Wieso Armenien interessant ist
Ein schwieriges Buch. Das gilt nicht für die Lektüre, die fiel mir leicht. Das gilt für die Arbeit "danach", wenn Worte, Sätze und Sinn fortwirken im Gedächtnis. In dieser Beziehung ist das Buch stark gewesen für mich, auch jetzt, 3 Monate nach dem Lesen, "macht es Eindruck".
Worum geht es? Die Protagonistin, Helen, eine Buchkonservatorin, absolviert in Erewan, der Hauptstadt Armeniens, ein Praktikum, bei dem sie die armenische Buchbinderkunst kennen lernt und eine alte Familienbibel restauriert. Die wiederum ist mit dem Genozid an den Armenier in der Türkei Anfang des 20. Jahrhunderts verknüpft. Helen begegnet in Erewan verschiedenen Weisen, mit diesem Erbe und den Erinnerungen daran umzugehen. Parallel dazu wird die Geschichte zweier Kinder erzählt, die dem Massaker mit der Bibel, die Helen restauriert, entkommen. Dabei begegnet sie auch ihrer eigenen Geschichte, denn sie hat armenische Wurzeln, ihre Großmutter ist dem Pogrom entkommen, die Fluchtgeschichte beeinflusst sie und ihre Familie bis heute. So macht sich Helen zuletzt auf, um das Dorf ihrer Großmutter aufzusuchen.
Das Buch ist irritierend, irritierend kurz. Die Handlung um Helen wird kaum auserzählt. Sie erwirbt innerhalb weniger Seiten einen Geliebten, ohne dass die Beziehung wirklich angebahnt wird, verlässt ihn schnell, er stirbt darauf, nicht an gebrochenem Herzen, sondern als Offizier bei einem Gefecht in Bergkarrabach. Sie trauert um ihn. Sie lernt eine junge Frau kennen, die in der nächsten Szene eine vertraute Freundin ist und dann nicht mehr vorkommt. Plötzlich steht ihr Lebensgefährte aus Deutschland vor ihrer Tür und die Geschichte ist aus. Man sieht: Raum für Entwicklungen und psychologische Entfaltung wird den Figuren kaum gegeben. Vermutlich, damit das zentrale Thema, die armenische Geschichte, nicht durch die persönlichen Schicksale überwuchert und verdeckt wird. So hatte ich mehrmals das Gefühl, streckenweise einen Plot zu lesen, nicht einen Roman. Dem Buch hätte ich deswegen 100 Seiten mehr gewünscht.
Und dennoch: Dieses Buch hat mich bewegt, bestimmt auch deshalb, weil die Geschichte Helena nüchtern und ohne Überschwang erzählt wird. Und weil die Autorin mit ihren reduzierten Mitteln viele verschiedene Weisen unaufdringlich vorstellt, mit dieser Geschichte und ihrem Erbe zu Leben, heute noch. Ja, das Heute ist die Stärke des Buches. Was heißt es, heute mit armenischen Wurzeln und mit feindlichen Nachbarn zu leben. Diese Erzählung macht aus Armenien nicht nur einen exotischen Ort am Rand Europas. Diese Menschen und ihre Geschichte zeigen viel von der conditio humana. Die Rückblenden zur Geschichte der beiden Kinder überzeugen weniger, wirken farbloser. Aber im modernen Erewan, Armenien, in der heutigen Türkei, bei diesen Menschen und beim Leben der Protagonistin wäre ich gerne länger zu Gast geblieben. Das gehört mit zum Besten, was man von einem Buch sagen kann, finde ich.