4 von 5
Varadyfan
04. April 2022
Gesamteindruck:
4,0 von 5
Künstlerische Qualität:
5,0 von 5
Repertoirewert:
5,0 von 5
Vorsicht, intensiv!
Asmik Grigorian eilt ein Ruf voraus. Als Salome und Rusalka ist sie per Blu-ray verfügbar, ihre Chrysothemis und Jenufa sind nicht weniger berühmt. Man kann sich als Sängerin das Leben mit einem ersten Album wahrlich einfacher machen, als ausgerechnet "Lieder" von Rachmaninow einzuspielen. Sie hat den lettisch-russischen Pianisten Lukas Geniusas, zweiter Sieger in Moskau 2015, an ihrer Seite. Diese "Lieder" sind wahrlich keine Lieder, also deutsche Kunstlieder, wie sie uns von Schubert, Schumann und Brahms vertraut sind. Die 19 Titel sind fast komplett hochdramatische Opernszenen. Es wird von beiden Musikern mit einer Intensität musiziert, die meine hochgespannten Erwartungen trotzdem weit übertrifft. Asmik Grigorian singt und gestaltet mit einer heutzutage unglaublichen Intensität, Kraft und Hochspannung. Sie singt sich die Kehle aus dem Leib und die Seele gleich mit dazu, einfach unglaublich! Sie singt dieses Programm auch im Konzertsaal. Es ist davon auszugehen, dass sie nach dem Programm schlicht "alle" ist, das kostet Kraft. Geniusas ist kongenialer Partner, einfühlsam, aber genauso intensiv. Wahrlich kein "Begleiter"! Rein musikalisch ist das Album ein absoluter Volltreffer, ein klarer Kandidat für die besten Alben des Jahres.
Es sind aber einige kritische Worte an das Haus alpha zu richten. Zunächst einmal beträgt die Spielzeit dieser CD keine 46 Minuten. alpha liefert zur Zeit etliche Alben mit so kurzer Spielzeit für volles Geld (!) aus. Der Bogen spannt sich von Lucile Boulangers "Solo Bach - Abel" (2 x 45 Minuten) über das hier vorliegende "Dissonance" bis hin zu Barbara Hannigans "Dance With Me" (45 Minuten). Auf eine CD passen locker 75 Minuten Musik. Diese Spielzeit ist kein Diktum. Bei einer Serie von Alben mit einer deutlichen Unter-Spielzeit von rund 45 Minuten kommt beim Käufer nicht viel Freude auf. Das ist wenig Musik für trotzdem viel Geld, die Alben gibt es nicht dauerhaft rabattiert.
Weit mehr als nur ein "Ärgernis" ist das sogenannte "Booklet", das diesen Namen nicht verdient. Wer nur die Musik hören und nichts dazu lesen möchte, ist bestens bedient. Wer aber kompetente Informationen sucht und sich gründlich einlesen will, bleibt auf der Strecke. Die Titel sind nur auf Englisch gelistet, gesungen wird natürlich auf Russisch. Die russischen Texte fehlen zur Gänze. Die Texte der 19 Lieder gibt es nur auf englisch und französisch. Das ist völlig inakzeptabel! Es ist bereits bekannt, dass alpha die Nr. 14 von Schostakowitsch mit Asmik Grigorian und Matthias Goerne vorbereitet. Ich habe mir meine Schostakowitsch-Box der EMI bzw. Warner mit den Aufnahmen von Mariss Jansons herausgesucht. Im Booklet sind die Texte perfekt und vollständig gelistet. Auf Doppelseite, links russisch und deutsch, rechts englisch und französisch! Wer den gesungenen Text auf russisch verfolgen und gleichzeitig die Übersetzung vor Augen haben will, ist bestens bedient und kann sich nicht im Text verlieren. Dazu gibt es von einem mir unbekannten Herrn Nicolas Derny, der von alpha offensichtlich öfter bemüht wird, einen "Einführungstext". Die Lieder werden ohne jede Not in einer völlig anderen Reihenfolge von ihm abgehandelt, als sie auf der CD gelistet sind. Das schafft größte Mühen, sich einzulesen. Dazu kommt, dass das Lied "Do not Sing, My Beauty", das korrekt op. 4, Nr. 4 ist, in dieser Einführung fälschlich als op. 3, Nr. 4 bezeichnet wird. Rachmaninows op. 3 sind Stücke für Klavier solo, keine Lieder. Der Text schafft beim interessierten Musikfreund, der sich einlesen will, nur Mühen und Schleudern. Einem musikalisch absolut beglückenden Album wurde von alpha ein "Booklet" beigefügt, das völlig inadäquat ist. Ich kaufe seit über 40 Jahren Musik auf Tonträgern. Das hier ist der schlechteste Begleittext, den ich jemals gesehen habe.