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    gaia

    Aktiv seit: 10. Oktober 2021
    "Hilfreich"-Bewertungen: 11
    99 Rezensionen
    Der weiße Fels Anna Hope
    Der weiße Fels (Buch)
    19.06.2023

    Vier Geschichten und ein mythischer Fels

    Anna Hope zentriert die vier Geschichten ihres aktuellen Romans um einen mythisch aufgeladenen Fels an der Pazifikküste Mexikos herum. Ausgangspunkt ist die Geschichte einer nicht näher benannten Schriftstellerin, die mit ihrer vierjährigen Tochter und dem fremdgehenden Ehemann im Frühjahr 2020 aus Großbritannien nach Mexiko reist, um sich im Rahmen einer Pilgerreise für die Geburt ihrer Tochter zu bedanken. Denn erst nach einem Ritual der indigenen Bevölkerung wurde ihr Kinderwunsch erfüllt. Die Reise wird für sie die Gelegenheit darstellen, das Weiterführen ihrer Ehe zu überdenken.

    Man sollte sich nicht von der Leseprobe zum Buch „abschrecken“ lassen, denn es geht in „Der weiße Fels“ bei weitem nicht nur um eine Schriftstellerin mittleren Alters, die mit ihrer Ehe hadert. Weit gefehlt. Wir springen zwar nicht in Raum aber definitiv in der Zeit. Denn schon der nächste Buchabschnitt beschäftigt sich nicht mehr mit „der Schriftstellerin“ sondern mit „dem Sänger“. Man braucht den Klappentext des Buches nicht, um schnell herauszulesen, dass es sich dabei um den Sänger der „The Doors“, Jim Morrison, handelt. Mr. Mojo Risin befindet sich im Jahre 1969 nämlich in einer Sinnkrise unter dem Druck des überwältigenden Erfolgs seiner Band und dem Eindruck von vielen verschiedenen Substanzen in seinem Körper. Nun begleiten wir ihn ebenso bei einer Art Pilgerfahrt zum weißen Fels. Dann springen wir wieder ein Stück in der Zeit zurück und landen im Jahre 1907, in dem „das Mädchen“ gerade aus ihrer Heimat verschleppt wird; ein Mädchen aus der indigenen Gemeinschaft der Wixàrika/Yoeme, welche seit den ersten kolonialen Bestrebungen der Krone Spaniens auf den amerikanischen Kontinenten verfolgt und ausgerottet wurde und noch immer wird. Und genau zu diesen Anfängen der Kolonisierung springen wir dann auch noch. Ins Jahre 1775 zu „dem Leutnant“, der mit Zwischenstation in der Nähe des weißen Felsens sich mit mehreren Schiffen nach Norden aufmachen soll, um die Bucht von San Francisco als einer der ersten Europäer zu vermessen und kartografieren.

    Das Buch ist, wie bereits auf der ersten Seite, dem Inhaltsverzeichnis, klar wird, konzentrisch aufgebaut. In der Mitte steht der weiße Fels mit einem eigenen Kapitel und wir bewegen uns zunächst aus dem Jahre 2020 rückwärts darauf zu und ab der Hälfte auf dem Zeitstrahl wieder nach vorn zum Jahre 2020. Die Geschichten um die vier Protagonist:innen könnten auch für sich stehende Novellen darstellen, werden von Anna Hope jedoch geschickt miteinander zu einem runden Roman verzahnt. Diese Struktur des Romans hat mir sehr gut gefallen. Sie erinnerte mich an Michael Christies „Das Flüstern der Bäume“, in welchem die Kapitel genauso angeordnet, hier aber an die Jahresringen eines Baumes angelehnt sind.

    Hope schreibt süffig und weiß durch ganz unterschiedliche Szenarien zu überzeugen. Die einzelnen Geschichten beinhalten neben dem weißen Fels als zentralen Moment aber noch weitere Parallelen. So geht es immer auch um Zwänge, Verpflichtungen, Ausbeutung, Unfreiheit und das Suchen nach der Freiheit. Seien es die Verpflichtungen in einer Familie und Ehe, die Zwänge der körperlichen Abhängigkeit, die Loyalität zur Krone oder die Unfreiheit der Verfolgung aufgrund der ethnischen Herkunft. Alle Protagonist:innen hadern mit der Freiheit. Ebenso zieht sich das Thema der Kolonisierung Mittelamerikas und die Unterdrückung der indigenen Bevölkerung durch alle Texte und damit auch durch alle Zeiten. Über fünfhundert Jahre lang wurden diese Menschen verfolgt, das wird durch diesen Roman an persönlichen Geschichten mal mehr mal weniger stark subtil dargestellt.

    Allein das Ende des Romans, welches wieder zurückzoomt auf „die Schriftstellerin“ und ihre Probleme, konnte mich nicht ganz überzeugen, wird doch besonders im mittleren Teil die ganz große Historie des Kolonialismus aber im Kleinen anhand von Einzelschicksalen erzählt. Trotzdem handelt es sich hierbei um ein definitiv lesenswertes Buch, welches das Licht auf eine Weltregion und deren indigene Bevölkerung wirft, die bezogen auf die Dekolonisierung (ein Begriff, den die Autorin in ihren ausführlichen Anmerkungen am Ende des Buches aufgreift) bisher nur selten in der Literatur aufgegriffen wurde. Eine sehr bereichernde und dennoch leichtfüßige Lektüre.

    4/5 Sterne
    Und dann verschwand die Zeit Jessie Greengrass
    Und dann verschwand die Zeit (Buch)
    19.06.2023

    Eine leise Dystopie, die umso lauter nachhallt

    Um ehrlich zu sein, konnte ich mit dem philosophisch-verkopften Vorgängerroman von Jessie Greengrass „Was wir voneinander wissen“ gar nichts anfangen. Zum Glück ist mir erst jetzt während des Schreibens der Rezension aufgefallen, dass es sich hierbei um dieselbe Autorin handelt, sonst hätte ich vielleicht vorschnell die Finger von „Und dann verschwand die Zeit“ gelassen. Da hätte ich wirklich etwas verpasst!

    In ihrem aktuellen Roman entwirft die Autorin ein dystopisches Szenario, welches in der nahen Zukunft im Küstengebiet Großbritanniens angesiedelt ist. Gleich zu Beginn wird klar: das Meer hat sich die Küste hinauf gefressen und eine Flussmündung ist langfristig überflutet. Eine zusammengewürfelte Truppe versucht im „High House“, einem - schon dem Namen zu entnehmend - etwas erhöht liegendem Anwesen mit Garten, Wasserrad und Holzofen abgeschnitten vom Umland zu überleben. Dieses Szenario könnte man sich ganz leicht als apokalyptischen Blockbuster vorstellen, in dem sehr viel und vor allem sehr laut passiert. Aber so ist das Buch von Greengrass überhaupt nicht angelegt.

    Das Figurenensemble zum Beispiel besteht aus einem Halbgeschwisterpaar. Bei Eintreffen im High House, ist Caro noch keine 20 Jahre und ihr kleiner Halbbruder Pauly erst ca. vier Jahre alt. Sie musste schon früh eine mütterliche Rolle übernehmen, war doch die leibliche Mutter von Pauly schon vor den Ereignissen, die zur Übersiedlung ins High House geführt haben, mehr ab- als anwesend. Die Klimaforscherin schien mehr Interesse daran zu haben, die Welt vor der Klimakatastrophe zu schützen, als Zeit mit ihrer Familie zu verbringen. Als die beiden im High House ankommen, leben dort aber bereits zwei Personen. Die ungefähr Mitte 20jährige Sally und ihr Großvater Grandy. Nun müssen sich diese Menschen nicht nur mit den anstehenden Naturkatastrophen arrangieren sondern auch mit sich untereinander. Greengrass lässt dabei ihre Leserschaft tief in die Köpfe drei der Protagonisten eintauchen, indem sie im wechselnden Rhythmus Sally, Caro und Pauly als Ich-Erzähler:innen pro Kapitel einsetzt. Wir erfahren dadurch immer mehr, wie es zu dieser Ausnahmesituation gekommen ist und bleiben meist ganz nah an den persönlichen Erfahrungen der Protagonist:innen.

    Da sich die Autorin sowohl bezogen auf die Figuren aber auch das geografische Umfeld im Mikrobereich bewegt und gar nicht ein weltumfassendes Makrobild des Zustandes der Erde und der Menschheit entwirft (jedoch durchaus an der ein oder anderen Stelle erahnen lässt), bleibt der Roman stets sehr ruhig in seiner Erzählweise. Es müssen nicht immer die großen Dramen ausgepackt werden, um zu zeigen, was die Veränderung unserer Lebensbedingungen auf dieser Erde ganz konkret für einzelne Personen bedeuten kann. Sie präsentiert uns auch keine eindeutigen Heldenfiguren oder Bösewichte, vieles bleibt grau und diesig wie die Landschaft im Roman.

    Was mich zu einer weiteren Stärke dieses Romans führt: Die ruhigen ganz detaillierten Naturbeschreibungen der Autorin lassen ganz ohne Effekthascherei ein düsteres Bild der zukünftigen, und leider nicht mehr ganz so fernen, Lebensumstände für Flora und Fauna im Kopf der Leserschaft auferstehen. Durch Erzählstil, welcher nach und nach durch die Augen der verschiedenen Figuren diese Welt für die Lesenden sichtbar macht, wird man Stück für Stück in die düstere Atmosphäre eingesogen und kann sich nur sehr schwer daraus befreien.

    Wenn man schon gar nicht erst in dieser Szenerie landen möchte, die sich weit ab von romantisierten Selbstversorgungsfantasien bewegt, so bietet einem die Autorin auch keinen klaren Ausweg daraus an. Sie lässt vieles offen und behandelt letztlich auch die Frage, wie lebenswert ein Leben ist, wenn man eine Katastrophe zwar überlebt hat, dann aber auch irgendwie weiterleben muss. Den Themen nähert sich Greengrass sehr ruhig, was den Inhalt des Buches während und nach der Lektüre nicht weniger laut nachhallen lässt. Für mich ein absolut empfehlenswertes Lesehighlight, fernab von jedem Katastrophentourismus.

    „Man denkt, man hat noch Zeit. Und dann hat man plötzlich keine mehr.“

    5/5 Sterne
    Als wir Vögel waren Ayanna Lloyd Banwo
    Als wir Vögel waren (Buch)
    14.05.2023

    Alle unsere Lebenden und alle unsere Toten(-gräber)

    In ihrer mythischen Liebesgeschichte, die in einer imaginären Stadt, Port Angeles, auf der karibischen Insel Trinidad spielt bringt die 1980 auf Trinidad geborene Autorin Ayanna Lloyd Banwo zwei Menschen auf einem holprigen Weg zusammen, die kaum zueinander zu passen scheinen. Beide, sowohl Yejide als auch Darwin, tragen eine große familiäre Verantwortung und es wird im Verlauf das Buches immer klarer, dass sie dieser nur zusammen gerecht werden können.

    Yejide treffen wir an, als ihre Mutter im Sterben liegt. Nach und nach erfahren wir, dass das ehemalige Plantagengebäude, in dem die Nachkommen ehemaliger Sklaven – die Familie Yejides und weitere Bewohner seit vielen Generationen leben, stets durch ein Matriarchat von Yejides Familie geführt wurde. Da nun ihre Mutter auf der Schwelle zum Tod steht, muss Yejide entscheiden, ob sie diese Bürde annehmen und dem Auftrag ihrer Vorfahren folgen kann. Denn es geht hier nicht nur um die Hausverwaltung, es geht um das spirituelle Erbe. Alle weiblichen Vorfahren von Yejide waren dazu bestimmt, die Sterbenden auf ihrer Reise ins Jenseits und darüber hinaus zu begleiten. Die Transition würde Yejide einfacher fallen, wenn nicht die Beziehung zur Mutter von jeher gestört gewesen wäre. So hadert sie auf mystischer wie auch auf psychologischer Ebene mit sich und ihrem Erbe.

    Darwin hingegen ist mit den Ritualen der Rastafari-Religion aufgewachsen, hat gelernt, dass die Lebenden nicht einmal einen Blick auf die Toten werfen dürfen. Nach einem Aufwachsen mit Ressentiments der Umwelt sich selbst und seiner alleinerziehenden Mutter gegenüber aufgrund ihrer Religion, muss er nun schweren Herzens die wichtige Regel der Trennung von Lebenden und Toten brechen. Um seine Mutter und sich ernähren zu können, muss er einen Job als Totengräber auf dem großen Friedhof Port Angeles‘ „Fidelis“ annehmen.

    Beide Wege kreuzen sich nun auf Fidelis, ein Friedhof, auf welchem viele ruhelose Seelen - tot und lebendig - umherirren.

    Mich hat dieser Roman um Mythen, Bräuche, indigene Schöpfungsgeschichten, Märchen und von den Sklaven aus Afrika mitgebrachte Traditionen in der Karibik immer stärker eingewickelt und in die Geschichte gesogen. Dies war mein erster intensiverer Kontakt außerhalb von popkulturellen Verweisen mit der Rastafari-Religion, ihren christlichen Ursprüngen und alttestamentarischen Bezügen. Hinzu kommen die afrikanischen Mythen, die durch Yejides Familie vermittelt werden. Vieles, besonders zur Rastafari-Religion wird im Buch nur angedeutet, weckt aber dadurch das Interesse, sich ausführlicher mit dem Thema zu beschäftigen.

    Der Plot des Romans wird von einer zunächst sehr ruhigen Einführung in die Geschichten der beiden Hauptcharaktere bestimmt und entwickelt sich im Verlauf zunehmend zu einem spannenden Pageturner mit viel Geisteraction aber auch einer ungewöhnlichen Liebesgeschichte. Neben diesen Themen werden durchgängig auch die Fragen nach einer Übernahme von Familientraditionen, dysfunktionalen Mutter-Tochter-Beziehungen, Erbe, Klassenunterschiede und der schmale Grat zwischen Leben und Tod verhandelt.

    Insgesamt ist das Buch gut geschrieben. Die Übersetzerin Michaela Grabinger (no pun intended) hat gute Arbeit geleistet bei der Übertragung des Textes aus dem trinidad-kreolischen Englisch, indem sie gerade Darwin eine eher lasche, dezent Umgangssprache gegeben hat, um die Formulierungen ins Deutsche zu bringen. Unabhängig von diese gewollten Umformulierungen und Verkürzungen der Sprache hat jedoch eine signifikant hohe Anzahl an Tippfehlern den Weg ins Buch gefunden, weshalb ein genaueres Lektorat diesbezüglich dem Buch gutgetan hätte.

    Diese Geschichte die den magischen Realismus Südamerikas mit den Mythen Afrikas verbindet hat mir sehr gut gefallen und sorgt dafür, dass die junge Autorin nach diesem Debütroman definitiv auf dem Radar bleibt.

    4/5 Sterne
    Was der Tag bringt David Schalko
    Was der Tag bringt (Buch)
    10.05.2023

    Was der Roman bringt? Keine Ahnung.

    Felix ist schon vielen berufliche Ideen in seinem Ende 30jährigem Leben nachgejagt. Auch seine letzte Unternehmung, „Wastefood“ ein kulinarisches Experiment mit entsorgten Lebensmitteln, entwickelt sich nicht so, wie er sich das noch vor der Corona-Pandemie überlegt hatte. Wie viele kleine Unternehmen geht auch dieses den Bach hinunter und Felix sieht sich als einzigen Besitz auf die schicke, geerbte Altbauwohnung der Großeltern in Berlin zurückgeworfen. Um weiterhin finanziell über die Runden zu kommen, entscheidet er sich dazu, ab sofort einmal im Monat für acht Tage seine Wohnung an Touristen zu vermieten. In diesen Tagen muss er andernorts unterkommen und erlebt hierdurch die ein oder andere Wendung, grundsätzlich geht es aber tendenziell bergab mit ihm.

    Der Plot dieses Romans hat zwei Gedanken bei mir ausgelöst: Zum einen fühlte ich mich zunehmend an Knut Hamsuns „Hunger“ erinnert, ein Nobelpreis-Klassiker, in welchem ein Mann Ende des 19. Jahrhunderts in Oslo umherirrt, versucht zu Geld und Essen zu kommen, es aber immer wieder durch eigene Animositäten verspielt und während er immer weiter in den Strudel von Armut und Hunger gerät, im wilden Galopp auf den Wahnsinn zurennt. Man könnte jetzt denken: Oh, ein Vergleich mit einem Klassiker, dann scheint „Was der Tag bringt“ ja großartig zu sein. Nein, denn hier kommt Zweitens: Ich habe schon „Hunger“ nicht sonderlich gemocht, und so ist es auch mit dem vorliegenden Roman. Die Grundprämisse scheint dieselbe. Ein Mensch, der es eigentlich nicht so ganz nötig hat, kämpft gefühlt überdramatisch ums Überleben in der Großstadt. Ein Plot, der mich zu Beginn noch mitnehmen konnte, hat mich im Verlauf immer mehr verloren. Spätestens wenn Felix nach einigem Auf und Ab – zwischenzeitlich kommt er unverhofft zu unendlichem Reichtum – sich einen High End Outdoor Schlafsack kauft, nur um sich dann bei den obdachlosen Menschen unter einer Fußgängerunterführung einzuquartieren, ist das Maß voll. Zwischendurch, oder eigentlich fast immer, wird wild rumphilosophiert, merkwürdige Metaphern überstrapaziert und leider wenig Ironie an den Tag gelegt. Diese Ironie bzw. etwas mehr Humor wären nötig gewesen, um diese Groteske interessant zu machen. Hier wird der Sinn gesucht und nicht viel gefunden. So verliert sich die Geschichte in anstrengenden Überlegungen, die aber nicht sonderlich anspruchsvoll sind, sondern nur etwas affektiert so wirken, wie hier aus Seite 219:

    „Er blies den Rauch in Richtung der unscharfen Verläufe des Wasser. Stundenlang hatte er zugesehen, wie es die Scheiben mit einem Netz aus Rinnsalen überzog. Hatte den Rauch beobachtet, der von der Scheibe abgewiesen wurde. Ohne dass es etwas erzählte. Ohne Sinn. Eine leere Wiederholung, die Realität wurde, weil er sie ohne Unterlass exerzierte. Ohne Grund. Außer der Schönheit. Der nutzlosen Schönheit. Die wuchs, je länger er die Geste wiederholte. Die ihn immer weiter wegtrug von sich selbst. Nur noch Betrachter sein. War das der Sinn? Zeuge einer nutzlosen Schöpfung zu werden? Endlich die Schönheit des Nutzlosen genießen. Sich aus der Sklaverei des Zwecks befreien? Der Zweck, der Sinn simulierte. Ein Manöver, das vom Unwesentlichen ablenkte. Das die Magie verbot. Weil sie die Aufmerksamkeit von der Fremdbestimmung befreite.“

    Spätestens an dieser Stelle, verließ mich die Lust auf das Buch. Es ist zwar grundsätzlich solide geschrieben, hat auch an der ein oder anderen Stelle eine kreative Idee, was alles Felix zustoßen könnte – nein falsch, das ist zu passiv, besser: in welche Situationen sich Felix hineinbugsiert, wird sogar mal ein wenig zärtlich, wenn es um die Beziehung zwischen Felix und seinem Vater geht, insgesamt fehlt mir aber eine Aussage. Wie kann ich einen Roman ernst nehmen (denn humoristisch scheint er ja nicht angelegt zu sein), in dem ein Mann vor sich hin leidet, während er , die geneigten Leser:innen wissen es nach wenigen Seiten, einfach nur seine schicke Berliner Altbauwohnung verkaufen müsste, um wieder aus den roten Zahlen zu kommen. Etwas, was er sowieso tun müsste, wenn er Hartz IV – ähm Pardon – Bürgergeld beantragen würde. Doch er schlägt objektiv nie auf dem harten Boden der Realität auf, sondern immer nur subjektiv und wird dabei immer verrückter.

    Was der Tag bringt? Was der Roman bringt? Ich weiß es wirklich nicht. Er hält als Momentaufnahmen durchaus das ein oder andere post-pandemische Szenario der mitteleuropäischen Mittelschicht fest, mehr aber auch nicht.

    2,5/5 Sterne
    Offene Gewässer Romina Pleschko
    Offene Gewässer (Buch)
    26.04.2023

    Ein Steg aus phänomenalen Formulierungen ins Offene Gewässer

    Die 1983 geborene Oberösterreicherin Romina Pleschko erschafft in ihrem zweiten Roman „Offene Gewässer“ Sätze wie folgenden:

    „Ich gewöhnte mich nie daran, neben einem sterbenden Märtyrer zu tafeln, und weil es den meisten ebenso erging, fragte ich mich, ob er eventuell ganz bewusst als kostenminimierende Appetitzügelungsmaßnahme in dieser selbst für enthusiastische Katholiken unüblichen Größe und Präsenz konzipiert worden war.“

    Beschrieben wird hier der Essensaal samt der Statue des gekreuzigten Jesus Christus der katholischen Internatsschule, in welchem die Protagonistin und herrlich bissige Ich-Erzählerin des Romans eine Zeit lang speisen musste.

    Elfi ist die sprachwitzige Erzählerin im vorliegenden Roman. Sie berichtet uns davon, wie sie als Kind durch erst einmal nicht näher bekannte Umstände aus der Heimat Stuttgart mit Umweg über ein Kinderheim hin zur Großmutter nach Oberösterreich ziehen musste. Der idyllische Ort Liebstatt liegt an einem ebenso idyllischem See, der für Elfi immer wieder erst unfreiwilliger und dann täglich aufgesuchter Rückzugsort vor den Bewohnern des Ortes wird. Denn irgendetwas stimmt nicht mit den Eltern von Elfi. Es wird ein Gerichtsverfahren erwähnt, es gibt kurz angebundene Briefe, aber so richtig erfahren wir und auch die Bewohner Liebstatts nie, was da eigentlich los gewesen ist. Deshalb ranken sich immer wieder Gerüchte um dieses Mädchen, was nie so richtig hineinzupassen scheint in die Gemeinde. Oder ist sie vielleicht auch einfach ein ganz normales Mädchen mit ganz normalen Problemen des Aufwachsens?

    Ihre Geschichte schildert Elfi in ganz grandiosen Sätzen, die man sich alle wie sie da stehen markieren möchte ob ihrer phänomenalen Formulier- und Fabulierkunst. Gerade im ersten Teil des Romans, welcher mit „Liebstatt“ überschrieben ist, funkeln diese bitterbösen Edelsteine des Schreibens auf. So auch dieser hier:

    „Bei fremden Eltern lief es eigentlich immer gut für mich, ich genoss es, mich als optimales Ergebnis eines solide verlaufenen Heilungsprozesses selbst anzupreisen, nur um die Unterstützung mir genetisch nicht verbundener Erziehungsberechtigter zu erlangen.“

    Diese trockenen, detailreichen und unglaublich ironischen Beschreibungen machen einfach Spaß beim Lesen. So folgt man Elfi gern durch ihre Jugend mit durchwachsenen Erfahrungen bei der Partnersuche. Wobei „Suche“ kann man es kaum nennen, hat sie doch beim Schauspiel-Sommerkurs bereits ihren zukünftigen Ehemann kennengelernt. Diesen bezeichnet sie somit auch gleich nur noch als „den Mann“, der nur noch um den Finger gewickelt werden muss. Man begleitet sie durch die jugendliche Amateur-Schwimmkarriere, welche nur begann, da sie große Hände und Füße hat, und hin zur Schauspielausbildung, die sie eigentlich nur antrat, da ihr nichts besseres einfiel.

    Doch dann kommt es zum Cut, wir wechseln nach zwei Dritteln des Buches in den zweiten mit den Worten „Statt lieb“ überschriebenen Teil des Romans. Das „Danach“. Und hier entglitt mir die freche Protagonistin des ersten Teils zunehmend. Man erkennt die nun zunehmend unzufriedene bis verbitterte Person kaum wieder. So treibt die Faszination für die Figur auf dem offenen Gewässer des Liebstätter Sees zunehmend davon bis man ihre Handlungen gar nicht mehr versteht. Schien die Figur in ihrem Humor bisher eine sehr resiliente Persönlichkeit, fehlt ihr dies zum Ende hin. Da in diesem Teil der Ton zu wechseln scheint, gehen auch die geliebten bissigen Formulierungen verloren.

    Letztlich störte mich auch, dass wir über den gesamten Roman hinweg immer wieder mit winzig kleinen Andeutungen zu den Eltern gelockt werden, aber letztlich das Thema komplett vernachlässigt wird und wir keinerlei Grund erfahren, warum Elfi überhaupt bei ihrer Großmutter gelandet ist. Es bleibt eine Leerstelle, die tatsächlich stört.

    Aufgrund der von mir heiß geliebten Sprache dieses Romans bekommt er trotz der Schwächelei zum Ende hin von mir gern 4 Sterne. Wie immer ist die Optik und Haptik des Buches aus dem Kremayr & Scheriau Verlag sehr gelungen und einfach etwas Besonderes im Bücherregal.

    4/5 Sterne
    Eva Verena Keßler
    Eva (Buch)
    20.04.2023

    Von Eva zu Eva

    In ihrem zweiten Roman nach „Die Gespenster von Demmin“, in dem es unter anderem um die Sprachlosigkeit zwischen den Generationen ging, befasst sich Verena Keßler (Jahrgang 1988) nun mit einem Thema, mit welchem sicherlich viele Frauen aus ihrer Generation derzeit hadern: dem Kinderkriegen. Nun liegt hier keine Geschichte vor, die man in den vergangenen Jahren schon zuhauf auf den Veröffentlichungslisten vorgefunden hat. Es geht nicht um die Innenansicht einer einzelnen Frau, die das Für und Wider der Mutterschaft abwägt, während sie versucht bestmögliche Work Life Balance zu halten.

    In „Eva“ betrachtet Keßler vier Frauen in ganz unterschiedlichen Lebenssituationen und mit ganz unterschiedlichen Einstellungen zum Thema Mutterschaft. Da ist Sina, eine Journalistin, die zusammen mit ihrem Partner verzweifelt versucht schwanger zu werden, während in ihrem sozialen Umfeld gerade jede Frau entweder einen prallen Babybauch oder das schon geschlüpfte Küken vor ebenjenem stolz herumträgt. Da ist Eva, eine Lehrerin, die sich herausgenommen hat, einen provokativen Artikel zu veröffentlichen, in welchem sie darlegt, warum es für das Weltklima das Beste wäre, erst gar nicht mehr ein Kind in die Welt zu setzen, und dafür stark angefeindet wird, vor allem nach einem plakativ inszenierten Interview durch Sina. Da ist Mona, die Schwester von Sina, welche sich unverhofft und überrumpelt in einem anstrengendem Leben mit drei Kindern wiederfindet. Und die vierte Protagonistin, welche einem unsagbaren Verlust gegenübersieht.

    Alle vier Protagonistinnen bekommen episodenhaft zusammenhängend in ihrem eigenen Kapitel den Raum, den sie benötigen, um als Leser:in ihrer Geschichte und ihren Einstellungen näher zu kommen. Wobei alle bis auf Eva aus der Ich-Perspektive heraus erzählen dürfen. Ausnahmslos allen Figuren kommt man durch den ungekünstelten und klaren Erzählstil Keßlers unglaublich nahe, ob man nun ihre Lebensentwürfe und Einstellungen grundsätzlich befürworten würde oder nicht. Es entsteht ein tiefes Verständnis und eine Nachvollziehbarkeit für sie und man fiebert mit jeder von ihnen mit. Die äußerst authentische Darstellung der Personen sorgt dafür, dass man unvoreingenommen ihre Geschichten erleben kann, ohne dass von Seiten der Autorin eine moralische Wertung vermittelt wird.

    Der Facettenreichtum dieses Romans hat mich sehr begeistert, wenngleich mir zum Ende hin die Fäden zu stark auseinanderdrifteten, sodass ich das Gefühl hatte, es fehlt noch irgendetwas. Letztlich gibt es keine eindeutigen Lösungen für die angesprochenen Probleme, mit einer konkreteren Nachverfolgung der vier Leben hätte sich hier vielleicht ein runderes Bild ergeben. Ich weiß es nicht genau. Letztlich handelt es sich für mich um ein äußerst gelungenes Buch, welches sprachlich sehr solide geschrieben ist, in welchem ich mir aber auch keine ganz, ganz besonderen Sätze markiert habe, bei welchen ich dachte: „Mensch, da steckt jetzt so unglaublich viel in diesen wenigen Worten drin. Den Satz muss ich einer Freundin vorlesen.“ Zuletzt empfand ich es als nicht wirklich nachvollziehbar, warum Eva als einzige Protagonistin ein Kapitel aus der personalen Erzählperspektive heraus bekommen hat. Nahe kommt man ihr unzweifelhaft trotzdem, aber literarisch wurde mir die Entscheidung der Autorin hier nicht ganz klar.

    Wenn verschiedene Generationen im Debütroman der Autorin schon eine wichtige Rolle spielten, so tauchen diese auch im vorliegenden Roman – thematisch in anderer Weise – wieder auf, wenn sie in Evas Kapitel schreibt:

    „Wenn sie ehrlich war, gefiel ihr die Vorstellung sogar: eine Ahnenkette, die sich über Millionen von Jahren fortgesetzt hatte und nun endete – mit ihr. Sie würde sich nicht einreihen, sie bildete den Schlusspunkt, sie war diejenige, auf die alles hinausgelaufen war. Von Eva zu Eva.“

    4/5 Sterne
    Die spürst du nicht Daniel Glattauer
    Die spürst du nicht (Buch)
    15.04.2023

    Die Ungleichheit spüren

    Daniel Glattauers Roman „Die spürst du nicht“ überrumpelt, schüttelt durch und entlässt einen fassungslos sowie hoffentlich auch im Inneren verändert. Dieses zunächst mit recht einfacher Sprache und stilistisch auffällig berichtartig daherkommende Werk entpuppt sich mit der Zeit zu einem schmerzhaft wahrhaftigen Sittengemälde unserer aktuellen Zeit.

    Wir bekommen zu Beginn die Familienmitglieder zweier gehobener, österreichischer Familien - ja man könnte fast sagen – geschildert, welche zusammen in die Toskana in den Urlaub gefahren sind. Da ist die Winzerfamilie mit dem überdreht optimistischen Winzer und seiner Frau, die mal Ambitionen zur Schauspielerin hatte, es aber nur zur Marillen-Königin geschafft hat, und ihrem gemeinsamen, zurückgezogenen Sohn. Da ist die Politikerinnen-Familie mit der viel beschäftigten Grün-Politikerin, dem besserwisserischen Akademiker, der unkontrollierbaren kleinen Tochter und der 14-jährigen dauergelangweilten Tochter, deren Lebensinhalt ihr Social Media Auftritt zu sein scheint. Ach ja, und da ist ganz ruhig und fast kaum wahrnehmbar auch noch eine Schulkameradin der Tochter mit im Urlaub dabei. Aayana, ein somalisches Flüchtlingsmädchen, welches auf Drängen der Tochter, um ihrer eigenen Langeweile entgegenzuwirken, mit in den Urlaub genommen wurde. Fast wie in der Regieanweisung zu einem Theaterstück oder – wenn man es heftiger formulieren möchte – wie in einer Versuchsanordnung zu einem Experiment, wird die Ausgangssituation mit all ihren Elementen und Variablen eingangs geschildert, nur um dann alle in einer Villa in der Toskana aufeinandertreffen zu lassen. Was herauskommt ist ein dramatisches Unglück, welches den Fortgang des gesamten Buches bestimmen wird.

    Was verwundert: Dieses Unglück geschieht schon ziemlich zügig im Verlauf des Buches und in der Hauptsache sind wir nun Rezipienten der Auswirkungen dieses schweren Unglücks. Mit verschiedenen Stilmitteln arbeitet sich nun Glattauer an der Reaktion einer (Medien-)Gesellschaft auf die Geschehnisse vom Beginn des Buches ab. Mit präziser Sprache und authentisch wirkenden Medienreaktionen entwirft der Autor ein Sittengemälde unserer modernen Welt, in dem so gut wie niemand gut dasteht und alle letztlich Verlierer sind. Er scheint zunächst die Personalliste mit stereotypen Figuren zu bestücken, nur um sie im Verlaufe des Buches mitunter (nicht immer) die antizipierten Annahmen der Leser:innen über den Haufen zu werfen und sie ganz anders als erwartet handeln zu lassen. So einfach die Sprache wirkt, so brillant nutzt sie Glattauer, um in wahnwitzigen Dialogen große Fragen nach Moral und ethisch richtigem Handeln zu stellen. Der Text liest sich dabei leichtfüßig und kurzweilig, obwohl er inhaltlich keinesfalls ein Leichtgewicht darstellt. Denn es handelt sich um eine eindeutige Gesellschaftskritik, die recht offensichtlich das haarsträubende Verhalten von selbstsüchtigen Personen herausstellt, soziale Ungerechtigkeiten anprangert aber auch zwischen den Zeilen und manchmal in einem kurzen Internetkommentar verpackt die Abgründe heutiger Einstellungen aufzeigt. Letztlich geht es darum, denen eine Stimme zu geben, die unserer Sprache nicht mächtig sind und sich dadurch in unserer westlichen Gesellschaft nicht wahrnehmbar machen geschweige denn ihr Recht durchsetzen können.

    So sagt eine von Glattauers Figuren an einer der vielen mitreißenden Stellen: „Sie sind darunter. Unter unserer Wahrnehmung. Unter unserem Interesse. Ihre Geschichte will hier keiner hören. Und sie können sie auch nicht erzählen. Sie werden nicht danach gefragt. Und von sich aus schaffen sie es nicht, sich zu Wort zu melden. Ihnen fehlen die Mittel. Ihnen fehlt unsere Kultur. Ihnen fehlt unsere Bildung, auf die wir uns so viel einbilden. Und es fehlt ihnen vor allem an unserer Sprache. Ohne Sprache kein Verständnis. Ohne Sprache keine Geschichte.“

    Dadurch, dass die somalische Familie von Aayana im Buch über weite Strecken nicht zu Wort kommt, sie gar nicht gespürt wird und untergeht, spielt der Autor genau das durch, was auch in der realen Welt millionenfach geschieht. Mit seinem zunächst locker daherkommenden, dann aber schnell zunehmend berührenden Drama frisst sich das Anliegen einer scharfen Gesellschaftskritik tief in das Denken und Fühlen der Lesenden. Mich hat der Roman ergriffen und lange nicht wieder losgelassen, weshalb ich ihn nur eindringlich für eine Lektüre weiterempfehlen kann. Um eine Urlaubslektüre handelt es sich keinesfalls, hier sollte man sich nicht täuschen lassen.

    5/5 Sterne
    22 Bahnen Caroline Wahl
    22 Bahnen (Buch)
    28.03.2023

    In 22 Bahnen zum Highlight

    Im Debütroman der 1995 geborenen Autorin Caroline Wahl schwimmt eine junge Frau gegen ihre schwierigen Familienverhältnisse an und einem unabhängigeren Leben entgegen.

    Die Ich-Erzählerin Tilda ist Mitte Zwanzig, studiert Mathematik und hat einen Nebenjob, um etwas hinzuzuverdienen und geht zum Ausgleich jeden Abend 22 Bahnen ins Freibad schwimmen. Klingt erst einmal ganz durchschnittlich. Ganz so durchschnittlich sieht ihr Leben bei genauerer Betrachtung gar nicht mehr aus. Denn Ihre Mutter ist Alkoholikerin und schon seit vielen Jahren nicht mehr fähig die Familienangelegenheiten am Laufen zu halten. Die 10jährige Halbschwester Ida lebt in sich zurückgezogen, malt Bilder von Mensch-Tier-Monstern und hat nur ihre große Schwester, die sie beschützt. Der Vater von Tilda verließ die Familie früh, Idas Vater ist nicht bekannt, war noch nie anwesend. Mit dem Nebenjob finanziert Tilda nicht nur ihr Studium sondern auch noch ihre Familie, welche am unteren Existenzminimum lebt.

    Nun könnte man meinen, dass es sich hierbei um eine weitere stereotypische Betrachtung einer bildungsfernen Familie in der untersten sozioökonomischen Schicht handelt. Aber weit gefehlt, die Mutter stand kurz vor ihrem Magisterabschluss im Literaturstudium, als sie mit Tilda schwanger wurde, das Studium abbrach und seitdem die meiste Zeit zu Hause blieb; zunächst für das Kind, später aufgrund des Alkohols. Der Vater war damals Doktorand im Germanistischen Seminar und ist mittlerweile Professor. Trotzdem lässt er sich in seiner ersten Familie nicht mehr blicken, seit er eine neue Familie mit neuen Kindern hat. Tilda lernte schnell den Unterschied zwischen ihrer Familie und der Familie ihrer besten Freundin Marlene, die aus der gut situierten Mittelschicht stammt, denn bei ihnen gab es immer einen Abendbrottisch, an dem alle zusammen aßen und sich unterhielten. Diese intakten Familien nennt sie seitdem nur noch „Abendbrottisch-Familien“.

    Wirklich unglaublich mitreißend inszeniert Caroline Wahl nun Tildas und Idas Leben, ihren Zusammenhalt und auch ihre Abhängigkeit voneinander, die Tilda daran hindert mit ihrem eigenen Leben voranzukommen. Das macht die Autorin über eine klare Sprache mit Bildern, die hängen bleiben, wie eben die „Abendbrottisch-Familie“ und Sätzen, die sich einbrennen. Zunächst ist man erst einmal verwundert, wenn die Autorin alle Zahlwörter als Ziffern schreibt. Man fragt sich, ob sich hier nun die neumodische Kurznachrichtenschreibweise eingeschlichen hat, wenn die Erzählerin zum Beispiel meint, dass sie 3-mal jemanden getroffen hat. Aber dann wird es klar, die Ich-Erzählerin ist Mathematikstudentin, seit sie ein Kind ist, denkt sie in Zahlen und Ziffern, zählt alles und jeden ab, rechnet automatisch zusammen, stellt Analysen aufgrund dessen her. So auch, wenn sie an der Supermarktkasse sitzt, nicht aufsieht und die Artikel auflistet, die sie gerade über den Scanner zieht, dann entwirft sie im Kopf einen kurzen Steckbrief zur vermuteten Person und überprüft ihre Hypothese dann durch Anschauen der Person. Meist liegt sie richtig.

    In der Quintessenz geht es im Familie und vor allem Schwesternschaft in diesem Buch. Die Liebe zwischen diesen beiden Halbschwestern ist so wunderbar, dass sie die Lesenden über die schrecklichen Passagen, in welchen die Mutter mal wieder beweist, was für eine miese Mutter sie ist, wenn sie gewalttätig wird und von Tilda nur noch „das Monster“ genannt wird, hinwegrettet. Aber auch die Protagonistin und ihre Schwester rettet diese Liebe. Einmal sagt Tilda über ihre Beziehung zu Ida:

    „Wir sind eine Familie. Wir sind ein intakter Organismus, wir funktionieren zusammen. Gestört werden wir nur durch den letzten Teil unserer Familie [die Mutter]. Also eigentlich sind wir eine überwiegend intakte Familie. Zu 66,67 Prozent. Wir sind intakte Schwester. Zu 100 Prozent.“

    Dadurch lastet aber auch schon seit Jahren eine große Verantwortung auf Tilda und wie sie damit im Laufe des Buches lernt umzugehen und sich selbst und ihre eigenen Bedürfnisse dabei nicht zu vergessen, darum geht es hier auch.

    Mich hat das Buch vollkommen in seinen Bann gezogen. Ich bin diesem Schwesternpaar so unglaublich gern gefolgt, obwohl hier alles andere als Friede-Freude-Eierkuchen-Stimmung herrscht. Bei folgender Gleichung kann es nur eine logische Schlussfolgerung geben: Wenn ich nichts am Buch auszusetzen habe + es innerhalb von einem Tag gespannt eingesogen habe + mich die Geschichte sowie die Figuren emotional sehr berührt haben + ich kaum abwarten kann zu lesen, was die Autorin nach diesem starken Debüt schreibt = 5,0 Sterne. Zu 100 Prozent sicher.

    5/5 Sterne
    Keine gute Geschichte Lisa Roy
    Keine gute Geschichte (Buch)
    24.03.2023

    Eine schonungslose Milieustudie aus den Betonblöcken des Ruhrgebiets

    Mit Lisa Roys Roman „Keine gute Geschichte“ begeben wir uns mit der Ich-Erzählerin Arielle zurück zu ihren Wurzeln in einen Essener „Problemstadtteil“, wie wohl einige Politiker:innen es nennen würden. Dort leben in den Betonsünden der Nachkriegszeit ein großer Anteil von Menschen mit nicht deutsch klingenden Namen und Hauttönen, die eher an Beyoncé als an Helene Fischer denken lassen. Arielle ist eine von ihnen, sie weiß, ihre dunklen Haare und Augen stammen von ihrem Vater, den sie nie kennengelernt hat. Ihre Mutter ist nicht mehr da, verschwunden, wie wir zügig erfahren, denn Arielle richtet ihre Erzählung an ein „Du“, welches sich als die verschwundene Mutter herausstellt. Nun ist ihre Großmutter mütterlicherseits frisch aus dem Krankenhaus entlassen und nach mehr als zehn Jahren kehrt sie das erste Mal zurück an ihren Ursprung, dem sie den Rücken gekehrt hatte, um – mittlerweile – ihrem erfolgreichen Leben als Social Media Managerin in Düsseldorf nachgehen zu können. Ihre Heimkehr überschneidet sich mit dem Verschwinden zweier neunjähriger Mädchen, die ebenso aus dem Stadtteil stammen und deren Mütter mit Arielle in die Schule gegangen sind. Gezwungenermaßen quartiert sich Arielle eine Weile bei ihrer Großmutter ein, in deren Wohnung Arielle aufwuchs und in der ihr Mädchenzimmer von damals immer noch genauso existiert, wie sie es verlassen hat.

    Lisa Roy entwirft mithilfe der hippen Sprache ihrer Ich-Erzählerin das Bild eines Milieus in der Armut von heute. Ungeschönt gibt sie uns Lesenden einen Einblick in die unterste Schicht der Gesellschaft, in der, wie an einer Stelle angemerkt, die Mietverträge in den abgeranzten Wohnungen des Viertels ebenso von einer Generation an die nächste weitervererbt werden wie die Armut und das Übergewicht. Hinter solchen saloppen Feststellungen stecken natürlich gut erforschte soziologische Erkenntnisse, die sich in den letzten Jahren immer mehr bewahrheitet haben: Wer einmal in der Armut steckt, hat kaum Chancen einen sozialen Aufstieg zu schaffen; im Gegenteil geht die Spirale im Zweifel eher abwärts. Arielle ist da eine Ausnahme, sie hatte Glück, war als junge Frau mit ihrem miesen Assistentinnenjob in einer Werbefirma zufällig am Puls der Zeit, als sich die Werbung ins Internet und zu den Influencer:innen bewegte. Nur konnte sie nie das Gefühl abschütteln, eine Hochstaplerin zu sein, die man irgendwann bloßstellen, ihr ihre Herkunft anmerken würde. So zeichnet Roy mithilfe von Erinnerungen Arielles an ihre Kindheit, Jugend und die Zeit in Düsseldorf nach, wie sich diese junge Frau in immer stärker in eine Depression hineinbewegt hat und erst kurz vor dem Anruf, welcher sie in die Wohnung der Großmutter holte, von einem mehrmonatigen Psychiatrieaufenthalt entlassen wurde. Von dort ist sie keinesfalls wie neu geboren zurückgekommen, leidet weiterhin an depressiven Episoden, verkriecht sich nun in ihrem alten Mädchenzimmer mitunter für Tage, oder geht hinaus ins Viertel, macht Bekanntschaft mit John, dem Vater von Ashanti, einer der verschwundenen Mädchen.

    Trotz des mitunter hingerotzten, mit zeitgemäßen Anglizismen und auch Sarkasmus gespickten Tons von Arielles Beschreibungen, verdeutlicht Roy sehr klug, wie dieses Milieu, aus dem Arielle stammt, funktioniert. Welche ungeschriebenen Gesetze es gibt, welche vorgezeichneten Lebenswege. Dabei handelt es sich nicht um eine happy-go-lucky Geschichte, in welcher die Großmutter eine warmen, altersweise Funktion einnimmt. Nein, es ist vielmehr relativ schnell klar, dass sich Arielle bestmöglich von dieser Person befreien muss. Aber dafür muss sie zurück gehen, zurück an den Ort ihrer Herkunft aber auch zurück in ihren Erinnerungen. Die Erinnerungen an die Mutter, die mit sechs Jahren enden, die aber durchgängig positiv sind. Eine Spannung des Romans wird nicht nur durch die Annäherung Arielles an die Frage, was damals wirklich mit ihrer Mutter, sondern auch, was in der Gegenwart mit den verschwundenen Mädchen passiert ist, angetrieben. So sagt Arielle an einer Stelle:

    „Wenn das hier ein Krimi und nicht mein Leben wäre, würde ich über dich und dein Verschwinden als Puzzle nachdenken. Ich habe ein paar Teile, ein paar sind für immer verloren, aber irgendwo muss es auch noch welche geben, und wenn ich die fände, wäre vielleicht genug vom Puzzle zusammen, um das Bild zu erkennen, auch wenn es ein unvollständiges bleibt.“

    Gegen Ende nimmt die Erzählung, die sich zuvor wirklich sehr differenziert mit dem Milieu beschäftigt und Arielles Aufwachsen hat, tatsächlich immer mehr an Spannung zu, fühlt man sich fast in einem Thriller, in dem sich immer mehr Indizien auftun. Leider gibt es hier für mich den einzigen Kritikpunkt am ansonsten wirklich erfrischenden, klugen, mutigen Roman Roys: Arielle bekommt Kenntnis von einem ungeheuerlichen Umstand, der mit dem Verschwinden der Mädchen zusammenhängt, und alles was sie tut, ist wieder in ihr altes Muster zurückzufallen, sie verkriecht sich in ihrem Mädchenzimmer für mehrere Tage und hat Sex mit John. Das wirkt an dieser Stelle aber so abwegig, auch wenn man sich das passive, desinteressierte Verhalten mit der depressiven Grunderkrankung der Protagonistin erklären könnte. Vielleicht wollte die Autorin hier ein Zeichen setzen, dass es sich eben nicht um einen Krimi oder Thriller handelt, trotzdem konnte ich bei dem Fortgang der Geschichte nicht mehr so richtig mitgehen.

    Trotz dieses einen Kritikpunktes ist der Debütroman der Autorin über das Aufwachsen in den grausten und rausten Ecken des Ruhrgebiets mit seinem Blick auf den Zusammenhang von Armut und Abstammung ein fraglos empfehlenswertes Buch. Mit erfrischend junger Sprache stellt es den Fokus scharf und regt zum Nachdenken über diese scheinbar fest zementierten Lebenswege an.

    4,5/5 Sterne
    Die Bäume Percival Everett
    Die Bäume (Buch)
    17.03.2023

    Southern trees bear strange fruit

    Würde man einen cineastischen Vergleich zu diesem Buch ziehen wollen, könnten sich Leser:innen bei der Lektüre von „Die Bäume“ von Percival Everett auf einen wilden Genremix einstellen. Man nehme die Südstaaten-Atmosphäre der ersten Krimi-Serienstaffel von „True Detective“, inklusive der mysteriösen Mordfälle, und vermische dies mit dem bissigen Humor von Spike Lee-Filmen wie „Blackkklansman“ und deren immer vorhandenen, ernsten Anklage an den aktuellen US-amerikanischen Rassismus und der immer noch nicht aufgearbeiteten diesbezüglichen Historie. Man erhält einen vollkommen überraschenden, kreativen Roman, mit filmreifen Dialogen, interessanten Figuren und knallharter Sozialkritik.

    Percival Everett schickt seine schwarzen Ermittler in das Pulverfass Mississippi, genauer in den Ort Money, um sie (zunächst nur) einen skurrilen Mord an einem weißen Redneck im White Trash-Stadtteil „Small Change“ untersuchen zu lassen. Dort wurde nämlich neben der Leiche des Weißen ebenso die Leiche eines unbekannten schwarzen Mannes gefunden. Für die Bewohner ist schnell klar: Nur der tote (!) Schwarze kann der Mörder des Weißen gewesen sein. Keine Frage, keine Logikfehler ersichtlich. Merkwürdig wird das Ganze zusätzlich dadurch, dass die Leiche dem in 1955 gelynchten Jungen Emmett Till stark zu ähneln scheint und - noch merkwürdiger - als die Leiche des schwarzen Jungen dann auch noch plötzlich verschwindet. Neben einer weiteren frischen Leiche eines Rednecks wieder auftaucht und gleich wieder verschwindet. Mit viel hintergründigem Witz entspinnt der Autor nun eine mysteriöse Geschichte, die sich mit der Historie der Lynchjustiz an afroamerikanischen und asiatischstämmigen Menschen in den USA sowie dem immer noch tief verwurzelten Rassismus zur heutigen Zeit beschäftigt.

    Wenn man Beschreibungen zu dem vorliegenden Roman liest, kann man kaum glauben, dass das zusammenpasst. Diese „Hommage an die Opfer der Lynchjustiz“ und „Rachefantasie“ soll „witzig, surreal und absurd“, ja eine Satire, sein. Funktioniert das denn? Kann man eine Satire auf dieses schreckliche Themengebiet schreiben? Und darf man das? Ja, Percival Everett kann und darf das. Das wird schon nach wenigen Seiten der Lektüre klar. Er entwirft mit wenigen Pinselstrichen vollkommen authentisch wirkende Charaktere, die stellvertretend für Typen bestimmter Personengruppen stehen können, und hier aufeinandertreffen. Diese packt er in ein Szenario, welches an sich schon ungewöhnlich ist: Schwarze Ermittler:innen bewegen sich im Milieu von (mehr oder nur geringfügig weniger) überzeugten Rassisten im diesbezüglich geschichtsträchtigen Südstaate Mississippi. Die Geschichte, so sehr sie auch zunehmend mit magischen Elementen spielt, basiert auf der realen, historischen Person Emmett Till sowie dessen Mördern und unzähligen weiteren Fällen brutalster Lynchmorde. Das ist eine heikle Konstruktion, aber dem Autor gelingt das Wagnis bravourös. Durch klugen Witz enttarnt er die Dummheit, die hinter dem tief verwurzelten Hass der Rassisten steckt und lässt diese gnadenlos auflaufen.

    Der Schreibstil Everetts ist knackig und flott. Die kurzen Kapitel lesen sich wie ein Pageturner fast von allein, die Dialoge sind rasant und einfach nur filmreif. Die Wortspiele und doppelten Böden in den Formulierungen laden dazu ein, das Buch im englischsprachigen Original zu lesen, denn nur dann kommt die sprachliche Raffinesse des Autors vollkommen zum Tragen. Leider schafft es die Übersetzung von Nikolaus Stingl nicht an den Originaltext heran. Manche Formulierungen sind entweder gar nicht übersetzt und nicht nachvollziehbar im Englischen belassen, andere werden wörtlich übersetzt und klingen dadurch einfach nur falsch. Hierbei handelt es sich um ein mir bekanntes Problem mit den Übersetzungen von Nikolaus Stingl. In allen Büchern, die ich in seiner Übersetzung gelesen habe/lesen musste, treten dieselben Probleme auf. Es wundert mich daher sehr, dass der Verlag weiterhin an ihm festhält, wird doch der Lesefluss durch seine merkwürdigen Übersetzungsentscheidungen mitunter sehr gestört. Zum Glück ist Herr Stingl nicht auf die Idee gekommen, den im Buch eingebunden Liedtext des Billie Holiday-Klassikers „Strange Fruit“, worauf sich auch der Titel dieser Rezension bezieht und welcher sich bildgewaltig mit den Opfern der Lynchmorde beschäftigt, zu übersetzen. Denn dieser Songtext kann seine erschütternde Kraft im vollen Umfang nur im englischen Original entfalten.

    Unabhängig von der Übersetzung, empfinde ich nur zwei Kapitel, in denen auch der damalige US-Präsident Donald Trump in persona auftritt, als kritikwürdig. Hat der Autor noch im vorherigen Kapitel Trump durch mehrere treffsichere, subtile Andeutung gekonnt aufs Korn genommen, wird er im nächsten Kapitel durch wirklich unterirdisch platten Klamauk vorgeführt. Fraglos animiert die reale Person zum gnadenlosen Bloßstellen. Aber wir alle wissen, dass es sich hier schon von allein um eine niveaulose Witzfigur handelt, weshalb mir dieser Klamauk ein etwas zu billiger und auch in den letzten Jahren einfach zu häufig ausgetretener Zug ist. Hier verlässt Everett sein ansonsten immer sehr hohes Niveau an messerscharfer Satire zugunsten einer zu simpel gehaltenen Parodie. Schade.

    Die mangelhafte Übersetzung möchte ich diesem ansonsten über weite Strecken grandiosen Werk nicht negativ anlasten und runde deshalb bei 4,5 Sternen auf die volle Punktzahl auf. Es handelt sich hierbei um einen absolut lesenswerten Roman, der durch seinen Stil und die abstruse Handlung überrascht. Fast erkennt man den Autor des Vorgängerromans „Erschütterung“ hier kaum wieder, was aber zeigt, dass er viele Spielarten beherrscht und für Überraschungen in der Zukunft sorgen kann. Eine klare Leseempfehlung für dieses „Highlight mit Abstrichen“!

    4,5/5 Sterne
    Lichte Tage Sarah Winman
    Lichte Tage (Buch)
    11.03.2023

    Lichte Tage - leichte Lektüre?

    Um über diesen Roman reden zu können, muss man mehr offenbaren, als es der sehr grob gezeichnete Klappentext vermag. Wer darüber hinaus also nichts erfahren möchte, überspringe diese Rezension.

    Vieles dreht sich in „Lichte Tage“, um eine erste Liebe und die große Liebe, was nicht für jeden immer zusammenfällt, aber auch die Freundschaft und alles, was dazwischen liegt und vielleicht nicht definiert werden kann. Wir begleiten die Jungen aus einem Arbeiterviertel Ellis und Michael und sehen Annie später zu ihnen stoßen. Wir begleiten Kinder und Jugendliche aus ihrem trostlosen, gewalttätigen Alltag hinein in die Möglichkeit einer besseren Zukunft. Und wir begleiten aber auch homosexuelle Männer in ihr Leben und Leiden mit AIDS, denn der vorliegende Roman spielt in einem Zeitraum zwischen den 1950ern und Mitte der 1990er.

    Für mich kamen diese Themen recht überraschend in der Geschichte auf, weshalb ich den Roman durchgängig mit Interesse gelesen habe. Es handelt sich eben nicht um eine „konventionelle“ Dreiecksbeziehung, sondern um eine, in der homo-, bi- und heterosexuelle und/oder platonische Liebe vorkommt. Es handelt sich nicht um einen Wohlfühlroman, denn wir werden mit einigen Schicksalsschlägen der Protagonisten konfrontiert und erleben hautnah die Scheußlichkeit der AIDS-Erkrankung mit. Das macht meines Erachtens den Roman erst so richtig interessant. Denn die Schreibe an sich ist eher einfach gehalten und weist mitunter Schwächen auf. Dazwischen blitzen immer wieder poetische Gedanken auf, die sehr schön sind und so für sich stehend herausstechen. Was die Autorin auf jeden Fall kann, ist das atmosphärische Beschreiben und damit auch Herausarbeiten der Unterschiede zwischen einem britischen Arbeiterquartier innerhalb der Universitätsstadt Oxford und der Wärme, dem Licht und der Natur Südfrankreichs. Denn dorthin zieht es immer wieder die Protagonisten des Romans, zu unterschiedlichen Zeiten und unter unterschiedlichen Vorzeichen.

    So richtig greifen kann man letztlich aber sowohl die Geschichte als auch die Gefühle der Protagonisten zueinander nicht. So schreibt auch Winman: „Wer waren wir, Ellis, ich, und Annie? So oft habe ich versucht, uns zu erklären, aber jedes Mal bin ich gescheitert. Wir waren alles, und dann zerbrachen wir.“

    Man möchte gern diese außergewöhnliche Beziehung verstehen können. Im Verlauf des Buches gibt es immer mehr Hinweise darauf, wer diese Menschen sind und waren und was sie zusammen oder auseinandergebracht hat. Das ist gut gemacht. Nur leider blieben mir mitunter die Figuren trotzdem noch zu fern. Ich hätte mir hier einen Roman mit etwas mehr Volumen gewünscht, um tiefgründigere Beschreibungen der Figuren zu bekommen, um in gewisse Themen tiefer eintauchen zu können. Manches wirkt noch wie ein Entwurf einer viel facettenreicheren, umfangreicheren Geschichte.

    Da ich den Roman trotz seiner kleinen Makel sehr gern gelesen habe, entscheide ich mich bei 3,5 Sternen als Bewertung zu einem Aufrunden auf die 4 Sterne. Leicht ist also die Lektüre aufgrund der Sprache schon, aber man sollte keinen inhaltlich „leichten“ Roman erwarten. Hier werden knallharte Themen angeschnitten.

    3,5/5 Sterne
    Liebewesen Caroline Schmitt
    Liebewesen (Buch)
    06.03.2023

    Ein erschütternd eindrücklicher Roman über die Liebe und das Leben

    Mit ihrem Debüt legt die 1992 geborene Caroline Schmitt einen eindrücklichen Roman zur Bindungsfähigkeit von Menschen mit Kindheiten in dysfunktionalen Familien vor, das wie ein Leichtgewicht beginnt und mit zunehmenden Verlauf zu einem echten Schwergewicht wird.

    Lio wird von ihrer besten Freundin Mariam über eine Dating-App mit Max verkuppelt. Zunächst scheint die ansonsten fast zwanghaft auf ihr Studium und ihre darauffolgende Forschungsarbeit als Biologin fixierte Lio mithilfe dieser frischen und gleichzeitig ihrer ersten Liebesbeziehung immer mehr aufzutauen. Locker leicht gehen die Verliebten miteinander um, passen zusammen, können sich eloquent in Gesprächen die Bälle zuspielen. Nur zeigt sich mit der Zeit, dass Max immer wieder depressive Phasen und Lio eine Kindheit und sexuelle Erfahrung hat, die einem einen Schauer über den Rücken laufen lassen. Als die dreißigjährige Lio schwanger wird, muss sie nicht nur entscheiden, ob es dafür der richtige Zeitpunkt in ihrem Leben ist, sondern auch ob sie überhaupt mit Max zusammen ein Kind haben möchte, ob sie überhaupt eine Mutter seine möchte.

    Caroline Schmitt lässt uns durch ihren direkten, ungeschönten und mitunter lakonischen Erzählstil ganz entgegen der Erwartung, die solche Beschreibungen eines Schreibstils aufkommen lassen, sehr nah an ihre Protagonistin und ihr soziales Umfeld herankommen. Zunächst wird man durch die lockere Art, wie Lio mit ihrer Freundin Mariam und dann auch mit ihrem Partner Max umgeht, auf die falsche Bahn geleitet. Denkt man doch, dass sie eine witzige, unbedarfte junge Frau ist. Aber umso tiefer fällt man, wenn man dann durch Rückblicke Details aus ihrer Vergangenheit erfährt. Und umso verständlich wird es den Lesenden gemacht, warum diese Frau mit dem in ihr wachsenden Leben und auch der Beziehung zu Max hadert.

    So kommt die Ich-Erzählerin Lio immer wieder in ihren Gedanken, an denen wir teilhaben dürfen, zu Feststellungen, die ihre Prägung und ihre Beziehungsschwierigkeiten mit Max auf den Punkt bringen, wie: „Als wäre es in der Geschichte von Beziehungen jemals eine gute Idee gewesen zusammenzubleiben, um einander in Krisen beizustehen, die man ohne die andere Person nicht hätte.“ Oder auch die alles sagende Frage: „Wie konnte irgendjemand, der dort aufgewachsen, wo ich herkam, guten Gewissens Kinder bekommen?“. Psychologisch vollkommen nachvollziehbar und korrekt leitet die Autorin die entstandenen Probleme in der Liebe von Lio und Max mithilfe der erlernten Muster und gemachten Erfahrungen her. Die Figuren handeln schlüssig und wirken mit all ihren Problemen trotzdem insgesamt äußerst authentisch. Die Autorin schafft es nicht nur in diese Liebesbeziehung hineinzuziehen, sondern auch die Verbindung zu den Eltern sehr gut herauszuarbeiten. Der Stil von Schmitt pack zu und kann gleichzeitig die eigenen Erinnerungen und Gefühle berühren.

    Ich bin schlussendlich von diesem Roman überrollt und mitgerissen worden, wie es nur eine Welle von gekonnter Schonungslosigkeit und klarer Aussprache von Zusammenhängen vermag. Deshalb bekommt dieses ganz hervorragende Debüt eine klare Leseempfehlung von mir. Ein weiteres Highlight aus dem Bereich der jungen, deutschsprachigen Autor:innen, die kein Blatt vor den Mund nehmen und gleichzeitig nie auf Krawall gebürstet sind sondern Sichtbarkeit und Aufklärung mit viel Empathie für ihre weiblichen Figuren erreichen. Das grandiose Cover des Buches mutet wie eine Kampfansage an, soll aber sicherlich - ebenso wie der Roman - aufrütteln und einen Perspektivwechsel anstoßen. Es zeigt ein Gemälde des 1950 geborenen, amerikanischen Künstlers Mark Tennant, nicht etwa einer jungen feministischen Malerin. Soll heißen: Hier wird mit Erwartungen gebrochen. Ein rundum tolles Paket, welches daran erinnert, dass wir nicht nur Lebewesen sondern auch Liebewesen sind, die das Wesen der Liebe, sowohl zwischen Partner:innen als auch zwischen Eltern und ihren Kindern, immer wieder ergründen müssen.

    5/5 Sterne
    Wovon wir leben Birgit Birnbacher
    Wovon wir leben (Buch)
    24.02.2023

    Immer mehr geben als nehmen

    In Birgit Birnbachers neustem Roman geht es nicht nur darum wie wir leben, sondern eben vor allem wovon wir leben. Wir leben nicht nur von der Erwerbsarbeit, sondern müssen auch mit einer erzwungenen Arbeitslosigkeit leben. Und - besonders Frauen – müssen auch noch zusätzlich mit der ihnen auferlegten Care-Arbeit leben. Welche Auswirkungen das auf die eigene Gesundheit, den Lebensentwurf und letztlich das eigene Ich haben kann, damit beschäftigt sich Birnbacher verdichtet auf nur knapp 190 Buchseiten.

    Julia ist Mitte Dreißig und war bis vor kurzem noch Krankenschwester auf der Inneren Station eines Kreiskrankenhauses in Österreich. Nach einem fatalen Fehler kann sie nicht mehr atmen, im übertragenen wie auch wörtlichen Sinne. Sie wird arbeitsunfähig und steht zu Beginn des Romans vor ihrer Entlassung. Da sie in einer Betriebswohnung lebt, zieht sie kurzerhand zurück in ihren Heimatort zu den Eltern. Nur erwarten sie dort neben der Nachricht, dass die Mutter gar nicht mehr zuhause lebe, noch weitere Neuigkeiten und Neulinge. Die nahegelegene Schokoladenfabrik hat geschlossen und nun ist der halbe Ort arbeitslos, hinzu gesellt sich der Städter Oskar, der kürzlich einen kleinen Herzinfarkt erlitt, einen sogenannten „Luxusinfarkt“, aber Glück im Unglück hatte und ein einjähriges Grundeinkommen gewonnen hat. So treffen nun diese verschiedenen Welten aufeinander und es entsteht des Bild einer Gesellschaft, die sich durch Arbeit definiert, in dieser Arbeit die sogenannte Care-Arbeit aber gar nicht mitgedacht wird. Julia muss einen Weg und ihren Weg finden, sich neu zu definieren, und trifft dabei auf diverse Widerstände in der Gemeinschaft aber auch in sich selbst.

    Durch ihre nüchterne, mitunter lakonische Sprache erschafft Birnbacher in ihrem Roman das realitätsnahe Bild einer Dorfgemeinschaft mit den ganz individuellen Nöten der dort lebenden Menschen. Während sie ganz präzise Beschreibungen findet, schwingen in den meist einfach anmutenden Sätzen, tiefgründige Erkenntnisse mit. Gleich auf der ersten Seite lese von wir von der Ich-Erzählerin, dass sie aufgrund ihrer schweren asthmatischen Erkrankung, durch welche sie „nur knapp am Sauerstoff vorbei“ geschrammt ist (soll heißen, der Sauerstoffflasche zur Erleichterung der Atmung), die „vollständige Atmung“ hat erlernen müssen: Immer mehr aus als ein. Ziemlich einfach zu merken: immer mehr geben als nehmen.“ Dieses „immer mehr geben als nehmen“ scheint die Überschrift über dem Leben so vieler Frauen in einer patriarchalen Gesellschaft zu sein und auch dem von Julia und ihrer Mutter. Zu ihrem Vater und seiner Rolle in der Familie macht sie sich folgende Gedanken (S. 151):

    „Wie hat er sich das eigentlich vorgestellt, damals bei der Familiengründung? Er macht eine Skizze, einen Grundriss vom Haus, der Werkstatt und dem Garten, das reicht. Fürs Fleisch und Blut, fürs Gebären, fürs Großziehen, die Sauberkeit und den Dreck, für die Exkremente, die Tränen und den Schweiß waren immer die Frauen zuständig.“

    Julia hadert aber auch mit ihrer Rolle und versucht einen eigenen Weg zu finden. Der gesamte Roman ist überzeugend, was mich aber schlussendlich vollends für diese unglaublich realitätsnahe Zeichnung der Gefüge innerhalb der Familie, ja innerhalb der Gesellschaft, eingenommen hat, ist das Ende des Romans. Weder ein Happy noch ein Sad Ending ist es geworden. Nein, ein allzu realistisches Ende hat Birgit Birnbacher ihrem Roman gegeben. Nach dem Zuklappen der Buchdeckel ist man ob der präsentierten Wahrheiten, die man doch eigentlich schon zur Genüge kennt, sprachlos. Hier handelt es sich beileibe nicht um einen happy-go-lucky-Aussteigerroman, aber auch nicht um ein belehrendes Buch, sondern ein nüchternes Abbild der Realität inklusive der Innenansicht einer ganz normalen Frau, die ihr Schicksal nicht hinnehmen kann und will, und gleichzeitig mit sich und den Umständen zu kämpfen hat. Das ist grandios gemacht und damit eins meiner diesjährigen Highlights. Klare Leseempfehlung!

    5/5 Sterne
    Männer sterben bei uns nicht Annika Reich
    Männer sterben bei uns nicht (Buch)
    24.02.2023

    Die Erbin einer matriarchalen Familiendynastie

    „Meine Geburt hatte mich in die Nähe von Frauen geraten lassen, die mir nicht nahe waren.“ So ist eine der Erkenntnisse, die Luise rückblickend über ihr Hineingeboren werden in eine privilegierte Familie, die sich aber niemals nah, sondern immer gegeneinander ausgerichtet erscheint, gewinnt.

    Luise wächst auf dem Anwesen ihrer Großmutter auf. Diese ist die Matriarchin einer (Geld-)Adelsfamilie und versammelt auf dem Grundstück mit fünf Häusern die weiblichen Familienmitglieder. Fast könnte man sagen, sie nimmt sie in Sippenhaft und wer nicht nach ihren Regel spielen will, wird aussortiert. Die Männer spielen sowieso keine Rolle, sie sterben hier auf dem Anwesen nicht, sie verschwinden schon vorher und gehen ihrer eigenen Wege. Luise ist schon erwachsenen als nun ihre Großmutter verstirbt. Das bringt die Familie für die Beerdigung wieder örtlich, wenn auch nicht emotional, zusammen und lässt Erinnerungen von Luise aufflammen. Mit dem Blick der Erwachsenen versucht sie nun, nach und nach ihre Erinnerungen neu zu sortieren und vor allem auch neu zu interpretieren.

    Mir hat dieses Buch zu Beginn wirklich sehr gefallen. Das Cover ist schon einmal eine Klasse für sich. Die Sprache der Autorin in ausdrucksstark und mit einer gewissen lakonischen Art versehen. Auch das Setting ist spannend gewählt. Kennen wir ja aus den vergangenen Literaturjahren das Phänomen der Veröffentlichung einer steigenden Anzahl von Romanen über Klasse und soziale Herkunft. Nur geht es hier nicht um die Arbeiterklasse, sondern um die Reichen, wenn auch nicht Superreichen. Die Familie väterlicherseits von Luise ist gut situiert. Luise scheint die einzige zu sein, die sich den Familientraditionen hingeben will und auch als würdig dafür erachtet wird. Ihre eigene Mutter stammt aus einer niedrigeren Klasse und passt ebenso wie andere Frauen auf dem Anwesen nicht so richtig hierher. Dieses Spannungsfeld wird gekonnt entworfen und man meint, dass damit nun für das finale Zusammentreffen und damit den Showdown zur Beerdigung der Großmutter und die Frage des Erbes (komplett an Luise) ein perfektes Spielfeld vorgegeben ist.

    Nur leider verpufft die anfängliche Energie und Stringenz des Romans spätestens ab zwei Dritteln des Buches. Die Handlung und die Beziehungen der Frauen untereinander werden verwirrend, bleiben nebulös und einfach mitunter vollkommen unklar. Auch bekommen die Figuren nicht mehr die benötigte psychologische Tiefe, um sich erklären zu können, was zum Ende des Romans hin passiert. Ganz grundsätzlich scheint dem Buch auch eine Aussage zu fehlen. Ist es eine feministische, im Sinne von: Alle Frauen sollten, egal wie unterschiedlich sie sind, sich nicht auseinandertreiben lassen, sondern zusammenhalten? Denn dieses Auseinandertreiben hat bisher die Großmutter königlich beherrscht. Sie hat einen Keil zwischen die vielen Frauen dieser Familie getrieben, um sich dann die Rosine (Luise) als ihre Nachfolgerin auf dem Anwesen herauszupicken. So schreibt Annika Reich:

    „Sie [die Großmutter] hatte kein emotionales Verständnis von Familie, sondern ein dynastisches, auch wenn das Wort zu pompös war für den Haufen, den wir darstellten. Sie wies jeder von uns einen Platz und eine Aufgabe zu, und wenn wir diesen Platz einnahmen und die damit verbundene Aufgabe erfüllten, lief alles glatt, wenn nicht, wurden wir aussortiert wie verschlossene Muscheln.“

    Solche Passagen sind schon toll geschrieben, aber sie führen leider gefühlt zu nichts mit Blick auf den gesamten Roman. Immer wieder ist von „Versehrungen“ der Hauptfigur zu lesen, aber was genau dort dahinter steckt, erfahren wir nicht. Vieles bleibt schwammig und wird immer schwerer zu deuten, umso klarer wird, dass die Erinnerungen von Luise vielleicht auch kindlich verzerrt sind. Es wird immer mal wieder angedeutet, dass ein Ereignis so oder auch ganz anders hätte passiert sein können. So wendet sich der Roman zum Ende hin immer mehr ab vom Konkreten und bleibt auf eine störende Art und Weise unkonkret.

    Insgesamt handelt es sich hierbei durchaus um ein lesenswertes Buch, welches sein anfängliches Potential jedoch nicht halten kann. Schade.

    3,5/5 Sterne
    Die Mütter Brit Bennett
    Die Mütter (Buch)
    18.02.2023

    Entlarvend tiefgründige Milieustudie

    Mit nur 26 Jahren veröffentlichte die afroamerikanische Autorin Brit Bennett ihren überzeugenden Debütroman „Die Mütter“. Darin zeichnet die Amerikanerin das entlarvende Bild einer Gesellschaft, die hohe moralische Standards propagiert, während sie diese selbst nicht einzulösen vermag.

    Die afroamerikanische Nadia Turner ist gerade einmal 17 Jahre alt als sie von ihrem Freund schwanger wird. Die Beziehung zu ihm stellte für sie einen Fluchtpunkt dar, nachdem sich ein halbes Jahr zuvor ihre eigene Mutter mit der Pistole des Vaters das Gehirn weggeschossen hat. Für Luke, Kindsvater und Pastorensohn, sollte eigentlich schon die Beziehung zu Nadia geheim bleiben, eine öffentliche Schwangerschaft wäre somit eine Katastrophe für ihn aber vor allem für das Pastorenehepaar. Die einzige Lösung scheint eine Abtreibung. Diese zerstört die Liebesbeziehung der beiden jungen Leute vorerst, und doch wird sich ihr Lebensweg in den nächsten Jahren immer wieder kreuzen. Und immer wieder wird das nicht ausgetragene Kind mal trennend, mal verbindend zwischen diesen beiden Menschen stehen. Nadia verlagert ihren Wunsch nach Nähe auf eine Mädchenfreundschaft mit Aubrey, ein eifriges Kirchengemeindemitglied. Das Geheimnis um die Abtreibung, die Freundschaft der beiden jungen Frauen sowie Liebesverflechtungen mit Luke machen den Plot des Romans nun fast zu einer griechischen Tragödie.

    Aber nicht nur der Plot legt den Vergleich mit der griechischen Tragödie nahe. Auch die grandiose Struktur des Romans lässt daran denken und gibt ihm eine weitere Dimension. So beginnt der Roman quasi mit einem „Chorgesang“, denn die ältesten Damen der Kirchengemeinde, genannt „Die Mütter“, kommentieren durch ihren Klatsch und Tratsch, welcher immer in der Pluralform „Wir“ formuliert wird, die Geschehnisse um die drei jungen Leute. Über das gesamte Buch hinweg vervollständigen die Kommentarszenen die Handlungsszenen des Romans, ohne in die Handlung als solche einzugreifen.

    Die Handlung ist nicht nur spannend und präzise konstruiert, sondern auch doppelbödig und entlarvend für die amerikanische Gesellschaft. Wenn wir durch die Mütter erfahren, dass die Kirchengemeinde damals bei der Eröffnung der Abtreibungsklinik vor zehn Jahren massiven Protest angewendet hat und gleichzeitig auf der Handlungsebene Lukes Eltern als Pastorenehepaar dieser Gemeinde die Kosten für die Abtreibung übernehmen, um ihrem Sohn „aus der Patsche“ zu helfen, wird das Ausmaß der Perfidität erst so richtig deutlich. Auch deckt Bennett durch das Aufeinandertreffen verschiedenster Figuren mit verschiedenen ethnischen Hintergründen nicht nur den Alltagsrassismus der Weißen gegenüber den Schwarzen auf, sondern auch gegenüber anderen Bevölkerungsgruppen sowie dieser Minderheiten untereinander. All das verbindet Bennett durch ihren hervorragenden, gelassenen, nicht übermäßig dramatisierenden Schreibstil, der auf den Punkt genau die gewünschten Erkenntniseffekte erzielt.

    So entspinnt sich nicht nur eine Geschichte um Verrat und Lügen auf persönlicher Ebene, sondern auch um die Emanzipation einer Frau aus ihrem Milieu in einem Kaff in San Diego County, welches außer einer Laufbahn auf dem nahen Militärstützpunkt oder als Football-Nachwuchs kaum Aufstiegschancen für eine Person aus einer marginalisierten Gruppe bietet, erst recht nicht für eine weibliche (!). Ein ganz großartiger Roman, welchen ich vorbehaltlos für eine aufschlussreiche Lektüre empfehlen kann.

    5/5 Sterne
    Der Inselmann Dirk Gieselmann
    Der Inselmann (Buch)
    17.02.2023

    Von einer nebulösen Insel und einem heranwachsenden Jungen

    Dirk Gieselmann erschafft in seinem literarischen Debüt eine Welt der Natureindrücke in Verbindung mit teilweise selbstgewählter Einsamkeit, welches von poetischer Sprache gekennzeichnet ist und somit das Anliegen des Romans eher nebulös erscheinen lässt.

    Der kleine Hans zieht in einer wortwörtlichen Nacht-und-Nebel-Aktion mitten im Winter auf eine einsame Insel mitten in einem See. Dort will der Vater die Aufgabe des Schafhirten übernehmen und die ganze Familie muss mit anpacken. Örtlich und seitlich ist der Roman Ende der 50er, Anfang der 60er Jahre in der DDR und nun begleiten wir auf den nur 170 Seiten Hans auf seinem gesamten mitunter tragischen Lebensweg.

    Das erscheint viel für so ein dünnes Büchlein? Man könnte meinen der Roman sei sehr dicht geschrieben? Das ist aber leider nicht so. Der Autor spielt in seinem atmosphärischen Werk mit vielen Auslassungen und Umschreibungen. Mal ziehen Wochen, mal Jahrzehnte an den Lesenden und auch an Hans vorbei. Das Buch ist so atmosphärisch, dass man schon gar nicht mehr weiß wohin mit dieser ganzen Atmosphäre. Denn Hans‘ Geschichte wird auf so eine überladene Art und Weise poetisch erzählt, dass es einen schon zu erdrücken droht. Fast jeder Satz enthält ein Sprachbild. Fast jede Begebenheit muss eine Metapher angeheftet bekommen. Diese Bilder sind mal gelungen, mal weniger gelungen. Auf jeden Fall würden sie mehr strahlen, wenn sie nur vereinzelt hätten vorkommen dürfen und damit noch stärker hätten herausstechen können. Durch diese angewandte Sprachgewalt gehen die gelungenen Bilder aber meist unter und bleiben nicht hängen.

    Zeitweise hat man das Gefühl sich in einem Märchen, einer Sage zu befinden. Das wäre dann auch in Ordnung und man könnte das Buch dementsprechend einordnen. Aber dem Autor scheint es wichtig gewesen zu sein, immer wieder Brotkrumen bezüglich der zeitlich und örtlichen Einordnung in den Text einzuweben. So wirkt das Setting Anfang der 1960er Jahre im noch jungen Staate DDR hochinteressant. Man fragt sich, warum der Vater für seine Familie den Rückzug ins Innere dieses Landes wählt, statt der Flucht nach außen, wie es so viele Bürger dieser Zeit gewagt haben. Aber dieser gesamte Themenkomplex wird weder erklärt, noch wenigsten erneut im Laufe des Romans aufgegriffen. So scheint es letztlich vollkommen irrelevant zu sein, wo und wann sich diese Sage abgespielt hat. Übrigens ebenso nebulös und merkwürdig: Der Umzug auf die Insel wird beschrieben, als handle es sich um einen vollständigen Rückzug aus der Zivilisation. Es wird gesagt, der Schiffer käme erst im Frühjahr mit Proviant etc. wieder. Später wird klar, das Hans aber auch einfach täglich zum Ufer rudern und weiter in die Schule gehen kann. Wie im zu Beginn des Buches beschriebenen Nebel um die Insel herum verschwimmt die Handlung und es bleibt kaum eine Quintessenz übrig. Ich konnte für mich persönlich so gut wie nichts mitnehmen aus dem Roman.

    Den Figuren, allen voran Hans, blieb ich fast den gesamten Roman über fern. Erst in der zweiten Hälfte des Buches wurde mein Interesse an seinem persönlichen Schicksal geweckt. Das ist für mich einfach zu wenig, um über den Roman hinweg zu tragen. Und noch einmal: Dabei handelt es sich nur um ein 170-Seiten-Romänchen! Bezogen darauf, dass der Sprachstil Gieselmanns einfach nicht meins war, konnte ich jedoch froh sein, dass die Geschichte so kurz ist.

    Letztlich würde ich keinesfalls von einer Lektüre abraten, man sollte sich aber definitiv einen ersten Eindruck über die Leseprobe verschaffen und überlegen, ob man das wirklich gerne lesen mag. Da mich die zwar nicht immer stimmige Geschichte in der zweiten Hälfte etwas mehr mitreißen konnte, runde ich auf 3 Sterne auf und überlasse jedem sein eigenes Urteil über diesen Text.

    2,5/5 Sterne
    Liebes Arschloch Virginie Despentes
    Liebes Arschloch (Buch)
    09.02.2023

    Wenn eine Krise der nächsten den Rang abläuft

    „Liebes Arschloch, ich habe deinen Beitrag auf Insta gesehen. Du bist wie die Taube, die mir im Vorbeiflug auf die Schulter kackt.“ So beginnt die Replik einer mit fünfzig schon „alternden“, aber immer noch bekannten französischen Grand Dame des Schauspiels, Rebecca, auf den Post eines Mannes, der sie aus dem Nichts im Internet mit Tiefschlägen bezüglich ihres Aussehens diffamiert. Kein Wunder, dass sie da mal kurz die Contenance verliert. Nur hat es Rebecca sowie faustdick hinter den Ohren, wie man im Verlaufe dieses eindrücklichen Briefromans erfährt. Ihr Gegenüber ist Oscar, ein dreiundvierzigjähriger Schriftsteller, welcher sie noch aus seiner Kindheit kennt. Denn Rebecca war eine Zeit lang die beste Freundin von Oscars Schwester Corinne. Die Dritte und eher passive Teilnehmerin dieser illustren digitalen Runde ist Zoé, Ende Zwanzig und als radikale Feministin der jüngsten Generation in den sozialen Medien unterwegs. Zoé wurde vor einigen Jahren durch das aufdringliche Verhalten Oscars aus ihrer Stelle als Pressereferentin aus Oscars Verlag gekickt. Bevor die MeToo-Bewegung es Frauen ermöglichte, offen über Belästigungen und Machtmissbrauch am Arbeitsplatz zu reden. Mit einem Post auf ihrem Blog kommt nun ein Shitstorm ins Rollen, der nicht nur Oscar sondern auch von rechts außen Zoé zu überrollen droht.

    All dies und noch viel, viel mehr bekommen wir als Leser:innen des vorliegenden Briefromans nun über Bande mit. Über mehrere Monate hinweg begleiten wir vor allem Rebecca und Oscar bei ihrer rein digitalen Konversation. Potentielle Leser:innen, die vom harschen Beginn des Romans abgeschreckt werden könnten, kann man beruhigen: Keineswegs verfällt Despentes in eine vulgäre Sprache. Nein, sehr differenziert aber immer authentisch im Sprachstil werden große und wichtige Themen unserer Gegenwart angesprochen und diskutiert. Als Leser:in fühlt man sich dabei empathisch mal zu Rebecca, mal zu Zoé und tatsächlich auch mal zu Oscar hingezogen. Und gleichzeitig hat man das Gefühl von allen Protagonist:innen auch massiv abgestoßen zu werden. Mitunter vertreten sie krasse Standpunkte bezogen auf Feminismus, Drogenkonsum oder die Anti-Coronamaßnahmen, das Altern von Frauen vs. Männern und die damit verbundenen Ansprüche der Gesellschaft an sie.

    Nun nutzt die Autorin die Form des Briefromans ganz geschickt, um viele verschiedene Sichtweisen auf einen Sachverhalt ins Rennen zu bringen. Aus vielen Blickwinkeln werden zentrale Themen der letzten Jahre (ausgenommen dem Ukraine-Krieg, welcher im zeitraum des Romanverlaufs noch nicht begonnen hatte) beleuchtet und als Lesende lernen wir unglaublich viel durch die Argumentationslinien der hier Schreibenden. Da sie aus jeweils unterschiedlichen Generationen stammen, treffen gegenteilige Ansichten aufeinander. Man selbst kann sich dann aussuchen, was einen überzeugt. Sehr viele kluge Beispiele zu problematischen gesellschaftlichen Entwicklungen werden von Despentes ins Feld geführt ohne über den gesamten Roman hinweg mit „der einen“ klaren Aussage moralinsauer auf die Rezipient:innen einwirken zu wollen.

    Punkte Abzug gibt es meinerseits nur für die recht platte Art, wie der Emailkontakt von der Autorin eingefädelt wird. Da fragt man sich zu Beginn doch, warum überhaupt diese Personen so ausführlich einander schreiben, wenn sie sich doch auf den ersten Blick außer Beleidigungen nicht viel zu sagen haben. Recht schnell wird es dann aber inhaltlich intensiv mit persönlichen Einblicken und Eingeständnissen der Protagonisten. Zusätzlich wirkt es dann recht offensichtlich konstruiert, dass hier scheinbar jeder jeden kennt. Diese Kritikpunkte treten aber hinter dem Großen und Ganzen zurück.

    Die Veränderungsfähigkeit der Figuren über diesen recht langen Zeitraum der Korrespondenz hinweg hat mit hingegen sehr gut gefallen und war auch sehr gut nachvollziehbar und plausibel erzählt. Diese Flexibilität und Plastizität wurde ja auch von uns verlangt in den letzten Jahren. Eine Krise, ein Skandal löste den nächsten ab. So konstatiert Rebecca an einer Stelle, als gerade das Coronavirus in Europa Einzug gehalten hat, gegenüber Oscar, der noch mitten in seinem Belästigungsskandal steckt: „Und in diesem Schlamassel denke ich an dich, mein dummer Freund. Und sage mir, du wirst erleichtert sein. Dieses verdammte Coronavirus wird deinem #MeToo den Rang ablaufen…“ Eine Krise läuft hier der vorherigen den Rang ab. Ja, genauso sahen unsere letzten Jahre aus auf der Welt.

    Virginie Despentes entwirft einen klugen Briefroman, der sprachlich wie auch inhaltlich überzeugt. Ich habe ihn sehr gern gelesen, während die Seiten nur so dahinflogen. Eine klare Leseempfehlung meinerseits.

    4/5 Sterne
    Macht Macht (Buch)
    30.01.2023

    Ein kleiner, aber mächtiger Roman

    In diesem Roman der norwegischen Schriftstellerin und Fotografin dreht sich alles um Macht. Aber eben nicht um politische Macht, sondern um die Macht über den eigenen Körper. Denn die namenlose Ich-Erzählerin hat vor 15 Jahren eine Vergewaltigung erleben müssen und kämpft seitdem um diese Macht, nachdem sie sie an einem Abend komplett verloren hatte.

    Mit lakonischer Sprache schildert uns die Erzählerin ihre aktuelle Lebenswelt. Sie ist Krankenpflegerin, verheiratet und hat zwei Kinder, einen Jungen und ein Mädchen, ist mittlerweile gut situiert. Diese finanzielle Unabhängigkeit nutzt sie, um durch luxuriöse Kleidung sowie teure Pflege- und Kosmetikprodukte ihren Körper nach den eigenen Vorstellungen formen zu können. Alles muss perfekt sein. Oder zumindest so scheinen. Denn sie meint auf der Straße anderen Frauen ansehen zu können, ob sie in ihrem Leben auch schon vergewaltigt worden sind. Eine von zehn Frauen in Norwegen hat diese Erfahrung machen müssen. Nun möchte Sie mit aller Macht die Kontrolle über ihren Körper zurück, hätte sie am liebsten nie abgegeben.

    Anhand kleinster, alltäglicher Situationen macht Furre deutlich, wie sich die Vergewaltigung ganz ohne Verfallsdatum noch viele Jahre nach dem Vorfall auf das Leben ihrer Protagonistin auswirkt. Der Gang zur Zahnärztin, das damit verbundene an die Decke starren und warten, dass es endlich vorbei ist. Einmal Angst gehabt zu haben, durch die Hand eines Mannes zu sterben und nun jede Nacht neben einem solchen im Ehebett zu liegen. Ständig der Bedrohung einen Schritt voraus sein zu wollen, ob beim Weg nachhause vom Bus oder bei der Krebsvorsorge. Immer die Kontrolle, die Macht behalten. „Ich bügele meine Blusen und reinige meine Haut. Das ist mein Überlebensmodus.“

    Der eigentliche Akt der Vergewaltigung wird dabei nicht detailliert von Furre geschildert. Das braucht es nicht, um den Horror einer solchen Tat zu verdeutlichen. Dabei hadert die Protagonistin doch auch stark mit sich selbst. Zweifelt in Gedanken noch Jahre später an, ob es überhaupt „definitionsgemäß“ eine Vergewaltigung war, ob sie sich nicht hätte mehr wehren sollen, ob es nicht doch ihre eigene Schuld war. Ganz meisterhaft lotet die Autorin mithilfe der Gedanken ihrer Erzählerin aus, was in unzähligen #metoo-Debatten seit dem Herbst 2017 zur Sprache kam. Sie ermöglicht es dabei ihrer Erzählerin den Vorfall und die Konsequenzen aus verschiedenen Blickwinkeln zu sehen. Wobei uns Leser:innen durchaus bewusst wird, dass diese Abwägungen für die Erzählerin mitunter eher Vermeidungsstrategien darstellen und sie in ihrer Heilung behindern. Sie berichtet uns von ihren mal mehr, mal weniger adäquaten Bewältigungsstrategien und wir dürfen sie ein Stück auf ihrem Weg der Bewältigung begleiten.

    Sprachlich ist der Roman sehr nüchtern aber dadurch auch immer unglaublich präzise formuliert. Auf den nur 170 Seiten finden sich unzählige prägnante Sätze, die lange nachhallen. Ebenso wie die ganze Geschichte dieses Romans, oder besser: dieser Frau. Denn es ist leider die Geschichte von so vielen Frauen (und weniger, aber auch Männern). Jede Person hat eigene Bewältigungsstrategien, hier bekommen wir eine Auswahl davon zu lesen. Das ist unglaublich aufschlussreich und einprägsam. Und letztlich vielleicht sogar aufgrund der lakonischen Sprache besonders erschütternd.

    Auch wenn die Autorin zum Ende hin ein wenig diese knackige Art der Beschreibungen aus den Augen verliert, finde ich den Roman einfach nur großartig. Dünn aber ungemein gehaltvoll, weshalb ich die Lektüre dieses Buches nur dringend empfehlen kann.

    Zum Abschluss noch ein Wort zur Gestaltung des Buches. Die Covergestaltung ist wirklich überwältigend treffend in seiner Mehrdeutigkeit. Erwähnenswert sind aber auch die beiden Fotografien auf dem Vor- und Nachsatz. Diese stammen von der Künstlerin Niki de Saint Phalle aus dem Jahre 1961. Eine Künstlerin, die sich Zeit ihres Lebens mit den Folgen einer Vergewaltigung auseinandergesetzt hat. Und sie spielt auch eine gewisse Rolle für die Erzählerin, sodass bei dieser Ausgabe des DuMont Buchverlags wirklich von vorn bis hinten alles durchdacht gestaltet wurde. Toll!

    4,5/5 Sterne
    Sibir Sabrina Janesch
    Sibir (Buch)
    29.01.2023

    Interessanter familienbiografischer Roman auf Deutsch - Russisch - Kasachisch

    Sabrina Janesch, selbst Tochter einer polnischen Mutter und eines Vaters, der – ebenso wie der Protagonist ihres Romans, Josef – als Kind mit seiner Familie aus dem Wartheland in die Steppe Kasachstans verschleppt wurde, führt im vorliegenden Roman familienbiografische Hintergründe und Recherchen zu einem spannenden Porträt einer Familie über Generationen hinweg zusammen.

    Josef ist zehn Jahre alt, als er 1945 mit seiner in Galizien (Ukraine) angesiedelten, deutschstämmigen Familie bestehend aus seinem Bruder, seiner Mutter, der Tante und den Großeltern von russischen Soldaten nach Sibirien verschleppt wird. In die BRD kommt die Familie zehn Jahre später durch Verhandlungen von Bundeskanzler Adenauer mit weiteren zehntausenden Kriegsgefangenen – hauptsächlich Soldaten. Bekannt sind die Geschichten von Wehrmachtssoldaten, die in die russischen Gulags für viele Jahre verschwanden und in stark reduzierter Anzahl erst Jahre später freikamen. Von sogenannten „Zivilverschleppten“ hörte man bisher jedoch nur wenig. Als Vergeltung für Taten Nazideutschlands im Krieg wurden deutsche Zivilisten, die in östlichen Gebieten lebten, u.a. in die kasachische Steppe zum Arbeitsdienst verschleppt.

    Josefs Geschichte lesen wir nun nur deshalb, weil seine Tochter Leila beginnt seine im Alter von über 80 Jahren schwindenden Erinnerungen aufzuschreiben. So gelingt der Einstieg in diesen Roman und überraschenderweise bleibt die Erzählung fortan jedoch nicht nur im Jahre 1945/46 in der kasachischen Steppe sondern springt im Verlauf des Buches zeitlich und örtlich immer wieder ins Jahr 1990/91, als die Sowjetunion zusammenbrach und erneut deutschstämmige Menschen, sog. „Russlanddeutsche“ in die BRD übersiedelten. Hier begleiten wir nun Leila, in etwa im selben Alter nun wie damals ihr Vater Josef, als er verschleppt wurde. So erfahren wir nicht nur etwas über das Leben des kleinen Josefs in der „Gelber-Rücken-Steppe“, Sary Arka, und seiner Freundschaft mit dem kasachischen Jungen Tachawi, sondern auch über das Leben des erwachsenen Josef sowie seiner Tochter Leila und ihrer Freundschaft zu Arnold, einem Jungen mit ähnlicher Familiengeschichte, und Pascha, dem Sohn einer Spätaussiedler-Familie.

    Durch diesen geschickten Schachzug der Gegenüberstellung zweier Kindheiten fächert die Autorin die Familiendynamiken unter unterschiedlichen Vorzeichen auf und bringt uns Lesenden gleich zwei historische Phänomene näher. Das ist psychologisch wie auch sprachlich sehr gut umgesetzt. Mithilfe weniger Sätze baut sie die Atmosphäre der einen und der anderen Lebenswelt in unserem Kopf auf und zieht uns in diese aufregende Familiengeschichte hinein. Besonders die Beschreibungen um die durch die Sowjets zusammengewürfelte Dorfgemeinschaft Nowa Karlowka in Kasachstan überzeugen ohne Abstriche. Sie schreibt:

    „Erst wesentlich später wurde ihm klar, dass die Tscherkessen, Armenier, Ukrainer, Polen, Esten, Finnen, Tschetschenen, Koreaner und Kalmücken, die in Nowa Karlowka lebten, schon vor Jahren aus allen möglichen und unmöglichen Ecken des sowjetischen Imperiums zusammengetrieben worden waren und in die Steppe geschafft. Nichts davon war freiwillig geschehen, die bunte Dorfgemeinschaft war brutal erzwungen, und sie alle, alle waren Gefangene, zurückgehalten nicht von Mauern, sondern von Leere.“

    Dieser kulturellen und sprachlichen Mischung verleiht die Autorin gekonnt Ausdruck, indem sie immer wieder Vokabeln, welche an der Stelle des Buches für die Geschichte wichtig sind, in den drei Sprachen Deutsch, Russisch und Kasachisch auftauchen lässt. Denn Josef ist es verboten Deutsch zu sprechen, er will die Sprache aber nicht vergessen, in Russisch muss er sich im Dorf ausdrücken und mit seinem Freund Tachawi kann er sich nur auf Kasachisch verständigen.

    Zugegebenermaßen empfand ich den Erzählstrang in der Steppe um den jungen Josef über die Länge des Buches hinweg ein wenig interessanter als der um 1990/91. Auch wenn ich die literarische Entscheidung der Autorin, jeweils nur etwa ein Jahr aus dem Leben der jeweils etwa zehnjährigen Kinder Josef und auch Leila zu erzählen, sehr gut nachvollziehen kann, so hätte ich mir doch noch mehr und Weiterführendes aus Josefs Kindheit und Jugend erhofft. Zuletzt tauchen im Erzählstrang 1990/91 außerdem ein paar zu viele Handlungswendungen auf und machen diesen ein wenig zu wuselig. Das Ende des Buches ist dann wieder erfrischend und konnte mich überzeugen.

    Insgesamt handelt es sich bei „Sibir“ als um ein äußerst lesenswertes Buch, welches ich allen Interessierten ans Herz legen möchte. Da die Autorin ja bereits in der Vergangenheit literarisch ihre Familiengeschichte aufgearbeitet hat, bleibt noch die kleine Hoffnung erhalten, dass wir doch noch einmal zur Figur „Josef“ in einem Roman zurückkehren können, um mehr über seine Jugend und junges Erwachsenenalter zu erfahren.

    4,5/5 Sterne
    Baby Jane Sofi Oksanen
    Baby Jane (Buch)
    20.01.2023

    „Von den falschen Taten die allerfalschesten.“

    Mit „Baby Jane“ erscheint dieser Tage der zweite Roman der finnisch-estnischen Autorin Sofi Oksanen, ins Deutsche übersetzt von Angela Plöger. Dieser 2005 erstmals auf Finnisch erschienene Roman enthält bereits alle Bestandteile späterer Werke der Autorin. Es geht um die toxische Beziehung eines lesbischen Paares, verwebt darin das Leben mit und den sozialen Abstieg aufgrund von psychischen Erkrankungen, wirft einen Blick auf den Broterwerb im Zwielicht der Gesellschaft und verortet das Ganze in der Homosexuellenszene Helsinkis.

    Wie auch schon in ihrem aktuellstem Werk „Hundepark“ erfahren wir gleich zu Beginn, in welchem Zeitraum sich die Romanhandlung abspielen wird. So legt die Autorin die Handlung von 1995 bis 2005 an. Die Ich-Erzählerin berichtet uns von ihrem Ankommen in der Gay Szene Helsinkis Mitte der 1990er Jahre. Dort initiiert wird sie durch die burschikose Piki. Eine Beschützerin, die die sehr feminine Erzählerin aufnimmt und mit Haut und Haaren in eine leidenschaftliche, lesbische Beziehung umschließt. Doch das Glück beginnt nach und nach zu bröckeln. Durch einen Zeitsprung nach nur wenigen Seiten des Buches ans Ende des genannten Zeitraums erfahren wir, dass diese Liebesbeziehung nicht gut ausgehen wird.

    Oksanen nimmt uns ganz selbstverständlich mit in die lesbische Beziehung der beiden Protagonistinnen, führt uns ein in die Szene Helsinkis, die noch halb in verborgenen Nachtclubs stattfindet und mit den Ausläufern der AIDS-Epidemie zu kämpfen hat. Sie hebt das Tabu um die Beschreibung lesbischer Sexualität auf und beschreibt intensiv die erste, leidenschaftlich-sexuelle Phase der Liebesbeziehung. Und genauso ungeschönt bewegen sich die Frauen auf eine Katastrophe zu und wir erkennen nach und nach die toxischen Anteile der Beziehung. Denn die Ich-Erzählerin, selbst an Depressionen erkrankt, erfährt nicht nur immer mehr über die stark einschränkenden psychischen Erkrankungen ihrer Geliebten und verstrickt sich in (Co-)Abhängigkeiten zu ihr, sondern findet sie auch heraus, dass eine längst verflossene Ex-Freundin Pikis, Bossa, ebenso in einer Abhängigkeit zu Piki steht und sie durch Aufrechterhaltung wiederum einer Abhängigkeit von Piki zu ihr ein gefährliches Beziehungsgeflecht heraufbeschwört. Immer stärker gewinnt die Phrase „Leidenschaft, die Leiden schafft“ hier an Bedeutung und lässt bei den Leser:innen schlimme Vorahnungen aufkommen. Es ist dabei hervorzuheben, dass die Autorin nicht einem Narrativ folgt, indem nur eine Person in der Beziehung zu deren Untergang beiträgt, sondern alle Beteiligten Fehler machen. So sagt die Erzählerin über sich selbst an einer Stelle, die habe „von den falschen Taten die allerfalschesten“ begangen. Das Aufschlüsseln dieser Beziehungsdynamiken und der entsprechenden Mechanismen gelingt der Autorin einfach ganz hervorragend.

    Besonders eindrücklich schafft es Oksanen - mal wieder - sehr gut recherchierte, gesellschaftliche Themen in den Romanplot einfließen zu lassen, ohne dass es belehrend wirkt. So erfahren die Lesenden sehr viel über psychische Erkrankungen, deren Behandlung und der, wenn nicht genügend finanzielle Ressourcen vorhanden sind, soziale Abstieg, der damit in Verbindung stehen kann. Somit verbindet sie nicht nur den Themenbereich „class“ mit psychischer Gesundheit sondern auch sexueller Orientierung. So müssen sich die Protagonistinnen einen Broterwerb (rund um sexuelle Fetische) im Zwielicht der Gesellschaft suchen, ein Themenkomplex, der immer wieder in den Werken Oksanens eine Rolle spielt. So packt sie nicht einfach nur aktuelle Problemthemen in einen Roman und erwähnt diese Probleme nur am Rande, um sie in den Ring zu werfen und en vogue zu sein. Nein, sie verhandelt ausgesuchte Bereiche, die wie oben bereits erwähnt, sehr ausführlich und gut recherchiert sind. So ist dieser Roman nicht nur erzählerisch interessant sondern auf jeden Fall ebenso intellektuell anregend.

    Sprachlich geht die Autorin gewohnt schonungslos und rasant vor. Sie nimmt kein Blatt vor den Mund und das muss man mögen. Ich mag ihre Sprache, in der tollen Übersetzung von Angela Plöger, ebenso sehr, wie den Aufbau des Romans mit seinem zu Beginn angedeutetem Unheil, welches aber en detail erst ganz zum Schluss zutage gefördert wird und überrascht. So avanciert der Roman zu einem echten Pageturner mit Niveau. Ich wurde in die Geschichte dieser Frauen, die nicht mit aber auch nicht ohne einander sein können, hineingezogen und habe entsprechend das Buch kaum weglegen können. Wegen mir hätte der Roman gern den Umfang von „Hundepark“ haben können. So bleibt es aber ein kleiner, rasant erzählter Roman, der mich trotzdem vollkommen überzeugt hat vom schriftstellerischen Können der Autorin.

    Wer also den Sprung in eine ungemütliche, schonungslose und gleichzeitig literarisch ansprechende Geschichte wagen möchte, dem empfehle ich diesen Roman aus dem Frühwerk von Sofi Oksanen sehr. Ein kleines Highlight in diesem noch jungen Jahr 2023.

    5/5 Sterne
    Die geheimste Erinnerung der Menschen Mohamed Mbougar Sarr
    Die geheimste Erinnerung der Menschen (Buch)
    24.12.2022

    Das Labyrinth des Mohamed Mbougar Sarr

    Würde man sich eine Konzeptzeichnung zum Roman „Die geheimste Erinnerung der Menschen“ von oben anschauen, sähe sie wahrscheinlich aus wie ein Labyrinth. Ein Labyrinth der Literatur, der Leser:innen, der Kritiker:innen und der Autor:innen. Mit unendlich vielen Verschachtelungen, denen man auf den ersten, schnellen Blick nicht folgen könnte. Nur eine behutsame Herangehensweise und aufmerksames Betrachten würde das Unübersichtliche sichtbar und durchschaubar machen. Für die Lektüre dieses Romans begibt man sich zu Beginn in dieses Labyrinth, ohne dass man weiß, dass es eines ist. Am Ende kommt man auch wieder nach draußen. Man tritt aus dem Labyrinth und hätte niemals erwartet, dass man an dieser Stelle rauskommt und man kaum glauben, was man in der Zwischenzeit alles gesehen hat.

    Man begibt sich zunächst mit Diégane, einem jungen mittelmäßig erfolgreichen Autor aus dem Senegal, der in Paris lebt, auf die Suche nach dessen Idol, T. C. Elimane. Einen sagenumwobenen, aber auch mittlerweile vergessenen Autor aus dem Senegal, der in 1938 in Paris das einzige Buch seiner Karriere veröffentlichte, dann von der Bildfläche verschwand und sein Buch gleich mit. Allerdings bleiben wir nicht bei Diégane, denn in diesem Roman von Mohames Mbougar Sarr kommen viele Menschen zu Wort und tragen einen kleinen Teil zum Labyrinth dieser Geschichte bei.

    Dabei ist dies keinesfalls ein einfacher, plotgetriebener Roman. Die Bezeichnung des Verlags, es handle sich unter anderem um eine „soghafte Kriminalgeschichte“, ist meines Erachtens irreführend. Soghaft: auf jeden Fall. Kriminalgeschichte: nein. Es ist vielmehr eine Geschichte über die Rezeption von Literatur und im Speziellen die Rezeption von Literatur aus Afrika. Die Wahrnehmung von Schriftsteller:innen aus afrikanischen Ländern, die im sogenannten „Mutterland“, dem Land, welches sie ehemals kolonialisierte, Gehör und Anerkennung finden wollen. Dabei geht Sarr durchaus stark (selbst-)ironisch mit sich und dem Literaturbetrieb um. Er legt mitunter satirisch aber auch knallhart und ehrlich den Finger in vergangene und immer noch vorhandene Wunden durch den Kolonialismus. „Die Kolonisation sät bei den Kolonisierten Verzweiflung, Tod, Chaos. Doch sie sät in ihnen auch – und das ist ihr teuflischer Erfolg – den Wunsch zu werden, was sie zerstört.“ (S.406)

    Stilistisch schafft dies Sarr auf grandiose Weise. Denn Prämissen, die inhaltlich benannt werden, werden stilistisch in die sehr unterschiedlich geschriebenen Textpassagen überführt. Nach dem recht bildungssprachlich überladen, hochtrabenden Einstieg ins Buch (wovon man sich nicht abschrecken lassen sollte), wird uns dieses Stilmittel an anderer Stelle versteckt angekündigt bzw. erklärt. So wird in einer im Buch eingebauten Kritik geschrieben: „Schade, dass ein offenkundig begabter Autor es vorgezogen hat, sich in sinnlosen Stilübungen zu ergehen und hinter Bildungsbeflissenheit abzuschotten, anstatt uns etwas wiederzugeben, was uns viel mehr interessiert hätte: den Pulsschlag eines Kontinents“ (S.93). Sarr spielt hier gekonnt mit den Erwartungen seiner (europäischen) Leser:innen und hebelt damit das aus, was noch heute häufig in der Wahrnehmung und Bewertung von Literatur vom afrikanischen Kontinent falsch läuft. Diese vielen Hinweise und mitunter gut versteckte Auseinandersetzungen mit diesem Thema waren für mich das zentrale Themengebiet des Romans und haben mich vollends vom meisterhaften Können des Autors überzeugt.

    Eine andere Stelle verdeutlicht die Vielstimmigkeit und Komplexität des vorliegenden Romans. So wird gesagt auf S. 130: „In einer Erzählung befinden wir uns immer – aber vielleicht, allgemeiner, auch zu jedem Zeitpunkt unserer Existenz – zwischen den Stimmen und den Orten, zwischen Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft.“ Man kann bei der Lektüre durchaus mal kurzzeitig den Überblick verlieren, wer hier eigentlich wann wem was erzählt. Aber man findet sich wieder hinein in den Text und wird belohnt mit augenöffnenden Erkenntnissen, die ich nicht mehr missen möchte. Wie der Autor die inhaltlichen und sprachlichen Ebenen miteinander verwebt ist wirklich großartig. Sarr gibt nie "die eine Antwort", sondern bietet durch seine verschiedenen Protagonist:innen verschiedene Lebenswege und Möglichkeiten der Deutung an. Dabei „war der sagenumwobene Autor T. C. Elimane in dieser ganzen Geschichte immer abwesend, ungreifbar gewesen.“(S.417) Auch dies ein Zitat aus dem Text, auch hier weißt uns Sarr daraufhin, dass sein gesamter Roman durchkonzipiert ist und nichts zufällig passiert.

    Abschließend ist noch diese Idee aus dem Roman für mich herauszustellen: "Es könnte sein, dass jeder Schriftsteller nur ein grundlegendes Buch in sich trägt, ein grundlegendes Werk, das er zwischen zwei Leerstellen schreiben muss." Also ich persönlich hoffe sehr, dass es nicht so ist, und dass Mohamed Mbougar Sarr mit seinen jungen 32 Jahren noch nicht "das eine grundlegende Buch" abgeliefert hat, sondern noch viele weitere, interessante Romane veröffentlichen wird. Ich bin ab jetzt eine begeisterte Leserin seiner (hoffentlich) noch kommenden, ebenso spannenden und intellektuell anregenden Werke.

    5/5 Sterne
    Es kann nur eine geben Carolin Kebekus
    Es kann nur eine geben (Buch)
    11.12.2022

    Spaß beiseite: Die Sache ist ernst!

    Die deutschlandweit bekannte Comedienne Carolin Kebekus hat ein Buch geschrieben – zusammen mit Mariella Tripke. Ist das also ein weiteres Buch, welches einfach nur die Comedy von der Bühne zwischen zwei Buchdeckel holt, aber eigentlich nichts Neues zu bieten hat? Nein, überhaupt nicht. Denkt man auf den ersten Seiten noch bei der ein oder anderen flapsigen Bemerkung, oh oh, da kommt jetzt viel Klamauk, steht dies in keinster Weise für den Inhalt des gesamten Buches.

    Carolin Kebekus beschäftigt sich äußerst breit gefächert und tiefgründig mit dem Thema der Benachteiligung von Frauen in unserer Gesellschaft sowie den Weg zur Chancengleichheit in ebendieser. Dazu beschreibt sie zunächst das Bild von Frauen in der alten sowie der neueren Geschichte. So kann in ersterem Kapitel es um die Darstellung von Frauenfiguren in der Bibel gehen und in zweiterem um Frauen in Film und Fernsehen. Sie erörtert die historisch evozierten Rivalitäten zwischen Frauen und warum u.a. dies sie daran hindert, zusammen doch viel stärker zu sein. Nach einer durchweg quellenbasierten Herleitung inwiefern wir immer noch in einem handfesten Patriarchat leben und Frauenhass an der Tagesordnung ist (siehe Gewalt in Partnerschaften und Femizide), ruft sie zur Frauensolidarität und Lösungen, ganz ohne den im Zusammenhang mit dem Feminismus oft fälschlicherweise vermuteten „Hass auf alle Männer“, auf.

    Dabei bewegt sich Kebekus ausdrücklich in Themenbereichen, über die sie auch etwas zu sagen hat. Es geht ihr nicht darum einen globalen Vergleich von Frauenrechten, Chancengleichheit, Gewalt gegen Frauen usw. zu ziehen. Wir bleiben mit diesem Sachbuch in Deutschland, hier gibt es noch genügend Bereiche, die einer oder mehreren Verbesserungen bedürfen.

    Natürlich lässt Carolin Kebekus den Spaß in ihrem Buch nicht gänzlich beiseite. Häufig unterfüttert sie ihre Thesen mit lässig, witzigen Kommentaren und Beispielen. Das macht einfach Spaß zu lesen, keine Frage. Aber es ist wichtig dieses Buch nicht als ein Comedy-Buch zu unterschätzen. Hinter den Inhalten stecken knallharte Recherchen sowie 135 im Anhang befindliche Quellenangaben. Auch wenn durchaus das ein oder andere Mal ein persönliches Beispiel zur Verdeutlichung genutzt wird, bleibt dies ein wissenschaftlich korrektes Sachbuch. Gerade diese Verquickung gelingt der Autorin wirklich meisterhaft. Während ich viel gelernt habe, konnte ich auch häufiger schmunzeln, ohne dass der Ernst der Sache jemals in den Hintergrund getreten ist. Erfrischend lebhaft und gleichzeitig knallhart präsentiert die Autorin ihre feministische Bestandsaufnahme und macht dieses Buch damit zu einem wahren Lesegenuss.

    Von mir gibt es dafür eine klare Leseempfehlung. Meines Erachtens macht sich das Buch auch super als Geschenk für Interessierte, die einen leichten Einstieg in den Themenbereich suchen.

    5/5 Sterne
    Zweckfreie Kuchenanwendungen Yeoh Jo-Ann
    Zweckfreie Kuchenanwendungen (Buch)
    18.11.2022

    Ein warmherziger Roman mit Tiefgang

    Wer dieses wunderbar gestaltete Buch des Kröner Verlags in die Hand nimmt und zum Lesen aufschlägt, kann sich zweier Dinge sicher sein: Dass man währenddessen ständig Appetit bekommen wird und dass man das Buch nicht mehr aus der Hand legen möchte, bis man es bis zur letzten Seite inklusive jeder Anmerkung eingesogen hat. Oder sollte ich besser sagen, weg gefuttert hat?

    Die Singapurische Autorin Yeoh Jo-Ann erschafft in ihrem ersten Roman eine Welt, die die Lesenden fasziniert, überrascht aber vor allem warm hält. Zunächst bekommen wir den grummeligen Sukhin vorgestellt, welcher als 35jähriger Lehrer irgendwie mit sich und der Welt unzufrieden zu sein scheint. Dem tut er manchmal offen verbal, meist aber nur gedanklich kund und wirkt dadurch unwillkürlich in seiner Grantigkeit urkomisch. Schnell schließt man diesen Menschen ins Herz, wie eigentlich jede andere Figur auch in Yeoh Jo-Anns Roman. Die Handlung der Geschichte kommt ins Rollen, als Sukhin vollbeladen mit Schnickschnack für das Chinesische Neujahrsfest quasi in die Wohnung seiner ehemaligen Schulfreundin und großen Liebe Jinn hineintrampelt. Diese besteht nämlich aus einem Haufen Kartons, da Jinn auf der Straße lebt.

    Aus dieser schicksalhaften Begegnung entspinnt sich nun eine über einen längeren Zeitraum hinweg erzählte Geschichte, die sich keineswegs nur um Sukhin und die zaghafte Wiederannäherung an Jinn dreht, sondern ebenso um Themen wie Homosexualität in Singapur, die Ressourcenverschwendung in einer heutigen, modernen Gesellschaft, der Zusammenhalt von Familie oder der selbstgewählten Familie. Mit sehr viel Feingefühl nähert sich die Autorin ihren Figuren durch Rückblicke an und kann dadurch diese facettenreich und wandlungsfähig darstellen. Tiefsinnig beschäftigt sie sich dabei mit ihren Figuren und deren Beziehungen untereinander wie auch den ausgesuchten gesellschaftlichen Themen. Nie wirkt der Roman dabei überfrachtet, immer leicht zu lesen und ausgeglichen. Allein die Darstellung der (offiziell in Singapur nicht vorhandenen) Obdachlosigkeit sowohl selbstgewählt bei Jinn als auch bei anderen auftauchenden Menschen, die auf der Straße leben, erschien mir bisweilen ein klein wenig zu unproblematisch.

    Sprachlich besticht der Text durch seinen auflockernden, trockenen und immer ins Schwarze treffenden Humor. So häufig musste ich während der Lektüre schmunzeln, um seiner wahren aber nie zynischen Einschübe. Den Roman außergewöhnlich machen sporadisch eingefügte, kursiv gesetzte Texteinschübe, in welche eine gewisse Melancholie, die man in der Haupthandlung sonst nicht findet, beinhalten und sich sukzessive in das Wissen, welches man während der Lektüre erwirbt, einweben. Diese Passagen muten im Rahmen des ansonsten eher süffig geschriebenen Romans besonders poetisch an und entwickeln ihren ganz eigenen Sog, der einen großen Anteil am Spannungsbogen des Buches hat.

    Dieser amüsante, einfühlsame, literarische Unterhaltungsroman verströmt meines Erachtens mit jeder Pore die Atmosphäre, die vergleichbar in der deutschsprachigen Literaturwelt Mariana Leky in ihren Romanen um interessante, liebenswerte Charakterköpfe, die vor ihren ganz eigenen Problemen und den Problemen der Welt stehen und gemeinsam irgendwie einen Weg durch die schweren Zeiten finden, heraufbeschwört. Für mich wäre „Zweckfreie Kuchenanwendungen“ ein guter Anwärter auf den Preis „Lieblingsbuch der Unabhängigen“. Eins meiner Lieblingsbücher des Jahres 2022 ist es schon jetzt geworden. Also lest dieses wunderbare Buch und lernt den multikulturellen Stadtstaat Singapur, seine Einwohner und gleich mit den Verlag Kröner kennen! Denn dieser hat nicht nur ein schön anzusehendes Buch entworfen, sondern auch noch für eine großartige Übersetzung durch Gabriele Heafs und deren Anmerkungen zum Text gesorgt.

    4,5/5 Sterne
    Wie rote Erde Tara June Winch
    Wie rote Erde (Buch)
    06.11.2022

    Eindrückliches Werk über die Unterdrückung der Indigenen Bevölkerung Australiens

    Bis zur Lektüre von „Wie rote Erde“ war das Narrativ, welches ich zu den sog. „Aborigines“ und Australien allgemein folgendes: Irgendwann im 18.Jh. wurde Australien nach der „Entdeckung“ durch James Cook zur Strafinsel gemacht, darauf bildeten sich erste Siedlungen und die australischen Ureinwohner wurden „lediglich“ regional ins Landesinnere verdrängt. Irgendwie bekam Australien immer ein edles Bild in meinem Kopf, mir kam nicht der Gedanke, dass mit den First Nations of Australia genauso umgegangen wurde, wie mit anderen Bevölkerungen kolonisierter Kontinente. Natürlich ein fataler Irrglaube!

    Der vorliegende Roman von Tara June Finch, einer Wiradjuri-Autorin, deren Vorfahren - und somit auch sie selbst - zur Indigenen Bevölkerung im zentralen New South Wales gehören, ist diesbezüglich mehr als augenöffnend. Mithilfe von drei Erzählebenen berichtet die Autorin von den Folgen, die eine Kolonialherrschaft auf die 50.000 Jahre alte Zivilisation eines Kontinents und deren wenige verbleibenden Mitglieder hat. So geht es auf der Handlungsebene um August Gondiwindi, welche nach einer zehnjährigen Abwesenheit in Großbritannien aufgrund des Todes ihres Großvaters Albert und dessen anstehender Beerdigung wieder an den Ort ihres Aufwachsens, die Farm „Prosperous House“ in einer fiktiven Region Australiens, zurückkehrt. Das heruntergekommene Anwesen, in dem noch immer ihre Großmutter lebt, wird durch ein Zinnabbauunternehmen gefährdet, denn Aboriginals (der etwas weniger kolonial belastete Begriff für früher sog. „Aborigines“) haben keinen rechtsgültigen Anspruch auf Grund und Boden, wenn sie nicht nachweisen können, dass seit Beginn der europäischen Kolonisierung eine ständige Verbindung zum beanspruchten Gebiet aufrechterhalten wurde, z.B. durch kulturelle Praktiken. Aber es haben in der Vergangenheit die europäischen Siedler „natürlich“ (muss man leider sagen) durch grausame Vorgehensweisen dafür gesorgt, dass die Kultur der Aboriginals fast vollkommen vernichtet wurde. Davon erfahren wir durch die beiden anderen Erzählebenen des Romans, denn Augusts Großvater hat kurz vor seinem Tod an einem Wörterbuch mit Begriffen aus der Sprache seines Volkes gearbeitet. Auszüge dieses Wörterbuchs werden immer wieder abwechselnd zu Kapiteln, in denen es um August geht, in den Text eingestreut. Dabei handelt es sich nicht um reine Übersetzungen, sondern um eine Geschichts- und Anekdotensammlung. Albert hat also nicht nur historische Geschehnisse anhand der zu übersetzenden Wörter festgehalten, sondern auch eigene Erlebnisse aus seinem Leben. So zeigt sich ein zunehmend grausames Bild der Herrschaft über die seit tausenden von Jahren auf dem Kontinent und dazugehörigen Inseln lebenden Menschen. Bis in die 1970er Jahre hinein wurden systematisch Kinder in Umerziehungslager gesteckt und zu z.B. Haushaltshilfen erzogen, die dann faktisch als Sklaven gehalten werden konnten. Man wähnt einen Lichtblick auf der dritten Erzählebene zu erkennen, auf welcher ein Brief in mehreren Fortsetzungen zitiert wird, der von einem deutschen, protestantischen Missionar 1915 verfasst wurde. Dieser Pastor gründete die Mission, aus der später Prosperous House entstanden ist. Er beschreibt sich selbst als den Indigenen Menschen offen und mildtätig gegenüber; er habe immer nur das Beste für sie gewollt, indem er sie in die Mission aufnahm, vor den Weißen beschützte und ihnen Schulbildung zukommen ließ. Im Verlauf des Buches kommt man allerdings immer mehr ins Zweifeln, ob sein Handeln in letzter Konsequenz nicht auch zur fast vollständigen Auslöschung der Indigenen Sprache und Kulturtechniken geführt hat.

    Diese drei Erzählebenen verknüpft die Autorin wirklich unglaublich gekonnt ineinander, sodass der Spannungsbogen um die Geschichte der Gondiwindis immer straffer zum Ende hin zusammengezogen wird. Winch tappt bei ihrem Plot jedoch nie in die Falle des Kitsches. Steilvorlagen, die andere Autor:innen genutzt hätten, um billig die Emotionen der Leserschaft zu locken, umgeht die Autorin gekonnt, weiß durch Wendungen zu überraschen und dabei hoch informativ zu schreiben. Das wirkt niemals belehrend sondern stets eindrücklich wachrüttelnd. Atemlos verfolgt man die Geschichte um die Anerkennung der Indigenen Bevölkerung und deren Zivilisation noch bis in die aktuelle Gegenwart hinein. Dabei hinkt das Land Australien als Teil des Commonwealth der Zeit hinterher, ist es doch das einzige, das bis zum heutigen Tage kein Abkommen mit seinen Indigenen Bevölkerungsgruppen abgeschlossen hat! Stand doch bis vor wenigen Jahrzehnten noch über den Kinderheimen „Denk Weiß. Handle Weiß. Sei Weiß.“ und wurde dafür gesorgt, dass keine Sprache, kein Jagen, keine Zeremonien erhalten wurde, dass Aboriginals mit Didgeridoo in der Hand zum sauberen Werbebildchen für ein Touristenmagnet geworden sind, ohne eine tatsächliche Anerkennung ihrer Kultur zu erleben.

    Der Haymon Verlag hat wirklich eine herausragende Arbeit dadurch geleistet, diesen Roman durch eine sehr gute Übersetzung von Juliane Lochner sowie ein erhellendes Glossar im Anhang verständlich zu machen. Eine vollkommene Abrundung erhält das Buch durch das Nachwort der Autorin, die viele historischen und gesellschaftlichen Zusammenhänge nochmals verdeutlicht. Allein eine winzige Kritik muss ich an diesem ansonsten großartigen Buch üben: Es wäre hilfreich gewesen, wenn die Begriffe, die ganz hinten im Glossar stehen, im Romantext durch kleine hochgestellte Zahlen kenntlich gemacht worden wären. So wusste man nie, welcher Begriff nun im Anhang zu finden sein wird und welcher nicht. Ein Lesen der Erläuterungen direkt während der Romanlektüre finde ich immer als sinnvoller für das Verständnis als ein nachträgliches Lesen. Besonders loben möchte ich jedoch den Verlag für den feinfühligen Umgang mit der Triggerwarnung. Bereits unter dem Klappentext findet man den Hinweis auf Seite 375 (als auf der letzten Seite) befinde sich eine entsprechende Warnung. So hat man als potentielle:r Leser:in die Möglichkeit schon vor der Lektüre sich dessen bewusst zu sein und sich für oder gegen diese zu entscheiden. Schon häufiger habe ich diese Warnungen einfach so auf der letzten Seite vorgefunden, wenn das Kind schon potentiell in den Brunnen gefallen ist und man den Roman bereits zu Ende gelesen hat.

    Abschließend kann ich nur kurz und knapp zusammenfassen: Hierbei handelt es sich um ein erhellendes Lesehighlight zum Thema Kolonialismus und dessen Folgen in einer Region der Erde, die bisher diesbezüglich wenig bis gar nicht in Prosaform beleuchtet wurde. Ich kann dieses Buch nur allen Interessierten ans Herz legen. Man wird danach nie mehr dasselbe Bild von Australien haben, aber wer will schon mit einer beschönigten Geschichtsdarstellung leben?

    5/5 Sterne
    Miss Kim weiß Bescheid Cho Nam-Joo
    Miss Kim weiß Bescheid (Buch)
    25.09.2022

    Viele Geschichten - ein Schicksal

    Nach dem aufrüttelnden Roman „Kim Jiyoung, geboren 1982“, der die fest in der südkoreanischen Gesellschaft verankerte Misogynie anhand der Geschichte einer einzelnen, beispielhaften Frau zeichnete, ist nun die Autorin Cho Nam-Joo mit einem Kurzgeschichtenband zurück.

    Die acht Erzählungen haben erneut das Schicksal der Frauen und Mädchen in Südkorea zum Thema. Alle auf eine andere Weise, alle anhand von Frauen unterschiedlichstem Alters. In diesem Buch dreht die Autorin das Prinzip ihres oben genannten Romans um. Statt anhand der Geschichte einer Frau auf das Schicksal vieler Frauen zu extrapolieren, beschreiben in diesem Kurzgeschichtenband viele Geschichten ein Schicksal, nämlich das der Frauen in der südkoreanischen Gesellschaft. Und wie es auch schon dem Vorgängerroman gelang, dieses scheinbar speziell den genannten Kulturkreis betreffendes Problem auch für Leser:innen hiesiger Gefilde erfahrbar zu machen, so gelingt es auch dem vorliegenden Buch, durchaus Parallelen zu Frauenleben in jeder Gesellschaft, nicht nur der südkoreanischen, zu verdeutlichen.

    So gibt es natürlich auch anderswo auf der Welt die Zerrissenheit von Müttern zwischen der Kinderversorgung, der eigenen beruflichen Karriere und anderen eigenen Bedürfnissen. Ebenso sind Paarbeziehung, in welchen Frauen durch psychische Einflussnahme des Partners unterdrückt und eingesperrt werden, überall möglich. Oder man denke an die Frau aus einer Geschichte, die ihr Leben lang für ihr Kind, die Schwiegermutter, den Ehemann da war und nun mit 60 Jahren noch erstmals das Land verlassen, eine Reise unternehmen und die bisher nur von Fotos bekannten Polarlichter selbst sehen möchte. Cho Nam-Joo nutzt in ihren Geschichten eine Altersspanne für ihre Figuren zwischen dem Grundschulalter mit der ersten Liebe und dem hohen Alter um die 90 Jahre mit Demenz und kurz vor dem Tode stehenden Protagonistinnen.

    Wie beim Vorgängerroman trifft die Covergestaltung mal wieder ins Schwarze. So wird eine gesichtslose und damit austauschbare Frauengestalt gezeigt. In (wenn ich richtig aufgepasst habe) allen Geschichten kommt mindestens eine Frau Kim vor, und alle Protagonistinnen ein das Schicksal des weiblichen Geschlechts in einer Gesellschaft, die sehr stereotype Anforderungen an diese stellt. Mir gefällt die Kontinuität im Gesamtkonzept, die die Autorin durch ihre Geschichten und der Verlag durch die gestalterische Umsetzung hier an den Tag legen sehr gut.

    Wie es nun einmal fast immer bei Kurzgeschichtensammlungen der Fall ist, kann nicht jede Geschichte gleich starke Reaktionen bei den Lesenden aktivieren. Mir haben fünf der acht Geschichten ganz besonders gut gefallen und mit den restlichen drei konnte ich weniger anfangen. Insgesamt überzeugt jedoch Cho Nam-Joo wieder einmal durch ihr literarisches Können, noch mehr durch ihre erzählerische Kraft und nicht zuletzt mit der Verdeutlichung der thematisierten Problembereiche. Eine äußerst lesenswerte Lektüre mit viel Abwechslung, daher glatte 4 von 5 Sterne von mir für diese aufrüttelnden Geschichten.
    51 bis 75 von 99 Rezensionen
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