Umfassende Darstellung
Mit Platons Höhlengleichnis lassen sich gleich mehrere Analogien, Metaphern aufstellen. Da ist zunächst die doppelte Blindheit, die sich ergibt, wenn man aus der Höhle aufsteigt zum Licht und dann wieder, beim Wiederabstieg in die Höhle. Zum anderen, dass alle, die sich in der Höhle aufhalten, die Realität, das „Außen“ immer nur als „Schatten“, als Näherung erfassen können. Niemals aber die Realität als solche. Mithin ein Problem der Erkenntnis (-theorie) seitdem.
Die Quellenlage zu Hitler hat sich, um eine Zäsur zu setzen, seit den 90er Jahren nicht mehr verändert. Dieser zentrale Einblick in das innerste der Person Hitler und / oder in das innerste Arkanum der obersten Führungsspitze (seien es jetzt Goebbels, Himmler, Göring, Speer) stellt aber mit die wichtigste Quelle zur Beurteilung. Ungeachtet etwa der Problematik im Zusammenhang mit der Bewertung von Tagebucheinträgen (gleichgültig von wem). Schon bei einer oberflächlichen Sichtung der Anmerkungen wird deutlich, dass Longerich sich, vor allem wenn es um Belege für seine These des aktiv handelnden Hitler geht, auf die Tagebücher von Goebbels bezieht, oder die von Model, ja auf Speers Erinnerungen (um nur drei zu nennen). Mithin alles bekannte Quellen. Insofern ist auch die gesamte Literatur seit den 90er Jahren eher Sekundärbearbeitung, Interpretation von Bekannten, Akzentverschiebung. Genau das haben alle großen Biographen, Fest eingeschlossen, getan. Ob sie jetzt Fest, Kershaw oder Ulrich (mit seinem ersten Band) heißen, nicht genannt die unzähligen Partikularstudien. Oder auch Paul Matusseks Monographie „Hitler. Karriere eines Wahns“ von 2000. Das ist Teil zwei vom Höhlengleichnis: alle erkennen die Realität nur als Näherung, und weil neue Quellen nicht aufgetaucht sind, entfällt auch der Weg ins Licht, keiner erfasst die Realität als solche. Deshalb wird sich in der Gesamtschau aller hier genannten Biographen mutmaßlich das vollständigste Bild der Person Hitler ergeben und ihres Handelns, aber nicht auf der Grundlage einer einzigen. Es gibt keine "Beste".
Longerich legt hierfür eine sicher sehr solide Untersuchung vor, die aber mehr eine Gesamtschau der Nazidiktatur ist, und kann, vor allem für zentrale Entscheidungen, überzeugend Belege dafür anführen, dass Hitler „Handelnder“ war. Aber eine völlige Neubewertung, die sich von den „großen“ Vorgängern, ist das nicht. Und solange keine neuen Quellen auftauchen, werden wichtige Fragen unbeantwortet, spekulativ bleiben: War van der Lubbe tatsächlich der Täter oder war der Reichstagsbrand doch eine Inszenierung der Nazis (auch Longerich bedauert, dass er keine Antwort hat); gab es einen ausdrücklichen, schriftlichen Befehl zum Holocaust (Longerich beschreibt, dass am 28.4.45 ein Befehl an den Adjutanten ergeht, persönliche Unterlagen Hitlers in der Reichskanzlei und in den Privaträumen Hitlers zu vernichten (was er wohl auch getan hat).
Longerichs Monographie hält nicht den Maßstab, den er selbst mit den Biographien zu Goebbels und Himmler gesetzt hatte. Aber er legt ein Werk vor, das sich hochaktuell, umfassend und gut lesbar mit Hitler und der Nazidiktatur befasst. Und damit so etwas wie die erste Wahl darstellt für einen Einstieg in die Materie.