelligente Künstlerin wuchert mit Versatzstücken, die nicht unbedingt von tatsächlich existierenden Vorlagen entliehen sein müssen, aber zumindest den Eindruck hinterlassen, sie kämen aus dem kollektiven Bewusstsein der Pop- und Rock-Historie. Was das Album so stark macht, ist sein übersprudelnder Ideenreichtum, der nicht als Selbstzweck dasteht. Er wird vielmehr genutzt, um Songs ins Leben zu rufen, die überraschend sind, aber für den langjährigen Musikhörer etliche Referenzen bereithalten, so dass sie sofort heimisch und vertraut klingen, dabei aber originell und unverbraucht klingen. Das ist eine große Kunst, die nicht viele Musiker beherrschen. Chapeau!

    Das Album hat das Zeug dazu, auch noch am Jahresende so zu beeindrucken, dass es in den Bestenlisten von 2021 ganz weit oben steht. Zeitlose Brillanz und spannendes Songwriting kommen hier wie Nitro und Glyzerin zusammen, um ein Feuerwerk an Einfällen abzubrennen.
    Meine Produktempfehlungen
    • The Reprise Albums (1968 - 1971) Joni Mitchell
      The Reprise Albums (1968 - 1971) (CD)
    • For Always For Always (CD)
    • McCartney III Imagined McCartney III Imagined (CD)
    • Young Americans David Bowie
      Young Americans (CD)
    • Little Bit Of Rain (Stereo & Mono) Little Bit Of Rain (Stereo & Mono) (CD)
    • Gaucho Steely Dan
      Gaucho (CD)
    Slow Travels Liv Solveig
    Slow Travels (CD)
    14.05.2021
    Klang:
    5 von 5
    Musik:
    5 von 5

    Liv Solveig kombiniert beschwingten Pop, Singer-Songwriter-Ästhetik, Klassik und Jazz miteinander.

    Die Eltern von Liv Solveig Wagner kommen aus Norwegen und Deutschland. Sie wohnte als Kind und Jugendliche unter anderem in Tübingen und Stuttgart, hat in Karlsruhe Geige und in New York Jazz-Gesang studiert und lebt jetzt in Berlin. Auf ihrem Debüt "Slow Travels" verarbeitet die Musikerin unter anderem beschwingende Einflüsse aus Pop, Singer-Songwriter-Ästhetik, Klassik-Motive und Jazz-Themen. Die Jazz-Gesang-Ausbildung kommt in seiner ursprünglichen Form allerdings nicht so sehr zur Geltung. Der Titel des Werkes ist sinnbildlich für die lange Reise anzusehen, die bei Liv Solveig zu einer musikalischen Definition geführt hat, die sie selber als "Sinfonic Scandinavian Indie" bezeichnet.

    Alle Songs des Albums wurden übrigens schon 2017 fertig gestellt und damals mit einem Folk-Background versehen. So richtig zufrieden war Liv Solveig dann aber doch nicht mit den Aufnahmen. Deshalb überarbeitete sie die Songs und hat dabei noch entscheidende Änderungen vorgenommen. Die Corona-Einschränkungen gaben ihr die Muße, mit Abstand Zusammenhänge zu hinterfragen und aus den gewonnenen Erkenntnissen neue Schlüsse zu ziehen. So kam es, dass zum Beispiel akustische mehrmals durch elektrische Gitarren ersetzt und Songs gekürzt wurden. Letztlich kamen alle Details auf den Prüfstand und wurden abermals auf ihre Tauglichkeit hin untersucht.

    Dennoch sind grundsätzliche Prägungen geblieben: Die endlosen Landschaften Norwegens mit ihren Wäldern, Seen und Fjorden finden in den Liedern weiterhin ihren kühlen, bedächtigen, weitläufigen Widerhall. Entschleunigung und Achtsamkeit, haben bei der Entwicklung der Kompositionen eine große Rolle gespielt. Genauso wie Einflüsse, die aus der Beschäftigung mit klassischer Musik heraus entstanden sind. Da ihre Mutter Kirchenorganistin war, liefen Werke von Vivaldi und Bach im elterlichen Haus, waren aber auch bei der Geigen-Ausbildung wichtig. Dabei lernte sie nebenbei, welche wichtige Funktion Disziplin bei der Erlernung eines Instrumentes bedeutet. Beim Jazz-Gesang-Studium kam dann die Improvisation dazu. Neben einer guten Technik war jetzt auch Fantasie gefragt. So kamen Pflicht und Kür zusammen. Eine Paarung, die sich wie Yin und Yang ergänzen und sich bei der Erforschung von Grenzen und Unterschieden als nützlich erweisen. Dieses Rüstzeug lässt die Musik sowohl ernst wie auch verspielt erscheinen.

    Ein weiteres Bestreben von Liv Solveig ist es, Gegensätze harmonisch vereinen zu wollen: Lead- und Hintergrund-Stimmen sorgen bei "Cold Heart" für Anmut und Andacht, bevor Schlagzeug, E-Gitarre und Piano weltlichen Schwung und Ausgelassenheit verbreiten. Die Geige verbindet dann die konträren Emotionen zu einer Einheit und sorgt somit für den Klebstoff in dem sich dynamisch steigernden Song, während die Trommeln weiter unnachgiebig voran preschen. Für "Sleepless With Endless Thoughts" wird beschaulicher Folk in kräftigen Folk-Rock transformiert. Aus Lagerfeuer-Romantik wird somit ein weitläufiges, cooles Spaghetti-Western-Feeling abgeleitet. Schwüle, schleppend-hypnotische Voodoo-Percussion-Einschübe verleihen dem Stück zeitweise eine mysteriöse, fremdartige Stimmung.

    Die Piano-Ballade "Why Were You Smiling" ist zwischen nachdenklich und aufmunternd angesiedelt. Die Komposition verbindet also traurige Tonlagen mit positiv-optimistischer Pop-Leichtigkeit und generiert daraus demütige Anmut und eigentümliche Reize. "Words" taucht in dunkle Gefilde ab, die trübe und geheimnisvoll erscheinen. Die E-Gitarre flirrt eruptiv und dröhnt bedrohend, während die Rhythmus-Instrumente stetig die Atmosphäre aufwühlen. Im Hintergrund lodert flankierend eine beängstigende Untermalung auf. Liv Solveigs Lead-Gesang ist aber bemüht, sich nicht über Gebühr in eine Verunsicherung treiben zu lassen.

    "Start Again" ist ein zuversichtlich klingender Titel, die Musik dazu zeigt sich jedoch bedrückt, introvertiert und feinfühlig. Die teils gegen den Strich gebürsteten Streicher klingen wie zu Tönen gewordene Eiszapfen, überhaupt ist die Stimmung eher frostig als warm. Aber der Gesang transportiert zumindest eine tröstende, hoffnungsvolle Klang-Farbe und erscheint dadurch wie ein Licht am Ende des Tunnels. Das Licht wird mit "How Far" erreicht. Es geht voran, Tauwetter ist angesagt, die Natur erwacht, Aufbruchstimmung macht sich breit. Alle diese Assoziationen verbreitet dieser Pop-Song mit dem einprägsamen Refrain "How Far Is The Ocean? How Far Is The Moon? Can I Reserve A Place In Your Heart?"

    "Heartbeat Of Shibuya" verarbeitet Eindrücke, die Shibuya, ein Stadtbezirk von Tokyo, hinterlassen hat. In Shibuya liegt die berühmte Fußgänger-Straßenkreuzung, die oft in Reiseberichten zu sehen ist. Mit über 36 Meter diagonaler Länge ist sie die größte ihrer Art, bei der 5 Straßen aufeinander treffen. Je Grün-Phase wird die Kreuzung von durchschnittlich 3.000 Personen überquert, zu Spitzenzeiten können es sogar 15.000 Menschen sein. Der hektische Großstadt-Dschungel kommt hier Tag und Nacht nicht zur Ruhe. Diese Intensität wird in dem auf- und abschwellenden Lied vertont, welches sowohl Begeisterung für die fremde Kultur, wie auch Verwunderung über die gehetzten Abläufe ausdrückt.

    Ist "You" ein Liebeslied? Wenn ja, ein sehr persönlich empfundenes, inniges Stück voller überfließender, in Moll gegossener Emotionen. Ein Wehklagen, das dankbare Erfüllung oder auch verzweifelte Sehnsucht ausdrückt. Je nach Perspektive. Das Lied wird mit mitfühlenden Bläsern und klagenden Geigen gefüllt, so dass es zusammen mit dem von wohligem Schmerz erfüllten Gesang vor Dramatik überzulaufen droht. So intensiv, so berührend, so schön. "One Morning In Harlem" handelt davon, wie es ist, wenn man einschläft, während die Stadt erwacht. Die Nacht wurde zum Tag gemacht und nun fordert der strapazierte Körper seinen Tribut. Jetzt ist eine Art Wiegenlied hilfreich, um angenehm in die Zwischenwelt zu gelangen. Und so etwas ähnliches wird hier praktiziert, aber mit Niveau und nur für Erwachsene.

    Musik braucht Weite, sagt Liv Solveig und diese steckt ganz besonders im abschließenden "Slowly, Travels", das nochmal ein Füllhorn an Stilen, Stimmungen, Solo-Aktivitäten und laut/leise-Abstufungen in viereinhalb Minuten unterbringt. Der abgeklärte Gesang verströmt zudem die Altersweisheit einer Marianne Faithfull. Es wird eine sakrale, sanfte Atmosphäre erzeugt. Die Solo-Geige erzählt dazu eine phantasievolle Geschichte, wie man sie zuletzt so bewegend bei "White Bird" von It`s A Beautiful Day im Jahr 1968 gehört hat (aber hier gibt es sie in Kurzfassung). Das lockt auch die Rhythmus-Abteilung, die Blasinstrumente und den Synthesizer aus der Reserve, die zum Schluss noch mal aufdrehen wollen, aber ihre Bemühungen verhallen unvollendet.

    Liv Solveig ist auf der Suche nach einem individuellen Weg. Vielleicht hat sie ihn ja auch schon gefunden. Die Zusammenarbeit mit And The Golden Choir, Get Well Soon, Alin Coen und Balbina erweiterte ihren Horizont und versetzte sie in die Lage, die Arbeiten der Kolleginnen und Kollegen mit ihren Vorstellungen abzugleichen. Deshalb brauchte "Slow Travels" wohl auch eine lange Reifezeit, damit so viele musikalische Anregungen wie möglich einfließen und qualitativ überprüft und bearbeitet werden konnten.

    Es empfiehlt sich, "Slow Travels" zuerst über Kopfhörer zu hören und erst dann über die Anlage laufen zu lassen. Dann prägen sich die wichtigen Details besser ein, die eventuell sonst einem verwehten Klangbild zum Opfer fallen würden. Denn es sind die ineinander laufenden Instrumente und die bedeutenden Einzelheiten, sowie die kurz eingestreuten Zwischen-Töne oder die im Hintergrund ablaufenden leisen Sequenzen, welche in den Arrangements raffinierte Überraschungen erzeugen. Mit diesen Zutaten werden aus sehr guten die ganz besonderen Kompositionen. Was Liv Solveig auszeichnet, ist ihr behutsamer, aber wirkungsvoller Umgang mit Einflüssen und Vorlieben. Dadurch können Abgrenzungen zwischen Unterhaltsmusik und ernster Musik ad absurdum geführt werden, denn durch Stil-Fusionen erfolgt eine Konservierung von schönen und anregenden Klängen. Aus konträren Stimmungslagen entstehen feinfühlige, sich innerlich reibende Ton-Muster. Dafür braucht es aber keine Zuordnungs-Schublade. Gute Musik spricht nämlich für sich selbst.
    Meine Produktempfehlungen
    • Fragen über Fragen Balbina
      Fragen über Fragen (CD)
    • Love Love (CD)
    • Breaking With Habits And The Golden Choir
      Breaking With Habits (CD)
    • Nah Alin Coen
      Nah (CD)
    Ein Kommentar
    Anonym
    17.10.2023

    Großen Respekt...

    ... vor dieser eindrücklichen und objektiven und vor allem sehr umfangreichen Rezession! Das Album hat schon das gewisse Extra und ist in der Tat nicht so schnell umschrieben.
    Motivational Speaking Old Sea Brigade
    Motivational Speaking (CD)
    14.05.2021
    Klang:
    4 von 5
    Musik:
    5 von 5

    Americana-Sound, der weder eindeutig Folk noch Country zugeordnet werden kann.

    "Ode To A Friend" - das erste Album von Old Sea Brigade aus dem Jahr 2019 - war vom Selbstmord des besten Freundes von Ben Cramer beeinflusst. Ben Cramer ist das Gesicht hinter Old Sea Brigade. Der Singer-Songwriter und Multiinstrumentalist stammt aus Atlanta, lebt aber in Nashville und saugt dort alle Spielarten des Americana auf, um zu untersuchen, welche Bestandteile für sein Verständnis von seelenvoller, ergreifend-schöner, geschmeidig ablaufender Musik in Frage kommen und was in seinem Sinne umgewandelt werden sollte.

    "Motivational Speaking" möchte Veränderungen im Leben und den Umgang mit der Vergänglichkeit beleuchten. Schwere Kost, könnte man meinen. Aber die Platte strömt bei aller thematischen Belastung eine Wärme, Durchlässigkeit, Gewandtheit und innere Ruhe aus, die sie aus der Masse der Singer-Songwriter-Veröffentlichungen hervorstechen lässt. Ihre Komplexität und Harmonie haben die Lieder gewissermaßen der Corona-Pandemie zu verdanken, denn Ben Cramer hatte das Album eigentlich schon mit Hilfe einiger Freunde fertiggestellt, als der Lockdown die Musiker zu einer Auszeit zwang. Deshalb nahm er sich die Aufnahmen noch einmal vor und kam zu dem Entschluss, dass noch eine Überarbeitung nötig täte. Nicht, um die Musik perfekt erscheinen zu lassen, sie also aufzupolieren, sondern um mit ein wenig Distanz das Beste aus den Kompositionen herauszuholen. "How It Works" setzt sich mit den Mechanismen der Musik-Industrie auseinander, die oft nicht zum Wohle der Musiker eingesetzt werden. Trotzdem ist keine Aggression oder Frustration in diesem Song zu spüren. Im Gegenteil, locker groovend, mit markantem Bass und Schlagzeug-Takt zieht er seine sanften Bahnen und Ben Cramer versorgt das Lied durch seine weiche, liebevolle Stimme mit friedvollen Schwingungen.

    "Day By Day" ist laut Aussage des Old Sea Brigade-Chefs der lauteste, chaotischste Song, den er bisher für sich selber geschrieben hat. Dann muss der Musiker wirklich ein sehr ausgeglichener Typ sein. Es gibt zwar einen monoton getakteten Rhythmus und treibende Gitarren, aber alles bleibt trotz dynamischer Steigerung in einem für Rock-Verhältnisse gemäßigtem Rahmen. Für "Salt" gab es eine Ausweitung des Instrumenteneinsatzes, denn es ist der erste Old Sea Brigade-Song mit Banjo. Aber deshalb ist das Lied nicht zu einem Hinterwäldler-Folk geworden, sondern wird als romantischer Pop-Song mit eigentümlicher Begleitung wahrgenommen, die aus akustischen und elektronischen Elementen besteht. Und das Banjo ist in diesem Zusammenhang kaum als solches zu erkennen. Die Ballade "Nothing Clever" macht kurze Abstecher in Jazz-Gefilde, ist aber im Kern ein Barock-Folk mit Art-Pop-Kern. Sehr ausgewogen und behutsam verbindet Ben Cramer die verschiedenen Einflüsse miteinander.

    "American Impressions" lässt sich als elegant flimmernder Folk-Rock mit ausdrucksstarken Folk-Jazz-Ambitionen definieren. Oder als lockerer Soft-Rock mit Soul-Groove. Alle diese Zuordnungen macht das offen gestimmte Stil-Fusions-System von Old Sea Brigade möglich, ohne störende Nahtstellen aufzuweisen. Auch "Caroline" ist milde gestimmt und bevorzugt eine einfache, von Gitarre, Bass und Schlagzeug bestimmte Roots-Rock-Struktur, die den Song eher wie eine spontane Übungsraum-Aufnahme und nicht wie eine ausgeklügelte, aufwändig überarbeitete Song-Idee erscheinen lässt. "Mirror Moon" vermittelt zunächst einen unspektakulären Eindruck: Der Rhythmus läuft gleichförmig im Vordergrund ab, die Gitarren knurren dagegen im Hintergrund vor sich hin und der Gesang möchte sich nicht unbedingt dominant in Szene setzen. Die Melodie plätschert scheinbar unaufgeregt dahin, zieht die Zuhörer jedoch trotzdem auf unaufdringliche Weise in ihren Bann.

    "High Times" ist ein knackig-cooler Folk-Rocker, der anders arrangiert auch als moderner Electro-Pop durch gehen würde und eine ganz andere Klientel ansprechen könnte. So erfreut er alle Fans von z.B. Tom Petty, den Rolling Stones oder R.E.M. an dem unkomplizierten, angenehmen Sound. Eine bedächtige Drum-Machine bestimmt das schleppende Tempo von "Walls". Der Song erhält zwischendurch eine Keyboard-Begleitung, die ihn wie eine aufgeplusterte Komposition von Vangelis klingen lässt, obwohl es sich sonst um eine melancholische Alternative-Rock-Nummer handelt. Durch die sakral anmutende Klang-Umgebung bekommt "Still" ein spirituelles Gospel-Feeling verordnet, das durch frisch durchblutete Drum-Takte und spritzige E-Gitarren-Akkorde in die Realität zurück geholt wird.

    "Come Tomorrow" zeigt, wie klare Strukturen reinigend, betörend und anregend zugleich sein können. Der Pop-Folk lässt sich Zeit, seine sympathische Wirkung zu entfalten, protzt nicht mit Effekten und Spielereien, sondern setzt auf ehrlich empfundene, einfach strukturierte und umgesetzte Werte. Die ergreifende Schönheit des ruhigen Art-Pop-Stückes "4th Of July" erinnert danach an die Elegien von Blue Nile aus Schottland. Die Sprache der Musik ist eben universell und wird von sensiblen Menschen überall auf der Erde verstanden und ähnlich gedeutet.

    Die Musik von Old Sea Brigade rückt vom üblichen Americana-Schema ab: Es gibt ein anders zusammengesetztes Instrumentenspektrum und stilistisch ist das Ergebnis weder dem Folk noch dem Country zuzuordnen. Die Songs besitzen eine Feinmotorik, wie sie auch von Hiss Golden Messenger oder The Low Anthem angewendet wird, um die Kreationen besonders sensibel erscheinen zu lassen. Das bewährt sich auch hier und nutzt sich nicht ab, sondern holt auch noch das letzte Quäntchen Empathie aus den Songs heraus. Die Lieder wirken stets aufbauend und tröstend, auch bei gedämpfter Tonlage. Dazu trägt besonders der Gesang von Ben Cramer bei, der alle negativen Schwingungen eliminiert und so auch zur Deeskalation bei schwierigen Themen beiträgt. Das Album soll als Ablenkung vom Chaos in der Welt dienen. Ben Cramer möchte, dass es sich wie eine Reise anfühlt, an dessen Ende man sich erfrischt fühlt. Das kann gut nachvollzogen werden.

    Der Kultursender Bremen Zwei wirbt für sein Musikprogramm mit dem Slogan "Lässige Singer- Songwriter und Pop für die Seele". Demnach wäre "Motivational Speaking" genau für diese Radio-Welle zugeschnitten worden.
    Meine Produktempfehlungen
    • Ode To A Friend Ode To A Friend (CD)
    • Hallelujah Anyhow Hiss Golden Messenger
      Hallelujah Anyhow (CD)
    • Devotion: Songs About Rivers & Spirits & Children (Limited-Numbered-Edition) Hiss Golden Messenger
      Devotion: Songs About Rivers & Spirits & Children (Limited-Numbered-Edition) (CD)
    • The Salt Doll Went To Measure The Depth Of The Sea The Low Anthem
      The Salt Doll Went To Measure The Depth Of The Sea (CD)
    Hinüber Hinüber (CD)
    04.05.2021
    Klang:
    4 von 5
    Musik:
    4 von 5

    Deutschsprachige Pop-Musik mit Haltung, Witz und Poesie.

    Mine wurde am 19. Januar 1986 als Jasmin Stocker geboren und wuchs in der Nähe von Stuttgart auf. Schon als Kind genoss sie eine Musikerziehung und nahm an Gesangswettbewerben teil. Mit 20 Jahren studierte sie Jazz-Gesang und absolvierte anschließend ihr Master-Studium an der Pop-Akademie Baden-Württemberg im Fach Producing und Composing. Unter ihrem Spitznamen Mine fand dann 2013 die erste Tournee statt und es erschien simultan die EP "Herzverleih". Daneben gab es auch Auftritte im Vorprogramm von z.B. Lukas Graham, Dear Reader oder Enno Bunger.

    2014 brachte sie mit "Mine" ihr erstes Solo-Album raus und 2016 folgte mit "Das Ziel ist im Weg" der Nachfolger. 2017 gab es eine gemeinsame Aufnahme mit dem Rapper und Schauspieler Fatoni unter dem Namen "Alles Liebe Nachträglich". 2018 wurde der Konzert-Mitschnitt ("Mine und Orchester (Live in Berlin)") als Crowdfunding-Aktion veröffentlicht und 2019 kam ein neues Studioalbum ("Klebstoff") auf den Markt. Im März 2021 räumte Mine den Deutschen Musikautorenpreis der GEMA in der Kategorie "Text Chanson/Lied" ab. Das ist eine beachtliche Auszeichnung und die Aufzählung des Tonträger-Werdegangs zeigt eine konsequente Verfolgung der eigenen Karriere. Sowas geht nicht ohne Durchhaltevermögen und Talent.

    Mine setzt sich bei ihrer Platte "Hinüber", die am 30. April 2021 erscheint, stilistisch offenbar zwischen alle Stühle. Sie gehört weder eindeutig der Fraktion der aktuellen Schlager-Stars oder Electro-Popper, noch einem Neue Deutsche Welle-Retro-Trend oder der Liedermacher-Szene an. Obwohl es kleine Schnittmengen zu diesen Genres gibt, sind es vor allem die Künstler, die sich ihre Individualität bewahren wollen und alternative Ausdrucksformen suchen, die als Anregung geltend gemacht werden können. Wie zum Beispiel Sophie Hunger (die einen Gastautritt hat), Balbina, Dota, Karl die Große, Lydia Daher, Cäthe oder Alligatoah.

    Für “Hinüber” wurden zehn Lieder verfasst, die ihre Inspiration aus dem HipHop, dem Electro-Pop, dem Kunstlied oder der alternativen Folk-Bewegung ziehen und als Ganzes den Eindruck vermitteln, dass die Suche nach einem persönlichen Ausdruck bei Mine noch nicht vollständig abgeschlossen ist. Genau deshalb zelebriert die professionelle Künstlerin für uns ein quirliges Sammelsurium an Eindrücken, Stimmungen, Experimenten und Nichtigkeiten, die zwar nicht zusammen passen wollen, aber eine Bandbreite von Möglichkeiten aufzeigen, die von Mine erforscht und kreativ gestaltet werden. Ihre Lyrik scheint konkrete Sachverhalte anzusprechen, bleibt aber oft in der Mitte stehen. Es werden Gedanken angerissen, ohne Lösungen bereit zu stellen. Der wache Geist der Hörer und Hörerinnen ist gefordert, damit ein Weiter- und zu Ende denken stattfinden kann.

    Den Anfang macht der Track "Hinüber" mit der Gleichgesinnten Sophie Hunger als Gesangs-Unterstützung. Dunkel gefärbte Streicher vermitteln Ernsthaftigkeit, dröhnende Bässe sorgen für Dramatik und rhythmisch vertrackte Schlaginstrumente verpassen dem Stück eine mächtige, dominante Komponente. Dieses rätselhafte, stilistisch diffuse Chanson setzt ein anspruchsvolles, attraktives Ausrufezeichen. Thematisch geht es um große Probleme unserer Zeit, wie die Umweltzerstörung ("Das Meer ist aus Plastik..."). Denn wenn nicht endlich ein Umdenken in Richtung qualitatives, statt quantitatives Wachstum geschieht, dann ist sowieso bald alles hinüber. Mit dem nötigen Engagement können wir uns aber auch gemeinsam in eine Welt hinüber retten, in der eine humane Gesellschaft nach ökologischen Grundsätzen in Frieden lebt.

    Ein hüpfender, elektronisch erzeugter Takt muntert "Bitte bleib" auf, das als Kontrast dazu von überwiegend melancholisch veranlagtem Gesang getragen wird. Der Text zeigt zunächst in die falsche Richtung: "Bitte bleib, bitte bleib" lässt eine verzweifelte Trennungs-Situation vermuten, aber dann folgt: "Bitte bleib nicht wie Du bist" und so wird aus dem vermeintlichem Klammern ein Aufruf, über die eigenen Unzulänglichkeiten nachzudenken.

    "KDMH" ist die Abkürzung für "Kannst Du mich halten?". Diese Frage wird auch prompt mit "Kannst Du nicht" beantwortet. Das ist ein Zeichen dafür, dass Geborgenheit gesucht und vermisst, aber nicht gefunden wird. "Ich habe keinen Boden, keinen Grund, keinen Grund zu gehen", sind die um Hilfe rufenden Worte der Protagonistin. Anscheinend fehlt die Zuversicht, eine stabile Zukunft erwarten zu können. Die Textinhalte spiegeln also Aussichtslosigkeit wider. Als Untermalung dazu dienen stumpfe, monotone Beats, die die emotionale Ausnahmesituation drastisch aufbereiten. Weitere Textpassagen lassen vermuten, dass ein Suizid(versuch) beschrieben wird. Die Musik blüht dazu üppig auf und wird spannungsgeladen aufgebauscht. Dann bricht sie abrupt ab. Es bleibt das Schlimmste zu befürchten...

    Die ausgebildete, stabile, ausdrucksstarke Stimme von Mine klingt bei "Mein Herz" traurig, sehnsüchtig, wütend und betörend. Sie bleibt jedoch bei jeder Regung voluminös, beweglich und klar. Die sentimentale Ballade zieht alle Register, um den Wehmut einer gescheiterten Beziehung aus Sicht der verlassenen, gekränkten Person so nahbar und authentisch wie möglich erscheinen zu lassen.

    Was ist ein "Audiot"? Nach der Auffassung dieses provokanten Liedes ist das offensichtlich jemand, der ständig von Musik, Podcasts, Hörbüchern und anderen audiophilen Reizen umgeben ist und sich davon über Gebühr lenken und verzaubern lässt. Aber wenn eine Meinung zum Dogma wird, kann das zu einer intoleranten Haltung führen. Die Rapper Dexter und Crack Ignaz geben ihren Senf zu diesem Thema dazu und machen aus diesem HipHop-Pop mit Jazz-Grooves quasi ein Mini-Hörspiel.

    Ist "Eiscreme" wirklich ernst gemeint oder handelt es sich bloß um eine Parodie des Songs "Like Ice In The Sunshine" von Beagle Music Ltd., mit dem in den 1980er Jahren der Verkauf von Speise-Eis einer bestimmten Firma in den Kinos angekurbelt werden sollte? Genauso sonnig-naiv wie der damalige Werbe-Jingle ist nämlich auch hier der Refrain gestrickt. Unbekümmert und einfach rauscht dieser Electro-Pop vorbei, ohne anspruchsvolle Spuren zu hinterlassen. Es muss auch mal was Positives raus in die Welt, mag sich Mine gedacht haben, als sie dieses leichte Lied erfunden hat. Diese Einstellung gilt wohl auch für "Lambadaimlimbo". Das Stück erinnert aufgrund seiner seichten, unspezifischen Urlaubsatmosphäre an den Neue Deutsche Welle-Hit "Carbonara" von Spliff - der ehemaligen Begleit-Band von Nina Hagen - aus dem Jahr 1982.

    Auch "Elefant" klingt nach den 1980er Jahren. Nämlich nach einer Produktion von Trevor Horn, der gerne einen peitschenden Beat nach vorne gemischt und den Sound durch allerlei Klangfarben bunt ausgefüllt hatte. Und ein packender Refrain musste auch noch eingebaut werden. So wie es bei "The Lexicon Of Love" von ABC um Martin Fry 1982 praktiziert wurde. "Elefant" ist ein netter Electro-Pop fürs Radio geworden, der auch zur Untermalung von Sport-, Spiel- und Freizeitaktivitäten geeignet ist. Unkompliziert, aber nicht unsympathisch.

    Mit ordentlich Wumms in den Bässen geht es dann bei "Tier" weiter, wobei dieses Stück tiefschürfende Gedanken aufgreift: "Der Unterschied zwischen mir und einem Tier ist, dass ich fragen kann, was will ich hier. [...] Und ich sehe, was mir durch die Hände fällt und ich frag mich, was mich noch am Leben hält. Ist es nur die Sucht am Leben selbst?". Aktuelle Sinn-Fragen kollidieren im Folgenden mit Ratschlägen, die im Rahmen der Erziehung verinnerlicht wurden, was zu Konflikten führt. Diese Ballade wird durch tröstende Streicher und sakrale Orgelklänge gestützt, so dass die pumpenden Bässe in diesem Zusammenhang wie ein unruhiger, von Unsicherheit begleiteter Herzschlag klingen.

    Mit "Unfall" präsentiert Mine ein Lied, das akustische und elektronische Elemente attraktiv miteinander ausbalanciert und gegeneinander verbiegt. Es findet ein dynamischer Prozess statt, der sich sowohl sperrigen Folk-Rock, Drum & Bass-Hektik, Science-Fiction-Soundtrack-Flirren und Klassik-Seriosität einverleibt. Der Track macht indirekt darauf aufmerksam, dass aufgrund der derzeit vorherrschenden Pandemie-Nachrichtenlage viele andere Probleme nicht ins richtige Licht gesetzt werden können.

    Immer dann, wenn Mine musikalische Welten kollidieren lässt und sich dabei Schwierigkeiten vornimmt, ist sie am wirkungsvollsten. Dann blühen ihre erlernten und wahrscheinlich inzwischen verinnerlichten Producing- und Composing-Künste voll auf und erstrahlen in schillernd leuchtenden Farben, zeigen sich in verblüffenden Formen und erhellen die Ohren mit phantasievollen Klang-Lichtern. Einfacher strukturierte Sachen wie "Eiscreme" oder "Lambadaimlimbo" fallen dagegen ab, wenn eine homogene, ernsthafte Darstellung der Musik erwartet wird. Sie stören zumindest den Fluss eines durchgängig anregenden und dabei sensiblen Ablaufs.

    Die konträren Gestaltungsebenen unterstützen die eingangs getätigte Vermutung, dass sich Mine noch auf der Suche nach dem alles erleuchtenden Musenkuss befindet. Aber sie sorgt schon heute erfreulicherweise dafür, dass sich ihre vielfältige deutschsprachige Musik nicht zu stromlinienförmig bewegt. Und wenn ihr sprudelndes Talent mit einem künstlerisch wertvollen Konzept zusammentrifft, entstehen poetisch nachhaltig wirkende Lieder, die sich in einem musikalisch umtriebigen Umfeld ihren Weg durch struppiges Gelände bahnen. Es bleibt spannend, in welche Richtung(en) sich die Musikerin in Zukunft entwickeln wird, denn sie hat ihr Potential noch lange nicht ausgeschöpft.
    Meine Produktempfehlungen
    • Halluzinationen Halluzinationen (CD)
    • Fragen über Fragen Balbina
      Fragen über Fragen (CD)
    • Kaléko (+ Bonus CD) Dota
      Kaléko (+ Bonus CD) (CD)
    • Wir hatten Großes vor Lydia Daher
      Wir hatten Großes vor (CD)
    • Vagabund Cäthe
      Vagabund (CD)
    • Schlaftabletten, Rotwein V Schlaftabletten, Rotwein V (CD)
    • Klebstoff Klebstoff (CD)
    Better Angels Adam Douglas
    Better Angels (CD)
    23.04.2021
    Klang:
    5 von 5
    Musik:
    5 von 5

    Flexible Roots-Music-Klänge von einem Amerikaner, der in Norwegen lebt.

    Die Lebensumstände in den USA und in Norwegen sind für viele musikalische und persönliche Inspirationen, die Adam Douglas geprägt haben, verantwortlich. Der 40jährige Singer-Songwriter verbrachte nämlich seine Jugend in Oklahoma, das im mittleren Westen liegt und lebt seit 2007 (hauptsächlich der Liebe wegen) in Harestua, das 46 Kilometer nördlich von Oslo zu finden ist. Zwischen diesen Stationen war er viel unterwegs, mit Haltepunkten in Chicago und Minneapolis. Einige Roots-Music-Spielarten kreuzten dabei seinen Weg: Folk, Country, Rhythm & Blues, Soul oder Gospel. Natürlich auch Rock & Roll und Jazz. In Norwegen fühlt er sich wohl und zuhause, hier ist sein beständiger Lebensmittelpunkt. Künstlerisch hat ihn die Zugehörigkeit zu zwei Ländern zu einem relativ unkonventionellen Grenzgänger reifen lassen. Seine Songs lassen sich nämlich keinem Stil direkt zuordnen, sie entstehen vielmehr aus den oben skizzierten Vorlieben, ergeben sich aus den erworbenen Erfahrungen und schöpfen aus den geschärften Instinkten für einen interessanten Klang und eine gute Melodie. Alle diese Zutaten werden für die Kompositionen zusammen geschüttet, umgerührt, verkostet und individuell verkettet.

    "Better Angels" ist nun nach "I May Never Learn" (2015) und "The Beauty & The Brawn" (2018) der dritte Longplayer des vielseitigen Musikers. Beim Eröffnungs-Track "Joyous We’ll Be" findet die Begeisterung des Gospel, die rhythmische Frische der Karibik, die respektvolle Seriosität des Big-Band-Jazz und die flirrende Grazie des von Lowell George geprägten Little Feat-Sounds ihren Widerhall.

    Der schlaksige Jazz-Funk von "Into My Life" bekommt durch den gelenkigen Soul-Gesang von Adam Douglas und die verspielten Geigen, die sich wie gewandt fliegende Schwalben in der Abendsonne bewegen, ein samtenes Gegengewicht. Der Groove wird für "Build A Fire" knackig und zackig herausgestellt. Die Bläser fallen mit feurigen Attacken in den federnd-swingenden Sound ein, so dass das Lied dadurch an Schärfe, Konturen und Kraft gewinnt. Der Gesang wirkt sehnsüchtig und bringt sexuelle Aufladung ins Spiel. Mit einem saftigen E-Gitarren-Solo zeigt Adam seine individuelle Klasse auf diesem Instrument. Außerdem tritt dabei eine wilde, natürlich aggressive Seite zu Tage, die ihm sehr gut steht und die er noch ausbauen sollte. Der dynamische Sound fährt in die Glieder und setzt sich in den Ohren fest. Das ist ein heimlicher Hit!

    Mit "So Naive" wird die erste Pop-Ballade eingestreut. Mr. Douglas bewegt sich als Schnulzensänger auf dem schmalen Grad zwischen Kitsch und Kunst, kann sich aber aufgrund des ausgereiften Song-Materials souverän behaupten. Auch "Change My Mind" schwelgt in innig-romantischen Gefühlswelten, rührt in sentimentalen Momenten zu Tränen und kann sich mit den bekanntesten Rock-Balladen hinsichtlich schmachtender Hingebung messen. Der Track wurde durch die Zustände im vom Krieg gezeichneten und vom Flüchtlingselend gebeutelten Beirut beeinflusst. Das dazugehörige Video sendet bei allem zu vermutenden Leid auch viel Lebensfreude und Zuversicht aus, weswegen es wie ein vorbildliches, Mut spendendes Mahnmal erstrahlt.

    Das erfrischende "Where I Wanna Be" verbindet unverbraucht und homogen Elemente aus Pop, Rock, Jazz, Funk und Soul. Als Gesangspartnerin fungiert hier die großartige Jazz-Pop-Musikerin Beady Belle, die sich ausgezeichnet in das luftig-belebende Klang-Bild einfügt. Das schwüle, bluesige "Blue White Lie" scheint aus den Südstaaten der USA zu stammen, so erdig und vom Southern Soul durchdrungen kommt es aus den Lautsprechern. Aber das Stück ist genau wie die anderen Aufnahmen im hohen Norden Norwegens entstanden. Adam Douglas kann seine US-amerikanischen Wurzeln jedoch wieder einmal nicht verleugnen. Mit Würde und erhobenem Kopf knüpft er an die Roots-Rock-Errungenschaften solcher Kollegen wie John Hiatt an und präsentiert sich als erlesener White-Soul-Interpret.

    T. Rex, ZZ Top, die Neville Brothers und Tony Joe White haben ihre Spuren beim Glam-Funk-Boogie "A Whistle To Blow" hinterlassen. Das ausgeprägte Pop-Geschichtsbewusstsein von Adam Douglas lässt ihn solch wertige Einflüsse anzapfen, ohne als Plagiator dazustehen. Gegen diese Vorgehensweise ist gar nichts einzuwenden, denn Adam ist ein Sammler. Ein Sammler von Eindrücken, Ausdrücken, Gefühlsäußerungen, Zitaten und Sounds, die ins kollektive Bewusstsein gelangt sind. So gibt es bei "Both Ways" Streiflichter, die Klänge aus der British Invasion der mittleren 1960er Jahre aufflackern lassen und auf diese Weise an The Kinks oder The Rolling Stones erinnern. Und das, obwohl das Lied eher ein melodischer Pop-Song und kein harter Rocker ist. Das spricht für einen universellen Überblick und unverkrampften Umgang mit Vorlagen. Adam Douglas knüpft mit seinem Fingerspitzengefühl einen illustren Klangteppich aus Erinnerungen und Vorlieben, der sich Kategorisierungen entziehen möchte. Ist übrigens ein feiner, griffiger, sympathischer, angenehm anzuhörender Song geworden, dieses "Both Ways".

    Al Green und Graham Parker & The Rumour kommen in den Sinn, wenn "Just A Friend" läuft. Der weiche Rhythm & Blues wird von beseeltem Gesang flankiert und führt den Hörer fast unmerklich von einer nachdenklichen Stimmung zu einer aufbauenden, aufbegehrenden und lichtdurchfluteten Sichtweise. "Lucky Charm" lässt sich dann noch einmal tief ins Herz blicken und beschwört die Kraft der sinnlich-sanften Töne herauf, wobei der Bogen zur süßlich-sentimentalen Betonung überspannt wird. Weniger Schmalz hätte wahrscheinlich für mehr Authentizität gesorgt. "Dying Breed" macht dann auf gute Laune und versucht, durch einen swingenden Folk-Rock einen optimistischen Ausgleich und Ausklang zu schaffen. Das ist nicht zielführend, weil Adam Douglas eher als melancholisch veranlagter Singer-Songwriter überzeugend ist.

    Das Album "Better Angels" beschwört die Werte der US-amerikanischen Verfassung herauf, die Abraham Lincoln in seiner Antrittsrede verkündet hatte. Er wollte den Instinkt der vernünftigen, anständigen Menschen als Leitlinie ansetzen, wenn es Konflikte zu bewältigen gibt. Diese Maxime ist heute aktueller denn je, denn auch Präsident Joe Biden gab zu bedenken, dass es an der Zeit sei, die "besseren Engel" im amerikanischen Volk zu Wort kommen zu lassen. Optimismus, Vernunft und Menschlichkeit sind Grundwerte, die auch über die Musik von Adam Douglas transportiert werden sollen - zum Nutzen für alle Menschen.

    Künstler wie Adam Douglas fallen oft durchs Wahrnehmungsraster, weil sie häufig spontan mit anderen Musikern verglichen und dann vorschnell als mögliche Nachahmer gebrandmarkt werden. So könnten z.B. Paul Weller oder Elvis Costello als Verweis einfallen, aber das schmälert die dargebrachte Leistung des Exil-Amerikaners in keiner Weise. Was ihn auszeichnet, ist die Suche nach musikalischen Herausforderungen, an denen er wachsen möchte. Er besitzt nämlich den Ehrgeiz, sich ständig verbessern zu wollen. Grade hat er auch seine Flexibilität demonstriert, als er bei seiner Pop-Kollegin Rikke Normann bei "Don`t You Worry" von "The Art Of Letting Go" (veröffentlicht am 19. März 2021) im Duett gesungen hat.

    Der privat schüchterne, aber auf der Bühne ausgelassene Musiker hat seine speziellen Eigenarten dazu verwendet, eine reife Midlife-Analyse abzuliefern. Seine Stil-Fusionen sind ausgewogen, klingen zumeist tröstend oder hoffnungsvoll und werden von seinen norwegischen Begleitmusikern und Gästen wie Jeff Wassermann und Cory Chisel vollmundig, voluminös und emotional tiefgründig umgesetzt. Der Gesang ist so flexibel, dass er sich bei niemandem anlehnen muss und die Songs sind so ideenreich, dass sie sich nicht gegenüber anderen großartigen Liedern verstecken müssen. "Better Angels" ist ein schönes, clever organisiertes Werk geworden, das allen Leuten, die Interesse an undogmatischer Roots-Music haben, empfohlen werden kann.
    Meine Produktempfehlungen
    • I May Never Learn Adam Douglas
      I May Never Learn (CD)
    • The Best Of John Hiatt The Best Of John Hiatt (CD)
    • Dixie Chicken Little Feat
      Dixie Chicken (CD)
    Music Benny Sings
    Music (CD)
    09.04.2021
    Klang:
    5 von 5
    Musik:
    5 von 5

    Pop für Genießer.

    Der Niederländer Tim Berkestijn - der hinter dem Namen Benny Sings steckt - gehört zu der Garde von jungen Musikern, für die Pop-Musik nicht zwangsläufig gleichbedeutend mit trendigen, kommerziell orientierten Sounds ist. Das gilt zum Beispiel auch für so unterschiedliche, aber im Geiste verwandte Künstler wie Joel Sarakula, Mayer Hawthorne, Young Gun Silver Fox oder Zervas & Pepper, die auffällig melodisch, dabei aber auch raffiniert und spannend klingen. Und bei all diesen Namen kommt immer wieder die Gruppe Steely Dan um die innovativen Soundtüftler Donald Fagen und Walter Becker als Einfluss in den Sinn. Deren elegante, ausgeklügelte Songs dienen immer noch vielen Musikern als sinnvolle, wichtige und geistreiche Fixpunkte und sind somit eine nicht enden wollende Quelle an Inspirationen für kluge, wendige, attraktive und dabei in sich geschlossen wirkende Kompositionen.

    "Music" ist seit 2003 bereits das achte Album, dass unter dem Pseudonym Benny Sings erschienen ist. Tim Berkestijn macht Musik, die man sich ins Radio wünscht. Gleich der Opener "Nobody’s Fault" gibt das Credo des Nachfolgealbums von "City Pop" aus 2019 wieder: Spielerische Leichtigkeit darf durchaus auch mit komplexen und verwinkelten Momenten gespeist werden. Solange dadurch nicht der milde, weltoffene Charme, die elastischen Tonfolgen oder der lässige Groove verloren gehen. In diesem Sinne ist "Nobody’s Fault" ein Musterbeispiel an unterschwellig ausgedrückter Leidenschaft mit nobler Ausdrucksweise geworden. Das Lied beinhaltet sowohl Heiterkeit wie auch überlegene Souveränität. Die ausgelassene Stimmung bekommt eine kunstvolle Füllung aus stabiler Rhythmik und anspruchsvoller Instrumentierung verpasst.

    Für "Here It Comes" wird das Temperaments-Level mindestens einen Gang zurück geschaltet, was dem Track eine gewisse Unscheinbarkeit zu verleihen scheint. Aber weit gefehlt: Die sich behäbig dahin schleppenden Töne finden zwar nur langsam, dafür aber effektiv ihren Weg, der sie tief in die Gehörgänge führt. Dort sorgen sie für einen ständigen Widerhall. Ein unverhoffter Ohrwurm ist geboren. Der "Sunny Afternoon" wird nicht ausgelassen gefeiert, sondern besonnen und leicht beschwingt genossen. Benny Sings bietet einen lässigen Sound an, bei dem gegen Ende froh gestimmte Geigen einen zusätzlichen Lichtblick generieren.

    Bei "Rolled Up" singt Benny im Duett mit Mac DeMarco. Beide setzen sich gesanglich gegenüber stolpernden, unsicheren Takten durch und erzeugen so das merkwürdige Gefühl, das sich ergibt, wenn man sich grundlos niedergeschlagen fühlt. Die Stimmen versinken jedoch nicht in Selbstmitleid, sondern schaffen es mit Hilfe von Zweckoptimismus, die schlechte Laune zu überlisten. Sie begegnen sich dafür im Call & Response-Modus und ergänzen sich in ihrer unterschiedlichen Stimmfarbe wirkungsvoll.

    "Lost Again" läuft zuversichtlich und optimistisch ab. Wie beim sprichwörtlichen Pfeifen im Walde werden hier die trüben Gedanken durch muntere Klänge vertrieben. Musikalisch kann man von einer Fake-Swing-Imitation sprechen, bei der vor dem geistigen Auge das Rat-Pack um Frank Sinatra, Sammy Davis jr. und Dean Martin erscheint, nur eben in einer aktuellen Variante. "Break Away" nutzt danach die Methoden des Philly-Soul, um dessen unverbindliche Vergnüglichkeit als Kompensation für die grundsätzlich ernste Gemütslage einzusetzen.

    "Kids" ist ein beliebter Titel für einen Song geworden. So wurde er z.B. 2007 von MGMT und 2020 von Young Gun Silver Fox verwendet. Hier entstand er in Zusammenarbeit zwischen Tim Berkestijn und dem Rapper KYLE aus Los Angeles, der die zweite Sing-Stimme bei diesem, mit dem HipHop verwandten Pop-Song übernimmt. Das Lied "Run Right Back" federt so jazzig-gepflegt, dass es sich wie ein Outtake des Wunderwerks "Gaucho" (1980) von Steely Dan anhört. Das ist cool und clever umgesetzt und nachempfunden worden! Die Chorstimmen von Emily King und Peter Cottontale von The Free Nationals aus Los Angeles erzeugen dann für "Miracles" ein erbauliches und gleichzeitig schwungvolles Gospel-Feeling. Dadurch bekommt das Stück Kraft, Sicherheit und Vertrauen verliehen.

    „Wenn die Sache Dir zu nahe geht, wenn Dein Herz in Schutt und Asche liegt, ist da immer noch, immer noch die Musik“. Davon wusste schon Niels Frevert auf seinem Album "Putzlicht" (2019) zu berichten. Genau dieselbe Ansicht vertritt auch Benny Sings mit dem mild groovenden Soft-Rock-Track "Music" und eigentlich gilt diese Einschätzung für das ganze Album: „Es passiert so leicht in der heutigen Welt, dass man mit zu vielen Reizen überschüttet wird“. „Wir brauchen Licht und Luft… wir brauchen etwas, das uns Energie gibt.“ „Ich werde für immer fasziniert sein von dieser magischen Kraft der Musik: Wie da etwas entstehen kann, das einfach so alles transzendiert.“ So lässt sich Tim Berkestijn zum Konzept seiner aktuellen Platte zitieren.

    Benny Sings ist mit seiner Pop-Musik auf der Höhe der Zeit, verleugnet aber auch nicht die Segnungen der Vergangenheit. Die Klänge suchen das Harmoniezentrum des Gehirns auf, streicheln auf diese Weise die Seele und sorgen durch ihre reichhaltigen, gefühlvollen, intelligenten und professionellen Arrangements für eine angenehme Atmosphäre. Das ist populäre Musik, die im engeren Sinne unterhaltsam ist, dabei aber auch anspruchsvoll erscheinen möchte. Das gelingt nahezu auf ganzer Linie und somit sei diese Platte allen Menschen empfohlen, für die auch eingängige Musik gewisse Qualitätskriterien erfüllen muss und nicht nur bloße Berieselung bedeutet.
    Meine Produktempfehlungen
    • Gaucho Steely Dan
      Gaucho (CD)
    • City Pop Benny Sings
      City Pop (CD)
    • Companionship Joel Sarakula
      Companionship (CD)
    • How Do You Do How Do You Do (CD)
    • Canyons Young Gun Silver Fox
      Canyons (CD)
    • Wilderland Zervas & Pepper
      Wilderland (CD)
    Live At Montreux Rory Gallagher
    Live At Montreux (CD)
    01.04.2021
    Klang:
    3 von 5
    Musik:
    4 von 5

    Ausschnitte aus Montreux-Konzerten von 1975 - 1985

    Der irische Ausnahmegitarrist Rory Gallagher live beim Jazz-Festival in Montreux. Die Aufnahmen umreißen eine Spanne von 1975 bis 1985, wobei 1979 mit 5 Songs den größten Anteil einnimmt.

    Rory Gallagher ist ein Malocher des Blues-Rock. Er reibt sich an seinen Gitarren-Soli förmlich auf und singt engagiert und mit Hingabe. Die CD zeigt ihn bis auf 2 Songs in seiner elektrischen Variante mit Bass- und Schlagzeug-Begleitung, teilweise auch mit Tasten-Verstärkung. Nur 2 Stücke von 1979 ("Out On The Western Plain", "Too Much Alcohol") wurden Solo mit akustischer Gitarre eingespielt. Sie demonstrieren seine Fingerfertigkeit noch deutlicher.

    Rory ist natürlich ein genialer Gitarrist, was aber im Verlauf der CD manchmal stört, ist die Selbstverliebtheit in sein Instrument. Er ist der Star, steht im Vordergrund und spielt deshalb nicht immer songdienlich, sondern übertreibt es dann mit der Demonstration seiner brillanten Technik. Dieser Makel zeichnete auch schon andere große Gitarristen - wie z.B. Carlos Santana - aus, so dass sie sich dadurch manchmal selbst im Weg standen und die Songs nicht die Wirkung erzielen konnten, die ihnen langfristig gut getan hätten.

    Seine elektrischen Boogie-Blues-Nummern ("Laundromat", "Toredown", "Bought And Sold") haben aber Pfeffer unterm Hintern und gefallen durch ihre zeitlose Dynamik.

    Fans dürfen sich bei "Live At Montreux" über zusätzliche Live-Aufnahmen in ordentlicher, jedoch nicht überragender Tonqualität freuen. Einsteiger erhalten dennoch einen recht guten Überblick über das Können des Mannes.

    Diese Songs sind auf der CD "Live At Montreux" enthalten:

    01. "Laundromat" (1975) [from Rory Gallagher] - 7:49
    02. "Toredown" (1975) [from Blueprint-Sessions]- 4:53
    03. "I Take What I Want" (1977) [from Against the Grain] - 5:59
    04. "Bought And Sold" (1977) [from Against the Grain] - 5:47
    05. "Do You Read Me" (1977) [from Calling Card] - 5:48
    06. "The Last Of The Independents" (1979) [from Photo-Finish] - 5:59
    07. "Off The Handle" (1979) [from Top Priority] - 8:27
    08. "The Mississippi Sheiks" (1979) [from Photo-Finish] - 5:30
    09. "Out On The Western Plain" (1979) [from Against the Grain] - 5:23
    10. "Too Much Alcohol" (1979) [from Irish Tour 1974] - 5:02
    11. "Shin Kicker" (1985) [from Photo-Finish] - 7:05
    12. "Philby" (1985) [from Top Priority] - 8:16
    Meine Produktempfehlungen
    • Rory Gallagher Rory Gallagher
      Rory Gallagher (CD)
    • Deuce Rory Gallagher
      Deuce (CD)
    • Blueprint Rory Gallagher
      Blueprint (CD)
    • Photo-Finish Rory Gallagher
      Photo-Finish (CD)
    • Tattoo Rory Gallagher
      Tattoo (CD)
    • Jinx Jinx (CD)
    A Lantern And A Bell Loney Dear
    A Lantern And A Bell (CD)
    26.03.2021
    Klang:
    5 von 5
    Musik:
    5 von 5

    Ehrfürchtig-spirituelle Lieder von Loney Dear aus Schweden.

    Dieser intime, kultivierte Ausdruck. Diese hohe, sensible Stimme. Diese gediegene, melodramatische Atmosphäre. "A Lantern And A Bell" - das siebente Album von Loney Dear - verbreitet den Klang der Sehnsucht und Vergänglichkeit. Aber auch den der Zuversicht, der die Kraft der Liebe und die Freude am Leben lobpreist. Mitunter treten diese Gefühle nicht offensiv in den Vordergrund, sie sind aber Bestandteil, Inhalt sowie Ausgangspunkt und Zentrum der neun neuen Lieder.

    Als Inspiration für die inhaltliche und musikalische Ausgestaltung müssen immer wieder Symbole rund um das Meer herhalten. So zeigt das Cover des Werkes die internationale Flagge für in Seenot geratene Schiffe. Das ist als Sinnbild für den Zustand zu verstehen, in dem sich der Schwede Emil Svanängen, der sich Loney Dear nennt, zu Beginn der Arbeit an dem aktuellen Album befand. In dieser Zeit - die sich anfühlte wie der Blick in den Abgrund - sorgte die Musik dafür, dass die Dunkelheit ihre Schrecken verlor und das Lachen wiederkehrte.

    Für das einleitende "Mute / All Things Pass" erzeugt Loney Dear sakrale Momente und erzählt in verzweifelter Stimmlage davon, dass alles einmal zu Ende sein wird. Hier tropfen bittere Tränen aus den Noten. Die Tristesse wird von einem in Moll gestimmten Piano, übermächtigem Bass-Brummen und einer Kirchenorgel, die Unheil herauf beschwört, getragen. "Habibi ist eine symbolische Person für alle Menschen, die Zuflucht in der Welt suchen. Für alle Menschen ohne Zuhause", erklärt Emil. Der Soundtrack dazu ("Habibi (A Clear Black Line)") bietet eine kurze, zu Herzen gehende Piano-Ballade an, die instrumental bis aufs Skelett entblößt wurde und in dieser Form auch von Randy Newman stammen könnte.

    "Trifles" erhöht die instrumentale Dichte und sorgt dadurch für eine dezent vibrierende Umgebung. Das Stück türmt zunächst Dramatik auf, wird dann zwischendurch federleicht, um die innere Spannung im weiteren Verlauf wieder bis zum überraschenden Ende zu steigern. Durch die wallenden Gefühlswogen gerät der Hörer unwillkürlich in eine abhängig machende Strömung, die leider unerwartet abreißt und ihn dadurch aus seiner versunkenen Gedankenwelt aufschreckt.

    Das Piano sucht bei "Go Easy On Me Now (Sirens + Emergencies)" zunächst vorsichtig tastend nach einer Konstante, bevor der Track durch andächtige, innig und theatralisch gesungene Töne, die sich wie ein Gebet und nicht wie ein Pop-Song anhören, aufgefangen wird. Salbungsvoll werden auch die Klänge für "Last Night / Centurial Procedures (The 1900s)" in einem wohlig warmen Sound-Kokon aufbereitet, der sich schon nach eineinhalb Minuten wieder auflöst. Wie schade!

    Der Physiker Robert Oppenheimer war einer der Väter der Atombombe und Namensgeber für das Lied "Oppenheimer". Emil erklärt das so: "Es ist schwer, meine Faszination dafür zu verstehen, aber ich denke, es hat natürlich mit Leben und Tod zu tun und sich die Freiheit zu nehmen, andere und ihr Schicksal zu kontrollieren ... Die Atombombe war die Zukunft und es war Populärkultur. Und die Tatsache, dass der Bikini das neueste Modeprodukt war und sie ihn nach dem Ort benannten, an dem sie eine Bombe gesprengt haben! Es sagt uns einfach so viel über diese Zeit." Ist das die Faszination für das Unbegreifliche im Schrecklichen, was aus diesen Worten spricht? Der Track selber spiegelt zumindest eine Stimmung wider, die zwischen Furcht, Grausen und dem Suchen nach dem Licht am Ende des Tunnels liegt.

    Feierlich und emotional stark bewegt präsentiert sich im Anschluss "Darling", das durchaus mit einer Zeitmaschine aus einer längst vergangenen Epoche - wie Rokoko oder Romantik - zu uns gelangt sein könnte. "Interval / Repeat" klingt wie die Definition der Geschwindigkeit der Einsamkeit. Das ist eine Beschreibung, die von einem John Prine-Song entliehen ist ("Speed Of The Sound Of Loneliness", 1986) und wie die Musik für eine neue Gesellschaft von nachdenklichen, bekümmerten und kreativen Menschen. Das ist eine Formulierung, die John Cale für eines seiner inbrünstigen Alben gewählt hat ("Music For A New Society", 1982). Das Lied wird entrückt gesungen und nur von einem sparsam gespielten Klavier und ätherisch-schwebenden Orgelklängen begleitet, was für eine weltabgewandte Stimmung sorgt. "A House And A Fire" hinterlässt den Eindruck einer Tragödie, aus der man gestärkt hervorgeht. Das Stück erscheint würdevoll, wobei der erhebende Gesang für Hoffnung sorgt und für Vertrauen wirbt. Was für ein zuversichtlicher Ausblick zum Abschluss!

    Eine Laterne und eine Glocke: Beides wird benötigt, um sich zu orientieren und sich bemerkbar zu machen, also um Kontakt aufzunehmen. Und Kontakt braucht man, um schwere Zeiten zu überwinden. In diesem Sinne dienten die Aufnahmen als eine Art Therapiearbeit, die Emil Svanängen und sein Produzent Emanuel Lundgren in einem Stockholmer Studio gemeinsam erlebt und durchgestanden haben. Auf "A Lantern And A Bell" klingt der Klassik- und Jazz-Fan Loney Dear wie ein Sprachrohr der verlorenen Seelen und der Betrübten, deren Schmerz er als Geleichgesinnter lindert, indem er Verständnis aufbringt und dadurch sowohl Trost wie auch Kraft spenden kann. Als derjenige, der die Pein schon durchlitten hat, kann er Vorbild, Freund und Ratgeber sein. Seine Stärke besteht aus inniger Glaubwürdigkeit und betörender Intensität, was über eindringliche Schwingungen vermittelt wird. Keine halbe Stunde dauert das Werk, aber es ist dennoch so drastisch aufwühlend, dass es erst einmal emotional verdaut werden muss. Ganz große Gefühle werden hier verdichtet und leidenschaftlich nahegebracht. Das ist die hohe Kunst der absoluten Hingabe für die Musik!

    Peter Gabriel nannte Loney Dear nicht nur "Europas Antwort auf Brian Wilson", sondern nahm ihn auch gleich für sein Real World Records-Label unter Vertrag. Gabriels Einschätzung ist durchaus nachvollziehbar, denn der schwedische Singer-Songwriter, der seine Kompositionen gerne mit diffusen maritimen Eindrücken umgibt, entwickelt spezifische Song- und Arrangement-Formen. Er denkt sich unter die Haut gehende Lieder aus, die lange nachhallen und sich im Unterbewusstsein anreichern. Die Musik hat einen ehrfürchtigen, spirituellen Charakter, auch wenn es sich hier nicht um Gospel-Musik im engeren Sinne handelt. Emil Svanängen singt die Lieder, als würde er sich in einer Heiligen Messe befinden. Er zelebriert sie wie ein gefallener Engel, der inbrünstig über Schuld und Sühne berichtet. Damit steht er in der Tradition solcher Künstler wie Townes van Zandt, Tim Hardin, Elliott Smith, Nick Cave, Rufus Wainwright, José González (Junip), Nick Drake oder Songs Of Boda.
    Meine Produktempfehlungen
    • For The Sake Of The Song / Out Mother Mountain Townes Van Zandt
      For The Sake Of The Song / Out Mother Mountain (CD)
    • Hang On To A Dream-The Verve Recordings Hang On To A Dream-The Verve Recordings (CD)
    • Elliott Smith (25th Anniversary Edition) Elliott Smith (25th Anniversary Edition) (CD)
    • Idiot Prayer: Nick Cave Alone At Alexandra Palace Nick Cave & The Bad Seeds
      Idiot Prayer: Nick Cave Alone At Alexandra Palace (CD)
    • Vibrate: The Best Of Rufus Wainwright Rufus Wainwright
      Vibrate: The Best Of Rufus Wainwright (CD)
    • In Our Nature In Our Nature (CD)
    • Made To Love Magic (Digisleeve) Nick Drake
      Made To Love Magic (Digisleeve) (CD)
    House Music Bell Orchestre
    House Music (CD)
    19.03.2021
    Klang:
    4 von 5
    Musik:
    4 von 5

    Instrumentale Musik mit Charakter und Eigensinn.

    Instrumental-Musik umgibt häufig eine Aura der komplizierten Kopflastigkeit, der abgehobenen Intellektualität oder der unnahbaren Eliten-Kunst. Dabei ist es egal, ob es sich um Bereiche der Klassik, des Jazz oder der Minimal-Art handelt. Zwanglose Unterhaltung verbindet kaum jemand mit Tönen, zu denen nicht gesungen wird und nicht getanzt werden kann. Auch die sechsköpfige Formation Bell Orchestre gehört einer Gattung von ernsthaften Künstlern an. Das Kollektiv erschafft mit ihren Improvisationen Klanglandschaften, die zum Eintauchen und Zurückziehen einladen und trotzdem anregend und ungewöhnlich klingen. Es gibt etliche Etiketten, die dieser Musik angeklebt werden könnten: Post-Rock, Neue Musik, Ambient, Jazz, Avantgarde oder Weltmusik. Aber keines passt wirklich, es steckt vielmehr von Allem etwas drin. Bei den zehn Stücken des ersten Werkes seit 10 Jahren gibt es jedenfalls keinen eindeutigen Stil-Favoriten.

    Die "House Music" wurde in 10 Phasen unterteilt, welche aufeinander aufbauen oder untereinander für Kontraste sorgen. Diese Errungenschaft kam spontan zustande, wobei die Ideen individuell weiterentwickelt wurden. So knallt uns das 30 Sekunden lange "I: Opening" panisch und unzusammenhängend als Mix aus natürlichen sowie verfremdeten Geräuschen und stilistisch nicht einzuordnenden Tönen um die Ohren. Für "II: House" wird das monotone Bass-Riff aus "I: Opening" nahtlos als Basis übernommen. Darüber gleiten silbrige Steel-Gitarren-Töne hinweg. Wie Vögel, die sich fast schwerelos von der Thermik treiben lassen. Erst nach über 2 Minuten setzen sowohl ein unruhiger Schlagzeug-Rhythmus wie auch eine galoppierende Geige ein, die das Stück zum Stolpern und Traben bringen. Bass und Steel-Gitarre lassen sich davon jedoch nicht in ihrer Ausgeglichenheit verunsichern.

    Die schon aus "II: House" bekannte und am Square-Dance-Schwung orientierte Geige übernimmt bei "III: Dark Steel" spontan die Leitung. Sie wird später allerdings von dramatisch-weihevollen Bläser-Sätzen übertönt. Das Stück lässt langsame und schnelle Ton-Spuren mit- und gegeneinander ablaufen und erzeugt so eine lebhafte Atmosphäre, die von Anstrengung und Dominanzstreben geprägt ist. Schrille sowie dunkle, sich überlagernde Bass- und Percussion-Töne verursachen bei "IV: What You’re Thinking" ein geordnetes Chaos, das sich gegen Ende des Tracks in entfernt stattfindenden Explosionen entlädt und anschließend allmählich neu gestaltet wird.

    Diese neue Ordnung formt sich aber erst im Verlauf von "V: Movement" zu einer vollständigen, meditativen, aber dennoch beweglichen Gestalt zusammen. Eine gestopfte Trompete übernimmt hier neben der obligatorisch weinenden Steel-Gitarre zwischendurch eine führende Rolle, wobei auch andere kurze Solo-Aktionen gewichtige Klangbestimmungen erlangen. Kurz rauscht sogar ein altes Broadway-Musical wie eine im Hinterkopf versteckte und frisch aktivierte Sound-Erinnerung vorbei. Und Stimmen sind zu hören, die wortlos wie ein versöhnlich verzierendes Instrument agieren.

    "VI: All The Time" geht den grade eingeschlagenen Weg weiter. Der Track bekommt jedoch noch weitere exotische und eigentümliche Klangfarben verliehen, die ihn fremdartig erscheinen lassen. Wie Insekten summen, surren, schwirren und brummen verschiedene Töne in "VII: Colour Fields" herum, bevor wendig-schlaksige Schlagzeug-Takte, blubbernde und sirrende Synthesizer-Klänge und Breitwand-Bläser-Sätze das Stück stimmungsmäßig in schwindelnde Höhen entführen.

    Die 7minütige Tondichtung "VIII: Making Time" lässt zunächst die hypnotische Bass-Figur aus "II: House" wieder aufleben. Der Track bleibt insgesamt undurchsichtig, unheimlich und undefinierbar. Die verwirrenden Klänge lassen mal an einen Alb- und dann wieder an einen Tagtraum denken. Die Instrumente wechseln sich in ihrer Wichtigkeit ab und Stimmen murmeln dazu in einem Lücken füllenden Singsang, so dass ein wogender Klangteppich entsteht. "IX: Nature That’s It That’s All" besinnt sich auf die Kraft der langsam fließenden, sich nur wenig ändernden Schwingungen, die in dieser Konstellation zu einer konzentrierten Ruhe führen können. Immer wieder treten Töne an die Oberfläche, die in moderater Lautstärke neue Eindrücke vermitteln und so schlängelt sich der Klang-Strom rücksichtsvoll auf- und abschwellend durch eine Landschaft von bizarrer Beschaffenheit dahin. "X: Closing" läuft nahezu in sich gekehrt ab und sorgt so für einen entrückt wirkenden, versöhnlichen Ausklang der Platte.

    Die Einspielungen für "House Music" entstanden während einer zweiwöchigen Isolation im Haus der Arcade Fire-Geigerin und -Sängerin Sarah Neufeld. Ihre Musiker-Kollegen Richard Reed Parry (Bass, Gesang, auch von Arcade Fire), Pietro Amato (Horn, Keyboards, Elektronik), Michael Feuerstack (Pedal-Steel-Gitarre, Keyboards, Gesang), Kaveh Nabatian (Trompete, Gongoma, Keyboards, Gesang) sowie Stefan Schneider (Schlagzeug) wurden in dem mehrstöckigen Haus auf mehrere Zimmer und Etagen verteilt, wobei der Toningenieur Hans Bernhard für die Verständigung und den guten Ton sorgte.

    Obwohl die Musiker jeden Tag ihre Ideen aufnahmen, basiert das 45-minütige "House Music"-Album auf einer 90-minütigen Improvisation, die behutsam bearbeitet und zu einem möglichst organisch fließenden Werk verdichtet wurde. So entsteht der Eindruck, es handele sich insgesamt um ein einziges Stück mit verschiedenen Klangmustern, die intuitiv ausgearbeitet wurden. Die Musiker haben sich erstaunlich gut untereinander abgestimmt. Und das, obwohl sie sich bei den Aufnahmen nicht sehen konnten. Dafür ist schon ein gutes Gespür füreinander nötig. Herausgekommen sind Sounds, die wie eine klassische Symphonie Beweglichkeit, Dynamik und Überraschungselemente so miteinander verbinden, dass am Ende ein schlüssiges Ganzes entsteht. Das hat auf beachtliche und erstaunliche Weise funktioniert und zu verschachtelter Musik mit speziellem Charakter geführt. Ganz in der Tradition solcher Bands wie Magma, Tortoise oder Penguin Cafe (Orchestra).
    Meine Produktempfehlungen
    • Retrospektiw I-II-III (Digipack) Magma
      Retrospektiw I-II-III (Digipack) (CD)
    • TNT TNT (CD)
    • Handfuls Of Night Penguin Cafe
      Handfuls Of Night (CD)
    Distractions Tindersticks
    Distractions (CD)
    10.03.2021
    Klang:
    5 von 5
    Musik:
    4 von 5

    Umbruch trotz oder wegen Corona: Der Lockdown als kreative Findungsphase.

    Corona ohne Ende. Auch die Tindersticks um Stuart A. Staples haben ihre Lehren aus der Pandemie gezogen. Der Lockdown sei definitiv ein Teil von "Distractions" aber nicht eine Reaktion darauf, lässt sich Staples zitieren. Aber die Gruppe brauchte Ablenkungen und bei dieser Gelegenheit habe man eine offene, frei fließende Form bei der Umsetzung ausprobiert, wobei jedes Bandmitglied seine Musikalität anders als bisher ausrichten konnte. Nur zwei Monate nach der Veröffentlichung von "No Treasure But Hope", also schon im Januar 2020 kam es zu ersten Überlegungen über die Gestaltung von zukünftiger Musik. Wegen des Lockdowns wurden dann auch bald Aktivitäten für das dreizehnte Studio-Album der Band aus Nottingham aufgenommen, dessen Fertigstellung sich bis zum September 2020 hinzog.

    Um unmittelbar Intensität aufzubauen, beginnen die Tindersticks das Album mit dem 11minütigen, monotonen "Man Alone (Can't Stop The Fadin')". Statt jedoch einen hypnotischen Rausch mit Hilfe von Krautrock-Referenzen im Can-Gedächtnis-Stil hervorzurufen, wartet das Stück mit nervtötenden Wiederholungen auf. Das klingt übertrieben in die Länge gezogen, so wie viele der 12inch-Maxi-Single-Remixe aus den 1980er Jahren, wo den Songs mit endlos ausgewalzten Gimmicks das Leben ausgehaucht wurde. Ein klassischer Fehlstart.

    Das sich anschließende, geflüstert-leise, merkwürdig-intime, klirrend kalt erscheinende "I Imagine You" macht den anfangs gewonnenen, zwiespältigen Eindruck zum großen Teil wieder wett. Die Arrangements wurden hier kreativ mit Tönen ausgestattet, die sich wie eine Glasharfe und eine singende Säge anhören. Staples erklärt das Stück kryptisch, aber auch poetisch: "Ich denke, es ist ein Lied von der Rückseite eines Sofas, das dort unten verschwindet und die Verbindung zur Welt verliert". Eine herrlich verschrobene Beschreibung.

    Richtig stark wird es mit dem folgenden Cover-Versionen-Trio. Da wäre zunächst "A Man Needs A Maid" von Neil Young, das im Original als teils intime, teils orchestral ausgeschmückte, ergreifende Ballade das Album "Harvest" aus 1972 ziert. Die Tindersticks interpretieren den Song als dunklen, melancholischen Electro-Pop mit gleichmäßig tickendem Rhythmus, dem auch Gina Foster als Duett-Gesangspartnerin keinen Sonnenschein einhauchen kann. Es entsteht eine kristallklare, behagliche Tristesse für Fortgeschrittene, die aus den Schattenseiten des Lebens Kraft schöpft.

    Dory Previn war die Ehefrau des Klassik- und Jazz-Pianisten, Komponisten und Dirigenten André Previn. Sie trat als Schriftstellerin und Musikerin ins Licht der Öffentlichkeit. In ihrem Leben gab es oft Konfrontationen mit psychischen Krankheiten, sowohl wegen ihres paranoiden Vaters wie auch wegen eigener Probleme: André Previn verließ sie 1970 wegen Mia Farrow. Ihren Schmerz verarbeitete sie auch in ihren Songs, in denen sie zur Kompensation drastische Themen unterbrachte. "Lady With The Braid" von 1971 erzählt die Geschichte einer einsamen, verunsicherten Frau, die einen männlichen Gast dazu bewegen möchte, über Nacht zu bleiben, wobei sie sich emotional an ihn klammert. Musikalisch handelt es sich um eine traditionelle Country-Folk-Ballade im Merle Haggard-Stil mit romantischen, lieblichen Streichern, die von Dory mit klarer, angenehmer Stimme offen und unvoreingenommen gesungen wird. Stuart A. Staples & Co. erhöhen das Tempo und lassen den Song jazzig swingen, wobei der Gesang gedankenvoll-sinnierend hinterher zu hinken scheint. Das Lied wird nach sieben Minuten ausgeblendet. Es entsteht aber der Eindruck, dass die Musiker noch mehr zu sagen hatten und der Track in Wirklichkeit viel länger ausgefallen ist.

    Die Television Personalities wurden 1977 in London von Sänger Dick Treacy gegründet und waren sowas wie das fehlende Glied zwischen Punk und psychedelischem Folk-Rock. Die britischen Underground-Helden erlangten zumindest durch den Song "I Know Where Syd Barrett Lives" Insider-Kult-Status. Sie wussten damals tatsächlich, wo sich der verschollene Pink Floyd-Gründer aufhielt. Er lebte nämlich abgeschieden in Cambridge bei seiner Mutter. "You'll Have To Scream Louder" stammt vom 1984er-Album "The Painted Word" und ist ein schlampig-dreckiger Rocker mit Pop-Füllung, die sich aber im Gewirr des E-Gitarren-Geschrammels und der zersetzenden Echo-Effekte verliert. Bei den Tindersticks kommt das Lied im Gegensatz dazu mit karibisch anmutenden, tanzbaren Rhythmen beinahe freundlich rüber.

    Song Nr. 6 und 7 sind dann wieder Eigenkompositionen: Das traurige Piano-Chanson "Tue-Moi" verbreitet eine gedrückte Stimmung, denn es ist dem Terroranschlag auf das Bataclan in Paris im Jahr 2015 gewidmet. Die Aufmerksamkeit wird hier ganz und gar auf das leicht erregte Timbre des lyrisch-bedeutsamen Gesanges gelenkt. Friedliche Frühlingsgeräusche leiten dann das abschließende "The Bough Bends" ein. Besänftigend gesprochene Worte passen sich in die harmonische Klanglandschaft ein, bevor der Track ganz langsam Fahrt aufnimmt, aber sich trotz knurrend-rumorenden und hell schillernden E-Gitarren in ruhigem Fahrwasser aufhält.

    Es ist löblich, dass sich die Musiker für "Distractions" bemühen, sich selbst und ihren Sound weiterzuentwickeln. Aber diese Schritte sollten ausgereift, sinnvoll und nachvollziehbar sein und nicht - wie bei "Man Alone (Can't Stop The Fadin')" - in einem unausgegorenen Experiment enden. Um das zu vermeiden, hilft es oft Ideen von Künstlern aufzunehmen, die bisher noch nicht im Dunstkreis der handelnden Personen aufgetaucht sind, statt im eigenen Saft zu schmoren. Die Kritik an dem Stück soll darstellen, wie schnell man sich verrennen kann und künstlerisch in die Sackgasse gerät, wenn Ideen herausgegeben werden, die nicht das gewohnte Niveau halten. In diesem Falle wird teilweise genau das erreicht, was vermieden werden sollte: Ein Qualitätsverlust. Aber die Tindersticks haben ansonsten nur interessante Tracks abgeliefert. So ist unterm Strich ein lohnendes Album herausgekommen, aber eben kein Meisterwerk.
    Meine Produktempfehlungen
    • No Treasure But Hope Tindersticks
      No Treasure But Hope (CD)
    • Tindersticks (First Album) (Expanded Edition) Tindersticks
      Tindersticks (First Album) (Expanded Edition) (CD)
    • Tindersticks - Second Album / Expanded Version Tindersticks - Second Album / Expanded Version (CD)
    • Curtains Tindersticks
      Curtains (CD)
    • The Waiting Room Tindersticks
      The Waiting Room (CD)
    • Ypres Tindersticks
      Ypres (CD)
    • The Something Rain / San Sebastian 2012 (Live) (Limited Edition) The Something Rain / San Sebastian 2012 (Live) (Limited Edition) (CD)
    Electrically Possessed (Switched On Vol.4) (Limited Deluxe Edition) Electrically Possessed (Switched On Vol.4) (Limited Deluxe Edition) (CD)
    06.03.2021
    Klang:
    4 von 5
    Musik:
    4 von 5

    "Electrically Possessed" ist der 4. Teil der Vergangenheitsbewältigung von Stereolab.

    Der Sound des Projektes Stereolab ist für den Zufallshörer kaum zu fassen oder einzuordnen, zu unterschiedlich sind die Stücke gestrickt. Der Schwerpunkt kann dabei sowohl auf Lounge-Pop, Bossa Nova und Electro-Pop, wie auch auf Minimal-Art, Jazz oder Chanson liegen.

    Stereolab formierten sich 1990 in London aus den Resten der Gitarren-Band McCarthy mit den Ideengebern Tim Gane (Gitarre, Keyboards) und Laetitia Sadier (Gesang, Keyboards, Gitarre). Sie benannten sich nach einem Sublabel von Vanguard Records, für das solch wegweisende, unabhängige und einflussreiche Künstler wie Sandy Bull, Larry Coryell, Odetta und auch Joan Baez aufgenommen haben. Schnell fanden Stereolab im pulsierenden London eine Lücke zwischen Post-Rock, Mutant-Disco, Minimal-Art, Bossa Nova und Kraut-Rock, die sie kreativ ausfüllen konnten. Bei ihnen lernt die Elektronik seitdem das Swingen und Grooven, sie reihen Pop-Traditionen in avantgardistische Ausflüge ein, sie verschmelzen brasilianische Klänge mit Kraut-Rock und das Swinging London der 1960er Jahre lebt wieder neu auf. Alle diese Ingredienzien treiben in sich ständig wandelnder Form seltsam-frische Blüten und tragen so zu einer stilvollen und anspruchsvollen Unterhaltung bei.

    Im Jahr 1992 haben die Musiker damit begonnen, ihre Vergangenheit aufzubereiten, indem sie seltene Tracks und bisher unveröffentlichte Outtakes sichteten und klangtechnisch überarbeiteten. Dabei kamen dabei bisher die Werke "Switched On" (1992), "Refried Ectoplasm" (1995) und "Aluminum Tunes" (1998) heraus. Mit "Electrically Possessed" wurde jetzt die Zeit zwischen 1997 bis 2008 durchforstet und mit 25 handverlesenen Tracks nachgebildet.

    Die ersten sieben Kompositionen stammen vom Minialbum "The First Of The Microbe Hunters" (2000): Bei "Outer Bongolia" werden wiederkehrende, monotone Rhythmen sehr ernst und konsequent eingesetzt. Und das alles unter dem Feuer lateinamerikanischer Rhythmen. Kunst trifft auf Klischee! Das Vibraphon spielt von Anfang an die selben Töne, über die die anderen Instrumente improvisieren und fantasieren. Dabei entstehen dann Fusionen aus psychedelischen und suggestiven Sounds, Jazz-Grooves und lateinamerikanische Disco-Klänge. Das Stück ist ein Trip, der im Nirgendwo endet und das Gehirn unterwegs zum Expandieren bringt. Ein gewagtes Experiment mit ungewissem Ausgang. Skurril, abgedreht und unter Umständen an den Nerven zerrend. Zehn Minuten bis zur Ewigkeit oder Minimal-Art als Psycho-Droge.

    "Intervals" setzt die Stimme von Laetitia Sadier ins rechte Licht. Anmutig wie Astrud Gilberto ("The Girl From Ipanema") oder bisweilen herausfordernd wie Flora Purim ("Light As A Feather") präsentiert sie sich als souveräne Lenkerin von bedeutenden Stimmungen und spontanen Einfällen in diesem anziehend-verspielten Bossa Nova-Chanson. Der kühle Anteil im Gesang verweist auf Nico, die auf "Velvet Underground & Nico" (1967) und ihrem ersten Solo-Album "Chelsea Girl" (1967) einen unnahbaren Gesang beisteuerte. Später sang sie dann noch frostiger, aber das ist eine andere Geschichte. Bei Laetitia geht die Sonne bei den von ihr hervorgebrachten Lauten jedenfalls nie ganz unter. Die Musiker setzen auf Gegensätze, mit denen sie das Stück beweglich halten: Billig wirkende Synthesizer-Klänge geben sich mit gesellschaftsfähigen, feinen Marimbaphon-Klängen ein Stelldichein und der Rhythmus simuliert Tanzmusik. Aber die Tempowechsel durchbrechen den Schwung stets zu Gunsten der inneren Einkehr.

    Der Beat von "Barock-Plastic" wühlt sich wuchtig und konstant durch einen Dschungel von Brasilectro-Klängen. Dieser jugendliche Überschwang verleiht dem Stück auch sein Selbstbewusstsein und seine Originalität. Es überholt alles, was zu behäbig nach alten Regeln abläuft und schafft so neue Sound-Tatsachen. Frechheit siegt (manchmal). Auch "Nomus Et Phusis" zapft sowohl Weltmusik wie auch die Errungenschaften der elektronischen Musik an. Daraus entsteht ein fremdartiger Pop-Song oder verfremdeter Latino-Track. Ganz wie man will. Was mit dezenten Trommeln beginnt, wechselt in ein absurdes Ton-Geleier und dann in einen künstlich-kitschigen Chill-Out-Sound. Im Reich der Klang-Illusion ist eben alles erlaubt.

    Die Luft auf einem anderem Planeten ("I Feel The Air (Of Another Planet)") stellt sich Stereolab als stakkato-hafte Vokal-Übung vor, die nur wenige Veränderungen mit sich bringt. Diese Tonfolgen durchziehen weite Teile des 8 Minuten langen Stückes. Das ist ein bizarrer Science-Fiction-Soundtrack und ein exzentrisches Chanson in einem. Oder eine Hommage an Laurie Anderson - die mit "O Superman" wahrscheinlich die Vorlage für die verwendete Stimmband-Akrobatik lieferte - und Lou Reed, der für knorriges Songwriting mit Herz und Seele steht. Eine Ausprägung, die am Ende der Komposition nach einem Stilbruch in Richtung Kammermusik dann auch die Oberhand gewinnt.

    "Household Names" lässt an Sonne und Strand denken, obwohl das Lied eindeutig zu munter zum Entspannen ist. Easy Listening für Fortgeschrittene! "Retrograde Mirror Form" hypnotisiert durch verschiedene eindringliche instrumentale Wiederholungen, die Echo-artig zwischen dem linken und rechten Ohr hin und her geschickt werden. Eine intensive Übung in Zeitdehnung und Konzentration. Das ist nichts für nervöse, stressgeplagte Individuen, wenn sich auch genau deren Situation hier akustisch widerspiegelt.

    Die Tracks auf "Electrically Possessed" wurden nicht chronologisch angeordnet, sie folgen vielmehr einer subjektiven Dramaturgie der Erschaffer. So werden auch gemeinsam veröffentlichte Songs manchmal quer über die Tonträger verteilt. Die Single "Solar Throw-Away" (A-Seite) / "Jump Drive Shut-Out" (B-Seite) stammt aus 2006. Die A-Seite gibt es in zwei Versionen, die beide hier zu hören sind. Die "Original Version" präsentiert psychedelischen Beatles-Pop der "Magical Mystery Tour"-Phase, der auf flotte kubanische Rhythmen trifft. Die andere Fassung klingt eher wie die sich am Rokoko orientierende Film-Musik aus den Miss Marple-Krimis der 1960er Jahre, bevor der exotische Rhythmus wieder zugesteuert wird und sich das Umfeld elektro-poppig verändert.

    Die B-Seite beherbergt ein Instrumental-Stück, das eine Stimmungslage zwischen beschaulich und vergnügt ausdrückt. Hier wird Kraut-Rock mit romantischer Film-Musik gekreuzt. Das ist musikalisch nicht unbedingt zwingend, aber ganz nett anzuhören. "Pandora's Box Of Worms" ist ein Outtake aus den "Dots And Loops"-Sessions von 1997, das nach einer unstrukturierten Schüler-Indie-Rock-Band im Übungskeller klingt. Das Ton-Dokument demonstriert zwar die stilistische Breite von Stereolab, ist aber musikalisch überflüssig. Außerdem hat der Take bei einer Minute und elf Sekunden einen derben Aussetzer. Die Tour-Single "Explosante Fixe" (A-Seite) / "L'exotisme Interieur" (B-Seite) erschien 2008. Die A-Seite fühlt sich im locker groovenden Mod-Jazz wohl und "L'exotisme Intérieur" ist ein positiv gestimmtes Lied, das Hippie-Folk und Soul-Pop destilliert und frisch aufbereitet.

    Im Jahr 1999 gab es eine 7"-Vinyl-EP mit vier Titeln, die auf 33 Umdrehungen pro Minute lief, "The Underground Is Coming" hieß und auf der damaligen Tournee verkauft wurde: "The Super-It" schafft es, im Grenzbereich zwischen Brasil-Jazz und Folk-Pop gleichzeitig zurückhaltend-entspannt wie auch beschwingt-nachdenklich zu erscheinen. Die Instrumental- und Gesangs-Versionen von "Fried Monkey Eggs" sind im Vergleich dazu etwas vitaler ausgefallen und im Umfeld des Space-Age-Pop zuhause, denn sie wurden für das "Charlie`s Angels In Space"-Videospiel aufgenommen. Space-Age-Pop ist ein Genre, das besonders in den 1950er Jahren gediegene, fremdartige Lounge-Musik hervorbrachte.

    "Monkey Jelly" sitzt als ruhige Electro-Pop-Ballade, die mit wortlosem Gesang und Percussion-ähnlicher Elektronik auf sich aufmerksam macht, wieder zwischen allen Stühlen. Nicht auf der EP war die gesanglose Beats-Variante von "Monkey Jelly". Das ist nämlich ein bislang unveröffentlichter Outtake aus dieser Zeit. Nicht unbedingt notwendig, aber eben selten. 1998 kollaborierte Stereolab mit dem Künstler Charles Long für eine (Klang)-Installation mit dem Namen "B.U.A (Burnt Amber Assembly): An Entanglement Of Wholes". Die Musik dafür ist nicht etwa experimentell-verworren, sondern zugänglich-nüchtern ausgefallen und steht jetzt erstmals offiziell auf Tonträgern zur Verfügung. Laetitias Gesang lässt Engel sprechen und die Elektronik blubbert, pfeift, knurrt und scratched, als wolle sie eine unbekannte Star Wars-Episode erzählen. Pop-Art, so bunt wie die Bilder von Roy Lichtenstein.

    "Free Witch And No Bra Queen" (A-Seite) und "Speck Voice" (B-Seite) waren auf einer auf 2.000 Stück limitierten Tournee-Single vom August 2001 enthalten. Beide Kompositionen sind mit dem Jazz-verwandt, wobei die A-Seite das Experiment neben den Groove stellt und die B-Seite den Jazz nach Brasilien holt und deshalb luftiger ausgefallen ist. "Heavy Denim Loop Pt 2" ist ein Outtake von den "Mars Audiac Quintet"-Album Sessions aus 1994, der Garagen- und Kraut-Rock zusammen bringt. Die dröhnenden Riffs stammen aus der Garage und der unerbittlich harte, monotone Rhythmus wurde in deutschen Klanglaboren der 1970er Jahre geboren.

    "Variation One" wurde für den Soundtrack von "Moog" zu Ehren von Dr. Robert Moog entwickelt, der 1964 den ersten Synthesizer erfand. Es handelt sich hierbei um eine druckvoll-kompakte, voluminös produzierte Komposition mit Retro-Analog-Synthesizer-Solo, der sich für die Tanzfläche eignet und direkt hinter "Blue Monday" von New Order gespielt werden sollte. Oder vor "Dimension M2", das über weite Strecken auch gut in die Beine geht und plötzliche Brüche aufweist. Zu diesem Track, der 2005 auf der CD-Compilation "Disko Cabine" veröffentlicht wurde, gibt es folgenden (gekürzten) Kommentar von Tim Gane: "Nach der Entstehung der Platte "Dots & Loops" (1997) [...] kauften wir uns einen Apple-Desktop-Computer, eine MOTU-Soundkarte und die Software Logic 2 und begannen, sehr einfache Tracks zu produzieren, wobei wir hauptsächlich Samples als Inspiration nutzten und diese mit etwas Gitarre, Keyboards und oft auch wortlosem Gesang überlagerten, den Laetitia und Mary Hansen hinzufügten. Ich persönlich mochte das Schneiden und Zerhacken von Sounds und Rhythmen und versuchte, kleine, pulsierende Songs zu machen [...]. Die meisten dieser Stücke landeten entweder auf Tour-Singles oder auf Compilations. [...] Ich wollte etwas Peppiges und Partymäßiges machen und "Dimension M2" war so nah dran, wie ich an so etwas herankommen konnte - allerdings immer noch ein bisschen kühl und distanziert."

    "Calimero" mit Brigitte Fontaine als verführerische, rätselhafte Lead-Sängerin wurde etwa zur gleichen Zeit wie die Tracks für die "The Underground Is Coming"-EP geschrieben und erschien auch 1999 als Vinyl- und CD-Single. Der Song hat alles, was anspruchsvoller und unterhaltsamer Art-Pop benötigt: Thriller-Jazz-Spannung, eine rauchig-erotische Stimme, überraschende Wendungen, einen federnden Rhythmus und phantasievolle Solisten. Leider fand die tolle B-Seite "Monade" - die wieder vom Gesang von Madame Sadier verziert wurde - keine Berücksichtigung bei der Kopplung der Songs für diese Sammlung.

    Die Auswahl für "Electrically Possessed" mag kontroverse Meinungen auslösen, beinhaltet aber keine Sammlung von Ausschuss. Sie klingt zwar mitunter unzusammenhängend, schöpft aus diesen Gegensätzen aber auch ihre Reize. Es liegt in der Natur der Sache, dass bei dem Vorhaben, die Vergangenheit aufzuarbeiten, nicht alles Gold ist, was glänzt. Schließlich gibt es in der Diskografie von beinahe jeder Band auch unausgegorene Ideen. Aber interessant sind die meisten Ausgrabungen allemal. Denn es ist aufschlussreich zu hören, wie sich die Musiker weiter entwickelt haben und was alles ausprobiert wurde. Stereolab ist eine Formation, die sich enorme Freiheiten gestattet, um ihren Weg konsequent zu gehen. Sie biedern sich nicht an Trends an, scheuen nicht das Risiko und sind trotzdem erfolgreich mit ihren Forschungen. Noch ist die Pop-Kultur also nicht verloren!
    Meine Produktempfehlungen
    • Switched On Volumes 1 - 3 Switched On Volumes 1 - 3 (CD)
    • Margerine Eclipse (Expanded Edition) Stereolab
      Margerine Eclipse (Expanded Edition) (CD)
    • Fab Four Suture Stereolab
      Fab Four Suture (CD)
    Wrestler The Entrepreneurs
    Wrestler (LP)
    06.03.2021
    Klang:
    3 von 5
    Musik:
    3 von 5
    Pressqualität:
    4 von 5

    Die dänischen Noise-Rocker spielen Punk, Grunge, Post-Rock u. psychedelischen Garagenrock.

    In Zeiten wie diesen...so fangen derzeit viele Erfahrungsberichte und Ratschläge an. Ja, in Zeiten der Isolation braucht man auch mal ein Ventil, um aufgestauten Tatendrang rauszulassen, aus sich heraus zu gehen und den Kopf frei zu bekommen. Was hilft da besser und ist befreiender als krachende, dreckige Rock-Musik mit Haltung? Da kommt das dänische Trio The Entrepreneurs mit ihrem zweiten Album "Wrestler" grade richtig.

    Wie die Band ihre Musik selber einordnet, beschreibt sie auf ihrer Facebook-Seite: "Wir spielen Noise-Rock. Manchmal machen wir es schnell und grandios, ein anderes Mal langsam und mit tiefgründiger Kontemplation, für Ihren Seelenzustand, weil wir einfach nicht anders können. Ästhetisch reiche und experimentelle Variationen über einige der wichtigsten Subgenres des Rock ist der Sound der dänischen The Entrepreneurs." Mathias Bertelsens Gesang will sich zunächst gar nicht in dieses Umfeld einfügen lassen, da er eine feminine Ausstrahlung besitzt, die zwischen sachlich und ärgerlich schwankt, selten aggressiv erscheint und von daher im Noise-Rock nicht oft anzutreffen ist.

    Der Opener "A Good Year To Go Across The Country" klingt wie ein verschollener Velvet Underground-Track, der in einer hellerer Stimmlage dargeboten wird, wie sie ähnlich vom jungen Neil Young bekannt ist. Die E-Gitarre raspelt dazu zunächst monoton-verloren und einsilbig. Wenn dann das Rhythmus-Duo einsetzt, wandelt sich das Bild allmählich zu einer in Feedback getränkten Krach-Orgie, bei dem der nun auch mal rauschhaft in den Hintergrund tretende Gesang der einzige ruhende Pol bleibt.

    "Sweet" lässt dann bei ähnlicher Ausrichtung mehr Geschwindigkeit zu und hat ordentlich Dampf auf dem Kessel. Es schwirrt und surrt stimulierend, dass es eine Freude ist. Dinosaur jr. um J Mascis lassen grüßen. "What's Up With Your Head?" erinnert durch die trocken-holprige Bass/Schlagzeug-Kombination an Sonic Youth. Hinzu kommen noch harte Garagenrock-Riffs, Power-Pop-Melodie-Schnipsel und eine experimentell geprägte Leerlaufphase, die auch gerne als Stilmittel von der New Yorker Avantgarde-Rock-Band um Kim Gordon und Thurston Moore genutzt wurden.

    Das Titelstück "Wrestler" präsentiert sich als langsamer, düster-gespenstischer Psychedelic-Folk-Rock mit Alice Coltrane-Gedächtnis-Harfe. Die drogenschwangere Atmosphäre lässt an Quicksilver Messenger Service in der Dino Valenti-Phase von "Just For Love" von 1970 denken. Eine gelungene Zeitreise! Das sich anschließende "Cinnamon Girl" ist keine Cover-Version des Neil Young-Tracks, sondern wurde vom Sänger Mathias Bertelsen für seine Tochter geschrieben. Das Lied handelt von den einschneidenden Veränderungen, die das Leben als Vater mit sich bringt. Musikalisch schalten die Entrepreneurs einen Gang zurück und lassen den Gitarren-Krach nicht klangbestimmend sein, sondern nur wie ein zusätzliches Instrument als raumfüllendes Element mitschwingen. Ansonsten zeigen sich die Noise-Spezialisten hier eher als moderne Art-Rocker, die Melodie und Rhythmus gleichberechtigt austarieren.

    "Mess" geht als Ballade durch, obwohl die Komposition wesentlich mehr laute, störende Geräusche und Sound-Eskapaden beinhaltet, als dies sonst bei langsamen Liedern üblich ist. Und genau das zeichnet das Stück aus. Die Musiker nutzen einen ähnlichen Effekt, wie ihn auch The Jesus And Mary Chain verwenden: Durch kreischende Feedback-Gitarren, die mit einer zuckersüßen Melodie gefüttert werden, gelingt die Quadratur des Kreises in Form einer Verschmelzung von Pop und Experiment. "What`s So Fucking Strange About My Idea" ist eine freche, überschwängliche Classic-Rock-Parodie mit Bass- und Gitarren-Soli, die von Frank Zappa entliehen sein könnten. Bei "Gonzo" tobt sich die Band dann noch mal richtig aus: Allerlei Effekte, versetzte Takte und eine im Hintergrund mit Echo bearbeitete Stimme sorgen für Verwirrung und lassen das Stück bizarr und unnahbar erscheinen.

    Die Dänen geben eine Leistungsschau davon ab, was so alles zwischen Punk, Grunge, Post-Rock und psychedelischen Garagenrock möglich ist und lassen dabei viele Erinnerungen an bekannte Vorbilder aufflackern. Die von ihnen ausgedrückte musikalische Zerrissenheit passt natürlich als Lebensgefühl in den derzeitigen Zeitgeist, aber mit unter 30 Minuten Laufzeit ist das Werk dann doch zu kurz geraten, um als vollwertiges Album durchzugehen. Die Platte enthält ein paar gute Ansätze, es fehlen jedoch noch weitere prägende Songs für einen rundum bemerkenswerten Höreindruck. In Zeiten wie diesen benötigen wir pralle, starke, vor Energie und Mut überschäumende, phantasievolle Musik, an der wir uns festhalten können.
    Meine Produktempfehlungen
    • The Velvet Underground & Nico (45th Anniversary) The Velvet Underground & Nico
      The Velvet Underground & Nico (45th Anniversary) (CD)
    • Hand It Over (Expanded + Remastered Deluxe Edition) Dinosaur Jr.
      Hand It Over (Expanded + Remastered Deluxe Edition) (CD)
    • Original Album Series The Jesus And Mary Chain
      Original Album Series (CD)
    • Decade Neil Young
      Decade (CD)
    Düsseldorf - Tokyo Düsseldorf - Tokyo (CD)
    06.03.2021
    Klang:
    4 von 5
    Musik:
    4 von 5

    Love Machine sind unkonventionell in dem, was sie singen und spielen. Und das ist gut so.

    Love Machine erzählen auf ihrem vierten Album "Düsseldorf-Tokyo" laut eigenem Bekunden von ihrer Heimatstadt Düsseldorf als eine schmuddelige und irrsinnige Stadt. Es geht um Abgründe und üble Schicksale mit Geschichten über Sucht, Absturz, Ausnüchterung und Freundschaft. Das soll alles im örtlichen Spannungsfeld zwischen Mondänität und Trash am eigenen Leib erlebt worden sein, wie die Musiker Marcel Rösche (Gesang), Noel Lardon (Schlagzeug), Richard Eisenach (Bass), Jan Lammert (Keyboards) und Hendrik Siems sowie Felix Wursthorn (beide Gitarre) versichern. Die Künstler hinterlassen optisch einen verwegenen Eindruck, so als wären sie in den 1960er Jahren Begleitmusiker von Frank Zappa gewesen.

    Aber man liegt nicht unbedingt richtig, wenn man vom Äußeren auf die Musik schließt. Diese Love Machine ist überwiegend zugänglich orientiert. Es gibt konventionelle Elemente, die an Achim Reichel erinnern, manche dadaistischen Anspielungen lassen dagegen an Kiev Stingl denken. Dieser wegweisende Musiker wirbelte ab Mitte der 1970er Jahre auch durch Anschub von Herrn Reichel die Deutschrock-Musikszene durch rotzig-kraftvolle Töne ganz schön durcheinander. Er ist heute aber leider etwas in Vergessenheit geraten. Beim Quintet Love Machine nimmt der dunkle Bariton von Marcel Rösche den Hörer oft als hervorstechendes Merkmal besänftigend und freundschaftlich mit auf poetisch-skurrile Gedankenspiele, bei denen die deutsche und englische Sprache gemischt und gleichberichtigt berücksichtigt wird. Das hat eine gewisse dekadent-hinterhältig-belustigend-charmant-naive Ausstrahlung, schert sich also nicht unbedingt um Konventionen.

    Die Verbindung zwischen Düsseldorf und Tokyo scheint eine lockere und harmonische zu sein, zumindest lässt der das Album eröffnende, gemächlich trottende Easy Listening-Shuffle "Düsseldorf-Tokyo" so etwas vermuten. "Golo Mann" schwenkt dann um und präsentiert die Musiker als sehnsüchtige Southern-Rocker mit Hang zum schwelgenden Country-Rock. Dieses Gebräu wird von einem zärtlich-gefühlvollen, sanft brummenden Gesang untermalt, dem man einfach verfallen muss.

    Die Love Machine ist überwiegend mit intimer Leidenschaft unterwegs. Die nächsten fünf Balladen legen Zeugnis darüber ab: "Hauptbahnhof" ist von ernsthafter Sinnlosigkeit geprägt und wird dazu kurioserweise von ergreifenden Klängen umspült. Mit der Aussage: "Hauptbahnhof, hier wollte ich eigentlich gar nicht hin", beginnt diese putzige Moritat, aber erhellender wird die Geschichte danach auch nicht mehr. Ist das die hohe Kunst des Blödsinns, wie ihn auch Trio ("Da Da Da") praktizierten?

    "100 Jahre Frieden" als Kuschel-Rock zu bezeichnen, wäre eine Beleidigung. Aber zumindest begegnen sich hier auf übertrieben seriöse Weise Schlager-Trivialität und Rock-Gitarren. Das liebliche "Lieblingsbar" suggeriert auch Ernsthaftigkeit, kann aber auch als ironischer Humor verstanden werden. Eine eindimensionale Orgel sorgt beim traurig-introvertierten Folk-Jazz "Gunst der Dinge" für Behaglichkeit und "Swimmingpool der Welt" ist ein bewegend-ausschweifender Song, der durch eine dynamische Melodielinie besticht. Alle diese Lieder werden von wehmütigem Gesang getragen, wie ihn Freddy Quinn in seinen Seemannslieder verbreitet hat. Aber auch der Heilige Zorn von Unheilig deutet sich zwischendurch stimmlich an.

    Das betont als altmodischer, trockener Country getarnte "Gemeinsam einsam" schlurft gemütlich dahin und kann sowohl als Parodie wie auch als charmanter Retro-Beitrag gedeutet werden. Der nüchterne Gesang sagt jedenfalls nichts Eindeutiges über die wahre Absicht der Musiker aus. "That Mean Old Thing" dreht dann den harmlosen Spieß um und lässt bewährte Trieb-Mittel aus Boogie-, Glam- und Hard-Rock kraftvoll sprechen. Der Track spiegelt die Unnachgiebigkeit von Status Quo, den Glamour von T. Rex, die gespielte Coolness von Boss Hoss und den verruchten Dreck von Motörhead wider und bringt das Stück damit auf Trab.

    Bei "The Animal" spielen die Musiker mit einem halbwegs wilden Rock & Roll-Klischee und schrecken allerdings auch nicht vor süßlichen Passagen zurück. So sind sie nun mal: Unberechenbar und nicht zu greifen. Es ist auch nicht sofort einzuschätzen, ob nun Kitsch oder Kunst fabriziert wird.

    Love Machine scheinen aus einer Zwischenwelt zu kommen: Sie sind zu unkonventionell, um als Schlager- oder Chanson-Verwalter durchzugehen, zu liebevoll, um als Rocker anerkannt zu werden und zu vielseitig, um der Roots-Music eindeutig zugerechnet werden zu können. Aber sie haben von allem etwas und die Mischung der Formen und Stile macht den großen Unterschied zum derzeit vorherrschenden Mainstream aus. Die verschwurbelt naiven Texten sind so sympathisch-absurd, dass sie nicht als am Reißbrett entstandene Gehirnblähungen gedeutet werden können, was häufig bei den grade angesagten deutschsprachigen Musikern vorzufinden ist. Die Gruppe fällt - wenn sie Pech hat - aufgrund ihrer kuriosen Eigenarten und selbstverständlich erscheinenden Umgangsformen durch alle Raster, weil sie eben nicht einer Schublade zuzuordnen ist. Das kann davon kommen, wenn man originell und nicht stromlinienförmig agiert, ist aber ein Qualitätsmerkmal.
    Meine Produktempfehlungen
    • Hart wie Mozart Kiev Stingl
      Hart wie Mozart (CD)
    • Das Beste Achim Reichel
      Das Beste (CD)
    Freeze Where U R Freeze Where U R (CD)
    06.03.2021
    Klang:
    5 von 5
    Musik:
    5 von 5

    Harmonischer Pop mit Substanz und Widerhaken ist das gelungene Konzept von "Freeze Where U R".

    "Freeze Where U R" zeigt auf, was möglich ist, wenn Seelenverwandte zur richtigen Zeit zusammen finden, um gemeinsam ihre losen Ideen zu fertigen Songs zu formen. Dann können aus Rohdiamanten Edelsteine entstehen. Dieses Phänomen gelang Brisa Roché & Fred Fortuny auf beeindruckende Weise. Getrennt voneinander bewiesen sie schon ihr Talent, als Duo schwingen sie sich zu ungeahnten Möglichkeiten auf. Die beiden Musiker trafen sich bereits vor zehn Jahren, verloren sich danach zwar nie gänzlich aus den Augen, fanden aber erst jetzt Zeit, um ihre Entwürfe zu einem Werk zu fusionieren: Die Stücke sorgen für wohltuende Assoziationen, bringen Vergangenes zum erstrahlen, lassen die Gegenwart glänzen und auf eine schillernde Zukunft hoffen. Die Künstler demonstrieren mit ihren Kompositionen eine schöpferische Reife auf Basis langjähriger Erfahrungen und statten ihre Lieder originell und geschmackvoll aus.

    Aber wer sind die Protagonisten hinter diesem stimmigen Pop-Album? Brisa Roché wurde 1976 in einem Haus am Strand von Nord-Kalifornien geboren. Ihre Hippie-Eltern zogen in die Berge, als sie 13 war und dort musste sie ohne Strom und fließendes Wasser klar kommen. Mit 16 ging sie von zuhause fort und erlebte in Seattle die Grunge-Welle. Danach zog es sie nach Paris, wo sie den Jazz und das Chanson aufsaugte und 2005 ihr erstes Album auf dem renommierten Blue Note-Label einspielte. Im Anschluss pendelte sie immer wieder zwischen Kalifornien und Frankreich, wodurch die Singer-Songwriter der 1970er Jahre, die sie durch ihre Eltern kennen gelernt hatte, präsent blieben.

    Diese Prägungen bestimmen grundsätzlich das Verständnis vom Songaufbau, von Harmonie und von sensibler Dynamik. Brisas Potential war schon früh - selbst auf dem unausgegorenen "Invisible 1" von 2016 - zu erkennen, aber längst noch nicht formschön ausgeprägt. Seitdem kam es jedenfalls zu einer enormen künstlerischen Entwicklung, weshalb "Freezy Where U R" jetzt in seiner anspruchsvollen und abwechslungsreichen Schönheit erstrahlen kann. Aber Brisa hat auch noch ein anderes Anliegen umsetzen können: „Ich habe über Momente und Themen aus unterschiedlichen Abschnitten in der Lebensgeschichte einer Frau geschrieben – betrachtet durch die emotionale Linse meines aktuellen Lebens, meines Daseins im Hier und Jetzt. Emanzipation, nostalgische Gefühle für längst vergangene Liebschaften, Wut auf Männer, Trennung und Unabhängigkeit in der Arbeit, immer neue Kapitel, die man anfängt, das Auflehnen gegen die Sklaverei, die der technologische und virtuelle Fortschritt mit sich bringen.…“ Diese Inhalte werden in den neuen Songs behandelt und sorgen auch im poetischen Bereich für ein zuverlässig hohes Niveau.

    Genau so wichtig für dieses Projekt ist Fred Fortuny als gleichberechtigter Partner, der zwar aus dem Hintergrund zu agieren scheint - wie auch das Cover-Foto der Platte suggeriert - aber in seiner Rolle des spirituellen Direktors mindestens so entscheidende und richtungsweisende Impulse lieferte, wie es George Martin für die Beatles tat. Außerdem hat er als Arrangeur, Komponist, Musiker, stilistisches Gegengewicht und Seelsorger einen erheblichen Anteil am Gelingen von "Freeze Where U R". Bisher ist der zurückhaltende Künstler allerdings relativ selten in Erscheinung getreten. Von Ende der 1980er Jahre bis hinein in die 1990er Jahre war er als Bassist, Gitarrist und Keyboarder Mitglied der französischen Power-Pop-Band Love Bizarre, die offensichtlich von den Beatles, den Kinks und Big Star beeinflusst war. Zuletzt arbeitete er oft mit dem französischen Autor, Komponisten und Performer Da Silva zusammen.

    Fred hörte in einem Urlaub auf Mallorca im Jahr 2000 zum ersten Mal "Tapestry" (1971) von Carole King, was für ihn eine Offenbarung war. Dieser Sound ist jetzt oft ein leitendes Licht, das "Freeze Where U R" bevorzugt erhellt. Seit diesem Urlaub träumt Fortuny davon ein Album aufzunehmen, das vom Laurel Canyon-Sound solcher Künstler wie The Byrds oder The Mamas & The Papas und von erfahrenen Songwritern wie Jimmy Webb beeinflusst ist. Diesem Ziel ist er nun sehr nahe gekommen.

    Das Album beginnt kurioserweise mit dem "Last Song". Warum sollte man ein Pferd nicht auch mal von hinten aufzäumen? Inhaltlich geht es um die Verarbeitung einer zerbrochenen Beziehung. Es werden sozusagen letzte Worte gesprochen und Bewältigungsstrategien ausprobiert, bevor das Thema zu den Akten gelegt werden kann. Das Lied wurde reich und detailverliebt instrumentiert, treibt schwelgerische Gefühle auf die Spitze, verwendet zwischendurch ruhige Sequenzen zur Spannungssteigerung und seltsame, hohe Chorstimmen zur Betonung der Extravaganz. Der Gesang drückt dazu feierliche Eleganz und ein individuelles Jubeln aus, wie es Joni Mitchell gerne als Stilmittel benutzt. Ganz große Klasse! Auch "You Were Mine" ist fantasievoller, anspruchsvoller Pop für Erwachsene, der als Bezugspunkt ausdrucksstarken Gospel-Folk-Jazz-Gesang präsentiert, wie er von Laura Nyro ("Wedding Bell Blues") kultiviert wurde.

    "Tempted Tune" und "Blue Light" wurden maßgeblich von den amerikanischen Musicals der 1940er und 1950er Jahre - wie "Showboat" - beeinflusst, die bei der musikalischen Sozialisation von Fred Fortuny eine große Rolle spielten. Diese kurzen, romantischen Retro-Vaudeville-Nummern stützen sich voll und ganz auf die sympathische Wirkung einer ausdrucksvollen Stimme in Verbindung mit einem einfühlsamen Piano. Sie verbreiten eine Behaglichkeit aus einer guten alten Zeit, die es so wahrscheinlich nie gegeben hat. Und "Blue Light" klingt zusätzlich noch wie eine demütige Verneigung vor Billie Holiday.

    "Don't Want A Man" scheint dafür gemacht worden zu sein, groß inszeniert zu werden. Ein üppiges Bühnenbild, allerlei Tänzer und diverse Musiker erscheinen vor dem geistigen Auge, wenn dieser ausladende Show-Pop der besseren Sorte ertönt und mit hymnisch-würdevollem und lustvoll-verzücktem Lead-Gesang bestückt wird. Der Track "Freeze Where U R" bekommt Anregungen von der experimentellen Phase der New Wave- Szene aus den End1970er Jahren verliehen, als schräge Samples ausprobiert wurden und die suggestiv-monotone Elektronik des Kraut-Rock ein Revival erhielt. Bei Brisa Roché stehen Can und ganz besonders deren 20minütiges "Yoo Doo Right" vom "Monster Movie"-Album aus 1969 nämlich hoch im Kurs. Für die Komposition "Freeze Where U R" werden dröhnende, perkussiv verfremdete Maschinenklänge zu Gehör gebracht. Sie klingen so übermächtig, als hätten Roboter die Weltherrschaft übernommen. Genau die gleichen Effekte benutzte übrigens das Art-Rock-Genie Peter Hammill für sein "A Motor-Bike In Afrika", das auf "The Future Now" aus 1978 zu finden ist.

    Über diesem Gerumpel hinweg singt Brisa ungerührt, ausgeglichen und ruhig. Sie sorgt so für ein Sound-Bild, das zwei völlig unterschiedliche Seiten enthält, als würde Yin mit Yang um Vorherrschaft kämpfen. "Woman With A Star" und "Window Gun" sind stilvolle Übungen in Harmonielehre. Mit Hilfe von Soft-Rock- und Folk-Pop-Elementen entstanden diese Lieder, die so leicht daher kommen, als könnten sie in Milch schwimmen. Wobei sie durch ihre prägnanten Melodien ohne Weiteres einen Ohrwurm auslösen können.

    So verdreht, wie das Wortspiel "I Yove Lou" ist, ist auch die Musik zu diesem Track. Hier werden Tonfragmente zufällig zusammengefügt, die aus der Betätigung des Sendersuchlaufs eines Radios zugesteuert zu sein scheinen. Das ist eine Übung in alternativer Aufmerksamkeitssteigerung, die dem Ablauf eine unruhige, aber anregende Brisanz verleiht. Die optimistisch gestimmte Ballade "I Do Not Need Repair" zapft sowohl Late-Night-Jazz wie auch barocke Klassik und coolen Rhythm & Blues an. Deshalb klingt das Stück auch so eigenständig, intelligent und ungewöhnlich.

    Das kunstvoll verschnörkelte "The Pattern" sendet Morse-Signale ins All und lässt exotisch-surreale Klang-Landschaften entstehen. Dennoch wirkt das Stück zutraulich und nahbar. Art-Pop für Hirn und Seele. Das hat was von der sensiblen Pop-Avantgarde von Julia Holter. Das feinfühlige "Quite Clean" verströmt hingegen Reinheit, Offenheit und ausgeglichene Gelassenheit, so dass der fragil-spartanisch instrumentierte Song sowohl zerbrechlich-verletzliche wie auch ernsthaft-beharrliche Momente besitzt. Schönheit entsteht eben auch aus Bescheidenheit heraus.

    Deuten die bislang verwendeten Beschreibungen und Formulierungen etwa auf Lobhudelei, Übertreibung und Fehleinschätzung hin, wo doch die anderen Werke der Künstler nicht diese vollständige Überzeugungskraft besaßen? Wohl kaum, denn die individuelle Art der Präsentation und die kreative Umsetzung der Ideen von Brisa Roché & Fred Fortuny lassen keinen Zweifel an ihrer professionellen, überlegten und überlegener Vorgehensweise zu.

    Die Mischung macht die überzeugende Wirkung aus. "Freeze Where U R" ist deshalb so unterhaltsam und interessant, weil das Album als Gesamtkunstwerk mit facettenreicher Mosaik-Technik zu betrachten ist. Eingängige, einnehmende Pop-Songs stehen neben provokativ ausgerichteten Stücken. Der Pop ist dabei nicht zu süßlich und die Wagnisse sind nicht zu kopflastig ausgefallen. Ausgewogenheit ist das Gebot der Stunde, Anregung der Sinne trotzdem eine Pflicht. Brisa Roché & Fred Fortuny haben sich als Traumpaar des anspruchsvollen Pop profiliert, wobei der Anspruch darin besteht, bewährte Konstellationen und innovative Kreationen so zu fusionieren, dass beim Hörer nie der Eindruck entsteht, aufgewärmte Retro-Kost oder sinnentleerte Fingerübungen serviert zu bekommen. Das ist vollauf gelungen. Vielleicht ist "Freeze Where U R" schon jetzt eines der Pop-Alben des Jahres.
    Meine Produktempfehlungen
    • Tapestry Carole King
      Tapestry (CD)
    • Court And Spark Joni Mitchell
      Court And Spark (CD)
    • The First Songs +Bonus (BLU-SPEC CD2) (Papersleeve) The First Songs +Bonus (BLU-SPEC CD2) (Papersleeve) (CD)
    • Takes Takes (CD)
    176 bis 200 von 472 Rezensionen
    1 2 3 4 5 6 7
    8
    9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19
    Newsletter abonnieren
    FAQ- und Hilfethemen
    • Über jpc

    • Das Unternehmen
    • Unser Blog
    • Großhandel und Partnerprogramm
    MasterCard VISA Amex PayPal
    DHL
    • AGB
    • Versandkosten
    • Datenschutzhinweise
    • Impressum
    • Kontakt
    • Hinweise zur Batterierücknahme
    * Alle Preise inkl. MwSt., ggf. zzgl. Versandkosten
    ** Alle durchgestrichenen Preise (z. B. EUR 12,99) beziehen sich auf die bislang in diesem Shop angegebenen Preise oder – wenn angegeben – auf einen limitierten Sonderpreis.
    © jpc-Schallplatten-Versandhandelsgesellschaft mbH
    • jpc.de – Leidenschaft für Musik
    • Startseite
    • Feed
    • Pop/Rock
    • Jazz
    • Klassik
    • Vinyl
    • Filme
    • Bücher
    • Noten
    • %SALE%
    • Weitere Weitere Bereiche
      • Themenshops
      • Vom Künstler signiert
      • Zeitschriften
      • Zubehör und Technik
      • Geschenkgutscheine
    • Anmelden
    • Konto anlegen
    • Datenschutzhinweise
    • Impressum
    • Kontakt