5 von 5
Alto
18. Oktober 2013
Gesamteindruck:
5,0 von 5
Künstlerische Qualität:
5,0 von 5
Repertoirewert:
2,0 von 5
Konkurrenzfähig
Wieder einmal die Symphonien von Brahms. Auch wenn die Box mit zwei Weltpremieren aufwartet, den von Paul Klengel orchestrierten Klavier-Intermezzi Op. 116/4 und Op. 117/1, und mit zwei weiteren Neuigkeiten, der Uraufführungsversion des Andante der Ersten Symphonie und der überarbeiteten Fassung der Eröffnung der Vierten, wird man sie sich wohl kaum wegen dieser Dreingaben zulegen.
Hauptwerke bleiben die vier Symphonien. Warum Chailly? Seine erste Aufnahme dieser Werke mit dem Concertgebouw Orkest, die sehr günstig weiterhin zu haben ist, zeichnete sich durch den wunderbaren Klang des Amsterdamer Orchesters und durch eine hervorragende Aufnahmetechnik aus. Der Ansatz war jedoch durch und durch konservativ.
In seiner Neuaufnahme nun ist Abkehr angesagt von der traditionellen romantisch-pathetischen Sicht auf die hanseatisch-wienerischen Dauerbrenner. Die Interpretationslinie Weingartner-Toscanini-Walter solle wiederbelebt werden, liest man im durchaus fundierten Begleittext der schönen und wertigen, aber unpraktischen Box.
Chaillys Version hat sicher nicht die Unerbittlichkeit eines Toscanini oder die unprätentiöse Klarheit eines Walter. Aber ich höre ihn in seiner neuen Interpretation dennoch gern. Hörbar beeinflusst von der "historischen Informiertheit" wählt er rasche Grundmetren, setzt auf Transparenz, die insbesondere den Holzbläsern zugute kommt, animiert das Orchester zu einem agogisch überaus lebendigen und flexiblen Spiel. Manche Temposchwankung, insbesondere manches Accelerando ist gewöhnungsbedürftig, wirkt aber dennoch nicht aufgesetzt. Gerade die Mischung aus Drive und Mömenten des Innehaltens (beispielhaft hierfür sei das Finale der Vierten genannt) ist unheimlich spannend.
Einen ähnlichen Ansatz verfolgten natürlich bereits Gardiner, Norrington und Mackerras, zuletzt bei der Ersten Dausgaard. Der große Vorteil, den Chailly gegenüber diesen durchaus hörenswerten Aufnahmen geltend machen kann, ist sein Orchester. Das Gewandhausorchester klingt auch in dieser Aufnahme schlichtweg großartig. Dieses dunkle, satte Timbre, dieses Volumen, diese Präsenz auch im Piano, diese außerordentlichen solistischen Leistungen zumal der Hörner - die Leipziger spielen da für meinen Geschmack tatsächlich in einer eigenen Liga.
Hinzu kommt eine sehr gute Aufnahmetechnik, die mit Fülle, Dynamik, Natürlichkeit und sattem Fundament all die Vorzüge des Orchesters ins rechte Licht rückt.
Auch wenn Chailly die Brahms-Sicht mit diesen Einspielungen sicher nicht revolutioniert, ist dies für mein Empfinden eine empfehlenswerte Box für jene, die eine schlanke, vitale, dennoch nicht asketische Interpretation dieser Werke in einer zeitgemäßen akustischen Aufbereitung suchen.