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    gaia

    Aktiv seit: 10. Oktober 2021
    "Hilfreich"-Bewertungen: 11
    111 Rezensionen
    Männer sterben bei uns nicht Annika Reich
    Männer sterben bei uns nicht (Buch)
    24.02.2023

    Die Erbin einer matriarchalen Familiendynastie

    „Meine Geburt hatte mich in die Nähe von Frauen geraten lassen, die mir nicht nahe waren.“ So ist eine der Erkenntnisse, die Luise rückblickend über ihr Hineingeboren werden in eine privilegierte Familie, die sich aber niemals nah, sondern immer gegeneinander ausgerichtet erscheint, gewinnt.

    Luise wächst auf dem Anwesen ihrer Großmutter auf. Diese ist die Matriarchin einer (Geld-)Adelsfamilie und versammelt auf dem Grundstück mit fünf Häusern die weiblichen Familienmitglieder. Fast könnte man sagen, sie nimmt sie in Sippenhaft und wer nicht nach ihren Regel spielen will, wird aussortiert. Die Männer spielen sowieso keine Rolle, sie sterben hier auf dem Anwesen nicht, sie verschwinden schon vorher und gehen ihrer eigenen Wege. Luise ist schon erwachsenen als nun ihre Großmutter verstirbt. Das bringt die Familie für die Beerdigung wieder örtlich, wenn auch nicht emotional, zusammen und lässt Erinnerungen von Luise aufflammen. Mit dem Blick der Erwachsenen versucht sie nun, nach und nach ihre Erinnerungen neu zu sortieren und vor allem auch neu zu interpretieren.

    Mir hat dieses Buch zu Beginn wirklich sehr gefallen. Das Cover ist schon einmal eine Klasse für sich. Die Sprache der Autorin in ausdrucksstark und mit einer gewissen lakonischen Art versehen. Auch das Setting ist spannend gewählt. Kennen wir ja aus den vergangenen Literaturjahren das Phänomen der Veröffentlichung einer steigenden Anzahl von Romanen über Klasse und soziale Herkunft. Nur geht es hier nicht um die Arbeiterklasse, sondern um die Reichen, wenn auch nicht Superreichen. Die Familie väterlicherseits von Luise ist gut situiert. Luise scheint die einzige zu sein, die sich den Familientraditionen hingeben will und auch als würdig dafür erachtet wird. Ihre eigene Mutter stammt aus einer niedrigeren Klasse und passt ebenso wie andere Frauen auf dem Anwesen nicht so richtig hierher. Dieses Spannungsfeld wird gekonnt entworfen und man meint, dass damit nun für das finale Zusammentreffen und damit den Showdown zur Beerdigung der Großmutter und die Frage des Erbes (komplett an Luise) ein perfektes Spielfeld vorgegeben ist.

    Nur leider verpufft die anfängliche Energie und Stringenz des Romans spätestens ab zwei Dritteln des Buches. Die Handlung und die Beziehungen der Frauen untereinander werden verwirrend, bleiben nebulös und einfach mitunter vollkommen unklar. Auch bekommen die Figuren nicht mehr die benötigte psychologische Tiefe, um sich erklären zu können, was zum Ende des Romans hin passiert. Ganz grundsätzlich scheint dem Buch auch eine Aussage zu fehlen. Ist es eine feministische, im Sinne von: Alle Frauen sollten, egal wie unterschiedlich sie sind, sich nicht auseinandertreiben lassen, sondern zusammenhalten? Denn dieses Auseinandertreiben hat bisher die Großmutter königlich beherrscht. Sie hat einen Keil zwischen die vielen Frauen dieser Familie getrieben, um sich dann die Rosine (Luise) als ihre Nachfolgerin auf dem Anwesen herauszupicken. So schreibt Annika Reich:

    „Sie [die Großmutter] hatte kein emotionales Verständnis von Familie, sondern ein dynastisches, auch wenn das Wort zu pompös war für den Haufen, den wir darstellten. Sie wies jeder von uns einen Platz und eine Aufgabe zu, und wenn wir diesen Platz einnahmen und die damit verbundene Aufgabe erfüllten, lief alles glatt, wenn nicht, wurden wir aussortiert wie verschlossene Muscheln.“

    Solche Passagen sind schon toll geschrieben, aber sie führen leider gefühlt zu nichts mit Blick auf den gesamten Roman. Immer wieder ist von „Versehrungen“ der Hauptfigur zu lesen, aber was genau dort dahinter steckt, erfahren wir nicht. Vieles bleibt schwammig und wird immer schwerer zu deuten, umso klarer wird, dass die Erinnerungen von Luise vielleicht auch kindlich verzerrt sind. Es wird immer mal wieder angedeutet, dass ein Ereignis so oder auch ganz anders hätte passiert sein können. So wendet sich der Roman zum Ende hin immer mehr ab vom Konkreten und bleibt auf eine störende Art und Weise unkonkret.

    Insgesamt handelt es sich hierbei durchaus um ein lesenswertes Buch, welches sein anfängliches Potential jedoch nicht halten kann. Schade.

    3,5/5 Sterne
    Die Mütter Brit Bennett
    Die Mütter (Buch)
    18.02.2023

    Entlarvend tiefgründige Milieustudie

    Mit nur 26 Jahren veröffentlichte die afroamerikanische Autorin Brit Bennett ihren überzeugenden Debütroman „Die Mütter“. Darin zeichnet die Amerikanerin das entlarvende Bild einer Gesellschaft, die hohe moralische Standards propagiert, während sie diese selbst nicht einzulösen vermag.

    Die afroamerikanische Nadia Turner ist gerade einmal 17 Jahre alt als sie von ihrem Freund schwanger wird. Die Beziehung zu ihm stellte für sie einen Fluchtpunkt dar, nachdem sich ein halbes Jahr zuvor ihre eigene Mutter mit der Pistole des Vaters das Gehirn weggeschossen hat. Für Luke, Kindsvater und Pastorensohn, sollte eigentlich schon die Beziehung zu Nadia geheim bleiben, eine öffentliche Schwangerschaft wäre somit eine Katastrophe für ihn aber vor allem für das Pastorenehepaar. Die einzige Lösung scheint eine Abtreibung. Diese zerstört die Liebesbeziehung der beiden jungen Leute vorerst, und doch wird sich ihr Lebensweg in den nächsten Jahren immer wieder kreuzen. Und immer wieder wird das nicht ausgetragene Kind mal trennend, mal verbindend zwischen diesen beiden Menschen stehen. Nadia verlagert ihren Wunsch nach Nähe auf eine Mädchenfreundschaft mit Aubrey, ein eifriges Kirchengemeindemitglied. Das Geheimnis um die Abtreibung, die Freundschaft der beiden jungen Frauen sowie Liebesverflechtungen mit Luke machen den Plot des Romans nun fast zu einer griechischen Tragödie.

    Aber nicht nur der Plot legt den Vergleich mit der griechischen Tragödie nahe. Auch die grandiose Struktur des Romans lässt daran denken und gibt ihm eine weitere Dimension. So beginnt der Roman quasi mit einem „Chorgesang“, denn die ältesten Damen der Kirchengemeinde, genannt „Die Mütter“, kommentieren durch ihren Klatsch und Tratsch, welcher immer in der Pluralform „Wir“ formuliert wird, die Geschehnisse um die drei jungen Leute. Über das gesamte Buch hinweg vervollständigen die Kommentarszenen die Handlungsszenen des Romans, ohne in die Handlung als solche einzugreifen.

    Die Handlung ist nicht nur spannend und präzise konstruiert, sondern auch doppelbödig und entlarvend für die amerikanische Gesellschaft. Wenn wir durch die Mütter erfahren, dass die Kirchengemeinde damals bei der Eröffnung der Abtreibungsklinik vor zehn Jahren massiven Protest angewendet hat und gleichzeitig auf der Handlungsebene Lukes Eltern als Pastorenehepaar dieser Gemeinde die Kosten für die Abtreibung übernehmen, um ihrem Sohn „aus der Patsche“ zu helfen, wird das Ausmaß der Perfidität erst so richtig deutlich. Auch deckt Bennett durch das Aufeinandertreffen verschiedenster Figuren mit verschiedenen ethnischen Hintergründen nicht nur den Alltagsrassismus der Weißen gegenüber den Schwarzen auf, sondern auch gegenüber anderen Bevölkerungsgruppen sowie dieser Minderheiten untereinander. All das verbindet Bennett durch ihren hervorragenden, gelassenen, nicht übermäßig dramatisierenden Schreibstil, der auf den Punkt genau die gewünschten Erkenntniseffekte erzielt.

    So entspinnt sich nicht nur eine Geschichte um Verrat und Lügen auf persönlicher Ebene, sondern auch um die Emanzipation einer Frau aus ihrem Milieu in einem Kaff in San Diego County, welches außer einer Laufbahn auf dem nahen Militärstützpunkt oder als Football-Nachwuchs kaum Aufstiegschancen für eine Person aus einer marginalisierten Gruppe bietet, erst recht nicht für eine weibliche (!). Ein ganz großartiger Roman, welchen ich vorbehaltlos für eine aufschlussreiche Lektüre empfehlen kann.

    5/5 Sterne
    Der Inselmann Dirk Gieselmann
    Der Inselmann (Buch)
    17.02.2023

    Von einer nebulösen Insel und einem heranwachsenden Jungen

    Dirk Gieselmann erschafft in seinem literarischen Debüt eine Welt der Natureindrücke in Verbindung mit teilweise selbstgewählter Einsamkeit, welches von poetischer Sprache gekennzeichnet ist und somit das Anliegen des Romans eher nebulös erscheinen lässt.

    Der kleine Hans zieht in einer wortwörtlichen Nacht-und-Nebel-Aktion mitten im Winter auf eine einsame Insel mitten in einem See. Dort will der Vater die Aufgabe des Schafhirten übernehmen und die ganze Familie muss mit anpacken. Örtlich und seitlich ist der Roman Ende der 50er, Anfang der 60er Jahre in der DDR und nun begleiten wir auf den nur 170 Seiten Hans auf seinem gesamten mitunter tragischen Lebensweg.

    Das erscheint viel für so ein dünnes Büchlein? Man könnte meinen der Roman sei sehr dicht geschrieben? Das ist aber leider nicht so. Der Autor spielt in seinem atmosphärischen Werk mit vielen Auslassungen und Umschreibungen. Mal ziehen Wochen, mal Jahrzehnte an den Lesenden und auch an Hans vorbei. Das Buch ist so atmosphärisch, dass man schon gar nicht mehr weiß wohin mit dieser ganzen Atmosphäre. Denn Hans‘ Geschichte wird auf so eine überladene Art und Weise poetisch erzählt, dass es einen schon zu erdrücken droht. Fast jeder Satz enthält ein Sprachbild. Fast jede Begebenheit muss eine Metapher angeheftet bekommen. Diese Bilder sind mal gelungen, mal weniger gelungen. Auf jeden Fall würden sie mehr strahlen, wenn sie nur vereinzelt hätten vorkommen dürfen und damit noch stärker hätten herausstechen können. Durch diese angewandte Sprachgewalt gehen die gelungenen Bilder aber meist unter und bleiben nicht hängen.

    Zeitweise hat man das Gefühl sich in einem Märchen, einer Sage zu befinden. Das wäre dann auch in Ordnung und man könnte das Buch dementsprechend einordnen. Aber dem Autor scheint es wichtig gewesen zu sein, immer wieder Brotkrumen bezüglich der zeitlich und örtlichen Einordnung in den Text einzuweben. So wirkt das Setting Anfang der 1960er Jahre im noch jungen Staate DDR hochinteressant. Man fragt sich, warum der Vater für seine Familie den Rückzug ins Innere dieses Landes wählt, statt der Flucht nach außen, wie es so viele Bürger dieser Zeit gewagt haben. Aber dieser gesamte Themenkomplex wird weder erklärt, noch wenigsten erneut im Laufe des Romans aufgegriffen. So scheint es letztlich vollkommen irrelevant zu sein, wo und wann sich diese Sage abgespielt hat. Übrigens ebenso nebulös und merkwürdig: Der Umzug auf die Insel wird beschrieben, als handle es sich um einen vollständigen Rückzug aus der Zivilisation. Es wird gesagt, der Schiffer käme erst im Frühjahr mit Proviant etc. wieder. Später wird klar, das Hans aber auch einfach täglich zum Ufer rudern und weiter in die Schule gehen kann. Wie im zu Beginn des Buches beschriebenen Nebel um die Insel herum verschwimmt die Handlung und es bleibt kaum eine Quintessenz übrig. Ich konnte für mich persönlich so gut wie nichts mitnehmen aus dem Roman.

    Den Figuren, allen voran Hans, blieb ich fast den gesamten Roman über fern. Erst in der zweiten Hälfte des Buches wurde mein Interesse an seinem persönlichen Schicksal geweckt. Das ist für mich einfach zu wenig, um über den Roman hinweg zu tragen. Und noch einmal: Dabei handelt es sich nur um ein 170-Seiten-Romänchen! Bezogen darauf, dass der Sprachstil Gieselmanns einfach nicht meins war, konnte ich jedoch froh sein, dass die Geschichte so kurz ist.

    Letztlich würde ich keinesfalls von einer Lektüre abraten, man sollte sich aber definitiv einen ersten Eindruck über die Leseprobe verschaffen und überlegen, ob man das wirklich gerne lesen mag. Da mich die zwar nicht immer stimmige Geschichte in der zweiten Hälfte etwas mehr mitreißen konnte, runde ich auf 3 Sterne auf und überlasse jedem sein eigenes Urteil über diesen Text.

    2,5/5 Sterne
    Liebes Arschloch Virginie Despentes
    Liebes Arschloch (Buch)
    09.02.2023

    Wenn eine Krise der nächsten den Rang abläuft

    „Liebes Arschloch, ich habe deinen Beitrag auf Insta gesehen. Du bist wie die Taube, die mir im Vorbeiflug auf die Schulter kackt.“ So beginnt die Replik einer mit fünfzig schon „alternden“, aber immer noch bekannten französischen Grand Dame des Schauspiels, Rebecca, auf den Post eines Mannes, der sie aus dem Nichts im Internet mit Tiefschlägen bezüglich ihres Aussehens diffamiert. Kein Wunder, dass sie da mal kurz die Contenance verliert. Nur hat es Rebecca sowie faustdick hinter den Ohren, wie man im Verlaufe dieses eindrücklichen Briefromans erfährt. Ihr Gegenüber ist Oscar, ein dreiundvierzigjähriger Schriftsteller, welcher sie noch aus seiner Kindheit kennt. Denn Rebecca war eine Zeit lang die beste Freundin von Oscars Schwester Corinne. Die Dritte und eher passive Teilnehmerin dieser illustren digitalen Runde ist Zoé, Ende Zwanzig und als radikale Feministin der jüngsten Generation in den sozialen Medien unterwegs. Zoé wurde vor einigen Jahren durch das aufdringliche Verhalten Oscars aus ihrer Stelle als Pressereferentin aus Oscars Verlag gekickt. Bevor die MeToo-Bewegung es Frauen ermöglichte, offen über Belästigungen und Machtmissbrauch am Arbeitsplatz zu reden. Mit einem Post auf ihrem Blog kommt nun ein Shitstorm ins Rollen, der nicht nur Oscar sondern auch von rechts außen Zoé zu überrollen droht.

    All dies und noch viel, viel mehr bekommen wir als Leser:innen des vorliegenden Briefromans nun über Bande mit. Über mehrere Monate hinweg begleiten wir vor allem Rebecca und Oscar bei ihrer rein digitalen Konversation. Potentielle Leser:innen, die vom harschen Beginn des Romans abgeschreckt werden könnten, kann man beruhigen: Keineswegs verfällt Despentes in eine vulgäre Sprache. Nein, sehr differenziert aber immer authentisch im Sprachstil werden große und wichtige Themen unserer Gegenwart angesprochen und diskutiert. Als Leser:in fühlt man sich dabei empathisch mal zu Rebecca, mal zu Zoé und tatsächlich auch mal zu Oscar hingezogen. Und gleichzeitig hat man das Gefühl von allen Protagonist:innen auch massiv abgestoßen zu werden. Mitunter vertreten sie krasse Standpunkte bezogen auf Feminismus, Drogenkonsum oder die Anti-Coronamaßnahmen, das Altern von Frauen vs. Männern und die damit verbundenen Ansprüche der Gesellschaft an sie.

    Nun nutzt die Autorin die Form des Briefromans ganz geschickt, um viele verschiedene Sichtweisen auf einen Sachverhalt ins Rennen zu bringen. Aus vielen Blickwinkeln werden zentrale Themen der letzten Jahre (ausgenommen dem Ukraine-Krieg, welcher im zeitraum des Romanverlaufs noch nicht begonnen hatte) beleuchtet und als Lesende lernen wir unglaublich viel durch die Argumentationslinien der hier Schreibenden. Da sie aus jeweils unterschiedlichen Generationen stammen, treffen gegenteilige Ansichten aufeinander. Man selbst kann sich dann aussuchen, was einen überzeugt. Sehr viele kluge Beispiele zu problematischen gesellschaftlichen Entwicklungen werden von Despentes ins Feld geführt ohne über den gesamten Roman hinweg mit „der einen“ klaren Aussage moralinsauer auf die Rezipient:innen einwirken zu wollen.

    Punkte Abzug gibt es meinerseits nur für die recht platte Art, wie der Emailkontakt von der Autorin eingefädelt wird. Da fragt man sich zu Beginn doch, warum überhaupt diese Personen so ausführlich einander schreiben, wenn sie sich doch auf den ersten Blick außer Beleidigungen nicht viel zu sagen haben. Recht schnell wird es dann aber inhaltlich intensiv mit persönlichen Einblicken und Eingeständnissen der Protagonisten. Zusätzlich wirkt es dann recht offensichtlich konstruiert, dass hier scheinbar jeder jeden kennt. Diese Kritikpunkte treten aber hinter dem Großen und Ganzen zurück.

    Die Veränderungsfähigkeit der Figuren über diesen recht langen Zeitraum der Korrespondenz hinweg hat mit hingegen sehr gut gefallen und war auch sehr gut nachvollziehbar und plausibel erzählt. Diese Flexibilität und Plastizität wurde ja auch von uns verlangt in den letzten Jahren. Eine Krise, ein Skandal löste den nächsten ab. So konstatiert Rebecca an einer Stelle, als gerade das Coronavirus in Europa Einzug gehalten hat, gegenüber Oscar, der noch mitten in seinem Belästigungsskandal steckt: „Und in diesem Schlamassel denke ich an dich, mein dummer Freund. Und sage mir, du wirst erleichtert sein. Dieses verdammte Coronavirus wird deinem #MeToo den Rang ablaufen…“ Eine Krise läuft hier der vorherigen den Rang ab. Ja, genauso sahen unsere letzten Jahre aus auf der Welt.

    Virginie Despentes entwirft einen klugen Briefroman, der sprachlich wie auch inhaltlich überzeugt. Ich habe ihn sehr gern gelesen, während die Seiten nur so dahinflogen. Eine klare Leseempfehlung meinerseits.

    4/5 Sterne
    Macht Macht (Buch)
    30.01.2023

    Ein kleiner, aber mächtiger Roman

    In diesem Roman der norwegischen Schriftstellerin und Fotografin dreht sich alles um Macht. Aber eben nicht um politische Macht, sondern um die Macht über den eigenen Körper. Denn die namenlose Ich-Erzählerin hat vor 15 Jahren eine Vergewaltigung erleben müssen und kämpft seitdem um diese Macht, nachdem sie sie an einem Abend komplett verloren hatte.

    Mit lakonischer Sprache schildert uns die Erzählerin ihre aktuelle Lebenswelt. Sie ist Krankenpflegerin, verheiratet und hat zwei Kinder, einen Jungen und ein Mädchen, ist mittlerweile gut situiert. Diese finanzielle Unabhängigkeit nutzt sie, um durch luxuriöse Kleidung sowie teure Pflege- und Kosmetikprodukte ihren Körper nach den eigenen Vorstellungen formen zu können. Alles muss perfekt sein. Oder zumindest so scheinen. Denn sie meint auf der Straße anderen Frauen ansehen zu können, ob sie in ihrem Leben auch schon vergewaltigt worden sind. Eine von zehn Frauen in Norwegen hat diese Erfahrung machen müssen. Nun möchte Sie mit aller Macht die Kontrolle über ihren Körper zurück, hätte sie am liebsten nie abgegeben.

    Anhand kleinster, alltäglicher Situationen macht Furre deutlich, wie sich die Vergewaltigung ganz ohne Verfallsdatum noch viele Jahre nach dem Vorfall auf das Leben ihrer Protagonistin auswirkt. Der Gang zur Zahnärztin, das damit verbundene an die Decke starren und warten, dass es endlich vorbei ist. Einmal Angst gehabt zu haben, durch die Hand eines Mannes zu sterben und nun jede Nacht neben einem solchen im Ehebett zu liegen. Ständig der Bedrohung einen Schritt voraus sein zu wollen, ob beim Weg nachhause vom Bus oder bei der Krebsvorsorge. Immer die Kontrolle, die Macht behalten. „Ich bügele meine Blusen und reinige meine Haut. Das ist mein Überlebensmodus.“

    Der eigentliche Akt der Vergewaltigung wird dabei nicht detailliert von Furre geschildert. Das braucht es nicht, um den Horror einer solchen Tat zu verdeutlichen. Dabei hadert die Protagonistin doch auch stark mit sich selbst. Zweifelt in Gedanken noch Jahre später an, ob es überhaupt „definitionsgemäß“ eine Vergewaltigung war, ob sie sich nicht hätte mehr wehren sollen, ob es nicht doch ihre eigene Schuld war. Ganz meisterhaft lotet die Autorin mithilfe der Gedanken ihrer Erzählerin aus, was in unzähligen #metoo-Debatten seit dem Herbst 2017 zur Sprache kam. Sie ermöglicht es dabei ihrer Erzählerin den Vorfall und die Konsequenzen aus verschiedenen Blickwinkeln zu sehen. Wobei uns Leser:innen durchaus bewusst wird, dass diese Abwägungen für die Erzählerin mitunter eher Vermeidungsstrategien darstellen und sie in ihrer Heilung behindern. Sie berichtet uns von ihren mal mehr, mal weniger adäquaten Bewältigungsstrategien und wir dürfen sie ein Stück auf ihrem Weg der Bewältigung begleiten.

    Sprachlich ist der Roman sehr nüchtern aber dadurch auch immer unglaublich präzise formuliert. Auf den nur 170 Seiten finden sich unzählige prägnante Sätze, die lange nachhallen. Ebenso wie die ganze Geschichte dieses Romans, oder besser: dieser Frau. Denn es ist leider die Geschichte von so vielen Frauen (und weniger, aber auch Männern). Jede Person hat eigene Bewältigungsstrategien, hier bekommen wir eine Auswahl davon zu lesen. Das ist unglaublich aufschlussreich und einprägsam. Und letztlich vielleicht sogar aufgrund der lakonischen Sprache besonders erschütternd.

    Auch wenn die Autorin zum Ende hin ein wenig diese knackige Art der Beschreibungen aus den Augen verliert, finde ich den Roman einfach nur großartig. Dünn aber ungemein gehaltvoll, weshalb ich die Lektüre dieses Buches nur dringend empfehlen kann.

    Zum Abschluss noch ein Wort zur Gestaltung des Buches. Die Covergestaltung ist wirklich überwältigend treffend in seiner Mehrdeutigkeit. Erwähnenswert sind aber auch die beiden Fotografien auf dem Vor- und Nachsatz. Diese stammen von der Künstlerin Niki de Saint Phalle aus dem Jahre 1961. Eine Künstlerin, die sich Zeit ihres Lebens mit den Folgen einer Vergewaltigung auseinandergesetzt hat. Und sie spielt auch eine gewisse Rolle für die Erzählerin, sodass bei dieser Ausgabe des DuMont Buchverlags wirklich von vorn bis hinten alles durchdacht gestaltet wurde. Toll!

    4,5/5 Sterne
    Sibir Sabrina Janesch
    Sibir (Buch)
    29.01.2023

    Interessanter familienbiografischer Roman auf Deutsch - Russisch - Kasachisch

    Sabrina Janesch, selbst Tochter einer polnischen Mutter und eines Vaters, der – ebenso wie der Protagonist ihres Romans, Josef – als Kind mit seiner Familie aus dem Wartheland in die Steppe Kasachstans verschleppt wurde, führt im vorliegenden Roman familienbiografische Hintergründe und Recherchen zu einem spannenden Porträt einer Familie über Generationen hinweg zusammen.

    Josef ist zehn Jahre alt, als er 1945 mit seiner in Galizien (Ukraine) angesiedelten, deutschstämmigen Familie bestehend aus seinem Bruder, seiner Mutter, der Tante und den Großeltern von russischen Soldaten nach Sibirien verschleppt wird. In die BRD kommt die Familie zehn Jahre später durch Verhandlungen von Bundeskanzler Adenauer mit weiteren zehntausenden Kriegsgefangenen – hauptsächlich Soldaten. Bekannt sind die Geschichten von Wehrmachtssoldaten, die in die russischen Gulags für viele Jahre verschwanden und in stark reduzierter Anzahl erst Jahre später freikamen. Von sogenannten „Zivilverschleppten“ hörte man bisher jedoch nur wenig. Als Vergeltung für Taten Nazideutschlands im Krieg wurden deutsche Zivilisten, die in östlichen Gebieten lebten, u.a. in die kasachische Steppe zum Arbeitsdienst verschleppt.

    Josefs Geschichte lesen wir nun nur deshalb, weil seine Tochter Leila beginnt seine im Alter von über 80 Jahren schwindenden Erinnerungen aufzuschreiben. So gelingt der Einstieg in diesen Roman und überraschenderweise bleibt die Erzählung fortan jedoch nicht nur im Jahre 1945/46 in der kasachischen Steppe sondern springt im Verlauf des Buches zeitlich und örtlich immer wieder ins Jahr 1990/91, als die Sowjetunion zusammenbrach und erneut deutschstämmige Menschen, sog. „Russlanddeutsche“ in die BRD übersiedelten. Hier begleiten wir nun Leila, in etwa im selben Alter nun wie damals ihr Vater Josef, als er verschleppt wurde. So erfahren wir nicht nur etwas über das Leben des kleinen Josefs in der „Gelber-Rücken-Steppe“, Sary Arka, und seiner Freundschaft mit dem kasachischen Jungen Tachawi, sondern auch über das Leben des erwachsenen Josef sowie seiner Tochter Leila und ihrer Freundschaft zu Arnold, einem Jungen mit ähnlicher Familiengeschichte, und Pascha, dem Sohn einer Spätaussiedler-Familie.

    Durch diesen geschickten Schachzug der Gegenüberstellung zweier Kindheiten fächert die Autorin die Familiendynamiken unter unterschiedlichen Vorzeichen auf und bringt uns Lesenden gleich zwei historische Phänomene näher. Das ist psychologisch wie auch sprachlich sehr gut umgesetzt. Mithilfe weniger Sätze baut sie die Atmosphäre der einen und der anderen Lebenswelt in unserem Kopf auf und zieht uns in diese aufregende Familiengeschichte hinein. Besonders die Beschreibungen um die durch die Sowjets zusammengewürfelte Dorfgemeinschaft Nowa Karlowka in Kasachstan überzeugen ohne Abstriche. Sie schreibt:

    „Erst wesentlich später wurde ihm klar, dass die Tscherkessen, Armenier, Ukrainer, Polen, Esten, Finnen, Tschetschenen, Koreaner und Kalmücken, die in Nowa Karlowka lebten, schon vor Jahren aus allen möglichen und unmöglichen Ecken des sowjetischen Imperiums zusammengetrieben worden waren und in die Steppe geschafft. Nichts davon war freiwillig geschehen, die bunte Dorfgemeinschaft war brutal erzwungen, und sie alle, alle waren Gefangene, zurückgehalten nicht von Mauern, sondern von Leere.“

    Dieser kulturellen und sprachlichen Mischung verleiht die Autorin gekonnt Ausdruck, indem sie immer wieder Vokabeln, welche an der Stelle des Buches für die Geschichte wichtig sind, in den drei Sprachen Deutsch, Russisch und Kasachisch auftauchen lässt. Denn Josef ist es verboten Deutsch zu sprechen, er will die Sprache aber nicht vergessen, in Russisch muss er sich im Dorf ausdrücken und mit seinem Freund Tachawi kann er sich nur auf Kasachisch verständigen.

    Zugegebenermaßen empfand ich den Erzählstrang in der Steppe um den jungen Josef über die Länge des Buches hinweg ein wenig interessanter als der um 1990/91. Auch wenn ich die literarische Entscheidung der Autorin, jeweils nur etwa ein Jahr aus dem Leben der jeweils etwa zehnjährigen Kinder Josef und auch Leila zu erzählen, sehr gut nachvollziehen kann, so hätte ich mir doch noch mehr und Weiterführendes aus Josefs Kindheit und Jugend erhofft. Zuletzt tauchen im Erzählstrang 1990/91 außerdem ein paar zu viele Handlungswendungen auf und machen diesen ein wenig zu wuselig. Das Ende des Buches ist dann wieder erfrischend und konnte mich überzeugen.

    Insgesamt handelt es sich bei „Sibir“ als um ein äußerst lesenswertes Buch, welches ich allen Interessierten ans Herz legen möchte. Da die Autorin ja bereits in der Vergangenheit literarisch ihre Familiengeschichte aufgearbeitet hat, bleibt noch die kleine Hoffnung erhalten, dass wir doch noch einmal zur Figur „Josef“ in einem Roman zurückkehren können, um mehr über seine Jugend und junges Erwachsenenalter zu erfahren.

    4,5/5 Sterne
    Baby Jane Sofi Oksanen
    Baby Jane (Buch)
    20.01.2023

    „Von den falschen Taten die allerfalschesten.“

    Mit „Baby Jane“ erscheint dieser Tage der zweite Roman der finnisch-estnischen Autorin Sofi Oksanen, ins Deutsche übersetzt von Angela Plöger. Dieser 2005 erstmals auf Finnisch erschienene Roman enthält bereits alle Bestandteile späterer Werke der Autorin. Es geht um die toxische Beziehung eines lesbischen Paares, verwebt darin das Leben mit und den sozialen Abstieg aufgrund von psychischen Erkrankungen, wirft einen Blick auf den Broterwerb im Zwielicht der Gesellschaft und verortet das Ganze in der Homosexuellenszene Helsinkis.

    Wie auch schon in ihrem aktuellstem Werk „Hundepark“ erfahren wir gleich zu Beginn, in welchem Zeitraum sich die Romanhandlung abspielen wird. So legt die Autorin die Handlung von 1995 bis 2005 an. Die Ich-Erzählerin berichtet uns von ihrem Ankommen in der Gay Szene Helsinkis Mitte der 1990er Jahre. Dort initiiert wird sie durch die burschikose Piki. Eine Beschützerin, die die sehr feminine Erzählerin aufnimmt und mit Haut und Haaren in eine leidenschaftliche, lesbische Beziehung umschließt. Doch das Glück beginnt nach und nach zu bröckeln. Durch einen Zeitsprung nach nur wenigen Seiten des Buches ans Ende des genannten Zeitraums erfahren wir, dass diese Liebesbeziehung nicht gut ausgehen wird.

    Oksanen nimmt uns ganz selbstverständlich mit in die lesbische Beziehung der beiden Protagonistinnen, führt uns ein in die Szene Helsinkis, die noch halb in verborgenen Nachtclubs stattfindet und mit den Ausläufern der AIDS-Epidemie zu kämpfen hat. Sie hebt das Tabu um die Beschreibung lesbischer Sexualität auf und beschreibt intensiv die erste, leidenschaftlich-sexuelle Phase der Liebesbeziehung. Und genauso ungeschönt bewegen sich die Frauen auf eine Katastrophe zu und wir erkennen nach und nach die toxischen Anteile der Beziehung. Denn die Ich-Erzählerin, selbst an Depressionen erkrankt, erfährt nicht nur immer mehr über die stark einschränkenden psychischen Erkrankungen ihrer Geliebten und verstrickt sich in (Co-)Abhängigkeiten zu ihr, sondern findet sie auch heraus, dass eine längst verflossene Ex-Freundin Pikis, Bossa, ebenso in einer Abhängigkeit zu Piki steht und sie durch Aufrechterhaltung wiederum einer Abhängigkeit von Piki zu ihr ein gefährliches Beziehungsgeflecht heraufbeschwört. Immer stärker gewinnt die Phrase „Leidenschaft, die Leiden schafft“ hier an Bedeutung und lässt bei den Leser:innen schlimme Vorahnungen aufkommen. Es ist dabei hervorzuheben, dass die Autorin nicht einem Narrativ folgt, indem nur eine Person in der Beziehung zu deren Untergang beiträgt, sondern alle Beteiligten Fehler machen. So sagt die Erzählerin über sich selbst an einer Stelle, die habe „von den falschen Taten die allerfalschesten“ begangen. Das Aufschlüsseln dieser Beziehungsdynamiken und der entsprechenden Mechanismen gelingt der Autorin einfach ganz hervorragend.

    Besonders eindrücklich schafft es Oksanen - mal wieder - sehr gut recherchierte, gesellschaftliche Themen in den Romanplot einfließen zu lassen, ohne dass es belehrend wirkt. So erfahren die Lesenden sehr viel über psychische Erkrankungen, deren Behandlung und der, wenn nicht genügend finanzielle Ressourcen vorhanden sind, soziale Abstieg, der damit in Verbindung stehen kann. Somit verbindet sie nicht nur den Themenbereich „class“ mit psychischer Gesundheit sondern auch sexueller Orientierung. So müssen sich die Protagonistinnen einen Broterwerb (rund um sexuelle Fetische) im Zwielicht der Gesellschaft suchen, ein Themenkomplex, der immer wieder in den Werken Oksanens eine Rolle spielt. So packt sie nicht einfach nur aktuelle Problemthemen in einen Roman und erwähnt diese Probleme nur am Rande, um sie in den Ring zu werfen und en vogue zu sein. Nein, sie verhandelt ausgesuchte Bereiche, die wie oben bereits erwähnt, sehr ausführlich und gut recherchiert sind. So ist dieser Roman nicht nur erzählerisch interessant sondern auf jeden Fall ebenso intellektuell anregend.

    Sprachlich geht die Autorin gewohnt schonungslos und rasant vor. Sie nimmt kein Blatt vor den Mund und das muss man mögen. Ich mag ihre Sprache, in der tollen Übersetzung von Angela Plöger, ebenso sehr, wie den Aufbau des Romans mit seinem zu Beginn angedeutetem Unheil, welches aber en detail erst ganz zum Schluss zutage gefördert wird und überrascht. So avanciert der Roman zu einem echten Pageturner mit Niveau. Ich wurde in die Geschichte dieser Frauen, die nicht mit aber auch nicht ohne einander sein können, hineingezogen und habe entsprechend das Buch kaum weglegen können. Wegen mir hätte der Roman gern den Umfang von „Hundepark“ haben können. So bleibt es aber ein kleiner, rasant erzählter Roman, der mich trotzdem vollkommen überzeugt hat vom schriftstellerischen Können der Autorin.

    Wer also den Sprung in eine ungemütliche, schonungslose und gleichzeitig literarisch ansprechende Geschichte wagen möchte, dem empfehle ich diesen Roman aus dem Frühwerk von Sofi Oksanen sehr. Ein kleines Highlight in diesem noch jungen Jahr 2023.

    5/5 Sterne
    Die geheimste Erinnerung der Menschen Mohamed Mbougar Sarr
    Die geheimste Erinnerung der Menschen (Buch)
    24.12.2022

    Das Labyrinth des Mohamed Mbougar Sarr

    Würde man sich eine Konzeptzeichnung zum Roman „Die geheimste Erinnerung der Menschen“ von oben anschauen, sähe sie wahrscheinlich aus wie ein Labyrinth. Ein Labyrinth der Literatur, der Leser:innen, der Kritiker:innen und der Autor:innen. Mit unendlich vielen Verschachtelungen, denen man auf den ersten, schnellen Blick nicht folgen könnte. Nur eine behutsame Herangehensweise und aufmerksames Betrachten würde das Unübersichtliche sichtbar und durchschaubar machen. Für die Lektüre dieses Romans begibt man sich zu Beginn in dieses Labyrinth, ohne dass man weiß, dass es eines ist. Am Ende kommt man auch wieder nach draußen. Man tritt aus dem Labyrinth und hätte niemals erwartet, dass man an dieser Stelle rauskommt und man kaum glauben, was man in der Zwischenzeit alles gesehen hat.

    Man begibt sich zunächst mit Diégane, einem jungen mittelmäßig erfolgreichen Autor aus dem Senegal, der in Paris lebt, auf die Suche nach dessen Idol, T. C. Elimane. Einen sagenumwobenen, aber auch mittlerweile vergessenen Autor aus dem Senegal, der in 1938 in Paris das einzige Buch seiner Karriere veröffentlichte, dann von der Bildfläche verschwand und sein Buch gleich mit. Allerdings bleiben wir nicht bei Diégane, denn in diesem Roman von Mohames Mbougar Sarr kommen viele Menschen zu Wort und tragen einen kleinen Teil zum Labyrinth dieser Geschichte bei.

    Dabei ist dies keinesfalls ein einfacher, plotgetriebener Roman. Die Bezeichnung des Verlags, es handle sich unter anderem um eine „soghafte Kriminalgeschichte“, ist meines Erachtens irreführend. Soghaft: auf jeden Fall. Kriminalgeschichte: nein. Es ist vielmehr eine Geschichte über die Rezeption von Literatur und im Speziellen die Rezeption von Literatur aus Afrika. Die Wahrnehmung von Schriftsteller:innen aus afrikanischen Ländern, die im sogenannten „Mutterland“, dem Land, welches sie ehemals kolonialisierte, Gehör und Anerkennung finden wollen. Dabei geht Sarr durchaus stark (selbst-)ironisch mit sich und dem Literaturbetrieb um. Er legt mitunter satirisch aber auch knallhart und ehrlich den Finger in vergangene und immer noch vorhandene Wunden durch den Kolonialismus. „Die Kolonisation sät bei den Kolonisierten Verzweiflung, Tod, Chaos. Doch sie sät in ihnen auch – und das ist ihr teuflischer Erfolg – den Wunsch zu werden, was sie zerstört.“ (S.406)

    Stilistisch schafft dies Sarr auf grandiose Weise. Denn Prämissen, die inhaltlich benannt werden, werden stilistisch in die sehr unterschiedlich geschriebenen Textpassagen überführt. Nach dem recht bildungssprachlich überladen, hochtrabenden Einstieg ins Buch (wovon man sich nicht abschrecken lassen sollte), wird uns dieses Stilmittel an anderer Stelle versteckt angekündigt bzw. erklärt. So wird in einer im Buch eingebauten Kritik geschrieben: „Schade, dass ein offenkundig begabter Autor es vorgezogen hat, sich in sinnlosen Stilübungen zu ergehen und hinter Bildungsbeflissenheit abzuschotten, anstatt uns etwas wiederzugeben, was uns viel mehr interessiert hätte: den Pulsschlag eines Kontinents“ (S.93). Sarr spielt hier gekonnt mit den Erwartungen seiner (europäischen) Leser:innen und hebelt damit das aus, was noch heute häufig in der Wahrnehmung und Bewertung von Literatur vom afrikanischen Kontinent falsch läuft. Diese vielen Hinweise und mitunter gut versteckte Auseinandersetzungen mit diesem Thema waren für mich das zentrale Themengebiet des Romans und haben mich vollends vom meisterhaften Können des Autors überzeugt.

    Eine andere Stelle verdeutlicht die Vielstimmigkeit und Komplexität des vorliegenden Romans. So wird gesagt auf S. 130: „In einer Erzählung befinden wir uns immer – aber vielleicht, allgemeiner, auch zu jedem Zeitpunkt unserer Existenz – zwischen den Stimmen und den Orten, zwischen Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft.“ Man kann bei der Lektüre durchaus mal kurzzeitig den Überblick verlieren, wer hier eigentlich wann wem was erzählt. Aber man findet sich wieder hinein in den Text und wird belohnt mit augenöffnenden Erkenntnissen, die ich nicht mehr missen möchte. Wie der Autor die inhaltlichen und sprachlichen Ebenen miteinander verwebt ist wirklich großartig. Sarr gibt nie "die eine Antwort", sondern bietet durch seine verschiedenen Protagonist:innen verschiedene Lebenswege und Möglichkeiten der Deutung an. Dabei „war der sagenumwobene Autor T. C. Elimane in dieser ganzen Geschichte immer abwesend, ungreifbar gewesen.“(S.417) Auch dies ein Zitat aus dem Text, auch hier weißt uns Sarr daraufhin, dass sein gesamter Roman durchkonzipiert ist und nichts zufällig passiert.

    Abschließend ist noch diese Idee aus dem Roman für mich herauszustellen: "Es könnte sein, dass jeder Schriftsteller nur ein grundlegendes Buch in sich trägt, ein grundlegendes Werk, das er zwischen zwei Leerstellen schreiben muss." Also ich persönlich hoffe sehr, dass es nicht so ist, und dass Mohamed Mbougar Sarr mit seinen jungen 32 Jahren noch nicht "das eine grundlegende Buch" abgeliefert hat, sondern noch viele weitere, interessante Romane veröffentlichen wird. Ich bin ab jetzt eine begeisterte Leserin seiner (hoffentlich) noch kommenden, ebenso spannenden und intellektuell anregenden Werke.

    5/5 Sterne
    Es kann nur eine geben Carolin Kebekus
    Es kann nur eine geben (Buch)
    11.12.2022

    Spaß beiseite: Die Sache ist ernst!

    Die deutschlandweit bekannte Comedienne Carolin Kebekus hat ein Buch geschrieben – zusammen mit Mariella Tripke. Ist das also ein weiteres Buch, welches einfach nur die Comedy von der Bühne zwischen zwei Buchdeckel holt, aber eigentlich nichts Neues zu bieten hat? Nein, überhaupt nicht. Denkt man auf den ersten Seiten noch bei der ein oder anderen flapsigen Bemerkung, oh oh, da kommt jetzt viel Klamauk, steht dies in keinster Weise für den Inhalt des gesamten Buches.

    Carolin Kebekus beschäftigt sich äußerst breit gefächert und tiefgründig mit dem Thema der Benachteiligung von Frauen in unserer Gesellschaft sowie den Weg zur Chancengleichheit in ebendieser. Dazu beschreibt sie zunächst das Bild von Frauen in der alten sowie der neueren Geschichte. So kann in ersterem Kapitel es um die Darstellung von Frauenfiguren in der Bibel gehen und in zweiterem um Frauen in Film und Fernsehen. Sie erörtert die historisch evozierten Rivalitäten zwischen Frauen und warum u.a. dies sie daran hindert, zusammen doch viel stärker zu sein. Nach einer durchweg quellenbasierten Herleitung inwiefern wir immer noch in einem handfesten Patriarchat leben und Frauenhass an der Tagesordnung ist (siehe Gewalt in Partnerschaften und Femizide), ruft sie zur Frauensolidarität und Lösungen, ganz ohne den im Zusammenhang mit dem Feminismus oft fälschlicherweise vermuteten „Hass auf alle Männer“, auf.

    Dabei bewegt sich Kebekus ausdrücklich in Themenbereichen, über die sie auch etwas zu sagen hat. Es geht ihr nicht darum einen globalen Vergleich von Frauenrechten, Chancengleichheit, Gewalt gegen Frauen usw. zu ziehen. Wir bleiben mit diesem Sachbuch in Deutschland, hier gibt es noch genügend Bereiche, die einer oder mehreren Verbesserungen bedürfen.

    Natürlich lässt Carolin Kebekus den Spaß in ihrem Buch nicht gänzlich beiseite. Häufig unterfüttert sie ihre Thesen mit lässig, witzigen Kommentaren und Beispielen. Das macht einfach Spaß zu lesen, keine Frage. Aber es ist wichtig dieses Buch nicht als ein Comedy-Buch zu unterschätzen. Hinter den Inhalten stecken knallharte Recherchen sowie 135 im Anhang befindliche Quellenangaben. Auch wenn durchaus das ein oder andere Mal ein persönliches Beispiel zur Verdeutlichung genutzt wird, bleibt dies ein wissenschaftlich korrektes Sachbuch. Gerade diese Verquickung gelingt der Autorin wirklich meisterhaft. Während ich viel gelernt habe, konnte ich auch häufiger schmunzeln, ohne dass der Ernst der Sache jemals in den Hintergrund getreten ist. Erfrischend lebhaft und gleichzeitig knallhart präsentiert die Autorin ihre feministische Bestandsaufnahme und macht dieses Buch damit zu einem wahren Lesegenuss.

    Von mir gibt es dafür eine klare Leseempfehlung. Meines Erachtens macht sich das Buch auch super als Geschenk für Interessierte, die einen leichten Einstieg in den Themenbereich suchen.

    5/5 Sterne
    Zweckfreie Kuchenanwendungen Yeoh Jo-Ann
    Zweckfreie Kuchenanwendungen (Buch)
    18.11.2022

    Ein warmherziger Roman mit Tiefgang

    Wer dieses wunderbar gestaltete Buch des Kröner Verlags in die Hand nimmt und zum Lesen aufschlägt, kann sich zweier Dinge sicher sein: Dass man währenddessen ständig Appetit bekommen wird und dass man das Buch nicht mehr aus der Hand legen möchte, bis man es bis zur letzten Seite inklusive jeder Anmerkung eingesogen hat. Oder sollte ich besser sagen, weg gefuttert hat?

    Die Singapurische Autorin Yeoh Jo-Ann erschafft in ihrem ersten Roman eine Welt, die die Lesenden fasziniert, überrascht aber vor allem warm hält. Zunächst bekommen wir den grummeligen Sukhin vorgestellt, welcher als 35jähriger Lehrer irgendwie mit sich und der Welt unzufrieden zu sein scheint. Dem tut er manchmal offen verbal, meist aber nur gedanklich kund und wirkt dadurch unwillkürlich in seiner Grantigkeit urkomisch. Schnell schließt man diesen Menschen ins Herz, wie eigentlich jede andere Figur auch in Yeoh Jo-Anns Roman. Die Handlung der Geschichte kommt ins Rollen, als Sukhin vollbeladen mit Schnickschnack für das Chinesische Neujahrsfest quasi in die Wohnung seiner ehemaligen Schulfreundin und großen Liebe Jinn hineintrampelt. Diese besteht nämlich aus einem Haufen Kartons, da Jinn auf der Straße lebt.

    Aus dieser schicksalhaften Begegnung entspinnt sich nun eine über einen längeren Zeitraum hinweg erzählte Geschichte, die sich keineswegs nur um Sukhin und die zaghafte Wiederannäherung an Jinn dreht, sondern ebenso um Themen wie Homosexualität in Singapur, die Ressourcenverschwendung in einer heutigen, modernen Gesellschaft, der Zusammenhalt von Familie oder der selbstgewählten Familie. Mit sehr viel Feingefühl nähert sich die Autorin ihren Figuren durch Rückblicke an und kann dadurch diese facettenreich und wandlungsfähig darstellen. Tiefsinnig beschäftigt sie sich dabei mit ihren Figuren und deren Beziehungen untereinander wie auch den ausgesuchten gesellschaftlichen Themen. Nie wirkt der Roman dabei überfrachtet, immer leicht zu lesen und ausgeglichen. Allein die Darstellung der (offiziell in Singapur nicht vorhandenen) Obdachlosigkeit sowohl selbstgewählt bei Jinn als auch bei anderen auftauchenden Menschen, die auf der Straße leben, erschien mir bisweilen ein klein wenig zu unproblematisch.

    Sprachlich besticht der Text durch seinen auflockernden, trockenen und immer ins Schwarze treffenden Humor. So häufig musste ich während der Lektüre schmunzeln, um seiner wahren aber nie zynischen Einschübe. Den Roman außergewöhnlich machen sporadisch eingefügte, kursiv gesetzte Texteinschübe, in welche eine gewisse Melancholie, die man in der Haupthandlung sonst nicht findet, beinhalten und sich sukzessive in das Wissen, welches man während der Lektüre erwirbt, einweben. Diese Passagen muten im Rahmen des ansonsten eher süffig geschriebenen Romans besonders poetisch an und entwickeln ihren ganz eigenen Sog, der einen großen Anteil am Spannungsbogen des Buches hat.

    Dieser amüsante, einfühlsame, literarische Unterhaltungsroman verströmt meines Erachtens mit jeder Pore die Atmosphäre, die vergleichbar in der deutschsprachigen Literaturwelt Mariana Leky in ihren Romanen um interessante, liebenswerte Charakterköpfe, die vor ihren ganz eigenen Problemen und den Problemen der Welt stehen und gemeinsam irgendwie einen Weg durch die schweren Zeiten finden, heraufbeschwört. Für mich wäre „Zweckfreie Kuchenanwendungen“ ein guter Anwärter auf den Preis „Lieblingsbuch der Unabhängigen“. Eins meiner Lieblingsbücher des Jahres 2022 ist es schon jetzt geworden. Also lest dieses wunderbare Buch und lernt den multikulturellen Stadtstaat Singapur, seine Einwohner und gleich mit den Verlag Kröner kennen! Denn dieser hat nicht nur ein schön anzusehendes Buch entworfen, sondern auch noch für eine großartige Übersetzung durch Gabriele Heafs und deren Anmerkungen zum Text gesorgt.

    4,5/5 Sterne
    Wie rote Erde Tara June Winch
    Wie rote Erde (Buch)
    06.11.2022

    Eindrückliches Werk über die Unterdrückung der Indigenen Bevölkerung Australiens

    Bis zur Lektüre von „Wie rote Erde“ war das Narrativ, welches ich zu den sog. „Aborigines“ und Australien allgemein folgendes: Irgendwann im 18.Jh. wurde Australien nach der „Entdeckung“ durch James Cook zur Strafinsel gemacht, darauf bildeten sich erste Siedlungen und die australischen Ureinwohner wurden „lediglich“ regional ins Landesinnere verdrängt. Irgendwie bekam Australien immer ein edles Bild in meinem Kopf, mir kam nicht der Gedanke, dass mit den First Nations of Australia genauso umgegangen wurde, wie mit anderen Bevölkerungen kolonisierter Kontinente. Natürlich ein fataler Irrglaube!

    Der vorliegende Roman von Tara June Finch, einer Wiradjuri-Autorin, deren Vorfahren - und somit auch sie selbst - zur Indigenen Bevölkerung im zentralen New South Wales gehören, ist diesbezüglich mehr als augenöffnend. Mithilfe von drei Erzählebenen berichtet die Autorin von den Folgen, die eine Kolonialherrschaft auf die 50.000 Jahre alte Zivilisation eines Kontinents und deren wenige verbleibenden Mitglieder hat. So geht es auf der Handlungsebene um August Gondiwindi, welche nach einer zehnjährigen Abwesenheit in Großbritannien aufgrund des Todes ihres Großvaters Albert und dessen anstehender Beerdigung wieder an den Ort ihres Aufwachsens, die Farm „Prosperous House“ in einer fiktiven Region Australiens, zurückkehrt. Das heruntergekommene Anwesen, in dem noch immer ihre Großmutter lebt, wird durch ein Zinnabbauunternehmen gefährdet, denn Aboriginals (der etwas weniger kolonial belastete Begriff für früher sog. „Aborigines“) haben keinen rechtsgültigen Anspruch auf Grund und Boden, wenn sie nicht nachweisen können, dass seit Beginn der europäischen Kolonisierung eine ständige Verbindung zum beanspruchten Gebiet aufrechterhalten wurde, z.B. durch kulturelle Praktiken. Aber es haben in der Vergangenheit die europäischen Siedler „natürlich“ (muss man leider sagen) durch grausame Vorgehensweisen dafür gesorgt, dass die Kultur der Aboriginals fast vollkommen vernichtet wurde. Davon erfahren wir durch die beiden anderen Erzählebenen des Romans, denn Augusts Großvater hat kurz vor seinem Tod an einem Wörterbuch mit Begriffen aus der Sprache seines Volkes gearbeitet. Auszüge dieses Wörterbuchs werden immer wieder abwechselnd zu Kapiteln, in denen es um August geht, in den Text eingestreut. Dabei handelt es sich nicht um reine Übersetzungen, sondern um eine Geschichts- und Anekdotensammlung. Albert hat also nicht nur historische Geschehnisse anhand der zu übersetzenden Wörter festgehalten, sondern auch eigene Erlebnisse aus seinem Leben. So zeigt sich ein zunehmend grausames Bild der Herrschaft über die seit tausenden von Jahren auf dem Kontinent und dazugehörigen Inseln lebenden Menschen. Bis in die 1970er Jahre hinein wurden systematisch Kinder in Umerziehungslager gesteckt und zu z.B. Haushaltshilfen erzogen, die dann faktisch als Sklaven gehalten werden konnten. Man wähnt einen Lichtblick auf der dritten Erzählebene zu erkennen, auf welcher ein Brief in mehreren Fortsetzungen zitiert wird, der von einem deutschen, protestantischen Missionar 1915 verfasst wurde. Dieser Pastor gründete die Mission, aus der später Prosperous House entstanden ist. Er beschreibt sich selbst als den Indigenen Menschen offen und mildtätig gegenüber; er habe immer nur das Beste für sie gewollt, indem er sie in die Mission aufnahm, vor den Weißen beschützte und ihnen Schulbildung zukommen ließ. Im Verlauf des Buches kommt man allerdings immer mehr ins Zweifeln, ob sein Handeln in letzter Konsequenz nicht auch zur fast vollständigen Auslöschung der Indigenen Sprache und Kulturtechniken geführt hat.

    Diese drei Erzählebenen verknüpft die Autorin wirklich unglaublich gekonnt ineinander, sodass der Spannungsbogen um die Geschichte der Gondiwindis immer straffer zum Ende hin zusammengezogen wird. Winch tappt bei ihrem Plot jedoch nie in die Falle des Kitsches. Steilvorlagen, die andere Autor:innen genutzt hätten, um billig die Emotionen der Leserschaft zu locken, umgeht die Autorin gekonnt, weiß durch Wendungen zu überraschen und dabei hoch informativ zu schreiben. Das wirkt niemals belehrend sondern stets eindrücklich wachrüttelnd. Atemlos verfolgt man die Geschichte um die Anerkennung der Indigenen Bevölkerung und deren Zivilisation noch bis in die aktuelle Gegenwart hinein. Dabei hinkt das Land Australien als Teil des Commonwealth der Zeit hinterher, ist es doch das einzige, das bis zum heutigen Tage kein Abkommen mit seinen Indigenen Bevölkerungsgruppen abgeschlossen hat! Stand doch bis vor wenigen Jahrzehnten noch über den Kinderheimen „Denk Weiß. Handle Weiß. Sei Weiß.“ und wurde dafür gesorgt, dass keine Sprache, kein Jagen, keine Zeremonien erhalten wurde, dass Aboriginals mit Didgeridoo in der Hand zum sauberen Werbebildchen für ein Touristenmagnet geworden sind, ohne eine tatsächliche Anerkennung ihrer Kultur zu erleben.

    Der Haymon Verlag hat wirklich eine herausragende Arbeit dadurch geleistet, diesen Roman durch eine sehr gute Übersetzung von Juliane Lochner sowie ein erhellendes Glossar im Anhang verständlich zu machen. Eine vollkommene Abrundung erhält das Buch durch das Nachwort der Autorin, die viele historischen und gesellschaftlichen Zusammenhänge nochmals verdeutlicht. Allein eine winzige Kritik muss ich an diesem ansonsten großartigen Buch üben: Es wäre hilfreich gewesen, wenn die Begriffe, die ganz hinten im Glossar stehen, im Romantext durch kleine hochgestellte Zahlen kenntlich gemacht worden wären. So wusste man nie, welcher Begriff nun im Anhang zu finden sein wird und welcher nicht. Ein Lesen der Erläuterungen direkt während der Romanlektüre finde ich immer als sinnvoller für das Verständnis als ein nachträgliches Lesen. Besonders loben möchte ich jedoch den Verlag für den feinfühligen Umgang mit der Triggerwarnung. Bereits unter dem Klappentext findet man den Hinweis auf Seite 375 (als auf der letzten Seite) befinde sich eine entsprechende Warnung. So hat man als potentielle:r Leser:in die Möglichkeit schon vor der Lektüre sich dessen bewusst zu sein und sich für oder gegen diese zu entscheiden. Schon häufiger habe ich diese Warnungen einfach so auf der letzten Seite vorgefunden, wenn das Kind schon potentiell in den Brunnen gefallen ist und man den Roman bereits zu Ende gelesen hat.

    Abschließend kann ich nur kurz und knapp zusammenfassen: Hierbei handelt es sich um ein erhellendes Lesehighlight zum Thema Kolonialismus und dessen Folgen in einer Region der Erde, die bisher diesbezüglich wenig bis gar nicht in Prosaform beleuchtet wurde. Ich kann dieses Buch nur allen Interessierten ans Herz legen. Man wird danach nie mehr dasselbe Bild von Australien haben, aber wer will schon mit einer beschönigten Geschichtsdarstellung leben?

    5/5 Sterne
    Miss Kim weiß Bescheid Cho Nam-Joo
    Miss Kim weiß Bescheid (Buch)
    25.09.2022

    Viele Geschichten - ein Schicksal

    Nach dem aufrüttelnden Roman „Kim Jiyoung, geboren 1982“, der die fest in der südkoreanischen Gesellschaft verankerte Misogynie anhand der Geschichte einer einzelnen, beispielhaften Frau zeichnete, ist nun die Autorin Cho Nam-Joo mit einem Kurzgeschichtenband zurück.

    Die acht Erzählungen haben erneut das Schicksal der Frauen und Mädchen in Südkorea zum Thema. Alle auf eine andere Weise, alle anhand von Frauen unterschiedlichstem Alters. In diesem Buch dreht die Autorin das Prinzip ihres oben genannten Romans um. Statt anhand der Geschichte einer Frau auf das Schicksal vieler Frauen zu extrapolieren, beschreiben in diesem Kurzgeschichtenband viele Geschichten ein Schicksal, nämlich das der Frauen in der südkoreanischen Gesellschaft. Und wie es auch schon dem Vorgängerroman gelang, dieses scheinbar speziell den genannten Kulturkreis betreffendes Problem auch für Leser:innen hiesiger Gefilde erfahrbar zu machen, so gelingt es auch dem vorliegenden Buch, durchaus Parallelen zu Frauenleben in jeder Gesellschaft, nicht nur der südkoreanischen, zu verdeutlichen.

    So gibt es natürlich auch anderswo auf der Welt die Zerrissenheit von Müttern zwischen der Kinderversorgung, der eigenen beruflichen Karriere und anderen eigenen Bedürfnissen. Ebenso sind Paarbeziehung, in welchen Frauen durch psychische Einflussnahme des Partners unterdrückt und eingesperrt werden, überall möglich. Oder man denke an die Frau aus einer Geschichte, die ihr Leben lang für ihr Kind, die Schwiegermutter, den Ehemann da war und nun mit 60 Jahren noch erstmals das Land verlassen, eine Reise unternehmen und die bisher nur von Fotos bekannten Polarlichter selbst sehen möchte. Cho Nam-Joo nutzt in ihren Geschichten eine Altersspanne für ihre Figuren zwischen dem Grundschulalter mit der ersten Liebe und dem hohen Alter um die 90 Jahre mit Demenz und kurz vor dem Tode stehenden Protagonistinnen.

    Wie beim Vorgängerroman trifft die Covergestaltung mal wieder ins Schwarze. So wird eine gesichtslose und damit austauschbare Frauengestalt gezeigt. In (wenn ich richtig aufgepasst habe) allen Geschichten kommt mindestens eine Frau Kim vor, und alle Protagonistinnen ein das Schicksal des weiblichen Geschlechts in einer Gesellschaft, die sehr stereotype Anforderungen an diese stellt. Mir gefällt die Kontinuität im Gesamtkonzept, die die Autorin durch ihre Geschichten und der Verlag durch die gestalterische Umsetzung hier an den Tag legen sehr gut.

    Wie es nun einmal fast immer bei Kurzgeschichtensammlungen der Fall ist, kann nicht jede Geschichte gleich starke Reaktionen bei den Lesenden aktivieren. Mir haben fünf der acht Geschichten ganz besonders gut gefallen und mit den restlichen drei konnte ich weniger anfangen. Insgesamt überzeugt jedoch Cho Nam-Joo wieder einmal durch ihr literarisches Können, noch mehr durch ihre erzählerische Kraft und nicht zuletzt mit der Verdeutlichung der thematisierten Problembereiche. Eine äußerst lesenswerte Lektüre mit viel Abwechslung, daher glatte 4 von 5 Sterne von mir für diese aufrüttelnden Geschichten.
    Die Kriegerin Helene Bukowski
    Die Kriegerin (Buch)
    10.09.2022

    Die (unglaublich authentische) Kriegerin

    In der deutschen Literaturwelt noch ein relativ unberührtes Thema aufzugreifen ist nicht so einfach. Zu fast allem ist schon vieles gesagt. Ein literarisch hochwertiger Roman über zwei Soldatinnen wirkt da regelrecht frisch und unverbraucht. Lisbeth hat ihre Grundausbildung bei der Bundeswehr vor vielen Jahren zusammen mit „Der Kriegerin“ absolviert. Die Kriegerin erhielt ihren Spitznamen in ebenjener Grundausbildung und behielt ihn seitdem. Während Lisbeth mittlerweile als Floristin arbeitet und gerade eben vor ihrem Leben in der Kleinfamilie mit Partner und Kleinkind geflohen ist, hat sich die Kriegerin für 12 Jahre verpflichtet und verbringt kaum ihre Zeit in Deutschland. Auf verschiedensten Auslandseinsätzen ist sie schon gewesen. Zuletzt ist es immer wieder Afghanistan, wohin sie geschickt wird. Nach vielen Jahren treffen sich nun die beiden zufällig im Winter an der Ostsee wieder und vertiefen eine zwischenzeitlich abgekühlte Freundschaft.

    Sehr langsam und bedächtig erzählt Bukowski davon, was sogenannte „friedenssichernde Auslandseinsätze“ mit den Soldaten und Soldatinnen psychologisch machen. Denn dieser Roman ist über einen längeren Zeitraum erzählt. Immer wieder in regelmäßigen Abständen treffen sich Lisbeth und Die Kriegerin wieder, immer mehr sieht man dem psychischen Veränderung Der Kriegerin zu und steht dem ebenso hilflos wie Lisbeth gegenüber. Lisbeth, die an Neurodermitis leidet, einer Erkrankung, die so stark wie kaum eine andere psychosomatisch ihre Spuren hinterlässt. Die eigenen aber auch die psychischen Belastungen anderer schreiben sich in die Haut von Lisbeth ein. Durch Rückblicke erfahren wir Stück für Stück, was mit Lisbeth über ihr Leben hinweg passierte, bis zu dem Punkt, an welchem sie ihre Familie verlassen hat. Der Ausgangspunkt des Romans. Gleichzeitig treibt die Autorin die Handlung um Die Kriegerin voran und lässt alles auf ein spannendes Finale hinauslaufen.

    Zwischendurch kommt es zu ein, zwei recht großen Zufällen, die den Plot vorantreiben und zum Schluss wird geht alles dann gefühlt sehr schnell. Mir hätte ein durchgängig ruhiger Erzählstil mit einem methodischen Freilegen der Vergangenheit und der Auswirkungen auf die Psyche der Personen in der Gegenwart etwas besser gefallen, als es dann letztlich die Autorin mit dem angezogenen Erzähltempo gelöst hat. Geschenkt.

    Das ist nur Gemecker auf hohem Niveau, denn insgesamt beleuchtet der Roman ein bisher übersehendes Themengebiet dermaßen authentisch und mitreißend, dass ich die volle Punktzahl dieser wichtigen Geschichte nicht vorenthalten will. Mich hat der Roman von Helene Bukowski gepackt und in eine emotionale Achterbahn gesteckt. Es ist gut, dass es Frauen in der Bundeswehr geben darf, und gleichzeitig bedarf es einer tiefgründigen Auseinandersetzung damit, was dies speziell zur Folge haben kann. Viele Eindrücke im Kampfeinsatz werden wohl bei allen Beteiligten eine ähnliche Wirkung haben, aber manche davon sind nun einmal spezifisch weiblich und sie gehören benannt. Umso besser, dass sich Bukowski nun damit beschäftigt.

    Meines Erachtens handelt es sich hierbei um ein definitiv empfehlenswertes, sehr gut recherchiertes Buch. Der Roman legt den Finger in verschiedene traumatische Wunden von Frauen, oder um im Koordinatensystem des Romans zu bleiben: er kratzt immer wieder die Wunden auf, die scheinbar in der (weiblichen) Menschheitsgeschichte nie verheilen und sich immer wieder entzünden.
    Schlangen im Garten Stefanie vor Schulte
    Schlangen im Garten (Buch)
    29.08.2022

    Fantastische Trauer?

    Ja, Trauer kann fantastisch sein. Und zwar nicht im Wortsinne von „super, spitze, mega“ für „fantastisch“ sondern im Sinne von „unwirklich, übernatürlich, märchenhaft“. Denn so sieht die Trauer der Familie Mohn im Roman „Schlangen im Garten“ von Stefanie vor Schulte aus, fantastisch.

    Johanne, die Mutter von Steve, Linne und Micha und Ehefrau von Adam ist gestorben. Als sei dieser Schicksalsschlag nicht schon schwer genug zetern nun die Menschen im Umfeld der Familie, diese solle doch langsam mal darüber hinwegkommen und weiter machen mit diesem Ding, das Leben heißt. Trauer bewegt sich innerhalb bestimmter gesellschaftlicher Normen und wer nicht ins Bild passt stört. Denn Steve treibt auf seinem Longboard mit geschlossenen Augen durch die Stadt, Linne prügelt sich mit allem und jedem, Micha zieht sich gefährlich weit zurück und Adam bekommt die alltäglichsten Dinge nicht mehr auf die Reihe. Also kommt Post vom Traueramt und mit ihr Herr Ginster ins Leben der Familie. Er ist Trauerbeamter und dafür zuständig, dass die Familie doch nun bitte mal vorankomme in ihrem Trauerprozess. Alles bürokratisch korrekt, wie es sich gehört.

    Und mit Herrn Ginster ziehen ebenso immer mehr märchenhaft-fantastische Elemente in das Leben der Mohns ein und somit auch in das Schreiben von Stefanie vor Schulte. Im Verlauf der Geschichte wird deutlich, dass die Trauer der Familie nur in der Fantastik dargestellt werden kann, denn Trauer ist etwas Unausprechliches. Das Leben in Trauer ist ver-rückt. So verrückt die Realität des Romangeschehens immer weiter in eine skurrile, surreale Fantasiewelt. Immer häufiger kommt es zu unrealistischen Ereignissen. Die Bilder, die dieses Stilmittel erschafft, sind besonders im Mittelteil unglaublich stark. Die Herangehensweise der Autorin an die Thematik erscheint geradezu frisch im Vergleich zu vielen anderen Veröffentlichungen der letzten Jahrzehnte zum Thema Trauer. Aber sie schlägt wiederum auch in eine Kerbe, welche gerade in den letzten ca. fünf Jahren häufiger in der Literatur auftaucht: Trauer und Verlust mit Absurdität bis skurriler Komik zu begegnen. Man denke an „Marianengraben“ von Jasmin Schreiber, „Barbara stirbt nicht“ von Alina Bronsky oder ähnliches. Das Besondere von vor Schultes Buch ist sicherlich die Fantastik.

    Leider sehe ich hier allerdings auch die größte Schwäche des Romans. Denn gerade im letzten Drittel verschwimmt nicht nur Realität mit Fantasie, das Fantastische verdrängt vollständig das Realistische. Unglaublich viele übernatürliche Dinge geschehen und man verliert beim Lesen fast den Überblick, was jetzt eigentlich geschieht. In die Realität finden wir nicht wieder zurück und treiben verschollen in der Mystik. Ohne zu viel zum Ende zu verraten, so hätte es mir doch besser gefallen, wenn wir uns zuletzt hätten wieder in einem realistischen Raum des Trauerprozesses wiederfinden können.

    Die Haupt- und Nebenfiguren waren durchaus interessant gezeichnet, auch wenn ich ihnen nur punktuell wirklich richtig nahe war und mit ihnen gefiebert habe. Auch dieser Kontakt zu den Figuren, welcher im Mittelteil besonders eng war, verlor sich zunehmend im letzten Drittel des Buches. Der Schreibstil der Autorin ist solide und findet passende Bilder und Beschreibungen für diesen unaussprechlichen Zustand nach dem Tod einer geliebten Person.

    Über zwei Drittel des Buches hinweg wähnte ich mich in einem sehr guten, wenn auch nicht grandiosen Werk zum Thema Trauerprozess bzw. Trauerbewältigung. Das letzte Drittel schoss dann meines Erachtens jedoch etwas zu weit übers Ziel hinaus und ließ mich eher unzufrieden zurück. Wenngleich „Schlangen im Garten“ für mich mit 3,5 Sternen „nur“ ein insgesamt (überdurchschnittlich) gutes Buch darstellt, kann ich es durchaus für eine unkonventionelle Lektüre zum Thema Trauer weiterempfehlen.
    Dieser Beitrag wurde entfernt Hanna Bervoets
    Dieser Beitrag wurde entfernt (Buch)
    12.07.2022

    Dieses Buch wird nicht entfernt

    Müssen anstößige Beiträge auch aus Bücherforen entfernt werden? Wahrscheinlich nicht. Hier gibt es hoffentlich keine Gewalt gegen andere und sich selbst, Missbrauch, Tierquälerei und und und. Aber in Sozialen Netzwerken gibt es dies leider zuhauf und es braucht Menschen (sog. Content-Moderator:innen), die sich diese Kommentare, Bilder und Videos anschauen, um entscheiden zu können, ob ein Beitrag gelöscht wird oder nicht. Diese Menschen werden noch so lange benötigt, bis ein Algorithmus die mitunter heiklen Entscheidungen selbst treffen kann. Bis dahin, werden unzählige Arbeiter:innen traumatisiert sein.

    Hanna Bervoets Roman beschäftigt sich mit genau diesen Menschen im Schatten der Sozialen Medien. Er stellt den Bericht einer ehemaligen Mitarbeiterin dar, die unter belastenden Bedingungen allerlei belastende Beiträge gesichtet hat, deren Kolleg:innen traumatisiert die Firma verlassen haben und welche nun eine Klage gegen den Konzern anstrengen. Kayleigh, besagte Ex-Mitarbeiterin, verweigert sich jedoch einer Beteiligung an der Klage. Warum, beschreibt sie in ihrem Bericht, der für den aufdringlichen Anwalt der Kläger gedacht ist. Eigentlich, um diesem zu erläutern, warum sie keinesfalls so traumatisiert ist, wie ihre ehemaligen Kolleg:innen. So lesen wir nun die 122seitige Schilderung Kayleighs mit großer Spannung und auch Anspannung, ob der beschriebenen Kettenreaktion, die die Aufnahme der Arbeitsstelle in der besagten Firma für Kayleighs Leben und das ihrer Nächsten hatte.

    In diesem Buch geht es keinesfalls allein darum, Katastrophentourismus zu betreiben und möglichst viele abartige, verstörende und schreckliche Szenen des Internets und damit menschlicher Abgründe zu erforschen. Dieser Schrecken ist nur ein Nebenprodukt der Lektüre, sofern man bisher in seinem Leben um derartige Beiträge drum herumgekommen ist. Hauptsächlich geht es darum aufzudecken, unter welchen Bedingungen Menschen dafür sorgen müssen, damit die ahnungslosen Nutzer:innen diverser Plattformen ihr sorgenfreies Surferlebnis genießen können. Es geht um sog. sekundäre Traumatisierungen, dass diese nicht immer die bekannten Symptome von Alpträumen, Gereiztheit, Schlaflosigkeit etc. haben müssen, sondern sich auch ganz anders zeigen können. Und es geht um die Auswirkungen dieser sekundären Traumatisierungen auf die Betroffenen und deren Leben.

    Sehr geschickt entwirft die Autorin hier einen Roman, der zwar mit wenigen Seiten und knappen Worten daherkommt, allerdings sehr präzise oben genannte Kettenreaktionen beschreibt. Die Idee das ganze als einen Brief an den Anwalt, mit welchem Kayleigh klarstellen will, dass sie keineswegs so traumatisiert ist, wie ihre Kolleg:innen, ist grundsätzlich sehr gut umgesetzt. Nur manchmal zwischendrin fragt man sich, ob eine Person tatsächlich so ausführlich auch private Ereignisse geschildert hätte, sodass das Ganze nicht mehr 100%ig authentisch in seiner Entstehungsgeschichte wirkt. Die Schilderungen als solches sind jedoch vollkommen authentisch und natürlich auch subjektiv, was sie noch authentischer wirken lässt. Denn daran liegt die Crux an dem Buch. Welche Wahrnehmung ist „die korrekte“, was ist hier wirklich passiert. Die Lesenden müssen sich selbst dazu ein Bild machen und auch um die Ecke denken können. Der Roman endet sehr abrupt, was zunächst unbefriedigend wirkt. Aber gerade das Ende macht sehr viel Sinn und führt zu einer noch tiefgreifenderen Beschäftigung mit diesem selten beleuchtetem Thema. Dass die Autorin weiß, wovon sie schreibt, kann man den Quellenangaben des Anhangs. Wichtig ist hier auch die Erklärung der Autorin: „Dieser Roman ist ein Werk der Fiktion, die Figuren und ihre Erlebnisse sind frei erfunden. Übereinstimmungen mit der Wirklichkeit sind jedoch alles andere als zufällig.“

    Bervoets möchte die Schattenseite der digitalen Welt von Social Media Firmen anprangern und vor allem aufrütteln. Das hat sie meines Erachtens mit ihrem Roman eindeutig geschafft. Eindringlich schreibt sie über ein Thema, was selten beleuchtet wird, und verdient dafür ein großes Publikum. Eine unkonventionelle, äußerst empfehlenswerte Lektüre. Somit wird dieses keinesfalls Buch aus meinem Bücherschrank entfernt, sondern wird dort definitiv verbleiben.
    Laurens, C: Es ist ein Mädchen Laurens, C: Es ist ein Mädchen (Buch)
    25.06.2022

    Scharfsinnige Betrachtungen über Mädchen als „2. Wahl“

    In ihrem autofiktionalen Roman lässt Camille Laurens ein Ende der 50er Jahre in Frankreich geborenes Mädchen (fast) alle Grausamkeiten und Ungerechtigkeiten durchleben, die man als weibliches Wesen in dieser Welt zu dieser Zeit hätte erleben können. Laurence hätte ein Junge werden sollen und wurde dann doch nur (!) ein Mädchen. Sie wächst auf, in einer Welt, in der Mädchen weniger wert sind als Jungs, weniger ernst genommen werden, weniger geachtet sind. Nach verschiedensten negativ prägenden und mitunter auch traumatischen Erfahrungen wird ihr Selbstverständnis, ihre Sexualität, ja ihr ganzes Leben langfristig beeinflusst. So begleiten wir Laurence bis hinein in ihr Erwachsenenleben ,bis sie selbst Mutter wird und erneut vor der Frage steht: „Was ist es? Ein Junge oder ein Mädchen?“.

    Gleich vorweg gesagt: Wenn man dieses Buch mit der Prämisse liest, dass „autofitkional“ nicht „autobiografisch“ heißt und vor allem, dass Camille Laurens hier sehr wahrscheinlich den Kunstgriff gewagt hat, so ziemlich jede Unaussprechlichkeit, die einem Mädchen und Frau passieren könnte, in die Lebensgeschichte von Laurence einzubauen, öffnet sich einem beim Lesen ein großartiges feministisches Manifest. Solange man versucht all die Erlebnisse gedanklich in ein „echtes“ Menschenleben zu packen, wirkt die Geschichte unglaubwürdig, wenn auch nicht komplett unwahrscheinlich(!). Dieses vorliegende feministische Manifest zeichnet sich aber nicht dadurch aus, dass es den heldenhaften Befreiungskampf einer Amazone zeigt, sondern vielmehr zeigt es die unglaublich vielen Demütigungen und Bedrohungen auf, denen – mitunter bis heute – Frauen ausgesetzt sind, einfach nur, weil sie eben nicht männlich sind.

    So spielt die Autorin in ihrem Roman vor allem mit der Sprache und Perspektive, um diese Ungleichbehandlungen zu verdeutlichen. Und das tut sie durchaus mit Witz und präziser Beobachtungsgabe, was durch die Übersetzerin Lis Künzli überraschend gut ins Deutsche überführt worden ist. Die Erzählperspektive des ersten Kapitels setzt ein mit einem das Mädchen ansprechenden „Du“. Später wechselt die Erzählperspektive in eine „Ich“-Erzählstimme, um dann – nicht ohne Grund – zu einer von außen erzählenden, personalen Perspektive zu werden. So wechseln immer wieder im Roman diese Perspektiven durch. Der Clou an der Sache: Die Autorin kündigt diese Wechsel an indem sie auf die Metaebene geht, um den Lesenden zu verdeutlichen, was hier gerade geschieht, warum es gerade besser ist aus der personalen Perspektive zu erzählen. Das ist klasse gemacht und ist ein weiteres Indiz für das schriftstellerische Können der Autorin. Hier wird die Sprache und Form ein kongenial eingesetztes, kreatives Mittel. Toll!

    Auf der inhaltlichen Ebene muss betont werden, dass alle dargestellten inneren Mechanismen, die Laurence‘ Denken, Fühlen und Handeln bestimmen, auf fachlich-psychologischer Ebene Hand und Fuß haben. Das lässt Laurence, trotz der eher prototypischen Funktion als „eine Frau dieser Generation“, trotzdem zu einer authentischen Figur werden, die in sich geschlossen agiert. Und gerade diese Authentizität führte bei mir dazu, dass ich an einigen Stellen emotional aufgewühlt und erschüttert war und durchaus wütend wurde auf die gesellschaftlichen Verhältnisse. Genau das kann ein feministisches Werk, welches Misogynie aufzeigt, im besten Falle bewirken. Dass man wütend wird ob der Verhältnisse und eine Veränderung dieser einfordern möchte.

    Zum Ende des Romans gibt es auch eine Tendenz genau dazu, zu zeigen, was sich mit dem Generationenwechsel schon zum Besseren verändert hat. Da geht es dann um Laurence‘ eigenes Kind und dessen Umgang mit Zwängen und Normen. Leider ist für mich dieser dritte und letzte Teil des Romans mit seinen 60 Seiten der Schwächste. Wobei das Meckern auf hohem Niveau ist. Die Autorin spricht hier durchaus wichtige und interessante Themen an, die sich aber wegbewegen von denen Laurence‘. Und dies ist dann einfach zu viel für das dünne Buch. Hätte die Autorin es bei der Fokussierung auf Laurence belassen, hätte der Roman für mich persönlich in sich geschlossener gewirkt.

    Insgesamt ist und bleibt der Roman jedoch für mich eine Lektüre, die mich tief bewegen, mit ihrer sprachlichen und formellen Kreativität überzeugen konnte und letztlich in mir noch lange nachhallen wird. Definitiv kann ich „Es ist ein Mädchen“ für eine Lektüre empfehlen. Wem? Frauen, aber auch - und vielleicht sogar vor allem - Männern, denn das Buch macht einmal mehr deutlich, dass Männer durchaus auch Sorgen und Nöte haben, keine Frage, diese aber allein bezogen auf ihr im Geburtenregister eingetragenes Geschlecht in einer anderen Gewichtsklasse liegen, als die, mit denen Frauen über ihr gesamtes Leben hinweg aufgrund ihres biologischen Geschlechts zu kämpfen haben.
    Der Mann, der vom Himmel fiel Walter Tevis
    Der Mann, der vom Himmel fiel (Buch)
    22.06.2022

    Eine literarische Science-Fiction-Geschichte mit unerwartetem Verlauf

    „Der Mann, der vom Himmel fiel“ ist mindestens bezogen auf die Verfilmung mit David Bowie aus dem Jahre 1976 vielen ein Begriff. Dass die Buchvorlage bereits aus dem Jahre 1963 und vom nun wiederentdeckten Autor Walter Tevis („Das Damengambit“) stammt ist weniger bekannt.

    Der zweite Roman Tevis’ demonstriert bereits sein herausragendes Können als Romanautor für anspruchsvolle aber trotzdem zugängliche Literatur. So ist es ein Genuss diesen Science-Fiction-Roman mit Niveau zu lesen. Oder sollte ich besser sagen, „zu inhalieren“? Denn das passiert, wenn man beginnt den vorliegenden Roman zu lesen. Man wird mit nur wenigen Sätzen, die ebenso der Beginn einer Kurzgeschichte sein könnten, in die Geschichte um den Antheaner mit dem irdischen Namen Thomas Jerome Newton gesogen. Anthea ist eine Welt innerhalb unseres Sonnensystems, welche durch ihre Bewohner ähnlich zugrunde gewirtschaftet wurde, wie es der Erde durch uns Menschen bevorsteht. T.J. Newton will nun nach seiner Ankunft in 1985 auf der Erde innerhalb weniger Jahre durch Nutzung verschiedenster Wirtschaftsmechanismen – vor allem dem Patentrecht, durch mitgebrachte Theorien zu außerirdischen Technologien – das nötige Kapitel erlangen, um ein Raumschiff zur Rettung seiner Spezies zu bauen.

    Wir begleiten nun diesen Außerirdischen, der sich gar nicht so stark aber doch merklich von den Menschen unterscheidet, bei seinen Vorhaben auf der Erde, bekommen einen Einblick in die Frustration, die mit der Entfernung zur eigenen Heimat einhergeht und ebenso mit der Erkenntnis, dass die Menschen keinen Deut besser als die Antheaner sind und gerade dabei ihre Erde mithilfe von atomaren Waffen zu zerstören. So vieles, was Walter Tevis in 1963 für das fast nicht mehr bewohnbare Anthea vorhergesagt hat, ist mittlerweile in unserer Realität der Erde im Jahre 2022 wahr geworden. Wäre dieses Buch eine Erstveröffentlichung dieses Jahres, könnte er wahrscheinlich nicht mehr so schocken, wie es ihm mit Blick auf sein Entstehungsjahr gelingt. Ein weiteres Beispiel wie Literatur im Allgemeinen und Science-Fiction im Speziellen unsere Zukunft zu antizipieren vermag. Ich sage nur: „Solarzellen in der Wüste“ (Seite 69).

    Aber auch unabhängig von den prophetischen Qualitäten dieses Romans, ist er einfach ein großartiges literarisches wie auch unterhaltsames Werk. So ist die Sprache von Tevis stets mitreißend und kurzweilig. Man fiebert mit den Protagonisten mit und ist, ob der Blockbuster-Qualitäten des Stoffs überrascht bezüglich des unerwarteten, nicht vorhersehbaren Verlaufs der Geschichte. Die Figuren wirken äußerst authentisch. Denn gerade Außerirdische wurden und werden viel zu oft im Sci-Fi-Genre wenig differenziert dargestellt. T.J. Newton hingegen ist ein facettenreicher Charakter, der mir sich selbst und der Welt ringt.

    Diese ungewöhnliche Geschichte und das Können Walter Tevis’ lässt hoffen, dass der Verlag in den nächsten Jahren weitere Werke des Autors neu übersetzen lässt und diese wiederveröffentlicht. Es ist eine helle Freude Tevis und sein Werk (wieder) zu entdecken. Ein zeitloses Buch, was nicht nur Science-Fiction-Fans sondern durchaus einem breitem Publikum gefallen und die Augen öffnen wird. Eine klare Leseempfehlung meinerseits für diesen modernen Klassiker!
    Du musst verrückt sein, wenn du trotzdem glücklich bist Kopano Matlwa
    Du musst verrückt sein, wenn du trotzdem glücklich bist (Buch)
    28.05.2022

    Du musst stark sein, wenn du dieses Buch liest

    Für die Lektüre dieses Buches sollte man sich in einem gefestigten Gemütszustand befinden. Denn die junge südafrikanische Autorin Kopano Matlwa, selbst Ärztin, schreibt in diesem Roman nicht nur über die Überlastungen einer jungen Ärztin im Praktischen Jahr an einem unterbesetzten Krankenhaus in Johannesburg, sondern außerdem über den Rassismus von Schwarzen Südafrikaner:innen gegenüber Einwanderer:innen anderer afrikanischer Staaten, und vor allem auch über sexualisierte Gewalt und deren Folgen. Das ist der Part, für den man besonders stark sein muss bei der Lektüre dieses großartigen Romans.

    Die Ich-Erzählerin – und wie man zügig erfährt, Tagebuchschreiberin – des Romans ist Masechaba, eine junge Ärztin, die (mit erschreckenden Parallelen zu ärztlicher Kolleg:innen in vielen anderen Ländern der Welt) massiv überarbeitet und mitunter auch stark überfordert aufgrund der ihr aufgebürdeten Verantwortung ist. In der ersten Hälfte des Romans begleiten wir sie in ihrem Alltag, der nicht nur von Überarbeitung sondern auch der Ausländerfeindlichkeit von Schwarzen Menschen untereinander durchsetzt ist. Masechaba rutscht zunehmend ob der Widrigkeiten des Alltags in eine schwere Depression, was den Tagebucheinträgen immer stärker anzumerken ist. Doch zum völligen Zusammenbruch kommt es erst, als sie, nachdem sie sich für ihre ausländischen Kolleg:innen eingesetzt hat, von drei fremdenfeindlichen Männern in einer Vergeltungstat vergewaltigt wird. Dies ereignet sich bei der Hälfte des nur 200 Seiten dünnen Buches und ab diesem Zeitpunkt verändert sich alles im Leben unserer Protagonistin, sowohl bezogen auf ihre Psyche aber auch ihre Familie und Freunde. Ob und wofür es sich trotzdem noch lohnt, weiterzuleben, erarbeitet man nun gemeinsam mit Masechaba mithilfe des eindringlichen Erzählstils der Autorin.

    Die Sprache der Autorin ist niemals ausufernd, sondern immer punktgenau und authentisch formuliert. Und auch wenn sie gerade die Gewaltszenen nicht ausführlich schildert (zum Glück), reichen ganz kurze Nebensätze, um die mitfühlende Leserin tief verstören zu können. Hier sollte jede:r für sich entscheiden, ob man stark genug ist, der Autorin in diese Dunkelheit zu folgen. Jedoch gibt es auch Licht in diesem Roman und das macht ihn so besonders. Das sehen wir schon am Titel „Du musst verrückt sein, wenn du trotzdem glücklich bist.“ Im Original heißt der Roman übrigens „Period Pain“. Meines Erachtens sehr passend, da es sehr stark um das Selbst- und Fremdverständnis von Frauen geht. Die Autorin verbindet dies mit der Fremdenfeindlichkeit. Als Masechaba mit ihrer ärztlichen Kollegin und Freundin aus Simbabwe über die zunehmende Fremdenfeindlichkeit spricht, vergleicht diese Freundin die (zu diesem Zeitpunkt noch „nur Alltagsfremdenfeindlichkeit“) mit „Wachstumsschmerzen“, die gerade Südafrika durchmache, Masechaba nennt es „Regelschmerzen“. Etwas, was nicht nur einmal im Leben auftritt und dann ist man darüber hinweg, nein, etwas, was immer wieder auftritt und auch zukünftig ziemlich sicher auftreten wird. So war es mir bis zu dieser erhellenden Lektüre nicht bewusst, dass in Südafrika Schwarze Ausländer so massiv diskriminiert werden und starken Gewaltausbrüchen zum Opfer fallen. Fremdenfeindliche Gewalt breite sich aus, „wie ein Buschfeuer“, Menschen werden mitunter bei lebendigem Leib angezündet und verbrannt. Viele Menschen, so auch die Mutter Masechabas sind der Meinung: „Sie kommen in unser Land, um uns alles wegzunehmen, wofür wir gekämpft haben“. Letztendlich wird jedoch wieder alles zurückgeworfen auf den Unterschied fernab der Hautfarbe, der Menschen zu oft zu Tätern und Opfern werden lässt: Der Unterschied zwischen den Geschlechtern. So legt Matlwa ihrer Protagonistin die eindringlichen Worte in den Mund:
    „Ich bin nur ein Fall für die südafrikanische Vergewaltigungsstatistik. An meiner Geschichte ist nichts Besonderes, sie passiert überall, tagtäglich. Es spielt keine Rolle, dass ich hochgebildet bin, dass ich Ärztin bin, dass ich eine Petition aufgesetzt habe, die es bis in die Zeitung geschafft hat. Ich habe ein Scheide. Nur das zählt.“

    Mich konnte dieser Roman aufgrund seiner knappen aber ausdrucksstarken Sprache, der gesellschaftlichen Sprengkraft und der psychologischer Nachvollziehbarkeit tief bewegen. Diese Autorin schreibt erbarmungslos ehrlich und legt den Finger in gleich mehrere Wunden, nicht nur Südafrikas sondern auch vieler anderer Länder dieser Erde. Dafür hat sie meine Hochachtung verdient und ich hoffe, es werden zukünftig noch weitere ihrer Romane ins Deutsche übersetzt und veröffentlicht. Nach der Lektüre war ich teilweise verstört, zerstört, aber eben auch ein kleines bisschen mit Hoffnung erfüllt. Eine dringende Leseempfehlung für dieses erstaunliche Werk!
    Eine Laune Gottes Margaret Laurence
    Eine Laune Gottes (Buch)
    11.05.2022

    Authentisch, zeitlos, meisterhaft!

    Die im deutschen Sprachraum recht unbekannte kanadische Autorin Margaret Laurence hat es mehr als verdient, nun vom Eisele Verlag wiederentdeckt und neu übersetzt veröffentlicht zu werden. 1926 geboren und 1987 gestorben, veröffentlichte sie den vorliegenden Roman schon in 1966.

    Nun kann man sich fragen, ob ein Roman, der sich mit dem Kleinstadtleben einer 34jährigen Grundschullehrerin, „alten Jungfer“ und auch noch scheinbar von ihrer Mutter abhängigen Frau beschäftigt und aus dem Jahre 1966 stammt, noch zeitgemäß sein kann. Ob eine Lektüre hier wirklich lohnt oder doch unseren modernen Ansprüchen an Literatur gar nicht mehr genügen kann. Aber mit dieser Annahme kann man hier falscher nicht liegen! Laurence beschreibt das Leben von Rachel Cameron in ihren kleinen Gefängnissen des Alltags mithilfe eines inneren Monologs, den uns Rachel gedanklich vorträgt, vollkommen zeitlos in seiner Art und Umsetzung. Rachels Gedanken zu ihrer Arbeit, den Kolleg:innen, dem Verhältnis zur eigenen Mutter sowie zu einem Bekannten aus ihrer Kindheit, der in die Stadt Manawaka für einen Sommer zurückkehrt und mit welchem sie eine Affäre – ihre ersten sexuellen Erfahrungen überhaupt! - anfängt, repliziert Laurence so unglaublich gekonnt, nah am Menschen und stilistisch modern, dass man glauben könnte, es liege ein zeitgenössisches Werk vor.

    Mithilfe dieses inneren Monologs werden wir Leser:innen Teil des Gedankenkonstrukts Rachels, ihre Sorgen und Nöte werden unsere Sorgen und Nöte. Selten habe ich mich beim Lesen so tief im Kopf einer Romanfigur angekommen gefühlt. So entsteht ein hoher, wenn nicht gar der höchste, Grad an Authentizität und glaubhafter Atmosphäre, den ein Roman überhaupt erreichen kann. Jede Handlung und Entscheidung Rachels wird dadurch Schritt für Schritt nachvollziehbar, wodurch wir unweigerlich mit dieser vielschichtigen Person bis zum unerwarteten Finale mitfiebern. Wir begleiten Rachel auf ihrem Weg von einer – bezogen auf ihre Durchsetzungsfähigkeit und Abhängigkeit von anderen – kindlichen Person, zu einer Frau, die erstmals wie eine Jugendliche sexuelle Erfahrungen macht und ihre Fühler Richtung persönlicher Freiräume ausstreckt, hin zu einer scheinbar erwachsenen Rachel. Sprachlich hat man das Gefühl, jeder Satz in diesem Roman ist punktgenau gesetzt und gibt Hinweise auf das weitere Schicksal Rachels. Die Autorin verwendet Sprachbilder, die über den Lektürezeitraum hinaus hängen bleiben, sich festsetzen und später in den eigenen Gedanken Wurzeln schlagen. Ein Werk, was auf diese Art einen tiefen Eindruck bei den Leser:innen hinterlässt und eigene Denk- sowie Verhaltensweisen zu hinterfragen hilft.

    Margaret Laurence bespricht in diesem Roman nicht nur den Drang zur Selbstbestimmtheit und Loslösung von der Familie einer Frau in den 60er Jahren des vergangenen Jahrhunderts sondern streift auch das Thema Homosexualität, Umgang mit dem eigenen Körper und das Liebesleben einer Unverheirateten.

    Sprachlich wie auch inhaltlich setzt dieser Roman eindeutig hohe Maßstäbe und ist ein – zumindest im deutschsprachigen Raum – bisher übersehenes Meisterwerk. Leser:innen sollten ob des frühen Entstehungszeitraumes keinesfalls zurückschrecken sondern fraglos sofort zu diesem Buch greifen und es lesen! Diese Frau schreibt nie eingestaubt, auch wenn das Setting verständlicherweise nicht ganz dem heutigen entsprechen kann. Die behandelten Themen bleiben hochaktuell und so lohnt sich wirklich für alle Interessierten diese umwerfende Lektüre. Ich bin hundertprozentig überzeugt von der Autorin und stehe ebenso vollständig hinter der Entscheidung des Eisele Verlags diese Autorin erneut aufzulegen. Abgerundet wird die Ausgabe von einem lesenswerten und unerwartet persönlichen Nachwort Margaret Atwoods aus dem Jahre 1988.

    Das ist ein absolutes Lesehighlight! In einem Wort: Wow!
    Fleisch, K: Aibohphobia Fleisch, K: Aibohphobia (Buch)
    16.04.2022

    Genialer Irrsinn

    Etwas über diesen Geniestreich von Kurt Fleisch zu schreiben, stellt sich gar nicht so einfach dar wie gedacht. Denn inhaltlich ist fast jedes Wort zu viel gesagt, wenn man versuchen würde, den „Plot“ des Romans „Aibohphobia“ zusammenzufassen. Eine Handlung gibt es im eigentlichen Sinne nämlich nicht. Vielmehr handelt es sich um den groteskesten Briefroman, den man sich vorstellen kann – oder vielleicht auch gar nicht vorstellen kann, bevor man ihn nicht selbst gelesen hat.

    Ein gewisser Herr H. schreibt in seiner Funktion als Psychiater Briefe an seinen Patienten Herrn S. Aber ist Herr S. hier wirklich der geistesgestörte Patient oder ist vielleicht doch alles ganz anders?

    Die Briefe von Herrn H. sind wirklich zum Schreien komisch. Bitterböse werden Behandlungsmethoden der Psychiatrie aufs Korn genommen und genauso unglaublich klug eingesetzt, um Verwirrung zu stiften. Das gesamte Buch ist geprägt von wildem, assoziativem Schreiben, welches nur ansatzweise mit Begriffen wie abgedreht, kafkaesk und bizarr beschrieben werden kann. Darauf müssen sich potentielle Leser:innen einlassen können. Wer das kann und möchte, wird mit wirklich genialem Irrsinn, einem geschickt eingefädelten Konzept und vielen versteckten Querverweisen, die es zu entdecken gilt, belohnt.

    Was es mit dem Titel des Buches „Aibohphobia“ auf sich hat, welche eine Angst vor Palindromen meint, also Wörtern, die man vorwärts und rückwärts gleich lesen kann, wird im Laufe der Lektüre immer klarer und regt definitiv dazu an, das Buch nach Beenden gleich noch einmal zu lesen.

    Das Buch bekommt eine klare Empfehlung für alle Mutigen, die sich an diese Groteske herantrauen. Wer es nicht selbst zu lesen wagt, kann es aber zumindest getrost an Personen im Bekanntenkreis verschenken, die am Anfang ihrer Berufsbezeichnung ein „Psych…“ stehen haben, denn diese werden sich sicherlich göttlich während der Lektüre amüsieren.

    Darüber hinaus ist das Buch wirklich mal wieder - wie von Kremayr & Scheriau gewohnt - ein richtiger Hingucker geworden. Selten sieht man im Gesamtkonzept so liebevoll gestaltete Bücher, wie die dieses Verlags!
    Rosewater Tade Thompson
    Rosewater (Buch)
    26.02.2022

    Tiefgründige Science-Fiction aus Nigeria

    Dieser Roman von Tade Thompson bringt schon spannende Grundvoraussetzungen mit, ohne dass man ein Wort daraus gelesen hat. Denn der Autor ist ein nigerianischer Psychiater, der sich hier eine ausufernde Welt in nicht allzu ferner Zukunft des Jahres 2066 ausdenkt, in der die Außerirdischen bereits lange auf der Erde angekommen sind. Und sie sind vielleicht laut Plothistorie 2012 erstmals in London angekommen, aber tatsächliche Auswirkungen zeigen sie - ganz ungewohnt - eben nicht in Europa oder Amerika, sondern auf dem afrikanischen Kontinent, speziell auf dem Gebiet Nigerias. Somit krempelt dieser Roman schon einmal vollkommen die Lesegewohnheiten von uns mitteleuropäischen Sci-Fi-Leser:innen gehörig um.

    Im Zentrum des Geschehens steht Kaaro, ein Mitte 40-Jähriger sogenannter "Empfänger". Er hat seit seiner Kindheit "übernatürliche" Fähigkeiten (welche später noch sehr gut wissenschaftlich fundiert erklärt werden), durch welche er - einfach gesagt - die Gedanken anderer Menschen lesen kann. Das ist jetzt stark verkürzt dargestellt, denn eigentlich ist er fähig, sich in die sogenannte Xenosphäre einzuklinken. Diese besteht aus zahlreichen miteinander vernetzten pilzartigen Organismen, die durch die Luft schweben und für das menschliche Auge nicht wahrnehmbar sind. Prinzipiell handelt es sich um ein ausgeweitetes Informationsnetzwerk, auf welches nur wenige Menschen (ich lasse hier mal offen weshalb) zugreifen können. Kaaro lebt in Rosewater, einer Stadt, die sich nach dem Auftauchen einer außerirdischen Entität, einer riesigen Kuppel mit einem Durchmesser von 50 km, um diese Kuppel herum gebildet hat. Denn - wieder entgegen der altbekannten Seh- und Lesegewohnheiten - zeigt sich die Entität nicht angriffslustig, sondern gütig in Form von Heilungen kranker Menschen, die einmal pro Jahr in ihrer Nähe stattfinden. Um Kaaro entwickelt sich ein fast schon Agenten-Plot, da er aufgrund seiner Fähigkeiten von einer Regierungsbehörde angeworben wurde.

    All dies erfahren wir durch verschiedene Erzählstränge, die jedoch stets beim Ich-Erzähler Kaaro bleiben. Allein die Zeitebene wechselt ständig. Die so betitelte "Jetzt"-Zeit spielt 2066, dann gibt es noch Rückblicke in die "Früher"-Zeit beginnend mit 2031 bis ca. 2059, welche viel Wissen um Kaaros Fähigkeiten und die Geschehnisse bis aktuell vermitteln, sowie "Zwischenspiele" oder "Missionen", die besondere Ereignisse/Missionen in den letzten 10 Jahren von Kaaros Leben bis jetzt darlegen, mit dem Fokus auf seine "Agenten"-Tätigkeit. Das ist tatsächlich der verwirrendste Part dieses Romans. Meines Erachtens hätte es die gesondert betitelten "Zwischenspiele" nicht gebraucht bzw. wirkten diese ab und an überfordernd, wenn man sie gedanklich versucht, in das Gesamtbild chronologisch korrekt einzuordnen. Aber das ist eine minimale Kritik im Rahmen meiner allgemeinen Begeisterung für diesen Roman.

    Denn dem Buch merkt man im allerbesten Sinne die Berufung des Autors als Psychiater an. So entwirft er die Charaktere des Romans nicht nur glaubwürdig sondern stellt psychologische Zusammenhänge, die sich aus der Fähigkeit des "Gedankenlesens" ergeben, schlüssig und fachlich fundiert dar. Auch das mykologische Konstrukt um die außerirdische Entität herum ist plausibel erschaffen. Der technische Fortschritt ist authentisch an das Jahr 2066 angepasst und wird gut erklärt. Was mich aber besonders am Roman begeistert hat: Thompson spart nicht an Gesellschaftskritik. So wird immer wieder das Thema der als "illegal" eingeordneten Homosexualität in Nigeria, welche in unserer Zeit 2022 vorherrscht, aber im Roman auch noch in 2066 dort besteht. Die Verfolgung dieser Menschengruppe bis zum Tod durch den Mob. Weiterhin findet die Vergangenheit Nigerias, als ein durch die Kolonialisierung traumatisiertes Land, Eingang in die Erzählung. Eine despotische, korrupte Herrscherrieger darf natürlich auch in 2066 nicht fehlen. So legt Thompson mit seinem als Science-Fiction "getarnten" Roman den Finger in gleich mehrere gesellschaftliche und politische Wunden seines Heimatlandes.

    Insgesamt bin ich also äußerst begeistert von diesem ungewohnten Lektüreerlebnis. Science-Fiction mit Tiefgang auf mehreren Ebenen. Wirklich empfehlenswert für alle, die sich grundsätzlich auf die oben beschriebenen Grundannahmen einlassen können.
    Zwischen Ruhm und Ehre liegt die Nacht Andrea Petkovic
    Zwischen Ruhm und Ehre liegt die Nacht (Buch)
    15.02.2022

    Interessante Essays aus der Tenniswelt

    Zugegeben mir fiel zwar die Tennisspielerin Andrea Petković durchaus im Literarischen Quartett auf, auch war mir die Veröffentlichung der vorliegenden Essay-Sammlung bekannt, nur wurde ich auf ihr Können als Autorin erst durch einen Feuilleton-Beitrag in einer DIE ZEIT-Ausgabe im Januar 2022 aufmerksam. Dort kommentierte sie mit spitzer Feder den "Covid-Tennisskandal" um Novak Đoković bei den Australian Open. Und mit diesem Artikel war für mich entscheiden: Das Buch "Zwischen Ruhm und Ehre liegt die Nacht" musst du lesen!

    Beginnend mit Eindrücken aus ihrer Kindheit, ihrem späteren Leben, Erfolgen und Misserfolgen, dem Tennissport als solchen und zuletzt auch aus dem Privaten legt die Autorin 18 Erzählungen vor, die literarisch niveauvoll einen abwechslungsreichen Einblick in diese Themen bieten. Dabei wirft sie meines Erachtens gerade zu Beginn des Buches etwas zu häufig mit Lebensweisheiten und Kalendersprüchen um sich. Einmal merkt sie dies sogar selbst an: "Der Körper ist ein Wunderwerk an Potenzial, das nur darauf wartet, ausgeschöpft zu werden. (Achtung! Kalenderspruch-Alarm!)". Aber auch weitere Sprüche sind manchmal etwas over-the-top: "Alles, was ich über das Leben weiß, ist, dass es wie der Ozean ist. [...] Alles, was ich über Tennis weiß, ist, dass Tennisliebhaber auch Lebensliebhaber sind. [...] Das Schöne am Tennis: Alles geht, nichts muss. [...] Im Ozean des Lebens, im Viereck des Tennisplatz, ist alles erlaubt - solange ich verdammt noch mal durchhalte, egal, was kommt." Etwas merkwürdig auch folgender Vergleich: "An Training war nicht zu denken, weil ich zu müde war. An Schlaf war nicht zu denken, weil ich zu wach war. Der klassische Flop eines Planes, seit die USA geglaubt hatten, sie hätten was in Vietnam zu suchen. Oder alle europäischen Länder jemals in Russland." Ein Vergleich, der angesichts einer falschen Entscheidung fix in zwei Tagen zwischen zwei Spielen aus den USA noch einmal in die Heimat nach Deutschland zu fliegen, eher unpassend wirkt. Aber das waren tatsächlich schon die schlimmsten Beispiele. Petković gewinnt im Verlauf des Buches an literarischem Selbstbewusstsein und außerdem stark an Humor und Selbstironie. So musste ich mitunter schallend lachen, wenn sie von YouTube-Algorithmen spricht, welche sie von Tennis-Match-Sequenzen innerhalb von vier Stunden "bei einem Make-up-Tutorial für Giraffen" ankommen lassen. Oder wenn es um erzwungene Schönheitsideale im Damentennis geht:

    "Wenn ich schon in meiner Arbeitszeit mit den Blicken der anderen konfrontiert werde, will ich wenigstens im Privaten meine Ruhe haben. Ich bevorzuge nun mal, ungesehen in Bondgirlmanier aus dem Wasser zu gleiten, die Haare nach hinten zu werfen, die Hüften zu wiegen - um dann auf eine Muschel zu treten, hinzufallen, Salzwasser zu schlucken und prustend wie eine Robbe an den Strand gespült zu werden. Mit beiden Beinen gen Himmel."

    Die Selbstironie bringt nicht jede*er Spitzensportler*in zustande. Chapeau Frau Petković, chapeau!

    Nun bin ich eine Person, die von Tennis wirklich absolut keine Ahnung hat. Weder weiß ich (immer noch nicht), wie im Tennis mithilfe der Mathematik ein*e Sieger*in ermittelt wird, noch sind mir irgendwelche Top-Weltranglisten-Athlet*innen bekannt. Ich würde gerade noch so Steffi Graf oder Boris Becker erkennen, wenn sie im Tennisdress vor mir stünden. Das machte es an manchen, aber nicht vielen, Stellen des Buches mitunter schwer, den geschilderten Geschehnissen zu folgen. Da wäre es mir Tennis-Banausin durchaus entgegen gekommen, wenn Petković einen kleinen Nebensatz der Erklärung eingefügt hätte.

    Für eine anregende Lektüre sind Vorkenntnisse des Sports jedoch nicht zwingend notwendig, sodass ich diese literarischen Ergüsse von Andrea Petković durchaus allen Interessierten empfehlen kann. Petković beweist, dass die, im Buch mehrfach gekonnt erwähnte, Faszination für anspruchsvolle Literatur auf ihr eigenes Schreiben abgefärbt hat. Natürlich ist sie (noch) kein David Foster Wallace, aber wer weiß, vielleicht kommt sie bei weiterem disziplinierten Training der Schreibkunst irgendwann einmal in seine Nähe. Dass sie diese Disziplin auf dem Platz beherrscht, hat sie scheinbar bereits bewiesen. Ich hab mir sagen lassen, dass es ein Qualitätsmerkmal sei, wenn jemand unter den Top 10 der Tennis-Weltrangliste spielt...

    Zuletzt noch ein Wort zum Cover des Buches. Meines Erachtens hat der Verlag hier die bestmögliche Entscheidung getroffen. Statt eine Top-Spielerin als Zugpferd mit sexy Bildchen auf den Buchdeckel zu drucken, rückt die Person Andrea Petković durch das dezente Design in den Hintergrund. Wer Interesse am Buch hat, wird aufgrund des Inhalts danach greifen, nicht weil die Autorin berühmt ist.

    So entscheide ich mich nach einem Leseeindruck, der 3,5 Sternen entspricht aufgrund des Gesamtpakets jedoch gern für die aufgerundeten 4 Sterne, empfehle das Buch gern weiter und freue mich schon auf weitere Veröffentlichungen der Autorin Andrea Petković. Die Tennisspielerin Andrea Petković würde ich wahrscheinlich weiterhin auf der Straße nicht erkennen, aber dann kann sie wenigstens galant über einen Stein stolpern, sich eben noch fangen, um dann vielleicht den Kaffee-to-go auf das eigene Shirt zu kleckern. Who knows...
    Heimkehren Yaa Gyasi
    Heimkehren (Buch)
    11.02.2022

    Ein Standardwerk

    Mit diesem Debüt ist Yaa Gyasi ein Zaubertrick gelungen. Sie hat es geschafft mithilfe von zwei Familienzweigen eines Stammbaums über sieben Generationen hinweg die Geschichte der Versklavung afrikanischer Menschen im Rahmen der Kolonialherrschaft Großbritanniens in Westafrika und deren Folgen für alle Nachkommen auf nur 415 Seiten literarisch mitreißend zu erzählen.

    Der Roman geht von zwei Halbschwestern aus, die nichts voneinander wissen und deren Lebensgeschichten sowie die ihrer Nachkommen ganz unterschiedlich verlaufen. Die eine, Effia, wird mit dem britischen Kommandant eines Forts an der sogenannten "Goldküste", welches als Umschlagplatz des Sklavenhandels in Richtung der USA dient, verheiratet. Sie erahnt nur die Gräuel, die im Kellergeschoss dieser Festung mit der menschlichen Ware passieren, bekommt aber auch mit, wie ihr ehemaliges Fante-Dorf zu einem wichtigen Handelspartner der Briten in diesen Belangen wird. Zunächst bereits als Sklaven abgestempelte Asante und später zunehmend Kriegsgefangene aus den von den Briten geschürten Konflikten zwischen den beiden Völkern werden unter schrecklichsten Bedingungen in Schiffen über den Atlantik nach Nordamerika und die Karibik verbracht, um dort als Sklaven über Generationen hinweg gequält und ausgebeutet zu werden. Diese Geschichte wird von Gyasi über die zweite Schwester, Esi erzählt, welche auf einem Schiff genau diese scheußliche Reise durchmachen muss und deren Nachkommen in den Südstaaten auf den Baumwollplantagen eingesetzt werden.

    Nun fragt man sich schon zu Beginn, mit Blick auf den im Anhang des Buches befindlichen Familienstammbaums, ob es bei diesen vielen Erzählebenen möglich sein wird, den Geschehnissen, welche so unglaublich flott erzählt werden, auch folgen zu können. Und ich kann beruhigen: Ja, das ist problemlos möglich. Yaa Gyasi schreibt so gekonnt, entwirft ihren Roman so nachvollziehbar, dass jeder Generationensprung, jeder Protagonistenwechsel für die Leser*innen vollkommen stimmig geschieht. So wird der Roman mit jedem Kapitelwechsel folgendermaßen nach vorn bewegt: Wir beginnen mit einem Kapitel Effia, danach ein Kapitel Esi, und mit dem darauffolgenden Kapitel wechseln wir zu erst zu dem Sohn von Effia und dann zu der Tochter von Esi. Somit behält man a) leicht den Überblick, auf welcher Familienseite man sich gerade befindet und weiß b) dass man alle zwei Kapitel wieder eine Generation vorangeschritten ist. Dabei gewährt uns Gyasi einen Blitzlicht-Einblick in die Lebensumstände und Herausforderungen der jeweiligen Person und schafft durch gekonnte Rückblicke eine Verbindung zu der vorherigen Generation. Das ist wirkliches Können und funktioniert bis zum Schluss hervorragend.

    In jede Lebensgeschichte tauchen die Lesenden ein und können aufgrund der erzählerischen Raffinesse von Gyasi sofort eintauchen und emotional angegriffen werden. Und natürlich liegt es im Thema des Romans, dass es hier emotional anstrengend wird. So fasst ein später Nachkomme, der seine Familiengeschichte soziologisch, wissenschaftlich bearbeiten möchte sehr gut zusammen, was uns - zumindest auf der Seite von Esis Familie - im Roman erwartet:

    "Ursprünglich hatte er sich auf das System der Sträflingsarbeit konzentrieren wollen, das seinen Urgroßvater H Jahre seines Lebens geraubt hatte, das Projekt wurde jedoch umso umfangreicher, je weiter er sich darin vertiefte. Wie konnte er die Geschichte seines Urgroßvaters erzählen, ohne über seine Großmutter Willie und die Millionen Schwarzen zu sprechen, die vor den Jim-Crow-Gesetzen geflohen und nach Norden migriert waren? Und wenn er die Great Migration erwähnte, müsste er auch über die Städte sprechen, die die Flüchtlinge aufgenommen hatten. Er müsste über Harlem sprechen. Und wie konnte er über Harlem sprechen, ohne die Heroinsucht seines Vaters, seine Gefängnisaufenthalte, sein Vorstrafenregister zu sprechen?"

    Es scheint, als ob das, was diesem Protagonisten von einem Punkt zum nächsten hat denken lassen in der wissenschaftlichen Aufarbeitung seiner Familiengeschichte, auch Gyasi bei ihrem Romanprojekt ereilt hat. Sie musste auch auf der Seite von Esi, deren Familie in Afrika auf dem Gebiet des heutigen Ghana verblieben ist, zwangsweise jeden Schritt bis hin zum modernen Ghana durchdeklinieren, um die Menschen von heute mit ihren transgenerationalen Erfahrungen gut darstellen zu können. Und so verstand ich persönlich durch Yaa Gyasis Buch nun erstmals, was in Afrika zur Zeit der Kolonialherrschaft passiert ist. Nicht in der Tiefe, aber im Überblick. Für die Tiefe ist jetzt der Anreiz gesetzt, sich weiter in afrikanische Literatur zu vertiefen. Denn es muss die Geschichte von den Menschen und verschiedenen Völkern in Afrika erzählt werden, um ein vollständiges Bild abgeben zu können. Die Sicht der Kolonialmächte ist hier eindeutig verfälscht. So sagt ein Nachkomme Esis, welcher Lehrer geworden ist, zu seinen Schülern:

    "Geschichte ist Geschichtenerzählen.[...] Wir können nicht wissen, welche Geschichte stimmt, weil wir nicht dabei waren.[...] Wir glauben dem, der die Macht hat. Er darf seine Geschichte schreiben. Wenn ihr Geschichte studiert, müsst ihr euch deshalb immer fragen: Wessen Geschichte bekomme ich nicht zu hören? Wessen Stimme wurde unterdrückt, damit die andere Stimme zu hören ist? Sobald ihr das herausgefunden habt, müsst ihr auch diese Geschichte suchen. Dann bekommt ihr ein klareres, wenn auch noch immer unvollständiges Bild."

    Yaa Gyasi hat genau das gemacht, sie hat auf die Stimmen gehört, die Jahrhunderte lang unterdrückt wurden. Nun können ihre Leser*innen diese Geschichten lesen und damit ein (etwas) klareres Bild bekommen. Mir persönlich erging es jedenfalls so und ich kann dieses Buch nur ausdrücklich für eine Lektüre empfehlen, damit hoffentlich immer mehr Menschen auch die Stimme der Unterdrückten hören und Zusammenhänge besser verstehen lernen. Eine lehrreiche, überwältigende und emotional aufrüttelnde Lektüre!
    Hundepark Sofi Oksanen
    Hundepark (Buch)
    05.02.2022

    Opium fürs Literaturvolk

    Der Opiumanbau wie auch die Einzellspende ist in Deutschland verboten. Das Erste sollte vielen bekannt sein, das Zweite eher weniger. Beides wird hingegen in der Ukraine, wenn man Sofi Oksanens neuen Roman und ihren Recherchen im Rahmen dessen Glauben schenken kann, vielfältig genutzt, um weit verbreiteten, finanziellen Sorgen zu begegnen, eine gewisse Unabhängigkeit zu erlangen und vielleicht den sozialen Aufstieg zu schaffen.

    Geschickt verwebt Oksanen in ihrem Roman die Geschichte der Ich-Erzählerin Olenka, welche als im Westen gescheitertes Model in ihre Heimat Ukraine zurückkehrt, um dort zunächst selbst als Eizellspenderin und später aufgestiegen in der Hackordnung als Koordinatorin ebendieser zu agieren, mit den postsowjetischen Zuständen und politischen Ereignissen ab 2009 in der Ukraine. Das geschäftstüchtige Unternehmen "Eizellspende" wird kaltblütig mit bedürftigen Mädchen gefüttert, die nicht nur eine Hormontherapie über sich ergehen lassen müssen, sondern auch ihre Gesundheit durch dieses Verfahren riskieren. "So gern die Elite ins Ausland fuhr, um dort etwas für ihre Gesundheit zu tun, war unsere Gesetzgebung doch einzigartig, wenn es um die Unterstützung bei der assistierten Anschaffung von Kindern ging: Nur die künftigen Eltern genossen juristischen Schutz, während Spenderinnen und Leihmütter keinerlei Rechte besaßen." Die ukrainische Landbevölkerung hingegen hält sich mit illegalen Gruben und dem Schlafmohn- und damit Rohopiumanbau im Garten über Wasser. Beides zwielichtig, beides kreuzgefährlich.

    Olenka schildert zunehmend um Verständnis bittend mit Rückschauen auf vergangene Jahre und Erlebnisse einem ominösen "Du" ihr Leben, was sie als einfache Putzfrau bis nach Helsinki geführt hat. Nur portionsweise, so wie es Olenka dem angesprochenen "Du" preisgeben möchte, erfahren wir mehr über die weitreichenden Zusammenhänge ihrer Handlungen und Taten. Wir müssen darauf hoffen, dass sie uns die Wahrheit - oder zumindest ihre Wahrheit - darlegt, denn Olenka ist eine Meisterin des Manipulierens gewesen. Doch in diesem Roman ist keine der Figuren einfach nur "böse" oder "gut", nur "Täter" oder "Opfer". Besonders Olenka bekommt so viele Facetten zugeschrieben, dass ihre Erzählung, ihr Geständnis umso lebhafter und authentischer wirkt. Zugegeben, der verknoteten Handlung muss man sehr aufmerksam folgen, um sie annähernd verstehen zu können. Verwirrend wird mitunter erzählt. Aber all dies ist grandios von Sofi Oksanen konzipiert. Der Roman fesselt bis zum Schluss und liest sich durch seine mitunter harte, dem Charakter und Denken der Protagonistin angepassten Sprache wie ein düsteres Spiegelbild einer zunehmend moralisch zerrütteten Gesellschaft.

    So lässt sich dieses vom brillant durchdachten Cover bis zum letzten Satz durchweg stimmig konstruierte Buch uneingeschränkt für eine nicht nur spannende, sondern auch unglaublich wissenswerte - wie auch, aufgrund der Hintergrundinformationen zur modernen Ukraine, hochaktuelle - Lektüre dringend empfehlen.
    Wir sind das Licht Wir sind das Licht (Buch)
    05.02.2022

    Wir sind die Bewunderung.

    Wir sind die Überraschung. Selten stellen wir uns noch beim Lesen ein, da alles schon einmal dagewesen scheint. Aber nein, schon beim ersten Satz des gelesenen Romans war unsere Leserin überrascht. Er beginnt nämlich mit dem Satz "Wir sind die Nacht." und lässt gleich im ersten Kapitel die Nacht davon erzählen, was sich in dieser merkwürdigen Wohngemeinschaft zugetragen hat, dass hier jemand gestorben ist und danach alles ganz schnell ging, bis zum nächsten Tag. Als Überraschung erscheinen wir meist nur einmal kurz, denn wir sind per definitionem eigentlich ein kurzfristiges, einmaliges Gefühl. Aber während unsere Leserin dieses Buch las, traten wir gleich mehrfach auf. Mindestens 24 Mal, denn so viele Kapitel hat das Buch und - "Überraschung!" - jedes Kapitel wird von unterschiedlichen Entitäten (konkrete oder abstrakte Gegenstände, wer es nicht weiß und von diesem Wort "überrascht" ist) erzählt.

    Wir sind der Plot. Unsere Leserin hat einen Roman über ein anorektisches Mädchen vielleicht Anfang 20 erwartet, die in ihrer WG an Unterernährung verstirbt. Dann wird geforscht, wie es dazu kommen konnte, usw. usf. Aber nein, wir sind kein aufgrund des Klappentextes vorhersehbarer Plot. Denn es geht um eine ältere Frau, mit grauen Haar, emotional sensibel, wortkarg, die einfach verhungert und es sitzen drei erwachsene Menschen währenddessen um sie herum, schauen zu und tun: nichts. Danach erfahren unsere Leser, wenn sie sich nicht durch die Überraschung über die Erzählperspektiven zu stark ablenken lassen, wie es zu der eingestellten Nahrungsaufnahme kam, wer die alternative Wohngruppe anleitet und vielleicht auch diese eine Person, Elisabeth ist ihr Name, in den Tod geführt hat.

    Wir sind das Gehirn. Wir haben gern etwas zu tun. Und bei der Lektüre dieses Romans hatten wir ganz schön viel zu tun. Gar nichts so sehr auf der inhaltlichen Ebene (verratet es nicht "dem Plot") sondern vielmehr dadurch, dass wir uns immer wieder auf neue Erzählperspektiven einstellen mussten. Da tun nämlich nicht nur "die Nachbarn" ihre Meinung kund, sondern auch "das Brot", "der Orangenduft" oder (ganz grandios) "die Demenz".

    Wir sind das Bücherregal. Häufig bekommen wir die Last von unglaublich dicken, schweren Büchern aufgebürdet. Dann wieder von viel zu dünnen, leichten Heftchen, die wir fast gar nicht auf unserem Rücken spüren. Mit dem vorliegenden - oder für uns eher "aufliegenden" - Werk haben wir aber genau das richtige Gewicht zum Aufbewahren bekommen. Es hat, wie es die Menschen sagen würden, genau die richtige Länge. Es endet an der perfekten Stelle, ist anspruchsvoll zwischendurch, aber nicht zu "schwer" trotz des Themas einer verhungerten Person im Inneren. Mit solchen Büchern sind wir immer sehr zufrieden, die bewahren wir noch sehr gern lange auf unseren Holzbrettern auf und vielleicht nimmt unsere Leserin ja genau dieses Buch in ein paar Jahren noch einmal aus uns heraus, um es noch einmal zu lesen. Denn wir haben gehört, auch das würde sich bestimmt lohnen. Wir wissen aber schon jetzt: Nie wieder werden wir dieses tolle Exemplar seiner Art wieder gänzlich abgegeben.

    Wir sind die Leselampe. Wir sind eigentlich immer sehr pflichtbewusst. Bescheinen mit angenehmen Leselicht die Bücher, die unsere Besitzerin gerade lesen möchte. Normalweise bekommen wir dadurch nie den Schutzumschlag eines Buches zu sehen, weil dieser zuvor sicherheitshalber zur Seite gelegt wird. Den Sinn dahinter verstehen wir nicht, denn er soll ja das Buch "schützen". Aber gut, wir sind ja "nur" eine Leselampe. Bei "Wir sind das Licht" hat uns aber ganz besonders das Cover interessiert. Also haben wir, ganz schnell, wenn unsere Leserin mal gezwinkert hat, unser Licht auf den Umschlag geworfen. Das Umschlagbild erschien uns dabei sofort ganz passend. Das können wir beurteilen, denn wir lesen immer heimlich den Inhalt mit, während wir Licht spenden. Das Cover ist unheimlich und anlockend zugleich. Es ist stilsicher und gefällt auf den ersten Blick.

    Wir sind die Bewunderung. Uns verspürt unsere Leserin nicht bei jedem Buch, nein, wir entstehen nur, wenn ihr etwas ganz Besonderes vorgelegt wird. Und der Roman "Wir sind das Licht" ist so etwas Besonders. Er ist innovativ und mutig für eine Debütantin im Feld der literarischen Veröffentlichungen. Hier hat sich jemand etwas gewagt - und gewonnen. So klingen wir noch lange in unserer Leserin nach, die gar nicht aufhören kann von diesem Roman zu schwärmen. Wir als Bewunderung versuchen so häufig wie möglich gefühlt zu werden, deshalb würde unsere Leserin diesen Roman von Gerda Blees auch so ziemlich allen Leser*innen weiterempfehlen. Also sagen wir: Lest dieses umwerfende Debüt!
    76 bis 100 von 111 Rezensionen
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