Keine Wunder erwarten . . .
. . . dürfen Sie sich bei dieser neuen SACD-Ausgabe der Rundfunkaufnahmen, die die RRG (Reichsrundfunkgesellschaft) von 1942 bis 1945 produziert hat. Nach wie vor liegen noch nicht alle Bänder im Original vor. Ein paar Aufnahmen sind nach wie vor noch von Kopien aus Russland (mit minimal hinzugefügtem Hall) für SACD bearbeitet worden.
Ebenso hätte das ganze Projekt in effektiverer Zusammenstellung auch sicherlich auf 15 CDs veröffentlicht werden können. Die Spielzeiten der SACDs liegen im Durchschnitt bei ca. 50 Minuten. Manche sind randvoll, andere gerade mit etwas mehr als 30 Minuten oder sogar weniger ausgefüllt. Und das launige und informative Interview mit Friedrich Schnapp (Furtwänglers Rundfunk-Tontechniker in der Kriegszeit) ist etwa 8 Minuten kürzer als in der SWF-Ausgabe. In der SWF-Ausgabe ist auch das gesamte (und wesentlich längere) Interview abgedruckt – sehr lesenswert!
Das Klangbild ist auch auf SACD durchaus als deutlich historisch zu bewerten, in gewisser Weise hie und da sogar stärker als bei den Veröffentlichungen der SWF-Ausgaben (Societe Wilhelm Furtwängler), da in der neuen Ausgabe ein Filterprogramm eingesetzt wurde, dass die Publikumsgeräusche (viele Konzerte sind Konzertlivemitschnitte) erkennt und stark(!) minimiert. Dieser Filter beeinflusst auch den Klangcharakter der gesamten Aufführung. Die Distanz zum Klanggeschehen ist im Vergleich zu den ungefilteren Ausgaben der SWF etwas größer, was minimal die „Farb- und Arbeitsgeräusche“ ()Bogengeräusche u.ä.) schwächt.
Der Punkt der Filterung betrifft aber nur einen Teil der Aufnahmen und auch eine positive oder zumindest eine begründbare Seite, weil ein paar Konzerte so tatsächlich etwas mehr Ruhe bekommen und dem Hörer die Konzentration auf die Musik erleichtern …
womit ich zu den Vorzügen der Ausgabe komme – denn wo kämen ansonsten die 5 Sterne meiner Gesamtbewertung her ;-)
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Sehr erfreulich, dass auch die wenigen Aufnahmen am Anfang der Edition (eben 1939-45) stehen, die nicht auf Tonband, sondern Platte festgehalten wurden. Furtwängler, Händel und Beethoven 5te – bei letztere fehlt aber im Finale eine Platte (also gute 4 Minuten!)
SACD1 Furtwängler: Sinfonisches Konzert h-moll
Endlich ist diese sehr gute Aufführung trotz relativ hohem Rauschanteils erstmals wirklich als Musik zu genießen! Alle vorherigen VÖs (Pilz, Dante, Memories u.a.) können dieser SACD nicht das Wasser reichen! Kein Knacksen mehr, das Rauschen auf ein erträgliches Maß reduziert, die Höhen aber nicht beschnitten – und kein hinzugefügter Hall. Die Aufnahme selbst hat schon sehr viel Raumklang. Es gibt mit Furtwängler als Dirigent als Interpret eigener Werke 5 Aufführungen der 2ten Sinfonie, das Adagio aus dem Konzert (als Schallplattenproduktion bei Elektrola) und ansonsten nur noch diese Liveaufnahme des gesamten Sinfonischen Konzerts.
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Von den 1942-45 Tonbandproduktionen möchte ich nur punktuell auf bestimmte Aufnahmen eingehen. Die Vergleiche beziehen durchweg auf Ausgaben von Tahra und der französischen „Societe Wilhelm Furtwängler“, weil diese Ausgaben die bisher klanglich besten waren. Die VÖs der DG, Melodiya und andere können da bei weitem nicht mithalten …
SACD2: Die vier Strauss-Lieder mit Peter Anders leiden etwas unter Verzerrungen und einer suboptimalen Klangbalance.
SACD3: Schumann Klavierkonzert mit Gieseking sehr stabil im Klang, auch die Beethoven 7te ist substanzieller im Klang als die Ausgabe der SWF.
SACD4: Die Beethoven 9te in der berühmten Aufführung mit Briem, Höngen, Anders und Watzke. Wie unfroh und brennend das Finale doch klingen kann … Die erste Tahra CD-Ausgabe war deutlich zu tief überspielt, die neuere Tahra SACD im richtigen Maß, die neue SACD hier ist mit nochmal einen Tick höherem Pitch überspielt. Ausgezeichneter Klang.
SACD6: Die Bruckner 5te in der Testament CD klingt etwas „keuscher“ (klarer und störungsfreier) als die SACD, welche aber etwas opulenter klingt. Der musikalische Eindruck ist so unterschiedlich, dass sich beide zu hören lohnt.
SACD9: Schubert „große C-Dur“ mag gegenüber des SWF-Ausgabe auf den ersten Eindruck in der Höhe limitiert klingen, aber die Reinigung des Klangs bringt einen homogeneren und „logischeren“ kraftvollen Klang zustande.
SACD10: Sibelius En Saga hat eine sehr starken Höhenanteil. Hier wirkt sich das Reinigen der Publikumsgeräusche unvorteilhaft aus, weil im p und pp etwas unschöne Artefakte zu hören sind, welche von den Resten der eliminierten Publikumsgeräuschen stammen.
SACD20: Beethoven 4te Sinfonie – mit und ohne Publikum (zwei Produktionen hintereinander). Bei der Publikumsversion mit besagter Filterung der Publikumsgeräusche, die ich in diesem Falle vielleicht nicht vorgenommen hätte, da etwas Nähe des Klangerlebnisses verloren geht – besonders in der Einleitung des Kopfsatzes. Dennoch ein sehr gute Transfer, der wahrscheinlich allen anderen Ausgaben überlegen ist.
SACD13: Beethoven 4tes Klavierkonzert mit Conrad Hansen. Wichtig und wunderbares Remastering!
SACD15: Großartige Aufführung mit Adrian Aeschbacher, welche erst in dieser Ausgabe in ihrer Bedeutung zu erkennen ist. Für mich persönlich trotz der Edwin Fischer Alternative favorisiert …
SACD20: Ravels „Daphnis et Cloe“ Suite Nr.2 in besagter Filterung der Publikumsgeräusche, die ich auch in diesem Falle vielleicht nicht vorgenommen hätte, da etwas des Flirrens und der Farbigkeit verloren geht. Dennoch ein sehr gute Transfer, der wahrscheinlich alles anderen Ausgaben überlegen ist. Furtwänglers inneres Hören ist wirklich spannend. Wie viel Romantik in Ravel steckt – und wie viel Debussy im Kopfsatz und Wagner im Finale der Bruckner 9ten …
SACD21: In der Bruckner 9ten (einige Tage Produktionszeit!) ist das Orchester nun in endlich seiner ganzen Fülle, Kraft und Farbigkeit zu hören (Streicher).
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VOLLSTÄNDIGKEIT
Es scheint hier alles veröffentlicht zu sein, was an Bandmaterial noch greifbar ist. Nicht alle Werke sind vollständig. Bei der erste „Daphnis et Cloe“-Suite von Ravel fehlt das einleitende Nocturne.
Von der Brahms 1ten (1945) ist nur das Finale erhalten, von der Buckner 6ten nach wie vor der erste Satz verschollen. Das Schumann Cellokonzert mit Fournier ist unvollständig, die andere Aufnahme mit de Machula aber wunderbar und vollständig.
Der zweite Satz der Schubert „Unvollendeten“ ist trotz lästiger Tonstörungen mit veröffentlicht – was die SWF noch nicht gewagt hatte.
REMASTERING
Bei manchen Stücken korrigiert das neue Remastering die Tonhöhen bisheriger Veröffentlichungen – meist etwas nach oben deutlich über 440 Hertz. Manches erscheinen nun etwas hoch im Pitch, aber ältere Ausgaben waren manchmal definitiv zu tief …
Der Klangeindruck ist auf der ersten Anschein etwas schärfer, weil linearer und somit weniger in „LP-Anmutung“, aber nach mehrmaligem Hören und reflektieren überwiegen die klanglichen Vorzüge.
KONZEPT und UMSETZUNG
Das Konzept der Ausgabe und die Umsetzung als diese wunderschöne Box überzeugt vollkommen und sind bis ins kleinste durchdacht. Die Werke einzelnen Konzerte sollten (sofern vorhanden) hintereinander wie bei der Aufführung zu hören sein.
Mein Misstrauen bezüglich der Präsentation in aufklappbarer Box mit fest eingefügten Hüllen hat sich als unbegründet erwiesen. Die Beschriftung ist klar und übersichtlich, das mechanische Konzept (Lasche für die unterste SACD) funktioniert. Ganz wunderbar sind die zwei aufklappbaren Deckel, die innen beschriftet sind. Mehr ist nicht nötig, um sich absolut zu Recht zu finden! Der Umfang der Box (22 SACDs, 42 Werke) ist noch in dem Rahmen, wo allein diese Aufstellung genügt. Das Buch weißt dann nochmal detaillierter Angaben auf – auch Uraufführung und Erstaufführungen mit dem BPO.
BUCH
Das absolute Schmuckstück der Ausgabe ist das großformatige Buch mit 180 Seiten (Englisch und Deutsch). Ich kann mich nicht erinnern, jemals(!) ein so vielschichtiges und umfangreiches Textbuch zu einer CD-Ausgabe gelesen zu haben! Eine Unmenge an Informationen, Gedanken, Anregungen, Fotomaterial und Faksimiles von Dokumenten. Einfach großartig und nicht zu toppen!
PREIS
Was soll ich sagen? Genauso ambitioniert wie die Ausgabe und die wertige Fertigung (in dickem Leinenkarton!)
Übrigens: Die Spielzeit von ca. 50 Minuten im Durchschnitt ist knapp, aber nicht unverschämt wenig.