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    gaia

    Aktiv seit: 10. Oktober 2021
    "Hilfreich"-Bewertungen: 11
    99 Rezensionen
    Die Kriegerin Helene Bukowski
    Die Kriegerin (Buch)
    10.09.2022

    Die (unglaublich authentische) Kriegerin

    In der deutschen Literaturwelt noch ein relativ unberührtes Thema aufzugreifen ist nicht so einfach. Zu fast allem ist schon vieles gesagt. Ein literarisch hochwertiger Roman über zwei Soldatinnen wirkt da regelrecht frisch und unverbraucht. Lisbeth hat ihre Grundausbildung bei der Bundeswehr vor vielen Jahren zusammen mit „Der Kriegerin“ absolviert. Die Kriegerin erhielt ihren Spitznamen in ebenjener Grundausbildung und behielt ihn seitdem. Während Lisbeth mittlerweile als Floristin arbeitet und gerade eben vor ihrem Leben in der Kleinfamilie mit Partner und Kleinkind geflohen ist, hat sich die Kriegerin für 12 Jahre verpflichtet und verbringt kaum ihre Zeit in Deutschland. Auf verschiedensten Auslandseinsätzen ist sie schon gewesen. Zuletzt ist es immer wieder Afghanistan, wohin sie geschickt wird. Nach vielen Jahren treffen sich nun die beiden zufällig im Winter an der Ostsee wieder und vertiefen eine zwischenzeitlich abgekühlte Freundschaft.

    Sehr langsam und bedächtig erzählt Bukowski davon, was sogenannte „friedenssichernde Auslandseinsätze“ mit den Soldaten und Soldatinnen psychologisch machen. Denn dieser Roman ist über einen längeren Zeitraum erzählt. Immer wieder in regelmäßigen Abständen treffen sich Lisbeth und Die Kriegerin wieder, immer mehr sieht man dem psychischen Veränderung Der Kriegerin zu und steht dem ebenso hilflos wie Lisbeth gegenüber. Lisbeth, die an Neurodermitis leidet, einer Erkrankung, die so stark wie kaum eine andere psychosomatisch ihre Spuren hinterlässt. Die eigenen aber auch die psychischen Belastungen anderer schreiben sich in die Haut von Lisbeth ein. Durch Rückblicke erfahren wir Stück für Stück, was mit Lisbeth über ihr Leben hinweg passierte, bis zu dem Punkt, an welchem sie ihre Familie verlassen hat. Der Ausgangspunkt des Romans. Gleichzeitig treibt die Autorin die Handlung um Die Kriegerin voran und lässt alles auf ein spannendes Finale hinauslaufen.

    Zwischendurch kommt es zu ein, zwei recht großen Zufällen, die den Plot vorantreiben und zum Schluss wird geht alles dann gefühlt sehr schnell. Mir hätte ein durchgängig ruhiger Erzählstil mit einem methodischen Freilegen der Vergangenheit und der Auswirkungen auf die Psyche der Personen in der Gegenwart etwas besser gefallen, als es dann letztlich die Autorin mit dem angezogenen Erzähltempo gelöst hat. Geschenkt.

    Das ist nur Gemecker auf hohem Niveau, denn insgesamt beleuchtet der Roman ein bisher übersehendes Themengebiet dermaßen authentisch und mitreißend, dass ich die volle Punktzahl dieser wichtigen Geschichte nicht vorenthalten will. Mich hat der Roman von Helene Bukowski gepackt und in eine emotionale Achterbahn gesteckt. Es ist gut, dass es Frauen in der Bundeswehr geben darf, und gleichzeitig bedarf es einer tiefgründigen Auseinandersetzung damit, was dies speziell zur Folge haben kann. Viele Eindrücke im Kampfeinsatz werden wohl bei allen Beteiligten eine ähnliche Wirkung haben, aber manche davon sind nun einmal spezifisch weiblich und sie gehören benannt. Umso besser, dass sich Bukowski nun damit beschäftigt.

    Meines Erachtens handelt es sich hierbei um ein definitiv empfehlenswertes, sehr gut recherchiertes Buch. Der Roman legt den Finger in verschiedene traumatische Wunden von Frauen, oder um im Koordinatensystem des Romans zu bleiben: er kratzt immer wieder die Wunden auf, die scheinbar in der (weiblichen) Menschheitsgeschichte nie verheilen und sich immer wieder entzünden.
    Schlangen im Garten Stefanie vor Schulte
    Schlangen im Garten (Buch)
    29.08.2022

    Fantastische Trauer?

    Ja, Trauer kann fantastisch sein. Und zwar nicht im Wortsinne von „super, spitze, mega“ für „fantastisch“ sondern im Sinne von „unwirklich, übernatürlich, märchenhaft“. Denn so sieht die Trauer der Familie Mohn im Roman „Schlangen im Garten“ von Stefanie vor Schulte aus, fantastisch.

    Johanne, die Mutter von Steve, Linne und Micha und Ehefrau von Adam ist gestorben. Als sei dieser Schicksalsschlag nicht schon schwer genug zetern nun die Menschen im Umfeld der Familie, diese solle doch langsam mal darüber hinwegkommen und weiter machen mit diesem Ding, das Leben heißt. Trauer bewegt sich innerhalb bestimmter gesellschaftlicher Normen und wer nicht ins Bild passt stört. Denn Steve treibt auf seinem Longboard mit geschlossenen Augen durch die Stadt, Linne prügelt sich mit allem und jedem, Micha zieht sich gefährlich weit zurück und Adam bekommt die alltäglichsten Dinge nicht mehr auf die Reihe. Also kommt Post vom Traueramt und mit ihr Herr Ginster ins Leben der Familie. Er ist Trauerbeamter und dafür zuständig, dass die Familie doch nun bitte mal vorankomme in ihrem Trauerprozess. Alles bürokratisch korrekt, wie es sich gehört.

    Und mit Herrn Ginster ziehen ebenso immer mehr märchenhaft-fantastische Elemente in das Leben der Mohns ein und somit auch in das Schreiben von Stefanie vor Schulte. Im Verlauf der Geschichte wird deutlich, dass die Trauer der Familie nur in der Fantastik dargestellt werden kann, denn Trauer ist etwas Unausprechliches. Das Leben in Trauer ist ver-rückt. So verrückt die Realität des Romangeschehens immer weiter in eine skurrile, surreale Fantasiewelt. Immer häufiger kommt es zu unrealistischen Ereignissen. Die Bilder, die dieses Stilmittel erschafft, sind besonders im Mittelteil unglaublich stark. Die Herangehensweise der Autorin an die Thematik erscheint geradezu frisch im Vergleich zu vielen anderen Veröffentlichungen der letzten Jahrzehnte zum Thema Trauer. Aber sie schlägt wiederum auch in eine Kerbe, welche gerade in den letzten ca. fünf Jahren häufiger in der Literatur auftaucht: Trauer und Verlust mit Absurdität bis skurriler Komik zu begegnen. Man denke an „Marianengraben“ von Jasmin Schreiber, „Barbara stirbt nicht“ von Alina Bronsky oder ähnliches. Das Besondere von vor Schultes Buch ist sicherlich die Fantastik.

    Leider sehe ich hier allerdings auch die größte Schwäche des Romans. Denn gerade im letzten Drittel verschwimmt nicht nur Realität mit Fantasie, das Fantastische verdrängt vollständig das Realistische. Unglaublich viele übernatürliche Dinge geschehen und man verliert beim Lesen fast den Überblick, was jetzt eigentlich geschieht. In die Realität finden wir nicht wieder zurück und treiben verschollen in der Mystik. Ohne zu viel zum Ende zu verraten, so hätte es mir doch besser gefallen, wenn wir uns zuletzt hätten wieder in einem realistischen Raum des Trauerprozesses wiederfinden können.

    Die Haupt- und Nebenfiguren waren durchaus interessant gezeichnet, auch wenn ich ihnen nur punktuell wirklich richtig nahe war und mit ihnen gefiebert habe. Auch dieser Kontakt zu den Figuren, welcher im Mittelteil besonders eng war, verlor sich zunehmend im letzten Drittel des Buches. Der Schreibstil der Autorin ist solide und findet passende Bilder und Beschreibungen für diesen unaussprechlichen Zustand nach dem Tod einer geliebten Person.

    Über zwei Drittel des Buches hinweg wähnte ich mich in einem sehr guten, wenn auch nicht grandiosen Werk zum Thema Trauerprozess bzw. Trauerbewältigung. Das letzte Drittel schoss dann meines Erachtens jedoch etwas zu weit übers Ziel hinaus und ließ mich eher unzufrieden zurück. Wenngleich „Schlangen im Garten“ für mich mit 3,5 Sternen „nur“ ein insgesamt (überdurchschnittlich) gutes Buch darstellt, kann ich es durchaus für eine unkonventionelle Lektüre zum Thema Trauer weiterempfehlen.
    Dieser Beitrag wurde entfernt Hanna Bervoets
    Dieser Beitrag wurde entfernt (Buch)
    12.07.2022

    Dieses Buch wird nicht entfernt

    Müssen anstößige Beiträge auch aus Bücherforen entfernt werden? Wahrscheinlich nicht. Hier gibt es hoffentlich keine Gewalt gegen andere und sich selbst, Missbrauch, Tierquälerei und und und. Aber in Sozialen Netzwerken gibt es dies leider zuhauf und es braucht Menschen (sog. Content-Moderator:innen), die sich diese Kommentare, Bilder und Videos anschauen, um entscheiden zu können, ob ein Beitrag gelöscht wird oder nicht. Diese Menschen werden noch so lange benötigt, bis ein Algorithmus die mitunter heiklen Entscheidungen selbst treffen kann. Bis dahin, werden unzählige Arbeiter:innen traumatisiert sein.

    Hanna Bervoets Roman beschäftigt sich mit genau diesen Menschen im Schatten der Sozialen Medien. Er stellt den Bericht einer ehemaligen Mitarbeiterin dar, die unter belastenden Bedingungen allerlei belastende Beiträge gesichtet hat, deren Kolleg:innen traumatisiert die Firma verlassen haben und welche nun eine Klage gegen den Konzern anstrengen. Kayleigh, besagte Ex-Mitarbeiterin, verweigert sich jedoch einer Beteiligung an der Klage. Warum, beschreibt sie in ihrem Bericht, der für den aufdringlichen Anwalt der Kläger gedacht ist. Eigentlich, um diesem zu erläutern, warum sie keinesfalls so traumatisiert ist, wie ihre ehemaligen Kolleg:innen. So lesen wir nun die 122seitige Schilderung Kayleighs mit großer Spannung und auch Anspannung, ob der beschriebenen Kettenreaktion, die die Aufnahme der Arbeitsstelle in der besagten Firma für Kayleighs Leben und das ihrer Nächsten hatte.

    In diesem Buch geht es keinesfalls allein darum, Katastrophentourismus zu betreiben und möglichst viele abartige, verstörende und schreckliche Szenen des Internets und damit menschlicher Abgründe zu erforschen. Dieser Schrecken ist nur ein Nebenprodukt der Lektüre, sofern man bisher in seinem Leben um derartige Beiträge drum herumgekommen ist. Hauptsächlich geht es darum aufzudecken, unter welchen Bedingungen Menschen dafür sorgen müssen, damit die ahnungslosen Nutzer:innen diverser Plattformen ihr sorgenfreies Surferlebnis genießen können. Es geht um sog. sekundäre Traumatisierungen, dass diese nicht immer die bekannten Symptome von Alpträumen, Gereiztheit, Schlaflosigkeit etc. haben müssen, sondern sich auch ganz anders zeigen können. Und es geht um die Auswirkungen dieser sekundären Traumatisierungen auf die Betroffenen und deren Leben.

    Sehr geschickt entwirft die Autorin hier einen Roman, der zwar mit wenigen Seiten und knappen Worten daherkommt, allerdings sehr präzise oben genannte Kettenreaktionen beschreibt. Die Idee das ganze als einen Brief an den Anwalt, mit welchem Kayleigh klarstellen will, dass sie keineswegs so traumatisiert ist, wie ihre Kolleg:innen, ist grundsätzlich sehr gut umgesetzt. Nur manchmal zwischendrin fragt man sich, ob eine Person tatsächlich so ausführlich auch private Ereignisse geschildert hätte, sodass das Ganze nicht mehr 100%ig authentisch in seiner Entstehungsgeschichte wirkt. Die Schilderungen als solches sind jedoch vollkommen authentisch und natürlich auch subjektiv, was sie noch authentischer wirken lässt. Denn daran liegt die Crux an dem Buch. Welche Wahrnehmung ist „die korrekte“, was ist hier wirklich passiert. Die Lesenden müssen sich selbst dazu ein Bild machen und auch um die Ecke denken können. Der Roman endet sehr abrupt, was zunächst unbefriedigend wirkt. Aber gerade das Ende macht sehr viel Sinn und führt zu einer noch tiefgreifenderen Beschäftigung mit diesem selten beleuchtetem Thema. Dass die Autorin weiß, wovon sie schreibt, kann man den Quellenangaben des Anhangs. Wichtig ist hier auch die Erklärung der Autorin: „Dieser Roman ist ein Werk der Fiktion, die Figuren und ihre Erlebnisse sind frei erfunden. Übereinstimmungen mit der Wirklichkeit sind jedoch alles andere als zufällig.“

    Bervoets möchte die Schattenseite der digitalen Welt von Social Media Firmen anprangern und vor allem aufrütteln. Das hat sie meines Erachtens mit ihrem Roman eindeutig geschafft. Eindringlich schreibt sie über ein Thema, was selten beleuchtet wird, und verdient dafür ein großes Publikum. Eine unkonventionelle, äußerst empfehlenswerte Lektüre. Somit wird dieses keinesfalls Buch aus meinem Bücherschrank entfernt, sondern wird dort definitiv verbleiben.
    Laurens, C: Es ist ein Mädchen Laurens, C: Es ist ein Mädchen (Buch)
    25.06.2022

    Scharfsinnige Betrachtungen über Mädchen als „2. Wahl“

    In ihrem autofiktionalen Roman lässt Camille Laurens ein Ende der 50er Jahre in Frankreich geborenes Mädchen (fast) alle Grausamkeiten und Ungerechtigkeiten durchleben, die man als weibliches Wesen in dieser Welt zu dieser Zeit hätte erleben können. Laurence hätte ein Junge werden sollen und wurde dann doch nur (!) ein Mädchen. Sie wächst auf, in einer Welt, in der Mädchen weniger wert sind als Jungs, weniger ernst genommen werden, weniger geachtet sind. Nach verschiedensten negativ prägenden und mitunter auch traumatischen Erfahrungen wird ihr Selbstverständnis, ihre Sexualität, ja ihr ganzes Leben langfristig beeinflusst. So begleiten wir Laurence bis hinein in ihr Erwachsenenleben ,bis sie selbst Mutter wird und erneut vor der Frage steht: „Was ist es? Ein Junge oder ein Mädchen?“.

    Gleich vorweg gesagt: Wenn man dieses Buch mit der Prämisse liest, dass „autofitkional“ nicht „autobiografisch“ heißt und vor allem, dass Camille Laurens hier sehr wahrscheinlich den Kunstgriff gewagt hat, so ziemlich jede Unaussprechlichkeit, die einem Mädchen und Frau passieren könnte, in die Lebensgeschichte von Laurence einzubauen, öffnet sich einem beim Lesen ein großartiges feministisches Manifest. Solange man versucht all die Erlebnisse gedanklich in ein „echtes“ Menschenleben zu packen, wirkt die Geschichte unglaubwürdig, wenn auch nicht komplett unwahrscheinlich(!). Dieses vorliegende feministische Manifest zeichnet sich aber nicht dadurch aus, dass es den heldenhaften Befreiungskampf einer Amazone zeigt, sondern vielmehr zeigt es die unglaublich vielen Demütigungen und Bedrohungen auf, denen – mitunter bis heute – Frauen ausgesetzt sind, einfach nur, weil sie eben nicht männlich sind.

    So spielt die Autorin in ihrem Roman vor allem mit der Sprache und Perspektive, um diese Ungleichbehandlungen zu verdeutlichen. Und das tut sie durchaus mit Witz und präziser Beobachtungsgabe, was durch die Übersetzerin Lis Künzli überraschend gut ins Deutsche überführt worden ist. Die Erzählperspektive des ersten Kapitels setzt ein mit einem das Mädchen ansprechenden „Du“. Später wechselt die Erzählperspektive in eine „Ich“-Erzählstimme, um dann – nicht ohne Grund – zu einer von außen erzählenden, personalen Perspektive zu werden. So wechseln immer wieder im Roman diese Perspektiven durch. Der Clou an der Sache: Die Autorin kündigt diese Wechsel an indem sie auf die Metaebene geht, um den Lesenden zu verdeutlichen, was hier gerade geschieht, warum es gerade besser ist aus der personalen Perspektive zu erzählen. Das ist klasse gemacht und ist ein weiteres Indiz für das schriftstellerische Können der Autorin. Hier wird die Sprache und Form ein kongenial eingesetztes, kreatives Mittel. Toll!

    Auf der inhaltlichen Ebene muss betont werden, dass alle dargestellten inneren Mechanismen, die Laurence‘ Denken, Fühlen und Handeln bestimmen, auf fachlich-psychologischer Ebene Hand und Fuß haben. Das lässt Laurence, trotz der eher prototypischen Funktion als „eine Frau dieser Generation“, trotzdem zu einer authentischen Figur werden, die in sich geschlossen agiert. Und gerade diese Authentizität führte bei mir dazu, dass ich an einigen Stellen emotional aufgewühlt und erschüttert war und durchaus wütend wurde auf die gesellschaftlichen Verhältnisse. Genau das kann ein feministisches Werk, welches Misogynie aufzeigt, im besten Falle bewirken. Dass man wütend wird ob der Verhältnisse und eine Veränderung dieser einfordern möchte.

    Zum Ende des Romans gibt es auch eine Tendenz genau dazu, zu zeigen, was sich mit dem Generationenwechsel schon zum Besseren verändert hat. Da geht es dann um Laurence‘ eigenes Kind und dessen Umgang mit Zwängen und Normen. Leider ist für mich dieser dritte und letzte Teil des Romans mit seinen 60 Seiten der Schwächste. Wobei das Meckern auf hohem Niveau ist. Die Autorin spricht hier durchaus wichtige und interessante Themen an, die sich aber wegbewegen von denen Laurence‘. Und dies ist dann einfach zu viel für das dünne Buch. Hätte die Autorin es bei der Fokussierung auf Laurence belassen, hätte der Roman für mich persönlich in sich geschlossener gewirkt.

    Insgesamt ist und bleibt der Roman jedoch für mich eine Lektüre, die mich tief bewegen, mit ihrer sprachlichen und formellen Kreativität überzeugen konnte und letztlich in mir noch lange nachhallen wird. Definitiv kann ich „Es ist ein Mädchen“ für eine Lektüre empfehlen. Wem? Frauen, aber auch - und vielleicht sogar vor allem - Männern, denn das Buch macht einmal mehr deutlich, dass Männer durchaus auch Sorgen und Nöte haben, keine Frage, diese aber allein bezogen auf ihr im Geburtenregister eingetragenes Geschlecht in einer anderen Gewichtsklasse liegen, als die, mit denen Frauen über ihr gesamtes Leben hinweg aufgrund ihres biologischen Geschlechts zu kämpfen haben.
    Der Mann, der vom Himmel fiel Walter Tevis
    Der Mann, der vom Himmel fiel (Buch)
    22.06.2022

    Eine literarische Science-Fiction-Geschichte mit unerwartetem Verlauf

    „Der Mann, der vom Himmel fiel“ ist mindestens bezogen auf die Verfilmung mit David Bowie aus dem Jahre 1976 vielen ein Begriff. Dass die Buchvorlage bereits aus dem Jahre 1963 und vom nun wiederentdeckten Autor Walter Tevis („Das Damengambit“) stammt ist weniger bekannt.

    Der zweite Roman Tevis’ demonstriert bereits sein herausragendes Können als Romanautor für anspruchsvolle aber trotzdem zugängliche Literatur. So ist es ein Genuss diesen Science-Fiction-Roman mit Niveau zu lesen. Oder sollte ich besser sagen, „zu inhalieren“? Denn das passiert, wenn man beginnt den vorliegenden Roman zu lesen. Man wird mit nur wenigen Sätzen, die ebenso der Beginn einer Kurzgeschichte sein könnten, in die Geschichte um den Antheaner mit dem irdischen Namen Thomas Jerome Newton gesogen. Anthea ist eine Welt innerhalb unseres Sonnensystems, welche durch ihre Bewohner ähnlich zugrunde gewirtschaftet wurde, wie es der Erde durch uns Menschen bevorsteht. T.J. Newton will nun nach seiner Ankunft in 1985 auf der Erde innerhalb weniger Jahre durch Nutzung verschiedenster Wirtschaftsmechanismen – vor allem dem Patentrecht, durch mitgebrachte Theorien zu außerirdischen Technologien – das nötige Kapitel erlangen, um ein Raumschiff zur Rettung seiner Spezies zu bauen.

    Wir begleiten nun diesen Außerirdischen, der sich gar nicht so stark aber doch merklich von den Menschen unterscheidet, bei seinen Vorhaben auf der Erde, bekommen einen Einblick in die Frustration, die mit der Entfernung zur eigenen Heimat einhergeht und ebenso mit der Erkenntnis, dass die Menschen keinen Deut besser als die Antheaner sind und gerade dabei ihre Erde mithilfe von atomaren Waffen zu zerstören. So vieles, was Walter Tevis in 1963 für das fast nicht mehr bewohnbare Anthea vorhergesagt hat, ist mittlerweile in unserer Realität der Erde im Jahre 2022 wahr geworden. Wäre dieses Buch eine Erstveröffentlichung dieses Jahres, könnte er wahrscheinlich nicht mehr so schocken, wie es ihm mit Blick auf sein Entstehungsjahr gelingt. Ein weiteres Beispiel wie Literatur im Allgemeinen und Science-Fiction im Speziellen unsere Zukunft zu antizipieren vermag. Ich sage nur: „Solarzellen in der Wüste“ (Seite 69).

    Aber auch unabhängig von den prophetischen Qualitäten dieses Romans, ist er einfach ein großartiges literarisches wie auch unterhaltsames Werk. So ist die Sprache von Tevis stets mitreißend und kurzweilig. Man fiebert mit den Protagonisten mit und ist, ob der Blockbuster-Qualitäten des Stoffs überrascht bezüglich des unerwarteten, nicht vorhersehbaren Verlaufs der Geschichte. Die Figuren wirken äußerst authentisch. Denn gerade Außerirdische wurden und werden viel zu oft im Sci-Fi-Genre wenig differenziert dargestellt. T.J. Newton hingegen ist ein facettenreicher Charakter, der mir sich selbst und der Welt ringt.

    Diese ungewöhnliche Geschichte und das Können Walter Tevis’ lässt hoffen, dass der Verlag in den nächsten Jahren weitere Werke des Autors neu übersetzen lässt und diese wiederveröffentlicht. Es ist eine helle Freude Tevis und sein Werk (wieder) zu entdecken. Ein zeitloses Buch, was nicht nur Science-Fiction-Fans sondern durchaus einem breitem Publikum gefallen und die Augen öffnen wird. Eine klare Leseempfehlung meinerseits für diesen modernen Klassiker!
    Du musst verrückt sein, wenn du trotzdem glücklich bist Kopano Matlwa
    Du musst verrückt sein, wenn du trotzdem glücklich bist (Buch)
    28.05.2022

    Du musst stark sein, wenn du dieses Buch liest

    Für die Lektüre dieses Buches sollte man sich in einem gefestigten Gemütszustand befinden. Denn die junge südafrikanische Autorin Kopano Matlwa, selbst Ärztin, schreibt in diesem Roman nicht nur über die Überlastungen einer jungen Ärztin im Praktischen Jahr an einem unterbesetzten Krankenhaus in Johannesburg, sondern außerdem über den Rassismus von Schwarzen Südafrikaner:innen gegenüber Einwanderer:innen anderer afrikanischer Staaten, und vor allem auch über sexualisierte Gewalt und deren Folgen. Das ist der Part, für den man besonders stark sein muss bei der Lektüre dieses großartigen Romans.

    Die Ich-Erzählerin – und wie man zügig erfährt, Tagebuchschreiberin – des Romans ist Masechaba, eine junge Ärztin, die (mit erschreckenden Parallelen zu ärztlicher Kolleg:innen in vielen anderen Ländern der Welt) massiv überarbeitet und mitunter auch stark überfordert aufgrund der ihr aufgebürdeten Verantwortung ist. In der ersten Hälfte des Romans begleiten wir sie in ihrem Alltag, der nicht nur von Überarbeitung sondern auch der Ausländerfeindlichkeit von Schwarzen Menschen untereinander durchsetzt ist. Masechaba rutscht zunehmend ob der Widrigkeiten des Alltags in eine schwere Depression, was den Tagebucheinträgen immer stärker anzumerken ist. Doch zum völligen Zusammenbruch kommt es erst, als sie, nachdem sie sich für ihre ausländischen Kolleg:innen eingesetzt hat, von drei fremdenfeindlichen Männern in einer Vergeltungstat vergewaltigt wird. Dies ereignet sich bei der Hälfte des nur 200 Seiten dünnen Buches und ab diesem Zeitpunkt verändert sich alles im Leben unserer Protagonistin, sowohl bezogen auf ihre Psyche aber auch ihre Familie und Freunde. Ob und wofür es sich trotzdem noch lohnt, weiterzuleben, erarbeitet man nun gemeinsam mit Masechaba mithilfe des eindringlichen Erzählstils der Autorin.

    Die Sprache der Autorin ist niemals ausufernd, sondern immer punktgenau und authentisch formuliert. Und auch wenn sie gerade die Gewaltszenen nicht ausführlich schildert (zum Glück), reichen ganz kurze Nebensätze, um die mitfühlende Leserin tief verstören zu können. Hier sollte jede:r für sich entscheiden, ob man stark genug ist, der Autorin in diese Dunkelheit zu folgen. Jedoch gibt es auch Licht in diesem Roman und das macht ihn so besonders. Das sehen wir schon am Titel „Du musst verrückt sein, wenn du trotzdem glücklich bist.“ Im Original heißt der Roman übrigens „Period Pain“. Meines Erachtens sehr passend, da es sehr stark um das Selbst- und Fremdverständnis von Frauen geht. Die Autorin verbindet dies mit der Fremdenfeindlichkeit. Als Masechaba mit ihrer ärztlichen Kollegin und Freundin aus Simbabwe über die zunehmende Fremdenfeindlichkeit spricht, vergleicht diese Freundin die (zu diesem Zeitpunkt noch „nur Alltagsfremdenfeindlichkeit“) mit „Wachstumsschmerzen“, die gerade Südafrika durchmache, Masechaba nennt es „Regelschmerzen“. Etwas, was nicht nur einmal im Leben auftritt und dann ist man darüber hinweg, nein, etwas, was immer wieder auftritt und auch zukünftig ziemlich sicher auftreten wird. So war es mir bis zu dieser erhellenden Lektüre nicht bewusst, dass in Südafrika Schwarze Ausländer so massiv diskriminiert werden und starken Gewaltausbrüchen zum Opfer fallen. Fremdenfeindliche Gewalt breite sich aus, „wie ein Buschfeuer“, Menschen werden mitunter bei lebendigem Leib angezündet und verbrannt. Viele Menschen, so auch die Mutter Masechabas sind der Meinung: „Sie kommen in unser Land, um uns alles wegzunehmen, wofür wir gekämpft haben“. Letztendlich wird jedoch wieder alles zurückgeworfen auf den Unterschied fernab der Hautfarbe, der Menschen zu oft zu Tätern und Opfern werden lässt: Der Unterschied zwischen den Geschlechtern. So legt Matlwa ihrer Protagonistin die eindringlichen Worte in den Mund:
    „Ich bin nur ein Fall für die südafrikanische Vergewaltigungsstatistik. An meiner Geschichte ist nichts Besonderes, sie passiert überall, tagtäglich. Es spielt keine Rolle, dass ich hochgebildet bin, dass ich Ärztin bin, dass ich eine Petition aufgesetzt habe, die es bis in die Zeitung geschafft hat. Ich habe ein Scheide. Nur das zählt.“

    Mich konnte dieser Roman aufgrund seiner knappen aber ausdrucksstarken Sprache, der gesellschaftlichen Sprengkraft und der psychologischer Nachvollziehbarkeit tief bewegen. Diese Autorin schreibt erbarmungslos ehrlich und legt den Finger in gleich mehrere Wunden, nicht nur Südafrikas sondern auch vieler anderer Länder dieser Erde. Dafür hat sie meine Hochachtung verdient und ich hoffe, es werden zukünftig noch weitere ihrer Romane ins Deutsche übersetzt und veröffentlicht. Nach der Lektüre war ich teilweise verstört, zerstört, aber eben auch ein kleines bisschen mit Hoffnung erfüllt. Eine dringende Leseempfehlung für dieses erstaunliche Werk!
    Eine Laune Gottes Margaret Laurence
    Eine Laune Gottes (Buch)
    11.05.2022

    Authentisch, zeitlos, meisterhaft!

    Die im deutschen Sprachraum recht unbekannte kanadische Autorin Margaret Laurence hat es mehr als verdient, nun vom Eisele Verlag wiederentdeckt und neu übersetzt veröffentlicht zu werden. 1926 geboren und 1987 gestorben, veröffentlichte sie den vorliegenden Roman schon in 1966.

    Nun kann man sich fragen, ob ein Roman, der sich mit dem Kleinstadtleben einer 34jährigen Grundschullehrerin, „alten Jungfer“ und auch noch scheinbar von ihrer Mutter abhängigen Frau beschäftigt und aus dem Jahre 1966 stammt, noch zeitgemäß sein kann. Ob eine Lektüre hier wirklich lohnt oder doch unseren modernen Ansprüchen an Literatur gar nicht mehr genügen kann. Aber mit dieser Annahme kann man hier falscher nicht liegen! Laurence beschreibt das Leben von Rachel Cameron in ihren kleinen Gefängnissen des Alltags mithilfe eines inneren Monologs, den uns Rachel gedanklich vorträgt, vollkommen zeitlos in seiner Art und Umsetzung. Rachels Gedanken zu ihrer Arbeit, den Kolleg:innen, dem Verhältnis zur eigenen Mutter sowie zu einem Bekannten aus ihrer Kindheit, der in die Stadt Manawaka für einen Sommer zurückkehrt und mit welchem sie eine Affäre – ihre ersten sexuellen Erfahrungen überhaupt! - anfängt, repliziert Laurence so unglaublich gekonnt, nah am Menschen und stilistisch modern, dass man glauben könnte, es liege ein zeitgenössisches Werk vor.

    Mithilfe dieses inneren Monologs werden wir Leser:innen Teil des Gedankenkonstrukts Rachels, ihre Sorgen und Nöte werden unsere Sorgen und Nöte. Selten habe ich mich beim Lesen so tief im Kopf einer Romanfigur angekommen gefühlt. So entsteht ein hoher, wenn nicht gar der höchste, Grad an Authentizität und glaubhafter Atmosphäre, den ein Roman überhaupt erreichen kann. Jede Handlung und Entscheidung Rachels wird dadurch Schritt für Schritt nachvollziehbar, wodurch wir unweigerlich mit dieser vielschichtigen Person bis zum unerwarteten Finale mitfiebern. Wir begleiten Rachel auf ihrem Weg von einer – bezogen auf ihre Durchsetzungsfähigkeit und Abhängigkeit von anderen – kindlichen Person, zu einer Frau, die erstmals wie eine Jugendliche sexuelle Erfahrungen macht und ihre Fühler Richtung persönlicher Freiräume ausstreckt, hin zu einer scheinbar erwachsenen Rachel. Sprachlich hat man das Gefühl, jeder Satz in diesem Roman ist punktgenau gesetzt und gibt Hinweise auf das weitere Schicksal Rachels. Die Autorin verwendet Sprachbilder, die über den Lektürezeitraum hinaus hängen bleiben, sich festsetzen und später in den eigenen Gedanken Wurzeln schlagen. Ein Werk, was auf diese Art einen tiefen Eindruck bei den Leser:innen hinterlässt und eigene Denk- sowie Verhaltensweisen zu hinterfragen hilft.

    Margaret Laurence bespricht in diesem Roman nicht nur den Drang zur Selbstbestimmtheit und Loslösung von der Familie einer Frau in den 60er Jahren des vergangenen Jahrhunderts sondern streift auch das Thema Homosexualität, Umgang mit dem eigenen Körper und das Liebesleben einer Unverheirateten.

    Sprachlich wie auch inhaltlich setzt dieser Roman eindeutig hohe Maßstäbe und ist ein – zumindest im deutschsprachigen Raum – bisher übersehenes Meisterwerk. Leser:innen sollten ob des frühen Entstehungszeitraumes keinesfalls zurückschrecken sondern fraglos sofort zu diesem Buch greifen und es lesen! Diese Frau schreibt nie eingestaubt, auch wenn das Setting verständlicherweise nicht ganz dem heutigen entsprechen kann. Die behandelten Themen bleiben hochaktuell und so lohnt sich wirklich für alle Interessierten diese umwerfende Lektüre. Ich bin hundertprozentig überzeugt von der Autorin und stehe ebenso vollständig hinter der Entscheidung des Eisele Verlags diese Autorin erneut aufzulegen. Abgerundet wird die Ausgabe von einem lesenswerten und unerwartet persönlichen Nachwort Margaret Atwoods aus dem Jahre 1988.

    Das ist ein absolutes Lesehighlight! In einem Wort: Wow!
    Fleisch, K: Aibohphobia Fleisch, K: Aibohphobia (Buch)
    16.04.2022

    Genialer Irrsinn

    Etwas über diesen Geniestreich von Kurt Fleisch zu schreiben, stellt sich gar nicht so einfach dar wie gedacht. Denn inhaltlich ist fast jedes Wort zu viel gesagt, wenn man versuchen würde, den „Plot“ des Romans „Aibohphobia“ zusammenzufassen. Eine Handlung gibt es im eigentlichen Sinne nämlich nicht. Vielmehr handelt es sich um den groteskesten Briefroman, den man sich vorstellen kann – oder vielleicht auch gar nicht vorstellen kann, bevor man ihn nicht selbst gelesen hat.

    Ein gewisser Herr H. schreibt in seiner Funktion als Psychiater Briefe an seinen Patienten Herrn S. Aber ist Herr S. hier wirklich der geistesgestörte Patient oder ist vielleicht doch alles ganz anders?

    Die Briefe von Herrn H. sind wirklich zum Schreien komisch. Bitterböse werden Behandlungsmethoden der Psychiatrie aufs Korn genommen und genauso unglaublich klug eingesetzt, um Verwirrung zu stiften. Das gesamte Buch ist geprägt von wildem, assoziativem Schreiben, welches nur ansatzweise mit Begriffen wie abgedreht, kafkaesk und bizarr beschrieben werden kann. Darauf müssen sich potentielle Leser:innen einlassen können. Wer das kann und möchte, wird mit wirklich genialem Irrsinn, einem geschickt eingefädelten Konzept und vielen versteckten Querverweisen, die es zu entdecken gilt, belohnt.

    Was es mit dem Titel des Buches „Aibohphobia“ auf sich hat, welche eine Angst vor Palindromen meint, also Wörtern, die man vorwärts und rückwärts gleich lesen kann, wird im Laufe der Lektüre immer klarer und regt definitiv dazu an, das Buch nach Beenden gleich noch einmal zu lesen.

    Das Buch bekommt eine klare Empfehlung für alle Mutigen, die sich an diese Groteske herantrauen. Wer es nicht selbst zu lesen wagt, kann es aber zumindest getrost an Personen im Bekanntenkreis verschenken, die am Anfang ihrer Berufsbezeichnung ein „Psych…“ stehen haben, denn diese werden sich sicherlich göttlich während der Lektüre amüsieren.

    Darüber hinaus ist das Buch wirklich mal wieder - wie von Kremayr & Scheriau gewohnt - ein richtiger Hingucker geworden. Selten sieht man im Gesamtkonzept so liebevoll gestaltete Bücher, wie die dieses Verlags!
    Rosewater Tade Thompson
    Rosewater (Buch)
    26.02.2022

    Tiefgründige Science-Fiction aus Nigeria

    Dieser Roman von Tade Thompson bringt schon spannende Grundvoraussetzungen mit, ohne dass man ein Wort daraus gelesen hat. Denn der Autor ist ein nigerianischer Psychiater, der sich hier eine ausufernde Welt in nicht allzu ferner Zukunft des Jahres 2066 ausdenkt, in der die Außerirdischen bereits lange auf der Erde angekommen sind. Und sie sind vielleicht laut Plothistorie 2012 erstmals in London angekommen, aber tatsächliche Auswirkungen zeigen sie - ganz ungewohnt - eben nicht in Europa oder Amerika, sondern auf dem afrikanischen Kontinent, speziell auf dem Gebiet Nigerias. Somit krempelt dieser Roman schon einmal vollkommen die Lesegewohnheiten von uns mitteleuropäischen Sci-Fi-Leser:innen gehörig um.

    Im Zentrum des Geschehens steht Kaaro, ein Mitte 40-Jähriger sogenannter "Empfänger". Er hat seit seiner Kindheit "übernatürliche" Fähigkeiten (welche später noch sehr gut wissenschaftlich fundiert erklärt werden), durch welche er - einfach gesagt - die Gedanken anderer Menschen lesen kann. Das ist jetzt stark verkürzt dargestellt, denn eigentlich ist er fähig, sich in die sogenannte Xenosphäre einzuklinken. Diese besteht aus zahlreichen miteinander vernetzten pilzartigen Organismen, die durch die Luft schweben und für das menschliche Auge nicht wahrnehmbar sind. Prinzipiell handelt es sich um ein ausgeweitetes Informationsnetzwerk, auf welches nur wenige Menschen (ich lasse hier mal offen weshalb) zugreifen können. Kaaro lebt in Rosewater, einer Stadt, die sich nach dem Auftauchen einer außerirdischen Entität, einer riesigen Kuppel mit einem Durchmesser von 50 km, um diese Kuppel herum gebildet hat. Denn - wieder entgegen der altbekannten Seh- und Lesegewohnheiten - zeigt sich die Entität nicht angriffslustig, sondern gütig in Form von Heilungen kranker Menschen, die einmal pro Jahr in ihrer Nähe stattfinden. Um Kaaro entwickelt sich ein fast schon Agenten-Plot, da er aufgrund seiner Fähigkeiten von einer Regierungsbehörde angeworben wurde.

    All dies erfahren wir durch verschiedene Erzählstränge, die jedoch stets beim Ich-Erzähler Kaaro bleiben. Allein die Zeitebene wechselt ständig. Die so betitelte "Jetzt"-Zeit spielt 2066, dann gibt es noch Rückblicke in die "Früher"-Zeit beginnend mit 2031 bis ca. 2059, welche viel Wissen um Kaaros Fähigkeiten und die Geschehnisse bis aktuell vermitteln, sowie "Zwischenspiele" oder "Missionen", die besondere Ereignisse/Missionen in den letzten 10 Jahren von Kaaros Leben bis jetzt darlegen, mit dem Fokus auf seine "Agenten"-Tätigkeit. Das ist tatsächlich der verwirrendste Part dieses Romans. Meines Erachtens hätte es die gesondert betitelten "Zwischenspiele" nicht gebraucht bzw. wirkten diese ab und an überfordernd, wenn man sie gedanklich versucht, in das Gesamtbild chronologisch korrekt einzuordnen. Aber das ist eine minimale Kritik im Rahmen meiner allgemeinen Begeisterung für diesen Roman.

    Denn dem Buch merkt man im allerbesten Sinne die Berufung des Autors als Psychiater an. So entwirft er die Charaktere des Romans nicht nur glaubwürdig sondern stellt psychologische Zusammenhänge, die sich aus der Fähigkeit des "Gedankenlesens" ergeben, schlüssig und fachlich fundiert dar. Auch das mykologische Konstrukt um die außerirdische Entität herum ist plausibel erschaffen. Der technische Fortschritt ist authentisch an das Jahr 2066 angepasst und wird gut erklärt. Was mich aber besonders am Roman begeistert hat: Thompson spart nicht an Gesellschaftskritik. So wird immer wieder das Thema der als "illegal" eingeordneten Homosexualität in Nigeria, welche in unserer Zeit 2022 vorherrscht, aber im Roman auch noch in 2066 dort besteht. Die Verfolgung dieser Menschengruppe bis zum Tod durch den Mob. Weiterhin findet die Vergangenheit Nigerias, als ein durch die Kolonialisierung traumatisiertes Land, Eingang in die Erzählung. Eine despotische, korrupte Herrscherrieger darf natürlich auch in 2066 nicht fehlen. So legt Thompson mit seinem als Science-Fiction "getarnten" Roman den Finger in gleich mehrere gesellschaftliche und politische Wunden seines Heimatlandes.

    Insgesamt bin ich also äußerst begeistert von diesem ungewohnten Lektüreerlebnis. Science-Fiction mit Tiefgang auf mehreren Ebenen. Wirklich empfehlenswert für alle, die sich grundsätzlich auf die oben beschriebenen Grundannahmen einlassen können.
    Zwischen Ruhm und Ehre liegt die Nacht Andrea Petkovic
    Zwischen Ruhm und Ehre liegt die Nacht (Buch)
    15.02.2022

    Interessante Essays aus der Tenniswelt

    Zugegeben mir fiel zwar die Tennisspielerin Andrea Petković durchaus im Literarischen Quartett auf, auch war mir die Veröffentlichung der vorliegenden Essay-Sammlung bekannt, nur wurde ich auf ihr Können als Autorin erst durch einen Feuilleton-Beitrag in einer DIE ZEIT-Ausgabe im Januar 2022 aufmerksam. Dort kommentierte sie mit spitzer Feder den "Covid-Tennisskandal" um Novak Đoković bei den Australian Open. Und mit diesem Artikel war für mich entscheiden: Das Buch "Zwischen Ruhm und Ehre liegt die Nacht" musst du lesen!

    Beginnend mit Eindrücken aus ihrer Kindheit, ihrem späteren Leben, Erfolgen und Misserfolgen, dem Tennissport als solchen und zuletzt auch aus dem Privaten legt die Autorin 18 Erzählungen vor, die literarisch niveauvoll einen abwechslungsreichen Einblick in diese Themen bieten. Dabei wirft sie meines Erachtens gerade zu Beginn des Buches etwas zu häufig mit Lebensweisheiten und Kalendersprüchen um sich. Einmal merkt sie dies sogar selbst an: "Der Körper ist ein Wunderwerk an Potenzial, das nur darauf wartet, ausgeschöpft zu werden. (Achtung! Kalenderspruch-Alarm!)". Aber auch weitere Sprüche sind manchmal etwas over-the-top: "Alles, was ich über das Leben weiß, ist, dass es wie der Ozean ist. [...] Alles, was ich über Tennis weiß, ist, dass Tennisliebhaber auch Lebensliebhaber sind. [...] Das Schöne am Tennis: Alles geht, nichts muss. [...] Im Ozean des Lebens, im Viereck des Tennisplatz, ist alles erlaubt - solange ich verdammt noch mal durchhalte, egal, was kommt." Etwas merkwürdig auch folgender Vergleich: "An Training war nicht zu denken, weil ich zu müde war. An Schlaf war nicht zu denken, weil ich zu wach war. Der klassische Flop eines Planes, seit die USA geglaubt hatten, sie hätten was in Vietnam zu suchen. Oder alle europäischen Länder jemals in Russland." Ein Vergleich, der angesichts einer falschen Entscheidung fix in zwei Tagen zwischen zwei Spielen aus den USA noch einmal in die Heimat nach Deutschland zu fliegen, eher unpassend wirkt. Aber das waren tatsächlich schon die schlimmsten Beispiele. Petković gewinnt im Verlauf des Buches an literarischem Selbstbewusstsein und außerdem stark an Humor und Selbstironie. So musste ich mitunter schallend lachen, wenn sie von YouTube-Algorithmen spricht, welche sie von Tennis-Match-Sequenzen innerhalb von vier Stunden "bei einem Make-up-Tutorial für Giraffen" ankommen lassen. Oder wenn es um erzwungene Schönheitsideale im Damentennis geht:

    "Wenn ich schon in meiner Arbeitszeit mit den Blicken der anderen konfrontiert werde, will ich wenigstens im Privaten meine Ruhe haben. Ich bevorzuge nun mal, ungesehen in Bondgirlmanier aus dem Wasser zu gleiten, die Haare nach hinten zu werfen, die Hüften zu wiegen - um dann auf eine Muschel zu treten, hinzufallen, Salzwasser zu schlucken und prustend wie eine Robbe an den Strand gespült zu werden. Mit beiden Beinen gen Himmel."

    Die Selbstironie bringt nicht jede*er Spitzensportler*in zustande. Chapeau Frau Petković, chapeau!

    Nun bin ich eine Person, die von Tennis wirklich absolut keine Ahnung hat. Weder weiß ich (immer noch nicht), wie im Tennis mithilfe der Mathematik ein*e Sieger*in ermittelt wird, noch sind mir irgendwelche Top-Weltranglisten-Athlet*innen bekannt. Ich würde gerade noch so Steffi Graf oder Boris Becker erkennen, wenn sie im Tennisdress vor mir stünden. Das machte es an manchen, aber nicht vielen, Stellen des Buches mitunter schwer, den geschilderten Geschehnissen zu folgen. Da wäre es mir Tennis-Banausin durchaus entgegen gekommen, wenn Petković einen kleinen Nebensatz der Erklärung eingefügt hätte.

    Für eine anregende Lektüre sind Vorkenntnisse des Sports jedoch nicht zwingend notwendig, sodass ich diese literarischen Ergüsse von Andrea Petković durchaus allen Interessierten empfehlen kann. Petković beweist, dass die, im Buch mehrfach gekonnt erwähnte, Faszination für anspruchsvolle Literatur auf ihr eigenes Schreiben abgefärbt hat. Natürlich ist sie (noch) kein David Foster Wallace, aber wer weiß, vielleicht kommt sie bei weiterem disziplinierten Training der Schreibkunst irgendwann einmal in seine Nähe. Dass sie diese Disziplin auf dem Platz beherrscht, hat sie scheinbar bereits bewiesen. Ich hab mir sagen lassen, dass es ein Qualitätsmerkmal sei, wenn jemand unter den Top 10 der Tennis-Weltrangliste spielt...

    Zuletzt noch ein Wort zum Cover des Buches. Meines Erachtens hat der Verlag hier die bestmögliche Entscheidung getroffen. Statt eine Top-Spielerin als Zugpferd mit sexy Bildchen auf den Buchdeckel zu drucken, rückt die Person Andrea Petković durch das dezente Design in den Hintergrund. Wer Interesse am Buch hat, wird aufgrund des Inhalts danach greifen, nicht weil die Autorin berühmt ist.

    So entscheide ich mich nach einem Leseeindruck, der 3,5 Sternen entspricht aufgrund des Gesamtpakets jedoch gern für die aufgerundeten 4 Sterne, empfehle das Buch gern weiter und freue mich schon auf weitere Veröffentlichungen der Autorin Andrea Petković. Die Tennisspielerin Andrea Petković würde ich wahrscheinlich weiterhin auf der Straße nicht erkennen, aber dann kann sie wenigstens galant über einen Stein stolpern, sich eben noch fangen, um dann vielleicht den Kaffee-to-go auf das eigene Shirt zu kleckern. Who knows...
    Heimkehren Yaa Gyasi
    Heimkehren (Buch)
    11.02.2022

    Ein Standardwerk

    Mit diesem Debüt ist Yaa Gyasi ein Zaubertrick gelungen. Sie hat es geschafft mithilfe von zwei Familienzweigen eines Stammbaums über sieben Generationen hinweg die Geschichte der Versklavung afrikanischer Menschen im Rahmen der Kolonialherrschaft Großbritanniens in Westafrika und deren Folgen für alle Nachkommen auf nur 415 Seiten literarisch mitreißend zu erzählen.

    Der Roman geht von zwei Halbschwestern aus, die nichts voneinander wissen und deren Lebensgeschichten sowie die ihrer Nachkommen ganz unterschiedlich verlaufen. Die eine, Effia, wird mit dem britischen Kommandant eines Forts an der sogenannten "Goldküste", welches als Umschlagplatz des Sklavenhandels in Richtung der USA dient, verheiratet. Sie erahnt nur die Gräuel, die im Kellergeschoss dieser Festung mit der menschlichen Ware passieren, bekommt aber auch mit, wie ihr ehemaliges Fante-Dorf zu einem wichtigen Handelspartner der Briten in diesen Belangen wird. Zunächst bereits als Sklaven abgestempelte Asante und später zunehmend Kriegsgefangene aus den von den Briten geschürten Konflikten zwischen den beiden Völkern werden unter schrecklichsten Bedingungen in Schiffen über den Atlantik nach Nordamerika und die Karibik verbracht, um dort als Sklaven über Generationen hinweg gequält und ausgebeutet zu werden. Diese Geschichte wird von Gyasi über die zweite Schwester, Esi erzählt, welche auf einem Schiff genau diese scheußliche Reise durchmachen muss und deren Nachkommen in den Südstaaten auf den Baumwollplantagen eingesetzt werden.

    Nun fragt man sich schon zu Beginn, mit Blick auf den im Anhang des Buches befindlichen Familienstammbaums, ob es bei diesen vielen Erzählebenen möglich sein wird, den Geschehnissen, welche so unglaublich flott erzählt werden, auch folgen zu können. Und ich kann beruhigen: Ja, das ist problemlos möglich. Yaa Gyasi schreibt so gekonnt, entwirft ihren Roman so nachvollziehbar, dass jeder Generationensprung, jeder Protagonistenwechsel für die Leser*innen vollkommen stimmig geschieht. So wird der Roman mit jedem Kapitelwechsel folgendermaßen nach vorn bewegt: Wir beginnen mit einem Kapitel Effia, danach ein Kapitel Esi, und mit dem darauffolgenden Kapitel wechseln wir zu erst zu dem Sohn von Effia und dann zu der Tochter von Esi. Somit behält man a) leicht den Überblick, auf welcher Familienseite man sich gerade befindet und weiß b) dass man alle zwei Kapitel wieder eine Generation vorangeschritten ist. Dabei gewährt uns Gyasi einen Blitzlicht-Einblick in die Lebensumstände und Herausforderungen der jeweiligen Person und schafft durch gekonnte Rückblicke eine Verbindung zu der vorherigen Generation. Das ist wirkliches Können und funktioniert bis zum Schluss hervorragend.

    In jede Lebensgeschichte tauchen die Lesenden ein und können aufgrund der erzählerischen Raffinesse von Gyasi sofort eintauchen und emotional angegriffen werden. Und natürlich liegt es im Thema des Romans, dass es hier emotional anstrengend wird. So fasst ein später Nachkomme, der seine Familiengeschichte soziologisch, wissenschaftlich bearbeiten möchte sehr gut zusammen, was uns - zumindest auf der Seite von Esis Familie - im Roman erwartet:

    "Ursprünglich hatte er sich auf das System der Sträflingsarbeit konzentrieren wollen, das seinen Urgroßvater H Jahre seines Lebens geraubt hatte, das Projekt wurde jedoch umso umfangreicher, je weiter er sich darin vertiefte. Wie konnte er die Geschichte seines Urgroßvaters erzählen, ohne über seine Großmutter Willie und die Millionen Schwarzen zu sprechen, die vor den Jim-Crow-Gesetzen geflohen und nach Norden migriert waren? Und wenn er die Great Migration erwähnte, müsste er auch über die Städte sprechen, die die Flüchtlinge aufgenommen hatten. Er müsste über Harlem sprechen. Und wie konnte er über Harlem sprechen, ohne die Heroinsucht seines Vaters, seine Gefängnisaufenthalte, sein Vorstrafenregister zu sprechen?"

    Es scheint, als ob das, was diesem Protagonisten von einem Punkt zum nächsten hat denken lassen in der wissenschaftlichen Aufarbeitung seiner Familiengeschichte, auch Gyasi bei ihrem Romanprojekt ereilt hat. Sie musste auch auf der Seite von Esi, deren Familie in Afrika auf dem Gebiet des heutigen Ghana verblieben ist, zwangsweise jeden Schritt bis hin zum modernen Ghana durchdeklinieren, um die Menschen von heute mit ihren transgenerationalen Erfahrungen gut darstellen zu können. Und so verstand ich persönlich durch Yaa Gyasis Buch nun erstmals, was in Afrika zur Zeit der Kolonialherrschaft passiert ist. Nicht in der Tiefe, aber im Überblick. Für die Tiefe ist jetzt der Anreiz gesetzt, sich weiter in afrikanische Literatur zu vertiefen. Denn es muss die Geschichte von den Menschen und verschiedenen Völkern in Afrika erzählt werden, um ein vollständiges Bild abgeben zu können. Die Sicht der Kolonialmächte ist hier eindeutig verfälscht. So sagt ein Nachkomme Esis, welcher Lehrer geworden ist, zu seinen Schülern:

    "Geschichte ist Geschichtenerzählen.[...] Wir können nicht wissen, welche Geschichte stimmt, weil wir nicht dabei waren.[...] Wir glauben dem, der die Macht hat. Er darf seine Geschichte schreiben. Wenn ihr Geschichte studiert, müsst ihr euch deshalb immer fragen: Wessen Geschichte bekomme ich nicht zu hören? Wessen Stimme wurde unterdrückt, damit die andere Stimme zu hören ist? Sobald ihr das herausgefunden habt, müsst ihr auch diese Geschichte suchen. Dann bekommt ihr ein klareres, wenn auch noch immer unvollständiges Bild."

    Yaa Gyasi hat genau das gemacht, sie hat auf die Stimmen gehört, die Jahrhunderte lang unterdrückt wurden. Nun können ihre Leser*innen diese Geschichten lesen und damit ein (etwas) klareres Bild bekommen. Mir persönlich erging es jedenfalls so und ich kann dieses Buch nur ausdrücklich für eine Lektüre empfehlen, damit hoffentlich immer mehr Menschen auch die Stimme der Unterdrückten hören und Zusammenhänge besser verstehen lernen. Eine lehrreiche, überwältigende und emotional aufrüttelnde Lektüre!
    Hundepark Sofi Oksanen
    Hundepark (Buch)
    05.02.2022

    Opium fürs Literaturvolk

    Der Opiumanbau wie auch die Einzellspende ist in Deutschland verboten. Das Erste sollte vielen bekannt sein, das Zweite eher weniger. Beides wird hingegen in der Ukraine, wenn man Sofi Oksanens neuen Roman und ihren Recherchen im Rahmen dessen Glauben schenken kann, vielfältig genutzt, um weit verbreiteten, finanziellen Sorgen zu begegnen, eine gewisse Unabhängigkeit zu erlangen und vielleicht den sozialen Aufstieg zu schaffen.

    Geschickt verwebt Oksanen in ihrem Roman die Geschichte der Ich-Erzählerin Olenka, welche als im Westen gescheitertes Model in ihre Heimat Ukraine zurückkehrt, um dort zunächst selbst als Eizellspenderin und später aufgestiegen in der Hackordnung als Koordinatorin ebendieser zu agieren, mit den postsowjetischen Zuständen und politischen Ereignissen ab 2009 in der Ukraine. Das geschäftstüchtige Unternehmen "Eizellspende" wird kaltblütig mit bedürftigen Mädchen gefüttert, die nicht nur eine Hormontherapie über sich ergehen lassen müssen, sondern auch ihre Gesundheit durch dieses Verfahren riskieren. "So gern die Elite ins Ausland fuhr, um dort etwas für ihre Gesundheit zu tun, war unsere Gesetzgebung doch einzigartig, wenn es um die Unterstützung bei der assistierten Anschaffung von Kindern ging: Nur die künftigen Eltern genossen juristischen Schutz, während Spenderinnen und Leihmütter keinerlei Rechte besaßen." Die ukrainische Landbevölkerung hingegen hält sich mit illegalen Gruben und dem Schlafmohn- und damit Rohopiumanbau im Garten über Wasser. Beides zwielichtig, beides kreuzgefährlich.

    Olenka schildert zunehmend um Verständnis bittend mit Rückschauen auf vergangene Jahre und Erlebnisse einem ominösen "Du" ihr Leben, was sie als einfache Putzfrau bis nach Helsinki geführt hat. Nur portionsweise, so wie es Olenka dem angesprochenen "Du" preisgeben möchte, erfahren wir mehr über die weitreichenden Zusammenhänge ihrer Handlungen und Taten. Wir müssen darauf hoffen, dass sie uns die Wahrheit - oder zumindest ihre Wahrheit - darlegt, denn Olenka ist eine Meisterin des Manipulierens gewesen. Doch in diesem Roman ist keine der Figuren einfach nur "böse" oder "gut", nur "Täter" oder "Opfer". Besonders Olenka bekommt so viele Facetten zugeschrieben, dass ihre Erzählung, ihr Geständnis umso lebhafter und authentischer wirkt. Zugegeben, der verknoteten Handlung muss man sehr aufmerksam folgen, um sie annähernd verstehen zu können. Verwirrend wird mitunter erzählt. Aber all dies ist grandios von Sofi Oksanen konzipiert. Der Roman fesselt bis zum Schluss und liest sich durch seine mitunter harte, dem Charakter und Denken der Protagonistin angepassten Sprache wie ein düsteres Spiegelbild einer zunehmend moralisch zerrütteten Gesellschaft.

    So lässt sich dieses vom brillant durchdachten Cover bis zum letzten Satz durchweg stimmig konstruierte Buch uneingeschränkt für eine nicht nur spannende, sondern auch unglaublich wissenswerte - wie auch, aufgrund der Hintergrundinformationen zur modernen Ukraine, hochaktuelle - Lektüre dringend empfehlen.
    Wir sind das Licht Wir sind das Licht (Buch)
    05.02.2022

    Wir sind die Bewunderung.

    Wir sind die Überraschung. Selten stellen wir uns noch beim Lesen ein, da alles schon einmal dagewesen scheint. Aber nein, schon beim ersten Satz des gelesenen Romans war unsere Leserin überrascht. Er beginnt nämlich mit dem Satz "Wir sind die Nacht." und lässt gleich im ersten Kapitel die Nacht davon erzählen, was sich in dieser merkwürdigen Wohngemeinschaft zugetragen hat, dass hier jemand gestorben ist und danach alles ganz schnell ging, bis zum nächsten Tag. Als Überraschung erscheinen wir meist nur einmal kurz, denn wir sind per definitionem eigentlich ein kurzfristiges, einmaliges Gefühl. Aber während unsere Leserin dieses Buch las, traten wir gleich mehrfach auf. Mindestens 24 Mal, denn so viele Kapitel hat das Buch und - "Überraschung!" - jedes Kapitel wird von unterschiedlichen Entitäten (konkrete oder abstrakte Gegenstände, wer es nicht weiß und von diesem Wort "überrascht" ist) erzählt.

    Wir sind der Plot. Unsere Leserin hat einen Roman über ein anorektisches Mädchen vielleicht Anfang 20 erwartet, die in ihrer WG an Unterernährung verstirbt. Dann wird geforscht, wie es dazu kommen konnte, usw. usf. Aber nein, wir sind kein aufgrund des Klappentextes vorhersehbarer Plot. Denn es geht um eine ältere Frau, mit grauen Haar, emotional sensibel, wortkarg, die einfach verhungert und es sitzen drei erwachsene Menschen währenddessen um sie herum, schauen zu und tun: nichts. Danach erfahren unsere Leser, wenn sie sich nicht durch die Überraschung über die Erzählperspektiven zu stark ablenken lassen, wie es zu der eingestellten Nahrungsaufnahme kam, wer die alternative Wohngruppe anleitet und vielleicht auch diese eine Person, Elisabeth ist ihr Name, in den Tod geführt hat.

    Wir sind das Gehirn. Wir haben gern etwas zu tun. Und bei der Lektüre dieses Romans hatten wir ganz schön viel zu tun. Gar nichts so sehr auf der inhaltlichen Ebene (verratet es nicht "dem Plot") sondern vielmehr dadurch, dass wir uns immer wieder auf neue Erzählperspektiven einstellen mussten. Da tun nämlich nicht nur "die Nachbarn" ihre Meinung kund, sondern auch "das Brot", "der Orangenduft" oder (ganz grandios) "die Demenz".

    Wir sind das Bücherregal. Häufig bekommen wir die Last von unglaublich dicken, schweren Büchern aufgebürdet. Dann wieder von viel zu dünnen, leichten Heftchen, die wir fast gar nicht auf unserem Rücken spüren. Mit dem vorliegenden - oder für uns eher "aufliegenden" - Werk haben wir aber genau das richtige Gewicht zum Aufbewahren bekommen. Es hat, wie es die Menschen sagen würden, genau die richtige Länge. Es endet an der perfekten Stelle, ist anspruchsvoll zwischendurch, aber nicht zu "schwer" trotz des Themas einer verhungerten Person im Inneren. Mit solchen Büchern sind wir immer sehr zufrieden, die bewahren wir noch sehr gern lange auf unseren Holzbrettern auf und vielleicht nimmt unsere Leserin ja genau dieses Buch in ein paar Jahren noch einmal aus uns heraus, um es noch einmal zu lesen. Denn wir haben gehört, auch das würde sich bestimmt lohnen. Wir wissen aber schon jetzt: Nie wieder werden wir dieses tolle Exemplar seiner Art wieder gänzlich abgegeben.

    Wir sind die Leselampe. Wir sind eigentlich immer sehr pflichtbewusst. Bescheinen mit angenehmen Leselicht die Bücher, die unsere Besitzerin gerade lesen möchte. Normalweise bekommen wir dadurch nie den Schutzumschlag eines Buches zu sehen, weil dieser zuvor sicherheitshalber zur Seite gelegt wird. Den Sinn dahinter verstehen wir nicht, denn er soll ja das Buch "schützen". Aber gut, wir sind ja "nur" eine Leselampe. Bei "Wir sind das Licht" hat uns aber ganz besonders das Cover interessiert. Also haben wir, ganz schnell, wenn unsere Leserin mal gezwinkert hat, unser Licht auf den Umschlag geworfen. Das Umschlagbild erschien uns dabei sofort ganz passend. Das können wir beurteilen, denn wir lesen immer heimlich den Inhalt mit, während wir Licht spenden. Das Cover ist unheimlich und anlockend zugleich. Es ist stilsicher und gefällt auf den ersten Blick.

    Wir sind die Bewunderung. Uns verspürt unsere Leserin nicht bei jedem Buch, nein, wir entstehen nur, wenn ihr etwas ganz Besonderes vorgelegt wird. Und der Roman "Wir sind das Licht" ist so etwas Besonders. Er ist innovativ und mutig für eine Debütantin im Feld der literarischen Veröffentlichungen. Hier hat sich jemand etwas gewagt - und gewonnen. So klingen wir noch lange in unserer Leserin nach, die gar nicht aufhören kann von diesem Roman zu schwärmen. Wir als Bewunderung versuchen so häufig wie möglich gefühlt zu werden, deshalb würde unsere Leserin diesen Roman von Gerda Blees auch so ziemlich allen Leser*innen weiterempfehlen. Also sagen wir: Lest dieses umwerfende Debüt!
    Frauen Literatur Nicole Seifert
    Frauen Literatur (Buch)
    21.01.2022

    Klare Leseempfehlung für ALLE Literaturliebhaber*innen

    Zugegeben: Nicole Seifert hatte mich schon auf der ersten Seite dieses Buches für sich und ihr Anliegen eingenommen. Und mit der ersten Seite meine ich den Abschnitt zum Sprachgebrauch im vorliegenden Buch, welcher dem eigentlichen Text vorangestellt ist. Denn schon hier fängt das an, was im weiteren Verlauf des Buches Programm ist: Seifert macht klar, wann und warum sie "Autor*innen" oder "Schwarze..." oder "weiße..." [kursiv] als Formulierung nutzt. Denn hauptsächlich sexistische aber auch rassistische Strukturen unserer Literaturgeschichte sowie die weiterhin ausgeprägte Misogynie werden hier ausführlich besprochen.

    Trotz widriger Umstände gab es schon immer Frauen, die anspruchsvolle Literatur geschaffen haben. Ihre Fähigkeit zum literarischen Schreiben wurde und wird ihnen nicht nur aberkannt, sondern durch festgefahrene männliche Strukturen im Literaturbetrieb aktiv verdrängt und aus dem kulturellen Gedächtnis gelöscht. So klar und hart muss man das sagen. Und nach der Lektüre dieses hervorragenden Sachbuchs ist es selbst den nicht mit einem literaturwissenschaftlichen Studium gesegneten Leser*innen deutlich wie nie zuvor. Etwas, was vor der Lektüre nur als vage Ahnung bestand, wird für uns leicht nachvollziehbar aufbereitet und verändert den Blick auf den Literaturbetrieb grundlegend.

    Seifert leitet anhand konkreter historischer Beispiele die strukturelle Herabwürdigung literarischer Werke von Autorinnen eindringlich her. So vergleicht sie zum Beispiel Theodor Fontanes "Effi Briest" (1896), welches in den deutschen Literaturkanon aufgenommen wurde und bis heute in der Schule gelesen wird, mit den fast vergessenen Roman "Aus guter Familie" (1895) von Gabriele Reuter. Beide behandeln ähnliche Themen, sind fast zeitgleich erschienen, waren zur damaligen Zeit erfolgreich. Aber der Roman der Autorin wurde verdrängt (aktiv! nicht nur passiv "vergessen"). Dort, aber auch über die gesamte Literaturgeschichte hinweg zeigt sich, dass - beginnend bei der Annahme von Manuskripten durch Verlage, über die Vermarktung, hin zur Rezension von Kritikern und Präsentation im Buchhandel - eine frappierende Ungleichbehandlung zwischen dem Werk von Autorinnen und und dem von Autoren besteht. So gleicht die Lektüre von "FRAUEN LITERATUR" fast einem Erweckungserlebnis. Natürlich ist in den letzten Jahren etwas Bewegung in den Literaturbetrieb gekommen, keine Frage. Aber dies ist noch lange nicht genug. Denn wenn man den Satz "Männer haben immer noch Mühe, Frauen ausreden zu lassen, sie anzuhören und als die Expertinnen, die sie sind, ernst zu nehmen...", liest, unterstreicht er das vor kurzem Gesehene bei der beliebten Sendung "SWR Lesenswert Quartett" am 16.12.2021. Hier argumentierte - wie immer fundiert - Literaturkritikerin Insa Wilke in einer Runde von ansonsten ausschließlich Männern... und blieb verhältnismäßig ruhig, obwohl ihr überproportional häufig ins Wort gefallen oder schulmeisterhaft die Welt erklärt wurde.

    Unser Augenmerk sollte zukünftig als Leser*innen nicht nur darauf liegen, WAS wir lesen, sondern auch VON WEM wir lesen. Wir sollten durch Kaufentscheidungen den Verlagen das Signal senden, dass wir uns eine Kultur und Gesellschaft ohne misogyne Strukturen wünschen. Denn wie die Autorin unterstreicht: "[…] durch Abwarten kam man Ungleichbehandlung in der Vergangenheit noch nie bei [...]".

    Dieser aufrüttelnde Text über die strukturell nachweisbare, geschlechterbezogene Voreingenommenheit im Literaturbetrieb stellt meines Erachtens ein wichtiges Werk zum gesamten Themenkomplex dar und wird von mir uneingeschränkt zur Lektüre empfohlen. Männern wie auch Frauen und allen nicht-binären Personen, ob Schwarz oder weiß [kursiv]. Unbedingt lesen und eigenes (Lese-)Verhalten ändern! Zum Beispiel anhand der in diesem Buch zuhauf befindlichen Lektüreanregungen.
    Milch Blut Hitze Dantiel W. Moniz
    Milch Blut Hitze (Buch)
    19.01.2022

    Intensive Storys mit intensivem Inhalt

    In diesem eindrucksvollen Band versammelt der C. H. Beck Verlag elf ganz hervorragende Kurzgeschichten der Autorin Dantiel W. Moniz. Alle dieser Geschichten sind im Florida der letzten zwanzig Jahre angesiedelt und beschäftigen sich sehr facettenreich mit verschiedensten Themen der durchgängig Schwarzen Protagonistinnen (oder zumindest BIPOC, nicht immer ist ganz klar, ob es sich zwingend um Afroamerikanerinnen handeln muss) unterschiedlichen Alters. Allein in einer Geschichte stellt ein Ehemann den Hauptprotagonisten dar. Gerade in dieser geht es jedoch vorrangig um die Bewältigung der Krebserkrankung seiner Ehefrau innerhalb deren Beziehung untereinander.

    Die Darstellung von Beziehungen zwischen den Figuren stellt überhaupt einen wichtigen inhaltlichen Aspekt auf der Metaebene aller Geschichten dar. Auf den ersten Blick geht es um Mutter-, Tochter-, Schwesterschaft. Um aufgeladene Partnerschaften und zerbrechende Ehen. Hier ist keine Erzählung leichte Kost. Fast jede rammt sich direkt ins Bewusstsein der Lesenden. Die restlichen schleichen sich von hinten an und kriechen langsam in die Rezipient*innen hinein. Und dort setzen sie sich fest, arbeiten noch lange nach, entwickeln ein Eigenleben. Natürlich trifft nicht jede Geschichte gleich herausragend den eigenen Resonanzraum. Und trotzdem glänzen alle durch ihre ganz eigenen (vielleicht in dem Moment für einen selbst gerade nicht relevanten) Fragestellungen. Selbst vor (menschlichen) Abgründen schreckt die Autorin nicht zurück und bringt somit auch immer wieder eine nervöse Spannung ins Buch ein, welche den Leser*innen wahrscheinlich nicht nur einmal die Nackenhaare aufstellen lässt.

    Sprachlich bewegt sich die Autorin problemlos auf einem Niveau mit anderen großen amerikanischen Storytellern. Der große Unterschied: die inhaltlich mutige Wahl, nicht-weiße Frauen in den Blickpunkt zu nehmen. Aber zurück zur Sprache: Sätze wie der folgende katapultieren die Leser*innen direkt in das Verhältnis zwischen zwei Figuren. Einfach so, mit nur wenigen Worten: "...wenn sie [die Mutter] bei Ava im Zimmer stand, schien es kein Licht und keine Luft mehr darin zu geben." Großartig!

    Dass nicht jede Erzählung gleich starke Reaktionen bei mir auslösen konnte, kann ich dem Buch nicht vorwerfen. Das ist einfach ganz natürlich bei einer Kurzgeschichtensammlung. Es handelt sich insgesamt hierbei um eine hochkarätige Arbeit, welche aufgrund der inhaltlichen Fokussierung auf marginalisierte Gruppen hervorzuheben ist. Mit dem (für den Verlag) eher außergewöhnlich gestaltetem Cover, welches die Vielfalt und Prägnanz der Sammlung widerspiegelt, stellt dieses Buch eine lohnenswerte Anschaffung dar, die hochpersönliche aber doch auch gleichzeitig gesamtgesellschaftlich wichtige Themen und Personengruppen in den Mittelpunkt rückt.
    Zusammenkunft Zusammenkunft (Buch)
    16.01.2022

    Sehr intelligent - zu experimentell. 3,5*

    "Arbeite doppelt so hart. Sei doppelt so gut. Und immer, pass dich an." Das fasst den Aufstiegskampf nicht nur weiblicher sondern auch nicht-weißer Personen in Großbritannien wie auch anderen Kolonialismus-Nutznießer-Staaten zusammen. Die Ich-Erzählerin dieses Romans ist (scheinbar) sehr nah an der Autorin Natasha Brown selbst angelegt. Die eine wie auch die andere hat beste Zeugnisse der besten Universitäten vorgelegt und arbeitet im britischen Finanzsektor. Dort macht die Protagonistin trotz hervorragender Leistungen weiterhin rassistische und sexistische Erfahrungen, auch wenn diese für Nicht-Betroffene kaum begreifbar sind. Sie muss sich erniedrigen lassen und dient ihrem Weißen Partner aus der Oberschicht mehr als Maskottchen als wahre Gefährtin. Der Plot bewegt sich (sofern man dies so nennen kann) auf ein Familientreffen auf dem Landsitz der Schwiegereltern zu.

    Nun ist der eigentliche "Plot" dieses Buches eher Nebensache, denn die Autorin springt zwischen ihren Erlebnissen und essayistischen Passagen hin und her. Bricht prosaische Konventionen auf und wirft ihre Textpassagen den Leser*innen vor die Füße. Inhaltlich gibt es dabei Passagen, die so dermaßen prägnant zusammenfassen, wie es vielen Aufstiegswilligen dunkler Hautfarbe in Großbritannien geht, dass man sich der Drastik kaum entziehen kann. Sehr intelligent erschafft die Autorin hier fast ein Manifest. Leider ist mir persönlich das Werk letztlich aber zu experimentell zu zersplittert angelegt und auch einfach etwas zu knapp, um mich umhauen zu können. Das hat Bernardine Evaristo mit ihrem "Mädchen, Frau etc." vor kurzem erst viel besser geschafft. Tatsächlich beschrieb sie in einem ihrer dort dargestellten Lebenseinblicken eine sehr ähnliche Konstellation, wie sie in diesem Buch von Brown vorliegt. So überrascht es kaum, dass Worte des Lobes von Evaristo auf der Rückseite des vorliegenden Buches abgedruckt sind. Nur schaffte es meines Erachtens Evaristo mit einer viel größeren Wucht, die sozialen Ungleichheiten und Ungerechtigkeiten den Leser*innen nahe zu bringen. So verblasst "Zusammenkunft" neben diesem beispielhaft herausgegriffenen Kapitel aus "Mädchen, Frau etc."

    Keine Frage: Die Veröffentlichung von "Zusammenkunft" ist wichtig und ähnliche Veröffentlichungen werden auch in Zukunft noch weiterhin sehr wichtig bleiben, um ein Verständnis für die Lebenswirklichkeiten unzähliger Menschen zu schaffen. "Klassische Suhrkamp-Leser*innen" wird auch sicherlich nicht das Experimentelle dieses Textes stören. Für mich stellt es ein gutes bis sehr gutes Buch dar, was mich aber unverhältnismäßig wenig im Vergleich zu anderen Texten zum Thema berühren und nachhaltig packen konnte. Somit gibt es durchaus eine Leseempfehlung für dieses Werk meinerseits, jedoch mit dem oben genannten "Warnhinweis" zur experimentellen Textform.
    Erschütterung Percival Everett
    Erschütterung (Buch)
    12.01.2022

    Unfassbarer Schmerz

    Wenn das eigene Kind eine schwerwiegende Erkrankung diagnostiziert bekommt, ist die menschliche Seele kaum oder gar nicht in der Lage diese Situation einigermaßen zu bewältigen. Es ist eine massive Erschütterung der Vorstellung von Leben, wie es sein sollte. Am liebsten würde man einfach nicht mehr daran denken müssen, sich ablenken, wegrennen, wenn es schon nicht geht aus eigener Kraft das eigene Kind zu beschützen, zu retten. Denn nur diese eine Funktion hat ein Elternteil ab der Geburt des Kindes. So Zach Wells, der erzählende Protagonist des Romans "Erschütterung" von Percival Everett.

    Wie eine Familie mit dem steten, krankheitsbedingten Verfall des Kindes umgeht, erzählt Everett psychologisch feinsinnig aber nie sentimental-kitschig in diesem berührenden Roman. Die Konstruktion des Romans ist dabei eigenwillig, hängt aber nie seine Leser*innen ab. Selten habe ich von einer solch innigen Beziehung zwischen Vater und frühreifen, intelligenten Tochter gelesen, wie hier. Dieses Gespann erzeugt so viel Herzenswärme, dass es einem eiskalt den Rücken herunter läuft, wenn man später von der immer größer werdenden Distanzierung liest. Meisterhaft beschreibt Everett die seltene Erkrankung und den Verfall der Tochter Sarah, tiefgründig der Kampf der Eltern um sie als auch im ihre Beziehung zueinander. Und Everett nimmt immer wieder in den Fokus, auf welche Weise der Mensch Ablenkung, Erleichterung, vielleicht auch Erlösung in dieser unerträglich erschütternden Lebenssituation sucht. So driftet der Plot immer mehr zu Zachs Versuchen ab, wenn schon nicht seine Tochter, dann doch andere Personen zu retten. Der Roman bekommt zum Ende hin einen durchaus spannenden Thriller-Plottwist, der thematisch in eine ganz andere Richtung geht. Auch diesen Teil des Buches habe ich mit angehaltenem Atem gelesen, finde jedoch, dass der Autor damit zu viele Themen eröffnet und damit vom zentralen Thema der Vater-Tochter-Beziehung zu weit abdriftet. Was er damit bezwecken wollte, ist mir durchaus bewusst, es gibt diesem großartigen Roman dadurch aber eine Unwucht, die er nicht gebraucht hätte.

    "Telephone" ist der Originaltitel dieses Romans des Pulitzer Prize Finalisten. Das ist dahingehend wichtig, da er sich auf das (im Deutschen) Spiel "Stille Post" bezieht. Eine Nachricht verändert sich, umso häufiger sie weitergesagt wird. Eine Geschichte verändert sich, umso häufiger sie erzählt wird. Und: In der amerikanischen Originalausgabe erscheinen drei Versionen des Romans. Drei verschiedene Cover mit drei leicht verschiedenen Enden. Die Entscheidung, sich bei "Nichtgefallen" des Ausgangs des Romans, einfach eine andere Version zu besorgen, jedoch nie zu wissen, ob man ein besseres oder schlechteres Ende dadurch für sich selbst schafft, hat noch einmal eine ganz andere Durchschlagskraft in Bezug auf die Geschichte von Zach und seiner Tochter. Uns Leser*innen in Deutschland wird (meines Wissens) diese Möglichkeit der Entscheidungsfindung nicht ermöglicht. Wir müssen damit klarkommen, was der Verlag für uns ausgesucht hat und uns unserem und Zachs Schicksal fügen.

    Insgesamt handelt es sich meines Erachtens bei diesem Buch um einen absolut berührenden, schmerzhaften, großartigen Roman, der eine einmalige Vater-Tochter-Geschichte erzählt. Diese Geschichte wird mich noch lange begleiten. Deshalb runde ich - trotz vorhandener Kritikpunkte - guten Gewissens auf 5 Sterne auf.
    Betreff: Falls ich sterbe Betreff: Falls ich sterbe (Buch)
    10.10.2021

    Wenn das Unaussprechliche ausgesprochen wird - und passiert.

    Carolina Setterwall hat sich Großes vorgenommen. Sie verpackt ihren selbst erlebten Verlust des Lebensgefährten sowie die folgende Trauerarbeit in einen autofiktionalen Roman. Und meistert diese Aufgabe, an der man sich schnell verheben kann, wirklich nicht nur inhaltlich interessant, sondern auch literarisch ansprechend.

    Es ist unheimlich: Carolina bekommt im Mai 2014 von ihrem Partner eine prophetische Email mit dem Betreff "Falls ich sterbe", nur so zur Sicherheit, mit den wichtigsten Informationen und Passwörtern, er hoffe aber natürlich nur das Beste. Nur fünf Monate später ist ihr Partner Aksel tot. Plötzlich und unvorhersehbar gestorben an einem Herzstillstand. Wie sich Carolina aus dieser unfassbaren, unaushaltbaren Situation nach und nach herausarbeitet, beschreibt sie nun in diesem Roman.

    Stilistisch wählt sie hierfür einige kreative Kniffe, um es nicht zu einem weiteren "Trauerarbeitsbuch" werden zu lassen. Setterwall arrangiert die mitunter recht kurzen Kapitel in zeitlichem Wechsel zwischen der ersten Zeitlinie ab dem Todestag von Aksel im Oktober 2014 und der zweiten Linie, welche im April 2009 mit dem Kennenlernen der beiden einsetzt. So nähern sich im Verlauf der ersten 250 Seiten die beiden Zeitlinien immer weiter an, immer mehr erfahren die Leser*innen über die Beziehung von Carolina und Aksel, immer intimer wird der Einblick in ihr gemeinsames Leben. Und ebenso intim gestaltet sich der Einblick in das Leben Carolinas ohne ihren Partner und Vater des gemeinsamen Sohnes, kein Jahr alt, als der Vater verstirbt. Diese Anordnung lässt das Buch unglaublich spannend werden. Man wünscht sich nach jedem Kapitelwechsel, so schnell wie möglich auf der anderen Zeitlinie weiterlesen zu können. Sehr gut gemacht. Ebenso geschickt ist der Kunstgriff, den Roman wie einen Brief, eine Niederschrift an den Verstorbenen zu formulieren. Stets wird Aksel direkt von Carolina angesrochen, es ist von "Du", "Dir", "Deine" die Rede. Das hebt den Roman auf eine äußerst persönliche Ebene.

    Die fast schon minutiös geschilderten Höhen und Tiefen der Beziehung, der Elternschaft als auch der Trauer sind wirklich interessant und fesselnd, werden aber über die letzten 200 Seiten hinweg etwas ermüdender und auch gefühlt langatmiger. Hier scheint sich Setterwall zu stark in Gedankenkreisen zu bewegen, fast schon zu psychoanaytisch-reflektiert vorzugehen. Und dann denkt man wieder: Nein, genau dieses Detail musste ich jetzt wissen, um die Protagonistin Carolina besser verstehen zu können.

    Wer Isabel Bogdans "Laufen" mochte und es gern ausführlicher gehabt hätte, wird sicherlich in diesem Roman eine für sich passende Lektüre finden. Mich hat bewegt, wie wichtig Familie und Freunde als Unterstützung nach einem solch undenkbaren Verlust sind und wie deutlich dies aus dem Roman hervorgeht. Eine empfehlenswerte Lektüre für Personen, die mit detailierten Beschreibungen emotionaler wie auch kognitiver Reaktionen eines Menschen auf einen plötzlichen Verlust umgehen können und daran viel Interesse zeigen. Für alle anderen könnte dieser Roman zu analytisch, überbordend und überfordernd wirken.
    Weiße Nacht Weiße Nacht (Buch)
    10.10.2021

    Als würde man einen David Lynch Film lesen.

    Habt ihr schon mal versucht, den Inhalt eines David Lynch Films einer anderen Person zu schildern? Falls ja, könnt ihr euch vorstellen, welche Probleme es macht, den vorliegenden Roman von Bae Suah inhaltlich zusammenzufassen. Sagen wir es so: Es kommt eine ehemalige Schauspielerin, ein Hörtheaterdirektor und ein Dichter darin vor. Es ist Nacht und die Wege Seouls, in dem der "Plot" verortet ist, scheinen mit Oxymoron-Steinen gepflastert zu sein. Wenn ihr jetzt nur Bahnhof verstanden habt, dann geht es euch wie mir mit diesem Buch.

    Auf außerordentlich surreale Weise ist "Weiße Nacht" ein einziger Fiebertraum. Dabei erscheinen die Szenen, Begegnungen, Eindrücke durchweg frei assoziiert worden zu sein und im schlimmsten Fall ufern Dialoge in ein zusammenhangsloses Geschwafel aus. Ich suche jetzt mal die Schuld bei mir und muss mir wohl eingestehen, dass ich bisher keine eher anspruchsvolle Literatur gelesen, sondern nur Easy Reads geschmökert habe und zu unintelligent bin, um dieses Buch zu verstehen. Und ganz ehrlich: So erging es mir bisher immer, wenn ich versuchte einen David Lynch Film nicht nur zu sehen, sondern auch zu verstehen. Es scheint ja Menschen zu geben, die David Lynchs Filme mögen. Diesen Personen wird auch dieser Roman sehr gut gefallen. Ich gehöre leider nicht dazu und kann diesen - außer an die oben genannte Personengruppe - auch gar nicht weiterempfehlen. Obwohl die Autorin durchaus sehr gut schreiben kann! Obwohl mich das Cover magisch anzieht! Trotzdem hat mir dieses Buch in dieser Form überhaupt nicht zugesagt.

    So bleibt mir abschließend nur zu sagen: "Silencio. Silencio".
    Harlem Shuffle Harlem Shuffle (Buch)
    10.10.2021

    Colson Whitehead: Wie immer ein Garant für hochkarätige Literatur.

    „Ich bin vielleicht manchmal pleite, aber ein krummer Hund bin ich nicht“, beschreibt sich der Protagonist des neusten Whitehead-Romans selbst. Ray Carney ist ein einfacher, schwarzer Möbelhändler im Harlem der 1960er Jahre. Er hat sich sein Möbelgeschäft mit viel Anstrengung aufgebaut und kann stolz durchaus darauf sein. Zu Beginn ist er auch noch stolz darauf, dass er dies größtenteils ohne Gaunereien geschafft hat. Er ist nämlich der Sohn eines mittlerweile verstorbenen, stadtteilweit bekannten Ganoven, früh Halbwaise nach dem Tod der Mutter geworden und zeitweise stark verwahrloster Junge gewesen. Nun taucht sein Cousin, welcher für Ray wie ein Bruder ist, mit jeder Menge Ärger im Gepäck auf und zieht Ray immer tiefer in das Zwielicht Harlems.

    Der neue Roman von Colson Whitehead ist ganz anders als die vorherigen und trotzdem bleiben die wichtigsten Themen des Autors omnipräsent: Rassismus und das Leben als Schwarze Person in einer Weißen Gesellschaft. Was ist ganz anders? Es handelt sich hier größtenteils um eine Gangstergeschichte, die grandios aufgezogen ist und mit einem Heist beginnt, über eine lang geplante Rache hin zu Schwierigkeiten mit Personen ganz anderen Kalibers entwickelt. Flott und mitreißend erzählt Whitehead in 1959 einsetzend die Geschichte um die Verwicklungen von Ray in immer zwielichtigere Geschäfte. Grandios scheint immer wieder der Möbelunternehmer mit Herz und Seele, der er eigentlich bleiben wollte, in den Beobachtungen und Schilderungen Rays durch. Bezüglich des Plots und des Stils taucht man mit Ray tief in die 60er Jahre ein, inklusive der damals im Rahmen der Bürgerrechtsbewegung erwachenden Rassenunruhen ein. Treffsicher baut Whitehead immer wieder Brücken zu den aktuellen Geschehnissen in den USA mit Polizeigewalt gegen Schwarze, der Erschießung George Floyds (neben unzähligen anderen) und den darauffolgenden Protesten und zeigt damit, wie sich leider noch nicht genug getan hat bezogen auf diese Themen in den vergangenen 60 Jahren. Auch den Wandel der Mega-City New York zeichnet er dezent nach. Und trotzdem bleibt der Autor ganz nah dran, an den Menschen, den Beziehungen, vor allem der zwischen Ray und seinem chaotischen Cousin Freddie, die eigentlich wie Brüder sind und zwischen denen eine tiefe Verbindung existiert.

    Neben den vielen literarisch hochwertigen Kunstgriffen des Autors gefallen mir besonders die eingebauten Querverweise auf literarische Werke unterschiedlicher Epochen und Qualitäten, die in gewisser Weise immer wieder die Handlung des Plots von „Harlem Shuffle“ vorhersagen. Großartig, wenn man dann noch nebenbei - selbst in brenzligen Situationen - in die Vorteile gewisser Möbelserien eingeweiht wird, denn der Möbelverkäufer hat nun mal ein Auge dafür. Es macht einfach Spaß, dieses Buch zu lesen und sich auf die Brillianz von Colson Whiteheads Sprache einzulassen. Seine Wortwahl ist immer pointiert und aufs Kleinste durchdacht. Kein Wort ist hier nur zufällig im Text gelandet. An dieser Stelle ist auch die exzellente Übersetzungsleistung von Nikolaus Stingl hervorzuheben.

    Wir begleiten einen Schwarzen in der Zeit der Bürgerrechtsbewegung dabei, wie er - eigentlich ganz unpolitisch – versucht, sein Leben langsam immer weiter zu verbessern, gespiegelt durch verschiedenste Metaphern im Roman. So wird das Private zunehmend zum Politischen. „Der Fehler war, zu glauben, er wäre jemand anders geworden. Zu glauben, dass die Umstände, die ihn geformt hatten, anders gewesen waren oder dass diesen Umständen zu entkommen ebenso leicht war, wie in ein besseres Gebäude umzuziehen oder richtig sprechen zu lernen.“

    Der vorliegende Roman konnte mich einmal mehr von der literarischen Klasse Colson Whiteheads überzeugen und ich drücke ihm die Daumen, dass er mit „Harlem Shuffle“ den Triple-Erfolg schafft und mit drei Romanen in Folge den Pulitzer-Preis erhält. Verdient hätte er es.
    Der Kolibri - Premio Strega 2020 Der Kolibri - Premio Strega 2020 (Buch)
    10.10.2021

    Spiel mit der Zeit

    In „Der Kolibri“ schwirrt der Autor Sandro Veronesi wie der gleichnamige Vogel um das Leben von Marco Carrera. Zunächst wirkt dieser Marco wie ein eher langweiliger Nullachtfünfzehn-Augenarzt mit Affäre inklusive schmalzigen Liebesbriefen. Er wird von seiner Frau verlassen und erfährt dies nicht von ihr selbst, sondern von deren Psychoanalytiker. Wie kläglich. Dass das Leben von Marco aber mit nicht immer nur „kläglich“ war, sondern auch echte und abwegige Schicksalsschläge für ihn bereithielt und – vom Zeitpunkt des Gesprächs mit dem Psychoanalytiker ausgehen – noch zukünftig bereithalten wird, erfahren die Lesenden dieses ungewöhnlichen Romans erst mit der Zeit.

    „Mit der Zeit“ ist das Stichwort, da das herausstechendste Merkmal des Romans dessen Erzähl- und Zeitstruktur darstellt. Hier wird nichts chronologisch den Lesenden auf dem Präsentierteller hingehalten, nein, die Abfolge der Lebensereignisse von Marco muss sich schwer erarbeitet werden. Zwischen den Jahren 1960 und 2030 springt Veronesi wild hin und her, wirft nicht nur prosaische Texte sondern ebenso (Liebes-)Briefe, Telefonate und Emails ein. Was jetzt wirr klingt, ist es mitunter auch, fügt sich schlussendlich aber doch zu einem einigermaßen vollständigen Puzzlebild.

    Was genau der Autor mit diesem Puzzlebild, welches das schicksalhafte Leben von Marco zeigt, ausdrücken möchte, ist mir zwar bis zum Schluss nicht ganz klar, aber auch egal. Der Sprachstil von Veronesi lohnt sich einfach aufgrund seiner Art zu lesen. Wenn er über Seiten hinweg am Stück, ohne Luft zu holen, ohne Punkt aber mit vielen Kommata den Moment beschreibt, wenn ein Elternteil einen Telefonanruf des Nachts bekommt, welcher nur bedeuten kann, dass etwas Schlimmes passiert sein muss, setzt auch der Atem bei den Lesenden aus. So nimmt das Buch, nach einer ersten Eingewöhnungsphase, vor allem im zweiten Teil enorm an Fahrt auf und steht gleichzeitig auch auf der Stelle. Wie ein Kolibri eben.

    Meine Kritikpunkte liegen vor allem in einer stellenweise nachlässigen Übersetzung bzw. ungünstigen Übersetzungsentscheidungen, die dem Text nicht gut zu Gesicht stehen. Und mitunter schweift der Autor dann doch auch inhaltlich zu weit ab, wird zum Zugvogel statt ein Kolibri zu bleiben. Zuletzt hat mich das letzte Kapitel mit den Nachweisen und der Danksagung gleichermaßen enttäuscht, mir aber auch gefallen. Enttäuscht, weil man desillusioniert erkennen muss, wie viele Ideen ein Autor (und wahrscheinlich auch viele andere Autor*innen) von anderen Schriftsteller*innen übernehmen. Gerade an den Stellen, die man besonders toll und kreativ empfand. Gefallen, weil der Autor damit eine mir bisher im Anschluss an einen Roman nur selten begegneten Transparenz darbietet. Es lohnt sich also bis zur letzten Seite zu lesen!

    Insgesamt liegt hier ein sehr guter Roman - mit Abstrichen - vor, der durchaus lesenswert ist, mich zeitweise tief berühren konnte, aber auch mal genervt hat. Deshalb abschließend 3,5 Sterne von mir für diesen Kolibri von einem Roman.
    Barbara stirbt nicht Alina Bronsky
    Barbara stirbt nicht (Buch)
    10.10.2021

    Kurzweilige Lektüre mit Tiefgang aber zu schnödem Abschluss

    Herr Schmidt, ein Mann, der denkt, da er der Mann im Haus ist, habe er auch alle Zügel in der Hand. Schon immer. In Wahrheit entpuppt sich der altbacken-konservativ verbohrte Herr Schmidt als ein hoch unselbstständiger Zeitgenosse. Bis zu dem Zeitpunkt, als seine Frau Barbara bettlägrig wird und nicht mehr die Geschicke im Verborgenen lenken kann. So sieht sich Herr Schmidt gezwungen, selbst Hand anzulegen und den Alltag der beiden zu bewältigen.

    Unglaublich amüsant und gleichzeitig in seiner Überspitztheit sehr wahrheitsgemäß beschreibt Alina Bronsky ein nicht so seltenes Szenario. Der frühere „Geldverdiener“ (und mehr aber auch nicht) muss zum „Hausmann“ werden und realisiert, was die Ehefrau die letzten 52 Jahre eigentlich alles gestemmt und geschafft hat. Denn natürlich wissen wir: Keine Arbeit macht sich von allein. Feinfühlig zwischen „hinreißend“ und „bitterböse“ entlarvt Bronsky die mal mehr mal weniger offensichtlichen Unterschiede in der Selbst- und Fremdwahrnehmung. Ich bin begeistert. Der so unfehlbare Herr Schmidt ist nämlich bei weitem nicht unfehlbar oder gar perfekt. Die Leser*innen sehen, was er nicht erkennt oder nicht erkennen will. Dass sein Sohn, wenn er nach dem Enkelkind befragt antworten muss „Ist nicht meine Woche“, meint, dass er von der Kindsmutter getrennt lebt und ein Wechselmodell zur Kindsbetreuung existiert. Dass wenn die Tochter immer ihre „beste Freundin“ mit zu Familienbesuchen bringt, natürlich ihre Partnerin gemeint ist. Herr Schmidt ist nun einmal verbohrt altmodisch, versteht die Welt nicht sonderlich gut. Und doch ist der Blick von Bronsky immer feinfühlig, denn auch Herr Schmidt ist nicht ohne Grund so geworden, wie er ist. Das scheint immer wieder durch. Nichts ist, wie es auf den ersten Blick scheint. Die Autorin nimmt sich die Zeit, genauer hinzuschauen.

    Eigentlich legt Bronsky damit einen sehr guten, kurzweiligen Roman mit Tiefgang vor. Die Figuren sind – auch wenn sie nicht die von vornherein absolute Sympathieträger sein können – doch mit Empathie angelegt und man schließt sie mit all ihren Ecken und Kanten ins Herz. Nur leider konnten mich die letzten 40 Seiten des Buches überhaupt nicht überzeugen. Da zaubert die Autorin plötzlich noch eine neue Figur aus dem Hut, führt sie nur kurz ein und macht sie zur Hauptperson des Buchendes. Das holt mich als Leserin einfach nicht ab. Hinzu kommt, dass auch diese Person auf ihre Art „besonders“ ist und aus der Norm fällt, sodass es scheint, als ob Bronsky auf Biegen und Brechen dem auf den ersten Blick vollkommen durchschnittlich wirkenden Herrn Schmidt, so viele diverse Figuren, wie nur möglich an die Seite stellen wollte. Das wirkt, neben der homosexuellen Tochter und dem Sohn, dessen Sohn übrigens „brauner“ Hautfarbe ist, also die Ex-Schwiegertochter eine Person of Color zu sein scheint, der russischstämmigen Ehefrau Barbara und anderen einprägsamen Randfiguren, doch alles sehr gewollt, zu überzufällig divers und in seinem Auftreten doch sehr unwahrscheinlich. Mit dieser Konstruktion des Romanpersonals im Sinne von: „only to proof a point“ habe ich Probleme. Das war dann wirklich zu viel des Guten. Ein bisschen wie ein zu schönes Weihnachtsmärchen.

    Somit ist dies durchaus ein guter, auch zur Lektüre empfehlenswerter Roman geworden, der meines Erachtens zum Ende hin zu sehr schwächelt. Mit seeehr viel gutem Willen sind es noch gerade so 4 Sterne geworden, weil mir die Grundthematik von Pflege und Abschied mal unkonventionell umgesetzt erscheint.
    Shuggie Bain Douglas Stuart
    Shuggie Bain (Buch)
    10.10.2021

    Trostlose Geschichte, mittelmäßig übersetzt.

    Die in den vergangenen Jahren mit dem Booker Prize prämierten Bücher konnten mich bisher ausnahmslos überzeugen. Leider ist dies dem autobiografisch grundierten „Shuggie Bain“ von Douglas Stuart in der deutschen Übersetzung von von Sophie Zeitz nicht gelungen.

    In diesem Roman geht es eben weniger als erwartet um den Jungen Shuggie Bain, welcher in der düsteren Zeit der 1980er unter Maggie Thatcher im Milieu der (arbeitslos gewordenen) Arbeiter Glasgows aufwächst. Aber das ist nicht das Schlimmste an seinem Erwachsenwerden. Nein, die Tragik seines Lebens entsteht durch die alles durchdringende und auch alles zerstörende Alkoholsucht der Mutter Agnes.

    Nun wird der Roman hauptsächlich als Mutter-Sohn-Geschichte mit den beiden Besonderheiten der Akteure, dass Agnes Alkoholikerin und Shuggie homosexuell ist, promotet. Es handelt sich aber viel mehr um eine Milieustudie dieser Zeit in dieser sozioökonomischen Schicht. Beziehungsweise kann sich der Roman häufig nicht so richtig entscheiden, was von beidem er sein möchte. Psychologisch in die Tiefe geht er durch seinen beobachtenden Erzählstil leider nur selten. Da hätte die Geschichte und vor allem die (einseitig) symbiotische Beziehung von Shuggie und Agnes viel mehr hergegeben. Vielmehr wird Schlag auf Schlag (mitunter im wörtlichen Sinne) mit Brutalität, sexueller sowie psychischer Gewalt auf Dramatik gesetzt. Zu viel meines Erachtens. Zwischendurch gibt es so gut wie keine Lichtblicke. Es geht mir nicht darum eine sonnige Happy-Ending-Geschichte zu bekommen. Aber dieser Roman ist so, wie er hier angelegt ist, kaum ertragbar und selbst für Abgehärtete Leser*innen nur schwer verdaulich.

    Schwer zu verdauen ist auch die Übersetzung von Sophie Zeitz. Aus meiner Sicht das größte Manko dieses Romans. Nicht nur hat sie unglaublich viele merkwürdige Übersetzungsentscheidungen getroffen, die einfach den Lesefluss massiv stören sondern hat sie auch einen fiktiven Arbeiterslang ausgedacht, welcher die vielen Passagen wörtlicher Rede der Glasgower*innen (oder wie Zeitz schreiben würde: der Glasweger/innen) ins Deutsche übertragen soll. Leider ist dabei ein unglaubwürdiger und unglaublich nerviger Mischmasch verschiedener deutscher Dialekte herausgekommen. Am abwegigsten ist dabei zum Beispiel die ständige Verwendung von „Lütte“ und „Lütter“ kombiniert mir Wörtern aus anderen deutschen Dialekten. Man kann nicht einfach einen norddeutschen Dialekt nach Schottland verfrachten. Das geht einfach gar nicht. Also es geht doch, wie wir lesen müssen, ist aber einfach nur lächerlich.

    Inhaltlich wie sprachlich haben mir eigentlich erst die letzten 60 Seiten des Buches zugesagt, sodass mir unterm Strich nur ein mittelmäßiges Leseerlebnis im Gedächtnis bleibt. Und natürlich die vielen scheußlichen Gewaltakte der Geschichte. Leider. Hier hätte ich von einem mit dem Booker Prize prämierten Buch viel mehr erwartet.
    Wie schön wir waren Wie schön wir waren (Buch)
    10.10.2021

    Mitreißender Kampf einer Dorfgemeinschaft um ihr Überleben

    „Ich lausche dem Lachen meiner Freunde und beobachte, wie ein paar junge Männer zum Dorfplatz huschen, um sich dort zusammenzusetzen und abzuhängen und Pilze zu rauchen – der seichte Wind ist perfekt dafür , und ich kann mir keinen schöneren Geburtsort vorstellen als Kosawa.“ Das ist für die junge Thula wahr. Aber auch folgende Gedanken zu ihrem Geburtsort sind für sie wahr: „Erst spätnachts, wenn hoffentlich alle schlafen, wende ich mich meinen eigenen Schmerzen zu. Das sind die Momente, in denen ich weine, mir ausmale, wie anders unser Leben wäre, wenn unsere Vorfahren sich statt dieses irgendein anderes Stück Land ausgesucht hätten. Bilder von meinen toten Freunden besuchen mich in meinen Träumen.“ Tot sind die Freunde, weil ein amerikanisches Erdölunternehmen in der direkten Nachbarschaft des fiktiven afrikanischen Dorfes Kosawa verschiedenste Gifte in die Umwelt leitet, ohne Rücksicht auf Land und Leute. Thula ist eins der Kinder, die in den 1980er Jahren in dem verseuchten Ort aufwachsen (müssen). Sie und ihre Familie haben sich der Rettung ihrer Heimat verschrieben. Auf deren Wegen begleiten wir sie über viele Jahrzehnte hinweg in diesem Buch.

    Gekonnt stellt Imbolo Mbue in ihrem zweiten Roman die Heimatverbundenheit und den Zusammenhalt einer dörflichen Gemeinschaft dem Schrecken gegenüber, den ein kapitalistisches Ausbeuter-System in einem post-kolonialen Afrika dieser Gemeinschaft zumutet. Zu Beginn scheinen die Fronten klar. Hier die Guten: die Dorfbewohner. Da die Bösen: Die Mitarbeiter des Ölkonzerns und die Lakaien des despotischen Landesoberhauptes. Die enorme Empathie mit dem Dorf und seinen Bewohnern erzeugt Mbue durch den geschickten Einsatz wechselnder Erzählperspektiven. Dass die Ich-Erzählperspektive zwischen verschiedenen einzelnen Personen eines Plot wechselt ist nicht neu. Was die Autorin jedoch sehr kreativ umsetzt und einwebt ist eine „Wir“-Stimme. Es kommen nämlich nach jedem*r Ich-Erzähler*in „die Kinder“ des Dorfes zu Wort. Und ja, sie sprechen als Kollektiv von sich als „Wir“. So bekommen wir Lesenden das Gefühl tief in die Gemeinschaft einbezogen zu werden und es fühlt sich noch einmal viel schrecklicher an, wenn wieder ein Kind aus unserer Mitte stirbt. Durch den geschickten Einsatz des Perspektivwechsels wird über das gesamte Buch hinweg eine enorme Spannung gehalten. Und langsam verschiebt sich der Eindruck von den Dorfbewohnern als Opfer weg hin zu Handlungen, die sie zu Tätern machen. Somit führt Mbue einen Beweis auf eine originelle Art und Weise, der schon oft geführt wurde, aber trotzdem immer wieder geführt werden sollte: Es gibt nicht nur Schwarz und Weiß sondern auch Grautöne, wenn es um moralische Beurteilungen geht.

    Stets habe ich mit den Protagonisten, ihrer Lebensgeschichte und vor allem ihrem Kampf gegen ein Unrechtssystem mitgefiebert. Und eins wird nach dieser prosaischen Verarbeitung des Themas wieder einmal deutlich: der sogenannte „westliche Lebensstil“ geht eindeutig und immer (!) auf Kosten anderer, die weniger Mittel zur Verfügung haben, um sich gegen dieses Unrecht zur Wehr setzen zu können. Somit wird „Wie schön wir waren“ nicht nur zum moralischen Appell sondern auch zum fulminanten, atemlosen Roman über die Aufopferung einer Generation für ihre Gemeinschaft, geschrieben von einer sehr begabten, jungen Autorin, die man definitiv im literarischen Blick behalten sollte. den vorliegenden Roman finde ich gleichmaßen bewegend, aufrüttelnd und überzeugend.
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