Deutsch genug?
Als Spätaussiedlerin aus der ehemaligen Sowjetunion habe ich dieses Buch mit wachsender Irritation und Enttäuschung gelesen. Es beschreibt einige reale Erfahrungen, doch in manchen Stellen wirkt die Darstellung sehr einseitig, pauschalisierend und wenig differenziert. Ich möchte meine Perspektive als Leserin teilen – auch um aufzuzeigen, wie wichtig ein sensibler Umgang mit persönlichen und kollektiven Migrationsgeschichten ist.
“Vorsicht Spoiler!”
1. Einseitige Darstellung Kirgistans
Die Darstellung meines Herkunftslandes Kirgistan im Buch empfinde ich als sehr einseitig. Sie basiert auf einem Einzelfall, wird aber so erzählt, als sei es typisch für das ganze Land. Ein einzelnes negatives Beispiel kann niemals ein ganzes Land repräsentieren. Dass die Autorin das nicht differenziert darstellt, verletzt mich persönlich. Mir ist bewusst, dass es in der Zeit nach dem Zerfall der Sowjetunion in vielen Republiken schwierige Phasen gab – auch in medizinischer und sozialer Hinsicht. Es wird ein Einzelfall zur Generalisierung herangezogen, ohne jegliche Kennzeichnung, Einordnung oder Quellennachweis. Gerade vor diesem Hintergrund halte ich es für besonders wichtig, dass Veröffentlichungen, die das Bild Kirgistans mitprägen, mit Sorgfalt und Verantwortungsbewusstsein gestaltet werden. Ich stelle mir die Frage, wie kirgisische Stadtbürgerinnen und Staatsbürger, die heute in Deutschland leben und arbeiten, die entsprechenden Passagen über ihr Herkunftsland in ihrem Buch wahrnehmen würden? Was empfinden sie, wenn sie solche Beschreibungen lesen - über das Land, das ihre Identität ihre Wurzeln und viele prägende Erfahrungen umfasst? Welche Gedanken und Gefühle könnten bei ihnen ausgelöst werden, wenn Kirgistan einseitig und verzerrt dargestellt wird?
Kirgistan ist ein vielfältiges und kulturell reiches Land, dessen ausgeprägte Gastfreundschaft eher an erster Stelle steht. In den 21 Jahren, die ich dort gelebt habe, durfte ich genau das erfahren und verinnerlichen – weshalb das Land eine faire und ausgewogene Darstellung verdient. Die Bücher haben Einfluss auf die öffentliche Wahrnehmung – und damit auch auf das gegenseitige Verständnis zwischen unseren Ländern.
Mich verletzt diese Passage im Buch zutiefst, weil sie einseitig und nicht objektiv bleibt, ohne Raum für andere Perspektiven. Mein Gerechtigkeitsempfinden ist dadurch stark herausgefordert.
2. Warum der Begriff „Russlanddeutsche“
Ich frage mich: Warum wird der Begriff „Russlanddeutsche“ pauschal auf alle Spätaussiedler aus der ehemaligen Sowjetunion angewendet?
Auch die Beschreibung der sogenannten „Russlanddeutschen“, also der Spätaussiedler aus der ehemaligen Sowjetunion bzw. den GUS-Staaten, ist stark pauschalisierend. Der historische Vergleich mit „Russlanddeutschen unter Zarin Katharina der Großen“
Ich möchte gern ein paar meine Gedanken dazu teilen, weil ich merke, wie oft dieser Vergleich vorkommt. Ich frage mich dabei: Worauf genau bezieht sich diese Verbindung – und für wen gilt sie überhaupt noch heute?
Wenn man von „Russlanddeutschen“ spricht und dabei auf die Zeit von Zarin Katharina II. verweist, meint man historisch die deutschen Siedler, die ab 1763 ins damalige Russische Imperium eingeladen wurden. Diese Gruppen – zum Beispiel die Wolgadeutschen – hatten eine sehr spezifische Geschichte, die mit dem heutigen Kontext oft nur noch sehr wenig zu tun hat.
Ich zum Beispiel bin 1978 in Kirgistan geboren – einem Land, das zur Sowjetunion, aber nicht zu Russland gehörte. Ich habe keine familiären oder kulturellen Wurzeln im Russland des 18. oder 19. Jahrhunderts. Die Menschen, die damals mit Katharina gekommen sind, leben heute längst nicht mehr, und ihre direkten Nachkommen sind oft nicht mit den heutigen Spätaussiedlern gleichzusetzen, die aus Kasachstan, Kirgistan oder der Ukraine stammen.
Daher meine Fragen – als Denkanstoß, nicht als Vorwurf:
• Ist es sinnvoll, heutige Menschen mit Herkunft aus Zentralasien oder Osteuropa immer noch mit einer Zuwanderungsbewegung aus dem 18. Jahrhundert gleichzusetzen?
• Warum wird die Herkunft aus der Sowjetunion automatisch mit Russland gleichgesetzt, obwohl es sich um ein Vielvölkerreich mit 15 Republiken handelte?
• Kann man von einem Menschen, der nie in Russland gelebt hat und russisch nur als Amtssprache kannte, wirklich sagen, er oder sie sei „Russlanddeutsch“?
Ich finde: Wenn wir über Identitäten sprechen, brauchen wir mehr Differenzierung und mehr historische Genauigkeit. Der Begriff „Russlanddeutsche“ mag in bestimmten historischen Kontexten berechtigt sein – aber er passt nicht automatisch auf jeden Menschen, der als Deutscher in der Sowjetunion geboren wurde.
3. Ärzte und Lehrer aus Sowjetunion:
Viele dieser Menschen haben unter schwierigen Bedingungen Großes geleistet: Sie haben sich integriert, umgeschult, Sprachen gelernt und beruflich ihren Weg gefunden. Schon um das Jahr 2000 gab es einige russischsprachige Ärztinnen und Ärzte, die in Deutschland erfolgreich arbeiteten. Zudem ist das deutsche System sehr komplex: Es gibt klare Strukturen, gesetzliche Vorgaben, ein gut entwickeltes Abrechnungssystem, das medizinische, rechtliche und organisatorische Kenntnisse voraussetzt. Man muss das alles zuerst verstehen und erlernen, bevor man in einem Beruf – besonders im Gesundheitswesen – arbeiten kann.
Es ist aus meiner Sicht völlig nachvollziehbar, dass dafür ein Praktikum, eine Approbation oder sogar eine Umschulung notwendig ist. Das hat nichts mit Ausgrenzung zu tun, sondern mit der Sicherstellung von Qualität, Sicherheit und Professionalität in einem hochregulierten System. Die Sprache, das Wissen über gesetzliche Pflichten, Abläufe und Verantwortlichkeiten – all das gehört dazu, wenn man in einem neuen Land erfolgreich und auf Augenhöhe arbeiten möchte.
Dass dieser Prozess Zeit braucht, ist verständlich – und auch notwendig. Diejenigen, die bereit waren, sich auf diesen Weg einzulassen, konnten in vielen Fällen beruflich Fuß fassen. Es ist also nicht nur eine Frage der Struktur, sondern auch der persönlichen Bereitschaft zur Weiterentwicklung.
Ich bin der Meinung, dass man – gerade bei solch komplexen Themen – nicht nur Einzelschicksale schildern, sondern auch strukturelle Entwicklungen und positive Beispiele berücksichtigen sollte. Anerkennungsverfahren, Sprachförderung, Integrationsprogramme – all das hat sich in den letzten Jahrzehnten stark weiterentwickelt. Schon ab den 1990er Jahren konnten Menschen in medizinischen Berufen durch Anpassungsmaßnahmen oder Prüfungen anerkannt werden. Dass dies oft mit Mühen verbunden war, ist unbestritten – aber es war möglich. Und viele haben diesen Weg erfolgreich gegangen.
Auch wenn es im Bereich Schule weniger Lehrer gab, lag das vor allem an grundlegenden Unterschieden in der Pädagogik. Das sowjetische Bildungssystem war mit dem westlichen System nicht direkt vergleichbar – deshalb waren komplette Umschulungen oder Studium notwendig. Das ist nachvollziehbar und verdient Verständnis – nicht Kritik oder Abwertung. Aus meiner eigenen Erfahrung und meinem Umfeld weiß ich, dass viele Menschen aus der ehemaligen Sowjetunion bei ihrer Ankunft in Deutschland zunächst vor ganz praktischen Herausforderungen standen. Viele hatten beispielsweise keine Computerkenntnisse, was in einem modernen Berufsalltag in Deutschland jedoch eine grundlegende Voraussetzung ist.
Die Mathelehrerin meines Sohnes unterrichtet seit 2009 in der Schule.
Gerade auch im Bildungsbereich ist es verständlich, dass eine Pädagogik aus der Sowjetunion nicht ohne Weiteres auf das deutsche System übertragbar ist. Dass Lehrerinnen und Lehrer ein Anpassungsjahr absolvieren oder neu studieren müssen, ist nachvollziehbar, wenn man aus einem anderen Land kommt, hat man eine andere Fachkultur.
Aus meiner Sicht zeigt dieses Beispiel, dass es durchaus auch Menschen gab, die frühzeitig Wege gefunden haben, sich beruflich zu integrieren – auch wenn es sicherlich nicht einfach war. Natürlich handelt es sich hierbei möglicherweise um Einzelfälle, aber sie zeigen, dass es grundsätzlich möglich war.
Ich beobachte, dass die individuelle Motivation eine große Rolle spielt. In meinem Bekanntenkreis etwa arbeiten viele Frauen, die ebenfalls seit rund 20 Jahren in Deutschland leben, in der Reinigung. Ich selbst habe mich jedoch immer weitergebildet, auch im Erwachsenenalter, und arbeite heute nicht in diesem Bereich.
Deshalb bin ich überzeugt: Wer etwas erreichen möchte, hat prinzipiell die Möglichkeit dazu – auch wenn der Weg dorthin mit Herausforderungen verbunden ist. Wer allerdings nicht die Bereitschaft oder Möglichkeit zur Veränderung hat, dem fällt es deutlich schwerer.
4. Namensänderungen – Freiwilligkeit statt Zwang
Ein weiterer Punkt, der im Buch verzerrt dargestellt wird, betrifft die Namensänderungen. Hier möchte ich ausdrücklich klarstellen: Es wurde freundlich vorgeschlagen, wer wollte, konnte es tun – wer nicht wollte, konnte den eigenen Namen behalten. Ich kenne persönlich Bekannte, wie z. B. eine Frau Namens Svetlana. Sie hat sich bewusst dafür entschieden ihren Namen mit „W“ statt „V“ schreiben zu lassen. „Swetlana“ und sowohl die Behörden als auch ihr Vater haben diesen Wunsch voll respektiert. Auch das zeigt viele Entscheidungen wurden freiwillig und individuell getroffen.
Ich habe mich in meinem persönlichen Umfeld umgehört – sowohl in der Familie als auch bei Bekannten – und festgestellt, dass viele Spätaussiedler ihre Namen freiwillig geändert haben, nicht weil sie unter Druck standen. In allen mir bekannten Fällen wurde die Namensänderung höchstens freundlich vorgeschlagen, aber niemals verlangt. Man konnte „Nein“ sagen, und es wurde akzeptiert.
In meiner Familie zum Beispiel wurde aus dem Namen meines Vaters „Michail“ der Name „Michael“, und meine Mutter entschied sich selbst, aus dem Namen „Iraida“ den Namen „Irene“ zu machen. Auch der Wunsch, den Nachnamen zu ändern, kam von meinen Eltern selbst.
Viele dieser Entscheidungen wurden bewusst getroffen – nicht, um „deutscher“ zu wirken, sondern weil man berücksichtigen wollte, wie Namen im Alltag ausgesprochen werden. Gerade im Kontakt mit der deutschen Sprache – zum Beispiel im Kindergarten oder in der Schule – wird schnell klar, dass der deutsche Sprechapparat manche russischen Namen schwer abbilden kann. Für viele Kinder ist es frustrierend, wenn ihr Name ständig falsch ausgesprochen wird. Das bleibt oft ein Leben lang ein Thema. So mein Cousin „Slawa“ wurde „Schaljawa“ ausgesprochen. Das hat ihn sehr genervt. Sven passt besser und Kinder konnten diesen Namen aussprechen.
Deshalb finde ich es wichtig, diesen Aspekt mitzudenken: Viele Menschen haben ihre Namen angepasst, nicht aus Identitätsverlust, sondern aus praktischen und sprachlichen Gründen. Diese Perspektive wird in der öffentlichen Darstellung manchmal übersehen, obwohl sie ebenso Teil der Realität ist.
5. Persönliche Reaktion auf das Buch
An manchen Stellen habe ich mich in dem Buch wiedergefunden – die beschriebenen Herausforderungen beim Ankommen oder das Gefühl des Fremdseins kennen viele. Doch was mir fehlt, ist die Differenzierung. Die Autorin berichtet über Einzelfälle, zieht daraus aber allgemeine Schlüsse. Statt Vielfalt zu zeigen, werden alle „über einen Kamm geschoren“. Das wirkt unfair und herabsetzend. Mich hat das an mehreren Stellen geärgert – und zum Teil auch tief verletzt.
Fazit
Ich wünsche mir, dass solche Bücher – wenn sie über Migration, Integration und Herkunft schreiben – mehr Perspektiven einbeziehen, mehr recherchieren und die Realität in ihrer ganzen Vielfalt abbilden. Persönliche Erlebnisse sind wertvoll, aber sie sollten nicht verallgemeinert werden.
Ich bin sehr froh, heute in Deutschland zu leben, und ich bin dankbar für die Chancen, die uns gegeben wurden. Umso wichtiger ist es, diese Realität auch angemessen darzustellen – mit Respekt, Tiefe und Verantwortungsbewusstsein.
Ich teile diesen Gedanken ganz bewusst, dass solche Themen in der heutigen Zeit mehr Raum für Reflexion, Differenzierung und Sensibilität brauchen – gerade, wenn wir über Migration, Identität und Geschichte sprechen.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. Ich hoffe auf Ihr Verständnis und danke Ihnen, dass Sie sich die Zeit nehmen, dies zu lesen.