Spannend und düster, mit nahezu brutaler Detailgenauigkeit
London 1883 Seit vor etwa sechzig Jahren der Schleier zwischen der Welt der Lebenden und dem Reich der Geister dünner geworden ist, werden Kinder mit violetten Augen geboren, die die Gabe besitzen, mit Geistern in Kontakt zu treten. Der sechzehnjährige Silas Bell ist eines dieser Kinder, doch er ist trans und wird von seinen Mitmenschen als Frau gelesen - die in der Gesellschaft der Speaker (eine Art Loge von Geisterkundigen) als psychisch labil betrachtet werden. Nur Männern ist die Arbeit als Medium gestattet, der Wert violettäugiger Frauen besteht in dieser Gesellschaft lediglich darin, Nachwuchs zu produzieren. Auch Silas soll schnellstmöglich verheiratet und geschwängert werden, nach einem Versuch, diesem Zwang zu entkommen, wird er in das Braxton-Sanatorium eingewiesen, da er angeblich an der Schleierkrankheit leidet. Hier offenbart sich ihm nicht nur die Grausamkeit des Systems, er wird auch von den Geistern vermisster Patientinnen um Hilfe gebeten.
"The Spirit Bares Its Teeth" von Andrew Joseph White ist eine düstere Fantasy-Geschichte, die mit nahezu brutaler Detailgenauigkeit erzählt wird. Bereits seit seiner Kindheit träumt Silas davon, Chirurg zu werden, seine diesbezüglichen praktischen Übungen und auch die eine oder andere Hilfe, die er im Lauf der Handlung an verschiedenen Menschen leistet, sind äußerst plastisch beschrieben, für dieses Leseerlebnis sollte man starke Nerven (und einen starken Magen) haben. Der Autor schreibt zu Beginn einen Brief an seine Leser, den man als Triggerwarnung ansehen und unbedingt beachten sollte. Dennoch hat mich das Buch schnell fasziniert und durchgehend gefesselt - das letzte Drittel hat mich sogar einige Stunden Nachtschlaf gekostet, weil ich es bis zum Schluss nicht mehr zur Seite legen konnte.
Mit Silas habe ich von Anfang an mit gefühlt, von klein auf war er in den Augen seiner Eltern "falsch" und sie haben im Lauf der Jahre eine Vielzahl von Hauslehrern engagiert, die ihn zu einer brave Tochter und zukünftigen Ehefrau umerziehen sollten. Wer sich für Geschichte interessiert, der weiß, dass dieses Verhalten im viktorianischen Zeitalter üblich war, der Autor streift nur einen kleinen Teil der Grausamkeiten, der damals Menschen, die nicht ins gesellschaftliche Raster passten, angetan wurde. Zusammen mit dem Fantasyaspekt entwickelt sich daraus ein Buch, das mich zwar wütend und traurig gemacht aber dennoch tief in seinen Bann gezogen hat, mein Mutterherz blutete dabei für Silas, Daphne und die Mädchen in Braxton. Dieses Leseerlebnis wird sicherlich noch eine Weile in mir nachhallen und obwohl ich den Roman durchaus empfehle, rate ich zu einer Leseprobe vor dem Kauf.
Fazit: Der Klappentext lässt nur wenig davon ahnen, welcher Horror die Leser erwartet, das Leid, das Silas und den Schülerinnen in Braxton zugefügt wird, hat mich emotional erschüttert. Dennoch war ich von der Geschichte sehr gefesselt und empfehle das Buch (unter Beachtung der Triggerwarnung, siehe "Ein Brief des Autors") gern weiter.