Ausgezeichnete Übersetzung eines wichtigen Werkes
André Pirrot ist heute kaum noch einem Musikkenner ein Begriff. Das ist höchst bedauerlich, denn der französische Organist, Musikforscher, Dozent und Professor steht mit seinem Leben und Wirken beispielhaft für einen Umgang mit Musik, der zu seiner Lebenszeit - von der Mitte des 19. bis zu der des 20. Jahrhunderts - selbstverständlich war, dann in Vergessenheit geriet und in den letzten Jahrzehnten wieder neu entdeckt worden ist. Er verbindet seine Arbeit als Musiker mit der Musikforschung. Zu verstehen, was er spielte - und dies nicht nur oberflächlich, sondern mit beispielhaften Tiefenbohrungen in die Struktur der von ihm einstudierten und unterrichteten Werke, war für Pirro selbstverständlich. Genau so naheliegend schien es ihm, wenn er sich mit einem Komponisten und seinem Werk auseinandersetzte, nicht nur dessen Kompositionen selbst sondern auch seine Lebensumstände, sein Lebensumfeld gründlich in den Blick zu nehmen. Denn nur so, aus der möglichst genauen Kenntnis der Einflüsse, die das jeweilige Oeuvre geprägt hatten, war es ihm möglich, dieses zu verstehen und adäquat wiederzugeben. Was manche, weniger detailverliebte Musikwissenschaftler abfällig als Jäger-und-Sammler-Mentalität beschreiben würden, verstand Pirro als brennendes Interesse für die Person, die und deren Werk er zu verstehen bemüht war.
Genau diese geistige Grundhaltung ist an seinen Werken, sei es seine 1907 an der Sorbonne eingereichte Dissertation Die Ästhetik von Johann Sebastian Bach oder seine 1913 in Paris erschienene Monografie über Dietrich Buxtehude, ablesbar. Sie enthalten eine bemerkenswerte Fülle an Detailwissen, die sie zu einer Fundgrube für Forscher machen, die zu immer neuen Entdeckungsreisen und Vertiefungen einzelner Bereiche des Werkes und der Lebenswelt der jeweils fokussierten Musikerpersönlichkeit machen. Dies vorausgeschickt, müsste man eigentlich annehmen, dass André Pirros Buch über Dietrich Buxtehude, dessen Werke im Zuge des starken Interesses an historischer Aufführungspraxis in den letzten Jahrzehnten über ein kleines Fachpublikum hinaus wieder neu in den Fokus geraten sind, ein fester Bestandteil nicht nur der Forschungsbibliotheken sondern auch des persönlichen Bestandes jedes Buxtehude-Interessierten ist. Aber dies ist nicht der Fall und der Grund hierfür liegt auf der Hand: Die Kenntnis des Französischen ist hierzulande auch unter Wissenschaftlern vergleichsweise gering und jedenfalls selten ausreichend, um ein umfangreiches, mit Verzeichnissen, Anhängen und Nachwort immerhin 512 Seiten umfassendes Buch mit Gewinn zu lesen. Deshalb ist dem renommierten Buxtehudeforscher und -Spezialisten Klaus Beckmann sehr zu danken, dass er sich der Mühe unterzogen hat, Pirros Buch ins Deutsche zu übertragen und in einer mit Hardcover und Lesebändchen schön ausgestatteten Premium-Ausgabe im Schott Verlag zu edieren. Mit dieser Übersetzung hat Beckmann ein Standardwerk der Buxtehude Forschung zugänglich gemacht, das künftige Forschergenerationen dankbar zur Hand nehmen werden. Denn man liest dieses Buch, was für einen Übersetzer das höchst mögliche Lob ist, als wäre es in deutscher Sprache verfasst, und hat so auch als nicht frankophiler Buxtehude-Interessierter uneingeschränkten Zugang zu der Materialfülle, die Pirro in seinem Buch bietet. Deren staunenswerter Umfang und deren breites Spektrum verdankt sich Forschungsreisen, die der Musiker und Musikwissenschaftler unternahm, um vor Ort Mentalität, Lebensumstände, vor allem aber die in Bibliotheken verwahrten Quellen zu studieren und all die vielen Fakten zusammenzutragen, die ein genaueres Bild der Einflüsse ermöglichen, die Dietrich Buxtehude geprägt und zu dem gemacht haben, was er ist. Eine Studie wie die vorliegende zu lesen, ist auch deshalb ein Gewinn, weil sie eine Gegenwelt zu der der Universitäten darstellt, in denen Spezialisten jahrzehntelang zu Menschen gemacht wurden, die von immer weniger immer mehr verstanden bis sie von nichts alles zu verstehen schienen. Pirro ging es im Gegensatz dazu, wie Klaus Beckmann in seinem kenntnisreichen Nachwort zu seiner Übersetzung betont, nicht nur darum, die Struktur der Werke zu beschreiben, sondern den Fokus darüber hinaus auf den sozialgeschichtlichen und werkhistorischen Kontext zu richten. Denn die Lebenssituation des Komponisten und seine Befindlichkeit beeinflussen die Werkgenese ebenso wie die gattungsgeschichtlichen Aspekte oder die Situation der Auffühungspraxis und zeigen keine geringere Wirkung als die von ihrem Umfeld ja keineswegs losgelöste künstlerische Intention.
Tiefenbohrungen leistet Pirro, wie Beckmann betont, nicht nur hinsichtlich der zeitlos gültigen Quellenangaben, Beschreibungen, Beobachtungen und Informationen, auch im Bereich der symbolischen Deutung der von Buxtheude vertonten Texte. Pirros hermeneutischer Ansatz basiert hierbei auf den Arbeiten Philipp Spittas und Hermann Kretzschmars, die er jedoch weiterentwickelt. Bemerkenswert ist an dieser Stelle aus Beckmann Sicht, dass der so-trojanische symbolisme ein erhebliches Maß an Übereinstimmung mit der barocken Figurenlehre, vor allem in textbezogener Verbindung, aufweist.
Pirros Buch in der deutschen Übersetzung Klaus Beckmanns zu lesen ist nicht nur ein geistiger Genuss, die Lektüre vermittelt zahlreiche Erkenntnisse und stärkt zugleich jene geistige Grundhaltung, die dem forschend-reflektierenden Denken notwendig ist: die Fähigkeit zum Blick über den wissenschaftlichen Gartenzaun. Dem Buch ist die ihm angemessene Aufmerksamkeit und Rezeption sehr zu wünschen.
Dr. Barbara Stühlmeyer