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Anonym
20. März 2021
Gesamteindruck:
5,0 von 5
Künstlerische Qualität:
5,0 von 5
Repertoirewert:
5,0 von 5
Durch Hören Bruckner verstehen
Die 9. Sinfonie von Anton Bruckner auf Orgel reduziert? Kann das funktionieren? Erst war ich skeptisch, doch nach den ersten Takten wurde klar, daß es ein ungewöhnliches und fesselndes Erlebnis ist! Die orchestrale Vielfalt wird auf den Kern der Musik reduziert, auf das, was ihre Substanz ausmacht und dann in die Form für Orgel übertragen. Ähnliches kennen wir auch von Klavierauszügen, aber die Orgel ist reichhaltiger im Klang und ermöglicht, die stimmungsvollsten Momente zu erzeugen, die auf Klavier eben nicht erreichbar sind. Gerd Schaller äußert sich im Booklet, daß ihn bei der Transkription die berühmten französichen Orgelsinfonien leiteten, was ihm sehr gut gelungen ist. Anton Bruckner hat uns leider wenig Orgelwerke überlassen, aber so hätte es wohl klingen können. Unverzichtbar für Bruckner-Liebhaber oder -Kenner: Mit dieser neuen Form der 9. Sinfonie öffnet sich eine neue Tür, um noch tiefer in den Kosmos von Anton Bruckner einzudringen. Einfach durch Hören, Bruckner verstehen lernen. Spannend dazu ist der 4. Satz, der von Schaller selbst vervollständigt wurde. Ich habe auch die Orchesterversion der Neuten mit seiner letzten Ergänzung, wo ja bekanntlich sehr viel originales Material von Bruckner ohnehin schon enthalten war und wesentlich nur der Schluß fehlte. Von den vielen anderen, die versucht haben, es zu Ende zu schreiben, ist Gerd Schallers Version die am weitesten entwickelte, die keine Brüche mehr aufweist und es sehr schwer ist zu raten, was von Bruckner oder was von Schaller ist. Umso spannender hier, das Konzentrat auf Orgel zu hören und die große Architektur wahrzunehmen, denn erst in der Reduktion zeigt sich, ob der Gedanke für die Ergänzung etwas taugt und auch ohne die Girlanden bestehen kann.
Man merkt deutlich, daß Gerd Schaller als erfahrener Dirigent ein unglaublich gutes Gefühl für den richtigen Fluß der Musik hat, die von einem stabilen Puls getragen wird. Was mir bei vielen anderen Organisten oft auf den Geist geht, sind die berüchtigen Orgelmomente, das Anhalten, das Ausbremsen, oft weil man nicht hinterherkommt, das Hudeln über die gerade gut laufenden Stellen: All das macht die Musik im Stück kaputt und fühlt sich wie eine Herz-Rhythmusstörung an. Nein, hier ist das nicht so, hier wird die Musik vom Puls getragen und geführt. Alles kommt organisch und natürlich daher, als könne es gar nicht anders sein. Damit ist Gerd Schaller eine der großen Ausnahmen unter den Organisten.
Über eine Stunde Orgel. Wird das nicht zu lang? Nun, wer Bruckner kennt, der weiß, daß man die Zeit in seiner Musik vergißt. Kaum ist es vorbei, so möchte man es gleich noch einmal hören.