4 von 5
jommelli
Top 50 Rezensent
30. August 2015
Gesamteindruck:
4,0 von 5
Künstlerische Qualität:
4,0 von 5
Repertoirewert:
5,0 von 5
Annäherung an einen großen Kastratensänger
Es ist immer ein sehr interessantes aber auch problematisches Unterfangen, einen Sänger vergangener Jahrhunderte klanglich wiederauferstehen zu lassen, noch dazu wenn es sich um einen Kastraten handelt. Da es schon etliche Aufnahmen von Opern gibt, in denen Luigi Marchesi sang, hat man ein relativ klares Bild über die stimmlichen Möglichkeiten dieses Superstars der Zeit zwischen 1780 und 1805. Es fallen vor allem der exorbitant große Stimmumfang (klein f bis d ´´´) und die oft gegen Ende der Arien platzierten halsbrecherischen Koloraturen auf, die einen heutigen Interpreten vor große Schwierigkeiten stellen. Nicht einmal Franco Fagioli mit seinen außergewöhnlichen Gaben wäre in der Lage die meisten für Marchesi geschriebenen Arien adäquat zu singen. So ist Ann Hallenberg, die ihr einmaliges Können inzwischen auf zahlreichen Aufnahmen eindrucksvoll unter Beweis gestellt hat, derzeit wohl die einzige Künstlerin, die sich guten Gewissens dieser Herausforderung stellen kann.
So bravourös sich der schwedische Star-Mezzo in dieser neuen CD auch schlägt – in den stimmlichen Extremlagen des tiefen Contr´alto- sowie des hohen Sopranregisters, die oft in gewaltigen Sprüngen unmittelbar aufeinander folgen, werden die Grenzen eines modernen Mezzosoprans deutlich. Wenn man alten Berichten folgt, muss Marchesis Stimme gerade in diesen für heutige Sänger oft problematischen Randlagen durch besondere Fülle und Strahlkraft erstaunt haben.
Makellos wie immer bewältigt Ann Hallenberg allerdings die unglaublichsten Koloraturketten. Hierbei dürfte sie derzeit weltweit die Nummer eins sein. Sehr interessant ist, dass viele der aufgenommenen exzessiven Verzierungen von Marchesi selbst stammen und man eine Cherubini-Arie in zwei im Detail sehr unterschiedlichen Versionen anhören kann.
Musikalisch sind die harmonisch oft recht schlichten, durchweg in Dur stehenden und meist dem ab 1780 üblichen zweiteiligen Schema (langsame kantable Einleitung und virtuose Schluss-Stretta) folgenden Arien relativ zahm und vorhersehbar. Wie schade, dass Mozart nie die Möglichkeit hatte für den gleichaltrigen Marchesi zu komponieren.
Wenig glücklich bin ich mit dem Originalklangensemble, das mit nur 11 Streichern (darunter nur 1 Cello aber 2 Kontrabässe) relativ dünn klingt. Es stellt sich auch die Frage, ob für Kompositionen, die 1790 und später geschrieben wurden, ein sehr deutlich hörbares Cembalo-Continuo die beste Lösung ist.
Zusammenfassend ist das neue Album wie immer bei Ann Hallenberg auf sehr hohem Niveau, hat mich aber (anders als das ebenfalls dieses Jahr erschienene„Agrippina“-Recital) aus obengenannten Gründen nicht 100% begeistert.