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    Webervogel Top 100 Rezensent

    Aktiv seit: 10. April 2017
    "Hilfreich"-Bewertungen: 31
    161 Rezensionen
    NSA - Nationales Sicherheits-Amt NSA - Nationales Sicherheits-Amt (Buch)
    07.10.2018

    Verstörendes Gedankenexperiment, konsequent zu Ende gedacht

    Was wäre, wenn …
    … es im Dritten Reich bereits ein überall verfügbares Internet sowie Big Data gegeben hätte? Ein gruseliger Gedanke, dem sich Autor Andreas Eschbach in seinem neuen Roman „NSA“ auf 796 Seiten widmet – wobei es ihm gar nicht so sehr um die Frage geht, was dann damals passiert wäre. Auf der Plattform „Lesejury" des Verlags Bastei-Lübbe stellte Eschbach im Rahmen einer Leserunde klar, dass ihn vielmehr folgende Überlegung bewegt hat: „Was wäre, wenn heute, da es all das gibt, noch einmal ein solches Regime an die Macht käme?“ Die Antwort, die der Autor in seinem Roman gibt, ist immens verstörend.

    „NSA“ beginnt im Februar 1942. Deutschland befindet sich im Krieg, doch das ist nicht der Grund, warum sich das Nationale Sicherheits-Amt (kurz: NSA) in Weimar im Ausnahmezustand befindet. An diesem Tag besucht der zweitmächtigste Mann des Reiches, Heinrich Himmler, die Behörde, um sich ein Bild von ihren Möglichkeiten zu machen. Falls er nicht von der Nützlichkeit des Amtes überzeugt werden kann, droht die Schließung, was für die männlichen Angestellten ohne Zweifel einen Einberufungsbefehl zur Folge hätte. Doch die Mitarbeiter sind vorbereitet, Himmler die Möglichkeiten von Big Data vor Augen zu führen. Und Big Data ist in dieser alternativen Vergangenheit tatsächlich noch weiter als heute, im Jahr 2018: So lassen sich zum Beispiel alle Einkäufe, die eine Person getätigt hat, lückenlos nachvollziehen – zumindest seit dem 1.07.1933, dem Tag, an dem das Bargeld in dem Deutschland dieser Alternativweltgeschichte abgeschafft wurde. Seitdem zahlen alle Bürger mit Geldkarte oder dem sich seit 1934 sprunghaft verbreitenden Volkstelephon (sic!). Über das man übrigens auch ins sogenannte Weltnetz gehen, etwas ins Deutsche Forum schreiben oder Elektropost versenden kann.
    Die totale Vernetzung und Überwachung bietet ungeahnte Möglichkeiten. Zum Beispiel wird vor Himmlers Augen live der Frage nachgegangen, ob ein signifikant überdurchschnittlicher Kalorienverbrauch kein Hinweis darauf sein könnte, dass in einem Haus mehr Menschen leben, als offiziell bekannt …

    Nach einer eindrücklichen Vorstellung des Nationalen Sicherheits-Amtes und dessen Möglichkeiten nimmt Andreas Eschbach seine Leser dann erst einmal in eine noch ein paar Jahre weiter zurückliegende Vergangenheit mit. Die beiden Hauptfiguren des Romans, Helene Bodenkamp und Eugen Lettke, werden von Kindesbeinen an vorgestellt. Sie, Arzttochter aus gutem Hause, deren beste Freundin jüdische Wurzeln hat und er, stets auf den eigenen Vorteil bedachter Sohn eines Kriegshelden des Ersten Weltkriegs, sind sehr unterschiedliche Charaktere. Ihre Wege kreuzen sich im NSA, wo sie als hochtalentierte Programmstrickerin und er als Analyst eingestellt werden

    Der Roman zeichnet das Leben der Protagonisten nach und so findet man sich als Leser wie nebenbei in einer Art alternativem Dritten Reich wieder, das gleichzeitig fremd und vertraut wirkt. Bekannte Namen wie die von Anne Frank, den Geschwistern Scholl und Josef Mengele tauchen auf, doch der Kontext ist teils verändert, das Geschehen nimmt einen anderen Verlauf. Die Romanlektüre fühlt sich an, als hätte Eschbach die bekannten Fakten mit den heutigen technischen Möglichkeiten in eine Rührschüssel gegeben und alles kräftig durchgemixt. Dann fügt er noch eine ordentliche Prise „worst case“ hinzu. Heraus kommt ein Roman, der es in sich hat, weil er sich nachvollziehbar liest und das Gedankenexperiment immer weiter auf die Spitze treibt. Die Handlung nimmt mehr und mehr an Fahrt auf. Immer, wenn man sich an die verstörenden Gegebenheiten halbwegs gewöhnt hat, setzt der Autor noch einen drauf – und noch einen, und noch einen. Mitunter ist es schwer auszuhalten – gerade weil das Ganze so glaubwürdig scheint. Die beschriebene Technik und was sie ermöglicht, das ganze fiktionale Konstrukt ist immens durchdacht. Eschbach schont weder seine Figuren noch seine Leser. Mir war bis zum Ende nicht klar, wo das alles hinführen würde und nach dem Romanende musste ich erst einmal wieder zu mir finden. „NSA“ ist eine ganz klare Warnung vor dem Unvorstellbaren – das nach der Lektüre gar nicht mehr so unvorstellbar scheint, weil der Autor die existierende Vergangenheit mit bereits mehr oder weniger existierender und angewandter Technologie verknüpft hat. Bedenkt man, dass er eigentlich verdeutlichen wollte, was wäre, wenn ein derartiges Regime heute an die Macht käme, wird aus der Alternative History fast eine Dystopie. In jedem Fall hallt die Geschichte nach und sensibilisiert in Bezug auf den Umgang mit Daten. Keine Feelgood-Lektüre, aber eine, die das Zeug hat, die eigene Perspektive zu verändern und den Blick zu schärfen – durch eine furchtbare Ahnung davon, dass vermutlich nichts undenkbar oder unmöglich ist.
    Vier Tage in Kabul Vier Tage in Kabul (Buch)
    20.08.2018

    Packend und authentisch

    Thriller, die von Geiselnahmen handeln, gibt es viele. Ihre Autoren sind jedoch in den seltensten Fällen Kriminalkommissare. Die schwedische Schriftstellerin Anna Tell ist eine dieser Ausnahmen; ihr Fachwissen macht „Vier Tage in Kabul“ besonders. Hauptfigur Amanda Lund arbeitet wie ihre Schöpferin als Kriminalkommissarin und Unterhändlerin. Die Protagonistin ist in Nordafghanistan, um eine internationale Einsatztruppe aufzubauen, als sie alarmierende Nachrichten erhält: In Kabul sind zwei schwedische Diplomaten entführt worden. Lund soll mit den Geiselnehmern verhandeln, um ihre Landsleute freizubekommen. Doch die erfahrene Unterhändlerin stößt nur auf Probleme: Die Geiselnehmer melden sich nicht, der schwedische Botschafter in Kabul verhält sich abweisend und unkooperativ. Ihr Vorgesetzter bekommt außerdem massiven Druck aus dem schwedischen Justizministerium, dessen Mitarbeiter zum Teil ganz eigene Ansichten haben, wie im Falle der Geiselnahme vorzugehen ist. Hat Lund so überhaupt eine Chance, die Geiseln freizubekommen?

    Autorin Tell war laut der ihrem Thriller vorangestellten Kurzbiografie während ihrer 20-jährigen Karriere sowohl im Schweden als auch im Ausland im Einsatz. Wo genau, wird nicht spezifiziert, aber ihre Schilderungen von Afghanistan sind so glaubhaft und detailliert, dass es für mich schwer vorstellbar ist, dass sie das Land nicht selbst kennen könnte. Auch sonst zeigt ihre Detailtreue die Insiderin: Welcher Uniformteil drückt, wo was verstaut wird, das Prozedere bei Sicherheitskontrollen etc. – mit ihrer Protagonistin Lund hat sie keine Superheldin geschaffen, dafür aber einen höchst authentisch wirkenden Charakter. „Vier Tage in Kabul“ haben mich nicht in atemlose Spannung versetzt und oft genug fühlt sich auch die Hauptfigur zu untätigem Abwarten verdammt. Undurchsichtige Einmischungen aus der Politik frustrieren die Polizisten-Protagonisten und die Leser gleichermaßen. Doch das Ganze scheint so realistisch, dass mich der Thriller trotzdem gepackt hat. Tells Erzählweise trägt dazu bei: Verschiedene Ereignisse in Schweden und Afghanistan werden aus den Perspektiven verschiedener Protagonisten erzählt. Irgendwann fügt sich alles zusammen – zwar nicht mit einem großen Knall, aber doch zufriedenstellend. „Vier Tage in Kabul“ ist der erste Band einer um Unterhändlerin Amanda Lund geplanten Reihe und so ist es nicht verwunderlich, dass auch das Privatleben der Hauptfiguren angerissen wird – mehr jedoch nicht, was ich sehr wohltuend empfand; sowohl die Autorin als auch die Protagonisten stellen den eigentlichen Fall komplett in den Vordergrund. Ich kann mir gut vorstellen, von Amanda Lund bzw. Anna Tell noch mehr zu lesen.
    Häuser aus Sand Häuser aus Sand (Buch)
    12.06.2018

    Nichts bleibt, wie es war

    In „Häuser aus Sand“ begleitet der Leser Palästinenserin Alia durch fünf Jahrzehnte: 1963 steht sie kurz vor ihrer Hochzeit mit ihrer Jugendliebe Atef, 2014 ist sie eine alte Frau, die ein ruheloses Leben hinter sich hat. Alia hat ihre frühe Kindheit in Jaffa verbracht, in Nablus die Zeit bis zu ihrem ersten Ehejahr, ihre Kinder sind in Kuweit zur Welt gekommen und als diese aus dem Haus waren, ist sie nach Amman gezogen. Alle Umzüge eint, dass diese nicht freiwillig geschahen, sondern aus Flucht oder Vertreibung resultierten. Und so scheint Alia immer nur in vergänglichen „Häusern aus Sand“ gewohnt zu haben – eine Beduinin wider Willen. Auch wenn sie sich nirgends mehr so heimisch fühlte wie in Nablus, ist ihr Leben erfüllt. Der Leser erlebt es auszugsweise mit – mal aus Alias Sicht, mal aus der verschiedener Familienmitglieder. Mit jedem neuen Kapitel wechselt die Perspektive, gleichzeitig gibt es einen Zeitsprung, mal um ein Jahr, mal um zehn. So entfaltet sich nach und nach eine komplexe Familiengeschichte, in der geliebt, gestritten und getrauert wird. Kinder werden erwachsen, Menschen kommen sich näher und entfernen sich voneinander, hadern oder schließen Frieden mit sich selbst. Autorin Alyan hat ein kunstvolles Gefüge geschaffen und macht das Leben der Familie Yacoub quasi im Zeitraffer erfahrbar. Vor meinem inneren Auge entstanden dabei Bilder von Orten, die ich bislang höchstens aus den Nachrichten kannte. Nun rieche ich beim Gedanken an Jaffa schon fast den Duft sonnengereifter Orangen und kann mir die sengende Hitze in Kuweit so ansatzweise vorstellen wie das quirlige Großstadtleben in Beirut.

    Auch wenn Alia und ihre Familie immer wieder umziehen müssen, handelt „Häuser aus Sand“ längst nicht nur von räumlichen Veränderungen. Es geht auch um Generationskonflikte, den Bruch mit Traditionen und die Rückbesinnung auf Werte. Schon Alias Kinder entwickeln sich so unterschiedlich, dass sie selbst nur staunen kann. Der Verlust von Traditionen, Ritualen und auch Bindungen scheint durch die häufigen Ortswechsel begünstigt. Doch auch wenn die einzelnen Familienmitglieder zum Teil über tausende Kilometer verstreut voneinander leben, wenn sie im Alltag kaum mehr arabisch sprechen und ihr gegenwärtiges Leben keinerlei Rückschlüsse auf ihre eigentlichen Wurzeln mehr zulässt, muss das laut Alyan nicht den kompletten Heimatverlust bedeuten. Denn Heimat ist nicht zwangsweise an einen Ort gebunden, auch Familie kann Heimat sein, so unähnlich sich ihre Mitglieder auch sein mögen. So der Tenor von „Häuser aus Sand“ - und das ist nur einer der tröstlichen Gedanken, die ich aus diesem sprachlich schönen und inhaltlich nachdenklich machenden Roman mitgenommen habe.
    Der rote Swimmingpool Der rote Swimmingpool (Buch)
    28.05.2018

    Coming-of-Age-Sommerlektüre – leicht, spannend, berührend

    „Der rote Swimmingpool“ ist ein sommerlich leichter Coming-of-Age-Roman, in dem der Leser Hauptfigur Adam durch Höhen und Tiefen begleitet. Dabei gibt es zwei parallele Handlungsstränge; Vergangenheit – hauptsächlich die Monate vor Adams 18. Geburtstag – und Gegenwart – irgendwann im Laufe seines 19. Lebensjahres – wechseln sich kapitelweise ab. Adams Erwachsenwerden und Selbstfindung sind ein holpriger Prozess, nachhaltig gestört von der für ihn aus heiterem Himmel kommenden Trennung seiner Eltern, die doch immer ein Vorzeigepaar gewesen waren: Seine Mutter eine extravagante Französin, sein Vater ein erfolgreicher Unternehmensberater, der seiner Frau einen rotgekachelten Swimmingpool in den Garten bauen ließ, nachdem sie die französische Küste so vermisste. Doch plötzlich ist alles vorbei, Adam versteht die Welt nicht mehr und niemand will sie ihm erklären.
    Während das Unheil in der Vergangenheit seinen Lauf nimmt, gibt es für Adam in der Romangegenwart Hoffnung: Er lernt Tina kennen und scheint sich zum ersten Mal zu verlieben. Dumm nur, dass sein bester Freund Tom ebenfalls ein Auge auf sie geworfen hat …

    Autorin Natalie Buchholz hat die Geschichte geschickt konstruiert. Die beiden Handlungsstränge gleichen sich zeitlich immer mehr an, bis der Leser schließlich erfährt, welche Ereignisse der Vergangenheit zur Gegenwart geführt haben. Das ist gut gemacht und steigert die Spannung in diesem Roman, in dem ab und an auch die Zeit stillzustehen scheint: Wenn die Mutter ihre Bahnen durch den Pool zieht oder Adam mit seinen Freunden am See abhängt, kann man die Atmosphäre eines wolkenlosen, trägen Sommertages, an dem niemand etwas von einem will, quasi mit Händen greifen. Adam wächst dem Leser ans Herz, seine inneren Kämpfe sind nachvollziehbar, man leidet fast mit. Etwas blass bleiben dagegen seine Eltern, die für Adams Verwirrung und Orientierungslosigkeit verantwortlich sind. Aber auch das ist gut dargestellt: Anfangs noch die Helden seiner Kindheit, gelangt Adam schließlich zur Erkenntnis, dass seine Eltern auch nur Menschen sind – und dabei vielleicht sogar besonders fehlbare Exemplare.

    Ich habe „Der rote Swimmingpool“ gerne gelesen. Dabei brauchte ich ein paar Kapitel, um wirklich in die Geschichte mit ihren beiden Zeitsträngen hineinzufinden, aber danach konnte ich das Buch kaum mehr aus der Hand legen. Eine leichte, aber doch anrührende und nachdenklich machende Lektüre – ob nun an einem heißen Sommertag an einem roten Swimmingpool gelesen oder nicht.
    Meine Produktempfehlungen
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    Das Mädchen, das in der Metro las Das Mädchen, das in der Metro las (Buch)
    14.05.2018

    Eine Hommage an die Literatur – leider mit unausgegorener Handlung

    Das wunderschöne Cover dieses Buches hat mich gleich angesprochen. Es zeigt Bücher über Bücher und illustriert den Romaninhalt damit ganz wunderbar. „Das Mädchen, das in der Metro las“ ist Protagonistin Juliette. Sie liest vor allem morgens und abends, auf dem Hin- und Rückweg zu ihrer sie langweilenden Arbeit in einem Maklerbüro. Außerdem beobachtet sie die anderen pendelnden Leser und ihre Bücher und macht einige skurrile Beobachtungen. Insgesamt führt sie ein ruhiges, ereignisloses Leben – ein Leben, wie es sich ihre Mutter immer für sie gewünscht hat: ohne größere Probleme, Sorgen, Aufregungen. Dass es zu einer radikalen Veränderung ihres Lebens führt, als sie einmal spontan beschließt, ein paar Stationen früher aus der Metro auszusteigen und einen kleinen Spaziergang zu machen, ist dann auch am wenigsten für Juliette selbst abzusehen. Doch als sie den Antiquariats-ähnlichen Laden „Bücher ohne Grenzen“ bemerkt und betritt, kommen Ereignisse ins Rollen, die Hauptfigur und Leser gleichermaßen überraschen.

    Ich möchte diese Ereignisse nicht vorwegnehmen – bei einem nur 174 Seiten umfassenden Buch ist sonst schnell der halbe Roman erzählt. Nur so viel: Es geht immer wieder um Bücher, Autorin Christine Féret-Fleury betreibt ein richtiggehendes Literatur-Namedropping. Immer wieder wird thematisiert, dass das richtige Buch zur richtigen Zeit durchaus etwas bewirken und ein Leben verändern kann. Trotz aller Bibliophilie bleibt jedoch nicht unerwähnt, dass Lesen kein Ersatz für leben ist – Bücher können ein Leben bereichern, aber wer über das Lesen sein Leben vergisst, verpasst ebenfalls etwas. Protagonistin Juliette erfährt all das am eigenen Leib. Die Häufung dieser Ereignisse gerade gegen Romanende hat mich dabei sehr überrascht; ich bin mir immer noch nicht ganz klar darüber, was ich nun eigentlich davon halte. „Das Mädchen, das in der Metro las“ hat stellenweise etwas Zauberhaftes, das mich an „Die fabelhafte Welt der Amélie“ erinnerte. Andere Elemente wollten nicht so recht zu dieser märchenhaften Stimmung passen, wie der Leser wird auch „Das Mädchen, das in der Metro las“ schmerzhaft in die Realität zurückgeholt. Und das Romanende ist eigentlich wieder ein Anfang, dem dann auch noch eine Bücherliste folgt, die schon ein halber Klassikerkanon ist. Puh!

    Der träumerische Grundton zu Beginn des Buches verliert sich über die Langstrecke zwar, aber dass am Ende dann alles so schnell ging – so ganz kam ich da doch nicht mit. Vielleicht wollte Autorin Féret-Fleury hier zu viel auf zu wenig Seiten erreichen. Die Autorin hat lange als Verlagslektorin gearbeitet und bringt ihre Liebe zu Büchern auf vielfache Weise zum Ausdruck, aber ihrer eigentlichen Handlung hätte sie für meinen Geschmack mehr Seiten einräumen sollen.

    Was bleibt, ist das Gefühl, irgendetwas verpasst zu haben. „Das Mädchen, das in der Metro las“ ist kein schlechtes Buch, scheint aber inhaltlich nicht komplett ausgegoren. Eine gelungene Hommage an die Literatur, aber als Roman nicht komplett überzeugend. Vielleicht hätte mich das wunderschöne Cover doch vorwarnen sollen?
    Die Morde von Pye Hall Die Morde von Pye Hall (Buch)
    27.04.2018

    Doppelt spannend und raffiniert konstruiert

    „Die Morde von Pye Hall“ haben mich gleich auf den ersten Seiten verblüfft. Ich-Erzählerin Susan Ryeland, Cheflektorin eines kleinen Londoner Buchverlags, beschreibt, wie sie es sich in ihrer schnuckeligen Eigentumswohnung für ein Lesewochenende gemütlich macht. Ihr Bestsellerautor Alan Conway hat gerade den achten Band seiner äußerst erfolgreichen Krimireihe abgegeben, sie freut sich auf die Lektüre. Und dann geht es quasi auch schon los – mit besagtem Manuskript. Irgendwie nahm ich an, Protagonistin Ryeland würde hineinlesen und dann schnell durch irgendein Ereignis bei ihrer Lektüre gestört werden, was mich als Leserin dann wieder in ihre Erzählgegenwart zurückkatapultiert hätte – aber weit gefehlt. Stattdessen bin ich selbst in Alan Conways neuen Krimi „Morde von Pye Hall“ versunken – über 300 Seiten lang ohne Unterbrechung!

    Das Buch „Morde von Pye Hall“ im Buch „DIE Morde von Pye Hall“ (verwirrend, ich weiß) ist ein Cosy Crime um einen Hercule Poirot-ähnlichen Ermittler namens Atticus Pünd. Es spielt im Jahr 1955 und ist ein typischer Whodunnit. Vom Stil her erinnert „Morde von Pye Hall“ an Agatha Christie. Nachdem ich gerade noch das Leben einer Verlagslektorin im Jahr 2015 gedanklich begleitet hatte, brauchte ich ein paar Seiten, um in das stilistisch doch anders geartete Cosy Crime einzutauchen. Doch das machte zunehmend Spaß, bis es etwas abrupt endete und ich mich wieder im Leben von Susan Ryeland wiederfand. Diese wird wie der Leser aus ihrer Lektüre gerissen – das Manuskript ist nämlich unvollständig, die letzten Kapitel fehlen. Ein Missgeschick, denkt die Protagonistin, doch dann hört sie im Radio, dass ihr Bestsellerautor unerwartet verstorben ist. Sie begibt sich auf die Suche nach dem verschollenen Buchende, entdeckt jedoch nach und nach noch etwas ganz anderes …

    „Die Morde von Pye Hall“ haben mir gleich doppeltes Lesevergnügen bereitet – kein Wunder, enthält das Buch doch zwei unterschiedlich geartete Krimis in einem. Durch die Buch-im-Buch-Thematik gibt es außerdem noch ein paar nette Einblicke in die Buchbranche. Insgesamt fand ich den einen Krimi von der Auflösung her gelungener als den anderen, aber das ist Kritik auf hohem Niveau – beide Geschichten sind spannend, verwickelt und zum Miträtseln. Dass der Autor Anthony Horowitz in einem Buch zwei komplett verschiedene Geschichten miteinander verquickt, die sich auch stilistisch unterscheiden, aber beide gleichermaßen glaubwürdig und intensiv erzählt sind, fand ich sehr raffiniert. Ein kunstvoll geschriebenes Buch – Experiment geglückt, Leser gefesselt! Auch das schick gestaltete Cover möchte ich noch erwähnen – optisch heben sich „Die Morde von Pye Hall“ ebenfalls von der Masse ab. Klare Empfehlung für alle Liebhaber klassischer Krimis und raffiniert verschachtelter Erzählungen!
    Dumplin' Julie Murphy
    Dumplin' (Buch)
    20.04.2018

    Coming of Age mal anders

    Schon das Cover hat mich davon überzeugt, dass ich dieses Buch lesen muss: Eine kräftigere Frau im roten Abendkleid hat vor schwarzem Hintergrund ihren großen Auftritt. Sie hebt Hände und Kopf nach oben, genießt offensichtlich ihren Applaus. Über ihr steht der Untertitel des Buches: „Go big or go home“. Was für ein Auftritt!
    Die auf dem Cover illustrierte Haltung erwartete ich dann von der Hauptfigur, der 16-jährigen Willowdean Dickson. Sie ist die titelgebende „Dumplin‘“, ihre Mutter hat ihr den Spitznamen „Knödel“ in frühester Jugend verpasst. Als eine frühere Schönheitskönigin, die sich damit rühmt, immer noch in ihr Wettbewerbskostüm von vor fast 20 Jahren zu passen, steht Rosie Dickson dem Übergewicht ihrer Tochter äußerst kritisch gegenüber. Verschärft wird der Konflikt dadurch, dass Rosies Schwester Lucy, mit der Mutter und Tochter zusammenwohnten, vor Kurzem mit 36 Jahren an einem Herzinfarkt gestorben ist, der auf ihre Gewichtsprobleme zurückzuführen war.
    Doch Will lässt sich von ihrer Mutter keine Komplexe einreden und ist mit sich im Reinen - eigentlich. Ihre beste Freundin El sieht zwar aus wie ein Model und hat schon ewig einen festen Freund, während Will ihren Fast Food Imbiss-Kollegen Bo nur in Gedanken anschwärmt, aber sie ist durchaus selbstbewusst und zufrieden, wenn man davon absieht, dass sie ihre verstorbene Tante sehr vermisst. Dann aber überstürzen sich die Ereignisse …

    „Dumplin‘“ ist eine Coming of Age-Geschichte der anderen Art. Will fragt sich, wer sie ist, wie sie gesehen wird und was sie vom Leben will, zusätzlich ist aber ein großes Thema, ob und wie sehr sie sich von anderen über ihr Gewicht definieren lässt – und wie sehr sie sich selbst darüber definiert. Die Botschaft des Buches ist ganz klar: „Du bist gut so, wie Du bist!“ Anfangs macht es den Eindruck, als wäre sich die Protagonistin dessen vollkommen bewusst, doch dann scheint ihr Leben in seinen Grundfesten erschüttert und sie muss zu einem neuen Selbstverständnis finden. Ihre Probleme waren für mich nicht immer nachvollziehbar und zum Teil auch ziemlich hausgemacht, aber das waren meine Probleme mit 16 vermutlich auch ... Zum Teil macht es den Charme des Buches aus, dass Will nicht immer die strahlende Heldin ist, die man auf dem Cover sieht. Sie hat durchaus Kanten, Charakterschwächen und Tiefs. Letztere bewirken, dass der Roman längst nicht immer so unterhaltsam ist, wie ich es aufgrund des Covers und der ersten Kapitel erwartet hatte. Einige andere Figuren kamen mir etwas zu kurz, Julie Murphy hatte sie zwar komplex angelegt, aber dann in meinen Augen nicht ganz ausgestaltet – zum Teil hätte ich gerne noch mehr über Wills Umfeld erfahren. Etwas ratlos lässt mich auch das Übergewicht der Hauptfigur zurück: Murphy beschreibt es nicht näher, was ich gut finde, so kann sich jeder sein eigenes Bild von Will machen. Dass sie liebenswert ist, egal wie viel sie wiegt – gar keine Frage. Ihre verstorbene Tante wog allerdings 225 kg und hat das Haus kaum mehr verlassen, was im Buch irgendwie als unumstößliche Tatsache akzeptiert wird. Auf der einen Seite ist das verständlich: Die Tante ist gestorben, es lässt sich eh nichts mehr ändern … auf der anderen Seite hat es mich jedoch gestört, dass ihr Gewicht so schicksalsergeben akzeptiert wurde. Dass Will ein glückliches Leben ohne Idealmaße führt – wunderbar. Aber dass es wichtig ist, darauf zu achten, dass man einigermaßen gesund bleibt – an irgendeiner Stelle hätte das ruhig mal Erwähnung finden können.
    Amüsiert hat mich dagegen die starke amerikanische Färbung – „Dumplin‘“ spielt in Texas! Von Dating-Kultur über Kirchenbesuch bis hin zum Schönheitswettbewerb war das immer wieder spürbar.
    Insgesamt ist „Dumplin‘“ gute, aber auch nachdenklich machende Unterhaltung, insbesondere zu den Themen Selbstbewusstsein, Freundschaft und generell zwischenmenschliche Beziehungen. Ein lesenswertes Jugendbuch mit kleinen Schwächen.
    Kleine Feuer überall Celeste Ng
    Kleine Feuer überall (Buch)
    17.04.2018

    Burning down the house

    Schon am Anfang von „Kleine Feuer überall“ löst sich buchstäblich alles in Rauch auf: Das Haus der wohlhabenden Familie Richardson im Clevelander Vorzeige-Vorort Shaker Heights brennt ab. Die drei älteren Kinder der Familie können nur tatenlos zusehen, während das jüngste, das den Brand mutmaßlich gelegt hat, verschwunden ist. Wie konnte es zu dieser Katastrophe kommen?
    Nach dem fulminanten Einstieg in das Buch hatte ich, um im Bild zu bleiben, gleich Feuer gefangen. Doch dann lässt es Autorin Ng (sprich: Ing) langsam angehen und rollt die Geschichte von Anfang an auf, wobei sie sich als überaus geschickte Erzählerin erweist. „Kleine Feuer überall“ handelt von zwei Familien, den Richardsons und den Warrens. Letztere sind die alleinerziehende Künstlerin Mia mit ihrer Tochter Pearl, die die neuen Mieter der Richardsons sind. Die Warrens scheinen das genaue Gegenteil ihrer Vermieter zu sein: Sie leben wie moderne Nomaden, während letztere eine der alteingesessenen Familien in Shaker Heights sind. Die Warrens haben einen minimalistischen Lebensstil, der nicht zuletzt ihrem schmalen Geldbeutel geschuldet ist, während sich die Richardsons über ihre Finanzen keine Gedanken machen müssen. Am meisten unterscheiden sich die Mütter der jeweiligen Familien: Mia Warren ist ein Freigeist, während Elena Richardson ganz nach den in Shaker Heights geltenden Konventionen lebt und das – zum Wohle der Gesellschaft – auch von anderen erwartet. Doch Gegensätze können sich bekanntlich anziehen und so findet die 15-jährige Pearl Warren bald Anschluss bei den Richardson-Kindern. Die nur unwesentlich jüngere Izzy Richardson zieht dagegen Mia Warrens radikaler und unkonventioneller Lebensstil an. Die Warrens und die Richardsons scheinen sich gut zu ergänzen, doch Mias und Elenas konträre Einstellungen kommen sich irgendwann in die Quere. Und dann wird auch noch eine Lebenslüge aufgedeckt …

    „Kleine Feuer überall“ hat mich schnell in seinen Bann gezogen. Der Kontrast, den die unterschiedlichen Lebensentwürfe von Mia Warren und Elena Richardson zueinander bilden und was ihre jeweiligen Kinder daraus machen, ist mitreißend geschildert. Als Leser kommt man nicht umhin, sich zu (hinter-)fragen: Wie tolerant ist man selbst gegenüber anderen Lebensweisen? Was ist einem wichtiger: Idealismus oder Pragmatismus? Und was ist einem selbst ein vermeintlich „gutes“ Leben wert?

    Einige Figuren wirken anfangs etwas eindimensional, doch Celeste Ng räumt ihnen Platz für Entwicklungen ein, zeichnet ihre Vergangenheit nach und lässt den Leser so die Beweggründe jedes Einzelnen verstehen. Auch die immer größer werdenden Verknüpfungen zwischen den beiden Familien werden nachvollziehbar geschildert und als Leser fühlt man förmlich, wie die Verkettung verschiedener Ereignisse etwas ins Rollen bringt, das nicht mehr aufzuhalten ist. Ich habe die Richardsons und Warrens am Ende des Buches nur schweren Herzens wieder verlassen, wüsste ich doch zu gern, wie es mit ihnen weitergeht. „Kleine Feuer überall“ kann ich nur empfehlen, sie haben mich berührt, gefesselt und beschäftigt. Ich konnte das Buch schon nach dem ersten Drittel kaum mehr aus der Hand legen und habe auch nach der Lektüre noch einige Zeit über das Romangeschehen und die Frage nach dem “richtigen“ Leben sinniert. Der Funke ist komplett übergesprungen …
    The Woman in the Window - Was hat sie wirklich gesehen? A. J. Finn
    The Woman in the Window - Was hat sie wirklich gesehen? (Buch)
    26.03.2018

    Psychodrama statt Spannungsthriller – leider mit einigen Längen

    Anna ist – je nach Perspektive – „The woman in the window“. Sie verlässt nach einem fast ein Jahr zurückliegenden traumatischen Erlebnis ihr Haus nicht mehr. Die Kinderpsychologin versteht ihre Diagnose Agoraphobie genauso gut wie die Tatsache, dass sie die Medikamente gegen ihre starken Depressionen nicht mit Merlot runterspülen sollte – aber etwas wissen und danach handeln sind ja bekanntlich zwei verschiedene Paar Schuhe. Und so sitzt Anna in ihrem viel zu großen Haus in New York City und übersteht ihre Tage nur mehr oder weniger zugedröhnt. Einigen Hobbies geht sie dabei durchaus noch nach: Sie berät andere Angoraphobiker in einem Online-Forum, spielt Schach, guckt Schwarzweißfilme und beobachtet die Nachbarshäuser auf der gegenüberliegenden Straßenseite. Zumindest aus deren Sicht ist sie also „The woman in the window“ – wobei sie bei ihrer Schnüffelei natürlich nicht entdeckt werden will. Eine neu eingezogene Familie interessiert Anna besonders. Doch dann beobachtet sie von ihrem Fenster aus einen Mord … oder haben ihr Alkohol, Medikamente und ihre Fantasie nur einen bösen Streich gespielt?

    Dadurch, dass man als Leser nur die Perspektive von Ich-Erzählerin Anna kennt, weiß man schnell nicht mehr, was man glauben soll. Das erinnert ein bisschen an „Girl on the train“, wo die Sinne der Protagonistin oft ebenfalls vom Alkohol getrübt sind. Was ist wahr, was eingebildet – der Leser ist auf die Beschreibungen der diesbezüglich unzuverlässigen Anna angewiesen. Es liest sich bisweilen etwas ermüdend, wenn sie wider besseren Wissens immer wieder zur Merlotflasche greift. Trotzdem ist Anna mir in ihrer Verletzt- und Verletzlichkeit auch ans Herz gewachsen.
    Da die Agoraphobikerin das Haus eigentlich nicht verlässt, sind die Schauplätze des Romans an einer Hand abzählbar. Ich kann mir „The woman in the window“ sehr gut als Theaterstück oder Film vorstellen – auch, weil es dafür sicher etwas gerafft werden würde. Der 543 Seiten lange Thriller hat doch einige Längen. Autor Finn schafft es so zwar, einige Indizien zu verstecken, die im unvorhersehbaren Showdown plötzlich Sinn ergeben – dennoch wäre weniger wohl insgesamt mehr gewesen. Das Buch hat einige Merkmale eines Psychothrillers, lässt sich aber zwischendurch problemlos aus der Hand legen. Die angelegte Spannung trägt einfach nicht über die Langstrecke.

    Abgesehen davon liest sich „The woman in the window“ ganz gut. Sowohl was Annas Vergangenheit als auch ihre Beobachtungen angeht, lässt der Autor den Leser lange und erfolgreich im Dunkeln tappen. Finn ist ein Meister der Andeutungen und nebensächlichen Bemerkungen – ein Meister, der das in meinen Augen etwas zu sehr ausreizt. Im Großen und Ganzen habe ich sein Buch gerne gelesen, war allerdings dennoch etwas enttäuscht, weil ich einen Spannungsthriller erwartet hatte. „The woman in the window“ ist jedoch in erster Linie ein Psychodrama.
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    Marais, B: Summ, wenn du das Lied nicht kennst Marais, B: Summ, wenn du das Lied nicht kennst (Buch)
    16.03.2018

    Über Verlust, Freundschaft und Widerstand in unmenschlichen Zeiten

    16.06.1976 – Schicksalstag in Südafrika. Im Township Soweto beginnt ein beispielloser Schüleraufstand gegen das rassistische Bildungssystem sowie das Apartheidsregime an sich. Die Polizei geht mit brutaler Gewalt gegen die größtenteils minderjährigen Demonstranten vor, viele sterben. Mittendrin im Geschehen ist die 49-jährige Beauty Mbali, eine der beiden Hauptfiguren im Roman „Summ, wenn du das Lied nicht kennst“. Sie demonstriert nicht, sie sucht – ihre 17-jährige Tochter Nomsa, die seit sieben Monaten bei der Familie von Beautys Bruder wohnt, um in Soweto eine höhere Bildung zu erlangen, als es ihr an den Schulen in ihrem Homeland möglich wäre. Beauty kann Nomsa in den Unruhen nicht finden, auch in den Tagen, Wochen, Monaten danach bleibt das Mädchen verschwunden. Doch Beauty gibt ihre Tochter nicht auf.

    Auch für die neunjährige Robin ist der 16.06.1976 ein Schicksalstag. Das kleine weiße Mädchen wohnt in der Minenstadt Boksburg, 50 km von Soweto entfernt, und bekommt dort nur wenig von den Unruhen in Soweto mit. Auch ihre Eltern gehen abends unbesorgt zu einer Einladung – werden auf dem Weg dorthin jedoch von Schwarzen ermordet. Von einem auf dem anderen Tag Vollwaise, bleibt Robin nur noch ihre alleinstehende Tante Edith, die Stewardess und mit ihrer plötzlichen Vormundschaft für ein Kind heillos überfordert ist. Schließlich kreuzen sich ihre und Beautys Wege.

    Die südafrikanische Autorin Bianca Marais, selbst erst 1976 geboren, schildert die Auswirkungen der Apartheid in „Summ, wenn du das Lied nicht kennst“ aus verschiedensten Perspektiven, was ich als wirklich gelungen empfunden habe. Zunächst einmal werden unterschiedliche Ausprägungen von Rassismus gezeigt: Bösartig, gedankenlos, gewohnheitsmäßig. An Robins Beispiel wird deutlich, was es mit einem Kind macht, wenn es in der Überzeugung aufwächst, es sei aufgrund seiner Hautfarbe anderen Menschen grundsätzlich überlegen. Durch Randbemerkungen von Beauty und anderen schwarzen Protagonisten zeigt sich, wie sich die Apartheid auf alle Lebensbereiche auswirkte: Toiletten für Weiße benutzen? Verboten. Ohne Genehmigung außerhalb des eigenen Homelands unterwegs sein? Verboten. Am Strand spazieren oder im Meer baden? Verboten, auch das ist den Weißen vorbehalten. Paradoxerweise, denn wie lässt Marais ihre Protagonistin Beauty denken: „Ich habe keine Ahnung, warum sie stundenlang in der Sonne braten, um braun zu werden, wo sie unsere Hautfarbe doch so abstoßend finden.“

    Doch es gibt auch Weiße, die Beauty helfen. Menschen, denen man ihre guten Absichten vielleicht erst auf den zweiten Blick ansieht. Außenseiter mit gutem Herzen. Der Roman handelt viel von Schwarz und Weiß, ist aber nicht schwarzweiß, was mir sehr gefallen hat.

    Allerdings wurde mir „Summ, wenn du das Lied nicht kennst“ irgendwann zu überladen. Nach dem Verlust ihrer Eltern macht Robin eine Wandlung durch, in deren Verlauf sie erkennt, dass die Welt nicht untergeht, wenn sie und eine Schwarze das gleiche Geschirr und Badezimmer benutzen. Eine so begrüßenswerte wie nachvollziehbare Erkenntnis. Dass dieses verlorene, verstörte Mädchen aber schließlich in einer „Shebeen“, einer illegal betriebenen Kneipe in Soweto, eine flammende Rede darüber hält, dass sie hofft, dass Nelson Mandela eines Tages das Land regieren und die Nation heilen wird, so dass sie alle als Gleiche zusammenleben können – das war mir entschieden zu viel der Wandlung und weiser Vorhersehung. Das Kind wächst in einem Maße über sich hinaus, das mir fast märchenhaft erschien. Auch sonst war der Roman an einigen Stellen einfach zu schön, um wahr zu sein. Sowohl Robin als auch Beauty lernen im Verlauf des Buches, „dass einem Freunde an den seltsamsten Orten und in völlig unerwarteter Gestalt begegnen können“. Aber dass Robins neuer Freundeskreis aus einem jüdischen Jungen, einem homosexuellen Paar, weißen Widerständlern und einem Farbigen besteht, kam mir doch arg konstruiert vor; sämtliche diskriminierte Minderheiten schienen vertreten. Hier hat es Autorin Marais für meinen Geschmack einfach übertrieben – sicher aus ehrenwerten Motiven, aber zu Lasten der Glaubwürdigkeit.

    Trotzdem ist „Summ, wenn du das Lied nicht kennst“ ein empfehlens- und lesenswerter Roman, der das Südafrika der 1970er Jahre auf viele verschiedene Arten illustriert. Mir hat er es emotional nähergebracht, als es ein Sachbuch, eine Ausstellung oder eine Fernsehdokumentation gekonnt hätten. Dies ist ein Verdienst des Buches. Am Ende deutet Hauptfigur Robin an, dass es eventuell eine Fortsetzung gibt, die ich mir aufgrund des offenen Endes sehr gut vorstellen könnte – und auf jeden Fall lesen würde.
    Meine Produktempfehlungen
    • The Help Tate Taylor
      The Help (DVD)
    Für immer ist die längste Zeit Für immer ist die längste Zeit (Buch)
    11.03.2018

    Absolut empfehlenswerte Gefühlsachterbahn

    Maddy ist tot und lässt ihren Mann Brady und ihre 16-jährige Tochter Eve in größter Verzweiflung zurück. Sie scheint aus heiterem Himmel Selbstmord begangen zu haben. Der Ehemann ein Workaholic, die Tochter gerne mal ein pubertäres Ekel – Maddys Leben war nicht ganz so glücklich, wie es angesichts der heilen Kleinfamilie nach außen schien. Aber war das für sie wirklich Grund genug, um sich das Leben zu nehmen?

    Der Roman setzt wenige Wochen nach Maddys Ableben ein und zeigt ein zerrissenes Vater-Tochter-Gespann, das nicht weiß, wie es ohne die patent-resolute Ehefrau und Mutter miteinander umgehen soll – geschweige denn, wie ein Weiterleben ohne sie überhaupt funktionieren kann. Doch noch davor – Überraschung – lernt der Leser Maddy kennen. Die ist zwar tot, bislang aber trotzdem nicht komplett im Jenseits angekommen. Stattdessen schwebt sie über den Dingen – im wahrsten Sinne des Wortes. Bekümmert schaut sie auf ihre Hinterbliebenen hinab und hat bereits beschlossen, einen Ersatz für sich zu suchen – in Form der so freundlichen wie toughen Grundschullehrerin Rory. Außerdem hat Maddy herausgefunden, dass sie ihren Lieben Impulse senden kann. Doch wird es ihr dadurch gelingen, das Leben von Brady und Eve positiv zu beeinflussen? Der Leser erfährt es nach und nach.
    Autorin Abby Fabiaschi hat jedes Kapitel ihres Buches klar gegliedert: Zuerst kommt Maddy zu Wort, dann Tochter Eve und schließlich Ehemann Brady. Wenn Maddy gerade nicht versucht, ihren Lieben Trost und gute Ideen zu übermitteln, lässt sie verschiedene Phasen ihres Lebens durchaus kritisch Revue passieren. Eve und Brady dagegen kämpfen mit unterschiedlichen Schuldgefühlen und sind ansonsten erst einmal damit beschäftigt, zu funktionieren. Während ihr Vater sich in die Arbeit flüchtet, merkt Eve, dass sie nicht nur ihre Mutter verloren hat; auch ihr Freundeskreis erscheint ihr auf einmal unreif und oberflächlich. Brady dagegen kommt sich vor wie in einem schlechten Film, als ihm nun vor allem alleinstehende Nachbarinnen mit tief ausgeschnittenen Dekolletés ihre Hilfe anbieten. Letztere Szenen zeigen eine unerwartete Facette des Buches: Trotz der tragischen Ausgangssituation ist es tatsächlich immer wieder komisch. Alle drei Familienmitglieder legen mindestens gedanklich gerne mal eine gehörige Portion Sarkasmus an den Tag, und so gibt es tatsächlich öfters einen Comic relief. Aber natürlich wird auch getrauert. Aufgearbeitet. So gut es geht nach vorne geschaut. Eve und Brady kriegen das nicht unbedingt immer zeitgleich hin. Es wird deutlich: Jeder geht mit seiner Trauer anders um. Nebenbei noch die Energie aufzubringen, auf jemand anderen zuzugehen, scheint unmöglich. Was aber, wenn man nur noch einander hat?

    Abby Fabiaschi schildert die Situation ihrer Hauptfiguren in ihrer ganzen emotionalen Komplexität. Es wird geweint, getobt, getrauert, gehadert, geätzt, aber auch gelacht. Der Leser taucht komplett in das Gefühlschaos der Protagonisten ein – mir sind dabei alle gleichermaßen ans Herz gewachsen. Herausgekommen ist ein bewegendes und so tiefgründiges wie erfrischendes Buch über die Liebe, das Leben und den Umgang mit Verlusten. Ich habe gelacht, hin und wieder ein Tränchen vergossen und öfters kleine Lesepausen eingelegt, weil mich „Für immer ist die längste Zeit“ emotional gefordert hat. Das jedoch stets auf eine gute Art und Weise. Der Roman kann einen gar nicht kalt lassen und regt an, sich mit verschiedensten Themen auseinanderzusetzen. Ich habe selten ein Buch gelesen, das so viele verschiedene Emotionen bei mir hervorrief und trotz seiner Unterhaltsamkeit so weise auf mich wirkte.
    Kühn hat Ärger Kühn hat Ärger (Buch)
    26.02.2018

    Vielschichtig und fesselnd

    Hauptkommissar Kühn hat Ärger. In seiner Ehe läuft es nicht gut, er hat ein Pubertier zu Hause, in den Keller des Eigenheims sickern Giftstoffe und auch auf der Arbeit gibt es – schon allein berufsbedingt – wenig zu lachen. Ein jugendlicher Intensivstraftäter wird an einer Tramhaltestelle ermordet aufgefunden. Dabei schien er die Kurve bekommen zu haben: Neue Freunde, neue Ziele, neuer Ehrgeiz. Was ist passiert? Die Ermittlungen führen Kühn in zwei sehr unterschiedliche Bezirke Münchens: Nach Neuperlach, wo der ermordete Amir unter prekären Bedingungen aufgewachsen ist. Und nach Grünwald, wo Amirs neue Freundin Julia wohnt: Jeans von Dolce & Gabbana, japanisches Bonsai-Parkett und Austernfrühstücke.
    Kühn bei seinen Ermittlungen zu begleiten ist fesselnd, nicht zuletzt wegen der unterschiedlichen Milieustudien: Die Hoffnungslosigkeit in Neuperlach, die Sorgen auf der Weberhöhe, die Dekadenz in Grünwald - und dennoch muss man, wie Jan Weiler seinen Kühn einmal denken lässt, überall „nur einen falschen Schritt machen […], um abzustürzen.“ Andererseits stellt eine Zufallsbekanntschaft im Verlauf des Romans klar: „Ich will lieber an einer faulen Auster verrecken als an einer verdorbenen Currywurst.“

    Kühn ist ein ruhiger, reflektierter Typ, der beobachtet und assoziiert; der versucht, nicht zu urteilen und der gleichzeitig kein Superman ist, sondern ein Familienvater mit einem anstrengenden Job, einer Ärzte-Phobie und Geldsorgen. Autor Jan Weiler zieht den Leser komplett in Kühns Leben hinein, mal will man ihm Mut zusprechen, mal ihm einen Tritt geben. Der Hauptprotagonist wirkt einfach glaubwürdig – wie der komplette Krimi, dessen Handlung weder überzogen noch vorhersehbar ist. Auch am Ende löst sich nicht alles in Wohlgefallen auf, es bleibt einiges ungeklärt, beruflich wie privat; aber so ist es ja, das Leben eben. Es wirkt fast virtuos, wie der Autor einige Erzählstränge zu Ende erzählt, andere offenlässt, einzelne Themen nur streift – und dennoch fügt sich am Ende ein zufriedenstellendes Gesamtbild zusammen. Und trotzdem beschäftigt mich das Buch noch, die Fragen, wie wohl einzelne Protagonisten auf die Enthüllungen im Mordfall reagiert haben, wie es an Kühns Wohnort, der Weberhöhe, weitergeht … Als Leser kann man nur hoffen, irgendwann wieder am Alltag des Hauptkommissars teilhaben zu dürfen; zu erfahren, wie sein Leben weiter verläuft, mit der Familie, mit den Kollegen. Fans atemloser Spannung werden an „Kühn hat Ärger“ vermutlich nicht so viel Freunde haben, wer aber gerne komplex-gelungene Mischungen aus Krimi und Roman liest – quasi echte Kriminalromane –, der wird Kühn vermutlich ebenso gerne begleiten wie ich es getan habe.
    Meine Produktempfehlungen
    • Weiler, J: Kühn hat zu tun Weiler, J: Kühn hat zu tun (Buch)
    Frau Einstein Frau Einstein (Buch)
    12.02.2018

    Einstein, das Scheusal

    Was fällt einem ein, wenn man den Namen Einstein hört? Der Nobelpreisträger, das berühmte Bild von ihm mit der herausgestreckten Zunge, die Relativitätstheorie. Kaum jemand dürfte an Mileva Marić denken, die erste „Frau Einstein“. Dabei war sie eine bemerkenswerte Persönlichkeit: Ab 1896 eine der ersten Studentinnen der Mathematik und Physik am Eidgenössischen Polytechnikum in Zürich, sah sie einer Karriere als berufstätige Frau entgegen – für die damalige Zeit höchst unüblich. Die Serbin hatte, unterstützt von ihrem Vater, bereits einen steinigen Weg hinter sich: Als Mädchen und junge Frau mit unüblichem Wissensdurst war sie in ihrer Heimat schnell zur Außenseiterin geworden, ein angeborerener Hüftschaden, der sie zeitlebens hinken ließ, tat sein Übriges dazu. Mileva Marić war ein einsames Kind mit einem Ziel, das sie 1896 endlich zu erreichen schien, als sie ihr Studium aufnahm – fern von zu Hause in der Schweiz, wo sie als Osteuropäerin zwar schiefen Blicken ausgesetzt war, Frauen aber bereits studieren dürften.

    Der Roman setzt mit Marićs Studienjahren ein, die vielversprechend beginnen: In einer Züricher Pension trifft sie zum ersten Mal in ihrem Leben Gleichgesinnte. Junge Ausländerinnen, die ebenfalls zum Studium in die Schweiz gekommen sind. Sie schließt erste Freundschaften und studiert mit großem Ernst und Erfolg. Der neue Schwung, den Marić verspürt und ihre Faszination für die Physik bringt Autorin Marie Benedict wunderbar rüber; man kann Marićs Begeisterung auch ohne größeres naturwissenschaftliches Interesse nachempfinden. Doch dann kommt ihr ein Mann in die Quere: Albert Einstein. Zunächst ist er der einzige ihrer ausschließlich männlichen Kommilitonen, der ihr ein freundliches Interesse entgegenbringt. Zwischen den beiden bahnt sich eine Freundschaft an – und irgendwann auch mehr. Marić versucht erst, ihre Gefühle zu unterdrücken, doch als ihre Freundin Helena sich verlobt, gibt sie Einsteins Werben schließlich nach. Was beiden vorschwebt, ist ein unkonventionelles Leben als Bohémiens – gleichberechtigtes gemeinschaftliches Leben und Forschen. Doch eine ungeplante Schwangerschaft, mit der Einstein sie komplett allein lässt, setzt Marićs erfolgreichem Studium ein Ende. Es stellt sich heraus, dass Einstein trotz seiner Liebe zu ihr ein unverlässlicher Partner ist – sowohl in privater als auch in wissenschaftlicher Hinsicht. Nachdem er in Lohn und Brot ist, heiraten die beiden trotzdem, doch Marićs Ziele und Träume fallen Einstein nach und nach zum Opfer. Sah sie während ihres Studiums noch die Wissenschaft als Gottes geheime Sprache und sich selbst auf einem Kreuzzug, kommt sie mit der Zeit gänzlich von ihrem Weg ab – vor allem, weil Einstein gemeinsame Forschungsergebnisse als seine eigenen Errungenschaften deklariert und sie auf ihre Rolle als Hausfrau und Mutter beschränkt.

    „Frau Einstein“ macht wütend – wütend auf Einstein, der erst seine Versprechungen und schließlich auch Marić bricht, einfach, weil er es kann, als Mann seiner Zeit. Dabei ist „Frau Einstein“ natürlich nur ein Roman, in dem viele erzählte Anekdoten der dichterischen Freiheit zuzuschreiben sind. Bei einigen Passagen habe ich überlegt, ob Benedict zu weit geht – wenn Einsteins herzloser Umgang in Bezug auf die erstgeborene Tochter thematisiert wird oder sie die Erstidee zur Relativitätstheorie Marić zuschreibt. Das Schicksal von Tochter Lieserl Einstein konnte nie wirklich geklärt werden und im Nachwort erwähnt Benedict selbst, dass Marićs tatsächlicher Beitrag zu den Albert Einstein zugeschriebenen Theorien ungewiss ist. Der Einstein im Roman entwickelt sich zunehmend zum Scheusal, was der historischen Figur eventuell Unrecht tut. Allerdings kann offensichtlich belegt werden, dass der Nobelpreisträger kein einfacher Mensch war, ein sehr selbstbezogener Ehemann und auch als Vater eher ein Versager. In ihrem Nachwort schreibt Benedict, dass sie mit ihrem Roman nicht den wissenschaftlichen Verdienst Einsteins schmälern, sondern die menschliche Seite hinter seinen wissenschaftlichen Arbeiten beleuchten wollte. Als Mensch gibt ihr Einstein jedoch eine dermaßen schlechte Figur ab, dass sich notgedrungen auch der Blick auf den Wissenschaftler verändert. Dabei ist der Roman einzig und allein aus der Sicht seiner Frau geschrieben, die beständig als sein Opfer dargestellt wird. Benedict zeichnet die beiden schwarz-weiß, ich hätte mir ab und an ein etwas differenzierteres Bild gewünscht. Dennoch verdient es Marić offensichtlich, zumindest in diesem Buch einmal die Hauptrolle zu spielen – auch wenn sie im Titel wieder nur auf ihre Rolle als Ehefrau des berühmten Wissenschaftlers reduziert wird.
    Olga Bernhard Schlink
    Olga (Buch)
    12.01.2018

    Virtuos geschriebene Lebens- und Liebesgeschichte während eines stürmischen Jahrhunderts

    Schon länger war ich von keinem Roman mehr dermaßen angetan wie von „Olga“. Bereits auf den ersten Seiten hat mich Bernhard Schlinks klare, präzise, schöne Sprache begeistert. Aber auch inhaltlich zog mich die Geschichte der Anfang der 1880er Jahre geborenen Olga in ihren Bann. Früh Vollwaise ist sie zwar nicht ganz auf sich alleine gestellt, erfährt aber trotz Wissensdurst und Ehrgeiz kaum Förderung und Unterstützung. Dennoch geht Olga ihren – in Anbetracht ihrer Herkunft und der damaligen Zeit – ungewöhnlichen Weg. Und findet schon früh mit einem anderen einsamen Kind zusammen: Dem Gutsbesitzersohn Herbert. Olga und Herbert sind sich nicht ähnlich, aber sie begegnen einander auf Augenhöhe, verbringen gerne Zeit miteinander, werden langsam erwachsen und ein Liebespaar. Während sich Olga jedoch ein selbstständiges und unabhängiges Leben aufbaut, zieht es Herbert in die Ferne. Rastlos sucht er nach Weite und der Erfüllung, die ihm diese bringt. Seine erste Reise führt in als Soldat nach „Südwest“, also Namibia; weitere folgen.

    Doch der Leser begleitet Herbert nur kurze Passagen lang, der Fokus des Buches richtet sich auf die titelgebende Hauptfigur. Olga, eine intelligente, belesene Frau, die schließlich den ersten Weltkrieg erlebt und irgendwann auch den zweiten. Ihre Geschichte wird bis in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts erzählt; erst aus der Außenperspektive, irgendwann von einem späten Schützling, schließlich indirekt auch von ihr selbst. Alle drei Sichtweisen fügen das Bild einer starken Frau zusammen, die dem Wunsch der ihr am Herzen liegenden Männer, immer höher und immer weiter hinaus zu wollen, stets skeptisch gegenübersteht – wie auch dem sich immer wieder Bahn brechenden zeitgenössischen Größenwahn ihrer Landsleute. Olga bleibt sich treu – und dennoch gibt es im Laufe des Romans einige unvorhersehbare Wendungen, die mich tatsächlich in Atem gehalten haben, obwohl sich „Olga“ sonst eher ruhig liest.

    Sprache, Erzählweise und Struktur der Geschichte machen sie zu einer ungewöhnlich intensiven Leseerfahrung. Für einige Handlungsstränge nimmt sich Bernhard Schlink Zeit, aber manches Mal zieht er sein Erzähltempo stark an. Dass „Olga“ trotzdem stimmig bleibt, zeigt, wie virtuos Schlink schreiben kann. Die Begleitung seiner Romanfigur durch ihr Leben ist ein bereicherndes Erlebnis, das mich nach Buchende wehmütig zurückgelassen hat.
    Lied der Weite Lied der Weite (Buch)
    08.01.2018

    Von Sprachlosigkeit und fragilem Glück: Leise, melancholisch und anrührend

    Der bereits verstorbene Schriftsteller Kent Haruf hat sechs Romane verfasst. Alle spielen in der fiktiven amerikanischen Kleinstadt Holt, die er in Colorado angesiedelt hat. „Lied der Weite“ hat mich das erste Mal nach Holt gebracht und ich könnte mir durchaus vorstellen, mit einem von Harufs anderen Romanen dorthin zurückzukehren. Sein „Lied der Weite“ hat eine leise Melodie und ist in Moll geschrieben. Für die Protagonisten des Romans läuft eine ganze Menge nicht so, wie es sollte.

    Die 9- und 10-jährigen Brüder Bobby und Ike müssen mit dem schleichenden Verlust ihrer depressiven Mutter klarkommen und Teenagerin Victoria Roubideaux ist schwanger und wird zu Hause vor die Tür gesetzt. Die Jungen kennen das Mädchen nicht und haben auf den ersten Blick auch nichts mit ihr gemeinsam – außer ihrer Sprachlosigkeit: In Holt scheint das Klima generell rau, jeder muss selbst schauen, wo er bleibt und über Gefühle, Ängste und Sehnsüchte wird stets geschwiegen; vermutlich werden sie noch nicht einmal sich selbst eingestanden. Und so wirken die jugendlichen Protagonisten oft etwas einsam und verloren. Die resolute Lehrerin Maggie Jones nimmt sich allerdings der schwangeren Victoria an und bringt sie kurzerhand bei einem alten Brüderpaar unter, das eine Farm betreibt. Und auch Bobby und Ike erhalten ab und an von unerwarteter Seite Zuwendung. Für den Leser gibt es so doch immer wieder Anlass, vorsichtig Hoffnung für die drei zu schöpfen, die einem immer mehr ans Herz wachsen.

    So sprachlos seine Romanfiguren scheinen, so wortmächtig ist Kent Haruf mit seinen Beschreibungen. Zwar lässt er einen nicht direkt ins Innenleben seiner Protagonisten schauen, aber was diese sehen und tun, wird so anrührend wie detailliert beschrieben. Auch das Städtchen Holt entsteht vor dem geistigen Auge des Lesers so lebendig, dass seine Nicht-Existenz kaum vorstellbar ist.
    Mich hat „Lied der Weite“ in eine ziemlich melancholische Stimmung versetzt, aber auch immer wieder gerührt. Die Einsam- und Sprachlosigkeit der Protagonisten war für mich stellenweise schwer zu ertragen, gleichzeitig erschien sie in diesem Kleinstadt-Panorama so stimmig und passend, dass ich mir die Figuren gar nicht anders vorstellen konnte. Ein leiser, melancholischer und anrührender Roman, der trotz einer gewissen Schwermut auch Hoffnung keimen lässt: Hilfe und Zuneigung können von gänzlich unerwarteter Seite kommen, Fremde zu Familien werden. Auch im rauen Holt gibt es einen Silberstreifen am Horizont.
    Die Optimierer Theresa Hannig
    Die Optimierer (Buch)
    25.12.2017

    Etwas zu technisch geratene Dystopie

    Dystopische Romane haben gerade Hochkonjunktur – zumindest habe ich nach Zoë Becks „Die Lieferantin“, Marc-Uwe Klings „Qualityland“, Juli Zehs „Leere Herzen“ und nun auch Theresa Hannigs „Die Optimierer“ diesen Eindruck. Die genannten Bücher sind trotz ihrer düsteren Zukunftsszenarien alle recht unterschiedlich. Ihr gemeinsamer Nenner ist eine drastische Darstellung der technischen Möglichkeiten und eines ruhiggestellten, gläsernen Bürgers. Bei Theresa Hannig nimmt diese Darstellung etwas überhand – vor allem im ersten Buchdrittel, in dem die Handlung rund um den systemtreuen Lebensberater Samson noch gar nicht einzusetzen scheint. Etwas langatmig wird die Entstehung und das Konstrukt der „Bundesrepublik Europa“ beschrieben. An und für sich ist das düstere Zukunftsszenario sehr durchdacht und die im Roman herrschende „Optimalwohlgesellschaft“ ein ziemlich krasses Konstrukt, doch die ausführliche Darstellung hat mich dennoch stellenweise gelangweilt.

    Im zweiten Drittel nimmt die Handlung dann deutlich an Fahrt auf. Samson, ein Musterbürger seines Landes, gerät – unfreiwillig und größtenteils auch unverschuldet – auf Abwege. Seine Freundin verlässt ihn wegen seiner Systemhörigkeit, für den heimlichen Fleischkonsum seiner Eltern (in der zwangsvegetarisierten „Bundesrepublik Europa“ des Jahres 2052 streng verboten, es gibt es nur noch Synthetikfleisch) muss auch er büßen und dass er versucht, das Geheimnis eines hochrangigen Politikers zu enthüllen, bringt ihm zusätzliche Probleme. Die Hauptfigur befindet sich im Abwärtsstrudel und kann es selbst kaum glauben, doch je mehr er dagegen ankämpft, desto schlimmer wird es. „Die Optimierer“ gipfeln in einem offenen Ende, das den Leser mit leichtem Grusel zurücklässt. Trotzdem konnte mich der Roman nicht ganz überzeugen. Samson als einzige Hauptfigur ist kein Sympathieträger, sein Schicksal hat mich nicht wirklich berührt und das Gleichgewicht zwischen Beschreibung und Handlung war nach meinem Empfinden nicht immer gegeben. Dennoch enthält der Roman Denkanstöße und lässt den Leser grübelnd zurück: In was für einer Gesellschaft wollen wir leben? Welche Entwicklungen können wir zulassen? Was ist uns Gesundheit und Wohlstand wert? „Die Optimierer“ regen dazu an, sich mit diesen Fragen zu beschäftigen.
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    • Leere Herzen Juli Zeh
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    TICK TACK - Wie lange kannst Du lügen? TICK TACK - Wie lange kannst Du lügen? (Buch)
    05.12.2017

    Niemand kann seiner Vergangenheit entfliehen …

    „TICK TACK“ ist ein sich langsam entwickelnder Thriller. Er ist unblutig und kommt ohne Gänsehaut-Momente aus, in denen man ernsthaft um das Leben der Hauptfiguren fürchtet. Und trotzdem konnte ich ihn nicht mehr beiseitelegen und habe mich immer tiefer in die Geschehnisse um Hauptfigur Nic hineinziehen lassen.
    Nic ist Ende 20, mit einem erfolgreichen Anwalt verlobt und lebt in Philadelphia – weit weg von ihrer Heimatstadt Cooley Ridge in North Carolina, aus der sie zehn Jahre zuvor regelrecht geflüchtet ist. Damals verschwand ihre beste Freundin Corinne spurlos und ist bis heute nicht wieder aufgetaucht. Zwar ist das Leben in Cooley Ridge weitergegangen, doch nun kommt alles wieder hoch – denn plötzlich wird eine weitere junge Frau vermisst. Und Nic ist erneut in der Stadt: Ihr Bruder und sie wollen ihr Elternhaus auflösen, nachdem der Vater inzwischen dement in einem Pflegeheim lebt. Die Vergangenheit holt Nic, ihre Familie und ihre früheren Freunde ein – und droht, Geheimnisse ans Licht zu bringen, die zehn Jahre lang verborgen geblieben waren …

    Megan Miranda verwendet eine interessante Erzähltechnik: Sie berichtet von Nics Ankunft in Cooley Ridge, dann von den Geschehnissen zwei Wochen später. Von da erzählt sie dann Tag für Tag rückwärts, bis diese zweiwöchige Lücke für den Leser gefüllt ist. Das ist erstmal gewöhnungsbedürftig – die Handlung entwickelt sich quasi nicht weiter, sondern setzt sich eher puzzleartig zusammen. Nach jedem Tag kommt der Morgen des Vortags, der meist an einer ganz anderen Stelle ansetzt. Und so vergrößert sich zwar der Gesamtüberblick des Lesers nach und nach, er kann sich jedoch nie sicher über die Vorgeschichte sein – und muss sein Bild wieder und wieder revidieren … zum Teil ist das mühsam. Aber es lohnt sich auch. In jedem Fall fesselt „TICK TACK“ und hat mich laufend überrascht. Der Kreis der Hauptfiguren ist klein, trotzdem tappte ich bis zum Schluss im Dunkeln, wie was zusammenhing. Und fand die Auflösung dann durchaus befriedigend, obwohl ich mir zwischenzeitlich einfach nicht vorstellen konnte, wie alles zusammenpassen sollte. Genau das macht einen guten Thriller für mich aus – dass er am Ende glaubwürdig ist, auch wenn man sich während des Lesens einfach kein glaubwürdiges Ende vorstellen konnte.

    So gesehen passt „TICK TACK“ zu „Girl on the Train” oder “Gone Girl” – die Geschichte entrollt sich nach und nach, leise, unvorhersehbar und überraschend. Die Ereignisse überschlagen sich nur selten, sondern entwickeln sich langsam. Autorin Miranda nimmt sich Zeit, dem Leser Cooley Ridge näherzubringen – die Kleinstadtatmosphäre, die umliegenden Wälder. Man taucht mit Nic in ihr altes Leben ein und muss die Bereitschaft mitbringen, sich darauf einzulassen – ich finde, es lohnt sich. Leseempfehlung für alle, die romanartige, aber nicht minder intensive Psychothriller mögen!
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    Leere Herzen Juli Zeh
    Leere Herzen (Buch)
    29.11.2017

    Spannend, verstörend, aufrüttelnd - und dabei einen Tick zu mahnend

    „Leere Herzen“ wird im Klappentext als „verstörender Psychothriller über eine Generation, die im Herzen leer und ohne Glauben und Überzeugungen ist“ beschrieben. In der Widmung schleudert Autorin Juli Zeh ihren Lesern dann auch noch ein unmissverständliches „Da. So seid ihr.“ entgegen – womit klar ist, welche Generation gemeint ist: die eigene. Ein harter Einstieg in eine dystopische Geschichte, die bereits in naher Zukunft spielt. Irgendwann in den späteren 2020er Jahren angesiedelt, berichtet sie von der Post-Merkel-Ära, in der die BBB (Besorgte-Bürger-Bewegung) regiert, nachdem die anderen Parteien es nicht mehr schaffen, ihre Wähler zu mobilisieren. Und während die BBB die demokratischen Grundrechte immer weiter abschafft, ohne dabei auf nennenswerten Widerstand zu stoßen, haben sich Gutausgebildete und -verdienende wie Protagonistin Britta längst ins Private zurückgezogen, pflegen ihr kleinstädtisches Leben, konzentrieren sich auf die eigene Karriere und schalten die Nachrichten höchstens mal aus Versehen ein. Verantwortungsgefühl, Moral und Ethik sind ihrem „leeren Herzen“ schon sehr lange abhandengekommen. Kopf und Herz sind zufrieden mit dem Ist-Zustand, nur der Bauch rebelliert ab und zu in Form von Schmerzen und Übelkeit, wird aber ebenso wie die Krankhaftigkeit ihres Sauberkeitsfimmels erfolgreich ignoriert.

    Juli Zehs Buch wirkt stellenweise wie eine Abrechnung der Autorin. Eine Abrechnung mit Nichtwählern und mit denjenigen, die die Demokratie für selbstverständlich halten und glauben, das Weltgeschehen gehe sie nichts an. Auch mit Hasskommentatoren im Internet wird abgerechnet und der entsprechende Abschnitt liest sich, als hätte sich Zeh ihre Verachtung schon lange von der Seele schreiben wollen. Ganz eventuell ist „Leere Herzen“ auch noch eine kleine Abrechnung mit Sarah Wagenknecht. Die Gründe dafür sind mir verborgen geblieben, aber Wagenknecht wird, neben Merkel, als einzige real existierende Politikern namentlich erwähnt. Überraschenderweise ist sie Innenministerin der BBB. Positiv ist das keinesfalls, denn die in „Leere Herzen“ beschriebene politische Situation ist desaströs – nicht nur in Deutschland, sondern überall. Frexit, Schwexit und andere Bewegungen werden am Rande erwähnt – in Juli Zehs Welt der 2020er Jahre ist sich jeder selbst der Nächste. Besonders bemerkenswert war für mich, dass die Autorin sich nicht an den Wählern ihrer BBB abarbeitet, sondern an den Gleichgültigen, die es besser wissen, aber tatenlos bleiben. „Leute wie ich tragen Schuld an den Zuständen, nicht die Spinner von der BBB“ erkennt auch Hauptfigur Britta irgendwann. Und genau Leute wie die von ihr erschaffene Britta will Juli Zeh erreichen; das wird deutlich.

    Und wie liest sich das Ganze? Zeh entwickelt ihre Romangegenwart so, dass sie – im worst case -tatsächlich an die Gegenwart anknüpfen könnte – ein erschreckender Gedanke, der der Faszination, die die Geschichte ausübt, natürlich zuträglich ist. Gleichzeitig fühlte ich mich manchmal doch zu offensichtlich belehrt; „Leere Herzen“ erscheint insgesamt wie eine Warnung der Autorin an die Leser. Die Geschichte um Hauptfigur Britta und das morbide Geschäft, das sie mit ihrem besten Freund Babak betreibt, ist jedoch so fesselnd, dass mich die fehlende Subtilität der Gesellschaftskritik nur selten störte. Und der im Roman gleich mehrmals vorkommende Appell der Autorin, das Hier und Jetzt zu schätzen und aktiv für seine Bewahrung bzw. Verbesserung einzutreten, hat ja durchaus Berechtigung. Juli Zehs Mahnungen haben mich auf jeden Fall beschäftigt und tun es immer noch – der Roman wirkt nach.
    Für bequeme Bücher ist die Autorin nicht bekannt, auch „Leere Herzen“ ist keines. Die Geschichte liest sich gut und schnell, erschüttert und verstört immer mal wieder und regt zum Nachdenken an – und zum Wählen gehen, zum Partei ergreifen. So gesehen hätte das Buch ruhig schon ein paar Monate früher erscheinen können.
    Geheimnis in Rot Geheimnis in Rot (Buch)
    04.11.2017

    Cosy Crime der alten Schule

    Ein Krimi mit besonderer Haptik (der Einband ist mit Stoff überzogen), einem weihnachtlichen Eyecatcher-Cover und leider etwas nichtssagendem Titel („The Santa Klaus Murder“, wie das Buch auf Englisch heißt, finde ich sowohl passender als auch interessanter als „Geheimnis in Rot“). Obwohl ich während der Lektüre noch weit davon entfernt war, mich irgendwie in Weihnachtsstimmung zu fühlen, hat mich dieses Buch schnell in seinen Bann gezogen. Und wirklich weihnachtlich ums Herz ist den Protagonisten von „Geheimnis in Rot“ auch nicht zumute: Am ersten Weihnachtsfeiertag wird Sir Osmond Melbury, der seine Kinder, Schwiegerkinder und Enkel Jahr für Jahr während der Feiertage nach Hause auf Gut Flaxmere nötigt, erschossen in seinem Arbeitszimmer aufgefunden. Der Kreis der Verdächtigen ist groß, denn eigentlich jeder der Anwesenden hat einen Teil des Erbes zu erwarten und für die Mehrzahl von ihnen kommt dieses auch recht willkommen. Aber war das für eines der Familienmitglieder tatsächlich Grund genug, einen Mord zu verüben? Ein Freund des Hauses, Colonel Halstock, beginnt zu ermitteln. Systematisch trägt er Informationen zusammen, sammelt Indizien und führt Gespräche. Und als Leser sitzt man grübelnd vor dem Grundriss von Gut Flaxmere, der dem Buch vorangestellt ist, und fragt sich mit dem Colonel, wie denn nun alles zusammenpasst. „Geheimnis in Rot“ ist ein Krimivergnügen in guter alter Whodunit-Manier. Mavis Doriel Hay beschreibt die einzelnen Familienmitglieder sehr anschaulich und lässt den Großteil auch selbst zu Wort kommen, doch obwohl sich das Gesamtbild so immer mehr zusammenfügt, tappt man als Leser lange im Dunkeln. Wer gerne mit Miss Marple oder Hercule Poirot rätselt, ist hier gut aufgehoben. „Geheimnis in Rot“ ist ein Cosy Crime, dem man sein Alter (Erstveröffentlichung 1936!) nicht anmerkt. Ein Krimigenuss alter Schule, der sich nicht nur unterm Weihnachtsbaum gut macht, aber als gemütliche Feiertagslektüre auf jeden Fall bestens geeignet ist!
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    Das Vermächtnis der Spione Das Vermächtnis der Spione (Buch)
    22.10.2017

    Abgesang auf vergangene Zeiten

    „Das Vermächtnis der Spione“ ist das allererste Buch von John Le Carré, das ich überhaupt gelesen habe. Ich fand die Leseprobe fesselnd und habe es auch relativ schnell durchgelesen. Allerdings stellt sich mir im Nachhinein die Frage, ob es so klug war, ohne Vorkenntnisse zu diesem Roman zu greifen, der inhaltlich offensichtlich auf Ereignisse aus „Der Spion, der aus der Kälte kam“ und „Dame, König, As, Spion“ aufbaut und außerdem bereits das neunte Buch um den Geheimagenten George Smiley ist – auch wenn dieser hier vor allem durch Abwesenheit glänzt.
    Der Handlung konnte ich dennoch ganz gut folgen: Peter Guilliam, früherer Agent des britischen Geheimdienstes und schon seit Jahren im Ruhestand, wird nach London beordert. Er soll helfen, Geschehnisse aus dem Jahr 1961 zu rekonstruieren, an denen er mindestens mittelbar beteiligt war. Damals wurden zwei Agenten des Secret Service an der Berliner Mauer erschossen, deren Kinder jetzt im Jahr 2017 Geld und eine Offenlegung der Sachverhalte fordern. Doch der britische Geheimdienst hat selbst Mühe, die Ereignisse, die zum Tod der beiden Agenten führten, zu rekonstruieren. Die Akten sind lückenhaft oder ganz verschollen, Beteiligte tot oder nicht auffindbar. Und Peter Guilliam ist auch nicht der Auskunftswilligste – was hat er zu verbergen?

    Als Leser folgt man den Gedanken des Agenten und reist mit ihm in Rückblenden fast 60 Jahre zurück. Nach und nach scheint sich die Vergangenheit zu entwirren. Das war schon fesselnd, da sehr intelligent gemacht und gleichzeitig ist vorstellbar, dass Geheimdienste damals tatsächlich so agiert haben. Trotzdem kommt kaum Spannung auf, da der Leser aufgrund der Romangegenwart ja im Großen und Ganzen weiß, wie die Geschichte ausgeht. Auch hat mich das Schicksal der einzelnen Figuren meist kaltgelassen, vielleicht mit Ausnahme der Spionin „Tulip“. Ich nehme jedoch an, dass das ebenfalls daran lag, dass ich die übrigen Romane nicht kannte – wären mir die Protagonisten schon vertraut gewesen, hätte ich ihre Handlungen vermutlich noch besser nachvollziehen können und mehr mit ihnen sympathisiert. So kämpfte ich stattdessen immer wieder mit den verschiedenen Decknamen und hatte manchmal doch Mühe, alle Personen richtig zuzuordnen.
    Ich geben diesem Roman vier Sterne, empfehle aber, die „George Smiley“-Buchreihe nicht mit ihm zu beginnen, sondern zumindest „Der Spion, der aus der Kälte kam“ und „Dame, König, As, Spion“ zuerst zu lesen.
    Meine Produktempfehlungen
    • Dame, König, As, Spion Dame, König, As, Spion (Buch)
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    • Der Spion, der aus der Kälte kam Der Spion, der aus der Kälte kam (Buch)
    Voll Jesus. Null Druck. Voll Jesus. Null Druck. (Buch)
    13.10.2017

    Anschaulich, persönlich und inspirierend

    Josh Kelley ist mit „Voll Jesus. Null Druck“ ein sehr interessantes Buch gelungen. Sein Thema ist die Suche nach dem goldenen Mittelweg: Wie lässt sich ein gottgefälliges Leben führen, ohne arrogant und fundamentalistisch zu werden, aber auch ohne ein ständiges schlechtes Gewissen? Wie kann das Leben in vollen Zügen genossen werden, ohne sich dabei von Gott zu entfernen? Er wählt das Bild eines schmalen Grats, auf dem man als Christ balanciert – links und rechts zwei Abgründe, der eine symbolisiert Ungehorsam gegenüber Gott, der andere einen zwanghaften Glauben, der zu radikal ist. Der Autor Josh Kelley empfiehlt Christen zwar Radikalität, er meint damit jedoch „radikal NORMAL“ zu leben. Was ein radikal normales Leben für ihn bedeutet, leitet er Kapitel für Kapitel, Thema für Thema sehr anschaulich her.

    Josh Kelley ist Vater, Pfarrer und hat außerdem einige Zeit bei Starbucks gearbeitet. Das Buch ist auch eine Sammlung seiner persönlichen Erfahrungen, die er offen und ehrlich mit seinen Lesern teilt. Seine lockeren Schilderungen machen seinen Ratgeber sehr lebendig und gut lesbar. Wegen der Vielfalt der Themen sind kleinere und größere Lesepausen von Vorteil, um die Ideen des Autors auf sich wirken zu lassen. Egal ob es um Begabungen, Geld, Freude, Sünde oder Leben nach dem Tod geht: Josh Kelley arbeitet sich durchweg nachvollziehbar an den einzelnen Themenkomplexen ab. Er schafft das ohne erhobenen Zeigefinger und ohne den Eindruck zu vermitteln, die einzig gültige Wahrheit gepachtet zu haben. Was mir mit am besten gefallen hat: Er ist kein Freund von starren Vorgaben, sondern geht vom mündigen Christen aus. Er will kein Regelwerk zusammenstellen, sondern den Einzelnen dafür sensibilisieren, Entscheidungen selbst verantwortungsvoll zu treffen. Das Leben seiner Leser macht er damit nicht unbedingt bequemer, bietet ihnen aber Hilfestellung und eine Vielfalt gedanklicher Anregungen.

    Manches in „Voll Jesus. Null Druck“ war mir jedoch auch fremd. Einiges schien mir einfach sehr amerikanisch: Homeschooling, die Begeisterung für Starbucks und Disneyland, die Beschreibung des Autors, wie er als Teenager ein „Superchrist“ sein wollte … Josh Kelley widerlegte manchen radikalen Gedanken, den er in seiner Jugend entweder selbst hatte oder mitbekam. Ich dagegen hatte von einigen dieser radikalen Ideen noch nie gehört und konnte mit manchen doch sehr wenig anfangen. Dennoch fand ich die Auseinandersetzungen damit immer interessant. Das Buch enthält sehr viel Input, weswegen ich das letzte Kapitel besonders zu schätzen weiß: Hier komprimiert Kelly seine Kernaussagen nochmal und fasst seine Grundthesen zusammen. Er selbst will sein Buch übrigens als „Sprungbrett“ verstanden wissen – ob und wie seine Leser springen, ist ihre Entscheidung. Ich bin sicher, dass mich das Buch gedanklich noch eine ganze Weile beschäftigen wird – und dass ich immer mal wieder reinlesen werde. Die Lektüre hat mich auf jeden Fall inspiriert.
    Hammer, H: Durch alle Zeiten Hammer, H: Durch alle Zeiten (Buch)
    03.10.2017

    Zwischen Liebe und Pragmatismus

    „Wenn Du geliebt wirst, denkst Du, Liebe sei leicht zu finden. Das stimmt aber nicht, Liebe ist selten.“ Das setzt der Hauptfigur Elisabeth eine Freundin auseinander. Und Elisabeth widerspricht nicht. Hat sie doch in ihrem Leben, von dem „Durch alle Zeiten“ handelt, die unterschiedlichsten Erfahrungen mit der Liebe gemacht, hat und wurde geliebt, hat und wurde betrogen. Als Tochter österreichischer Bergbauern 1940 in ärmlichste Verhältnisse hineingeboren, hat sie ihr Leben in die Hand genommen und versucht, das Beste für sich herauszuholen. Dabei ist sie mehrmals tief gefallen und wieder aufgestanden.

    Das Buch beginnt mit Elisabeths gegenwärtigem Leben. Ungefähr Anfang 30, liegt sie in den Wehen und bekommt ihr drittes Kind, das erste von dem gewalttätigen Bauern Josef, den sie geheiratet hat, weil sie sich durch diese Ehe eine bessere Zukunft versprach. Jedes zweite Kapitel handelt jedoch von Elisabeths Vergangenheit, angefangen mit ihrer Kindheit. Im Verlauf des Buches wird halbwegs klar, weswegen sie sich auf die Ehe mit Josef eingelassen hat – wider besseres Wissen, denn mit der Liebe hat Elisabeth schon einige Erfahrungen gemacht, heiratet jedoch trotzdem sogar ein zweites Mal, ohne dass diese im Spiel gewesen wäre. Auch die Romangegenwart schreitet unaufhaltsam voran, so dass sich am Ende Elisabeths gesamtes Leben vor dem Leser ausbreitet.

    Die Autorin Helga Hammer schildert ihre Hauptfigur durchaus anschaulich. Trotzdem ist mir Elisabeth stellenweise sehr fremd geblieben. Sie hat viel mitgemacht, ist jedoch auch öfters blind und taub gegenüber dem Leid anderer, die ihr nahestehen. Vielleicht hat sie ihr arbeitsreiches und von einigen Enttäuschungen geprägtes Leben hart gemacht, so dass sie nun keine größere Sensibilität mehr für ihre Mitmenschen aufbringen kann. Allerdings gibt es auch einige Zeitsprünge in dem Buch, wodurch dem Leser manche Informationen vorenthalten bleiben – bei der Schilderung eines kompletten Lebens ist das wohl kaum anders möglich, trägt aber dazu bei, dass mir für einige Wendungen einfach das Verständnis fehlte.

    Dadurch, dass hauptsächlich die Entwicklung eines Lebens geschildert wird, ist der Einstieg in die Geschichte leicht. Man rutscht förmlich in Elisabeths Leben hinein, doch trotzdem habe ich mich durch einige Passagen eher gequält, weil ich ihr Verhalten kaum nachvollziehbar fand. Da man meist auch nur ihre Perspektive kennenlernt, bleiben andere Figuren stellenweise sehr blass und eindimensional, was mich gestört hat. Aber Helga Hammers Ziel war wohl in erster Linie, das Leben einer starken Frau in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts im ländlichen Österreich zu proträtieren. Sie präsentiert dem Leser eine Kämpferin, eine Art Mutter Courage, deren Kinder für sie an erster Stelle stehen und die mal auf ihr Herz hört, mal mit kühlem Pragmatismus kalkuliert. Die Ausgestaltung dieser Figur ist an sich gelungen, ich hatte mir jedoch von der Geschichte noch anderes versprochen. Mehr Tiefgang vielleicht und komplexere Charaktere. Trotzdem hat mich das Schicksal der Hauptfigur nicht kaltgelassen und ich halte die Schilderungen der Herausforderungen, mit denen sich Elisabeth im Laufe ihres Lebens konfrontiert sieht, für durchaus realistisch.
    Sonntags fehlst du am meisten Sonntags fehlst du am meisten (Buch)
    13.09.2017

    Unvollständig

    Unvollständig – so fühlt sich das Leben der über vierzigjährigen Protagonistin Caro seit einem Jahr an. Seitdem hat sie keinen Kontakt mehr zu ihrem Vater, der jegliche Verbindung zu ihr gekappt hat, nachdem sie volltrunken in die Mauer des Friedhofs ihres Heimatdorfes gerast ist. Er, der immer für sie da war, versagt ihr seitdem jegliche emotionale und finanzielle Unterstützung. Caro ist inzwischen trockene Alkoholikern, steht – eigentlich erstmals in ihrem Leben – auf eigenen Beinen und hat nach ihrer gescheiterten Ehe einen neuen Partner gefunden. Und doch hat sie Hemmungen, wieder einen Schritt auf ihren Vater zuzugehen, wie ihre Mutter es anlässlich der baldigen Goldhochzeit der Eltern von ihr fordert. Ist eine Versöhnung überhaupt möglich?

    In Rückblenden lässt Autorin Christine Drews den Leser an Caros Vergangenheit teilhaben. Er erlebt sie als kleines Mädchen, das seinen Vater vergöttert, aber darunter leidet, dass die Arbeit immer Vorrang für ihn hat. Er lernt den Teenager kennen, der sich mit seinem ältesten Bruder zofft, die unter Prüfungsangst leidende Studentin und die im Unternehmen ihres Vaters Angestellte, die sich zunächst nicht bewusst ist, wie ihre Kolleginnen über sie denken. Es wird deutlich, dass Caros Vater sie immer in Watte gepackt hat – und dass ihr das nicht gutgetan hat. Ganz nebenbei zeigt Drews, wie der Alkohol eine immer größere Rolle in Caros Leben spielt. Es ist die vielleicht größte Stärke dieses Buches, wie die Autorin Caros Abrutschen in die Sucht nachvollziehbar macht und dabei verdeutlicht, wie gesellschaftlich akzeptiert zumindest gelegentliches „über den Durst trinken“ ist – und wie dies Süchtigen hilft, sich selbst und ihr Umfeld zu täuschen.

    Doch man erfährt nicht nur, wie Caro diejenige wurde, die sie ist. In Rückblenden werden auch Erlebnisse ihres Vaters geschildert, der als kleiner Junge mit Schwestern und Mutter aus dem zerbombten Dresden floh und sich vom Flüchtlingskind zum erfolgreichen Unternehmer entwickelt hat, einem Patriarchen, der sowohl sein Bauunternehmen als auch seine Familie fest im Griff und unter Kontrolle hatte – bis er den Kontakt zu seiner Tochter kappte, die doch immer sein Lieblingskind war. Und so verdeutlicht Drews nach und nach, dass Caros Vaters ihr Leben zwar sehr bestimmt hat – dass er jedoch auch nur auf Basis seiner eigenen Erfahrungen so handelte. Die Autorin zeigt, dass niemand so ganz aus seiner Haut kann, dass wir alle auch von den Erfahrungen geformt werden, die unsere Eltern und deren Eltern gemacht haben. Und dass uns das trotzdem nicht von unserer Eigenverantwortung freispricht.

    Die Erfahrungen von Caro und ihrem Vater so nebeneinander gestellt zu durchleben, fand ich interessant. Das Buch hat mich durchaus gefesselt, es ist ein spannendes Thema, wie Menschen unbewusst von lange vor ihrer Geburt gemachten Erfahrungen ihrer Eltern geprägt werden. Dennoch ging mir „Sonntags fehlst Du am meisten“ oft nicht genug in die Tiefe. Und fast von der Autorin betrogen fühlte ich mich durch das Ende des Romans. Nachdem eigentlich das ganze Buch auf ein Ereignis zusteuert, scheint das zwar am Ende stattzufinden, der Leser wird jedoch davon ausgeschlossen. Es ist ein wenig, als hätte Drews keine Lust mehr gehabt, den lange beschriebenen Konflikt zu lösen. Ich habe das als unfair empfunden – und das Buch als unvollständig. Für das interessante Konstrukt gibt es dennoch vier Sterne, es bleibt jedoch das Gefühl, dass hier mehr machbar gewesen wäre.
    Ein Gentleman in Moskau Ein Gentleman in Moskau (Buch)
    06.09.2017

    Feinsinniger Roman über einen russischen Adeligen und die eigene, kleine Welt in einem Hotel

    Auf den ersten Blick könnte man meinen, dass in diesem Roman nicht viel passiert. Gleich zu Anfang, wir befinden uns im Jahr 1922 in Moskau, wird die Hauptfigur Graf Alexander Rostov zu lebenslangem Hausarrest an seinem aktuellen Wohnort verurteilt. Dieser ist jedoch nicht das heimische Gut, da der Adelsstand schon einige Jahre zuvor abgeschafft wurde und Graf Rostov es längst verlassen musste. Seitdem lebt er im Hotel Metropol, dem ersten Haus am Platze in Moskau. Es verfügt unter anderem über zwei Restaurants, eine Bar, einen geschlossenen Blumenladen und eine Nähstube, so dass dem 33-jährigen Grafen immerhin nicht sofort die Decke auf den Kopf fällt.

    Doch der Hausarrest des Grafen geht über Jahrzehnte, und als Leser begleitet man ihn dabei. Werden seine Begegnungen und Erlebnisse anfangs noch ausführlich geschildert, gibt es schließlich vermehrt Zeitsprünge. Diese wirken jeder Monotonie entschieden entgegen. Und auch sonst ist Graf Rostovs Leben im Hotel nur eine kleinere Ausgabe des Lebens in der richtigen Welt: Auch hier wird geliebt, gelacht und einander geholfen. Aber es wird auch bespitzelt und intrigiert – gegen die ehemals herrschende Klasse und eigentlich gegen jeden, der nicht zu den Bolschewiki zählt, kritisch hinterfragt oder auf die Äußerung seiner eigenen Meinung wert legt.

    Bei der Lektüre dieses Romans habe ich einiges über das Leben im Russland des 20. Jahrhunderts gelernt; nicht zuletzt durch die gelegentlichen Fußnoten, die eine Brücke zwischen Fiktion und Wirklichkeit schlagen. Trotz der zerstörerischen Politik dieser Jahre handelt „Ein Gentleman in Moskau“ auch von Idealisten wie Graf Rostovs Freund Michail Fjodorowitsch, von selbstbewussten Frauen wie der Näherin Marina, von gutherzigen Parteimitgliedern wie Ossip Iwanowitsch Glebnikow und nicht zuletzt von Gentlemen wie Graf Rostov. Amor Towles hat als Hauptfigur einen beeindruckenden Philanthropen geschaffen, dessen Gedanken das Buch zu einem Lesevergnügen macht. Stets freundlich, höflich und so heiter wie möglich vermittelt er direkt und indirekt, was es heißt, ein Gentleman zu sein. Das Klischee vom grobschlächtigen Russen wird einem nach der Lektüre dieses Buches kaum mehr in den Sinn kommen.

    Graf Rostovs teils philosophische Gedanken zu Heimat, Freundschaft und dem Leben generell machen diesen Roman so bemerkenswert. Ich habe mir ganze Passagen markiert, während ich das E-Book las. Es ging viel zu schnell, um sich alles zu merken, aber ich wollte die Sätze auch nicht einfach so an mir vorüberziehen lassen. Auch sprachlich überzeugen die Inhalte.
    Und so ist es zwar größtenteils ein ruhiges Buch, aber es gibt auch dramatische Szenen. Zwar passieren oft nur Kleinigkeiten, doch durch die Sprache und die geschilderten feinsinnigen Gedankengänge werden auch diese interessant. Ein wohlkomponiertes, weises Buch mit genau dem richtigen Ende. Mir hat es sehr gefallen!
    Sieh mich an Sieh mich an (Buch)
    11.08.2017

    Vom Wahnsinn des Alltags und all den Lebensschichten, die darunter lagern

    Dieser Roman ist intensiv. Wie in einen Strudel wird man in das Leben der Ich-Erzählerin Katharina hinein gezogen. Die ca. Vierzigjährige ist eine aufopferungsvolle Mutter, vernachlässigte Ehefrau, schwer erreichbare Freundin, begeisterte Musiklehrerin und hilfsbereite Nachbarin. Tagtäglich schlüpft sie in diese verschiedenen Rollen, die alle besondere Anforderungen an sie stellen. In „Sieh mich an“ erlebt der Leser einen erstmal gar nicht so untypischen Freitag in Katharinas Leben mit. Und weiß durch ihre Innenansichten als Einziger, welche emotionale Zusatzbelastung sie nebenbei noch mit sich herumträgt: Katharina hat in ihrer Brust ein „Etwas“ ertastet, das sie nicht beim Namen nennen mag. Sie ist erblich vorbelastet und von ihrem nahenden Tod überzeugt, ohne bislang mit einem Arzt oder sonst jemandem über das „Etwas“ gesprochen zu haben. Doch das will sie ändern – nach diesem Wochenende. Der Chaos-Freitag, den „Sieh mich an“ beschreibt, soll das letzte nach außen hin unbeschwerte Wochenende einläuten.

    Durch Rückblenden ist zu erahnen, wie Katharina zu der Frau geworden ist, die sie ist. Sachlich denkt sie über ihr Leben nach und lässt dabei nur wenig Emotionen zu. Der lakonische Schreibstil passt zum Inhalt, hat in mir jedoch auch eine gewisse Traurigkeit erzeugt. Die Figur der Katharina blieb mir stellenweise sehr fremd; ich konnte mich nur wundern, wie viel sie unausgesprochen lässt, wie viel sie hinnimmt. Gleichzeitig habe ich mir einige Passagen markiert; kluge Gedanken, ungewöhnliche Sichtweisen, über die sich ein nochmaliges Nachdenken lohnt. Krügels Katharina hat einen besonderen Blick auf das Leben und ihre Gedanken brechen ungefiltert auf den Leser ein. Wenn ich mich immer auf sie eingelassen hätte, wäre mein Lesefluss ganz schön ins Stocken geraten; so habe ich schon während des Lesens beschlossen, dass ich dieses Buch nicht zum letzten Mal in die Hand genommen habe. Und doch hat es mich etwas bedrückt. Katharina ist eine Kennerin und Liebhaberin der klassischen Musik und hält ihre eigene Lebensmelodie durchgehend in Moll, was mir zum Teil selbstgewählt erscheint. Wegen der melancholischen Grundstimmung bin ich unsicher geworden, ob ich das Buch einer Freundin weiterempfehlen soll. In jedem Fall ist es jedoch ein tragisch-schöner, weiser Roman über den Alltagswahnsinn und vieles, was das Leben ausmacht.
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