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Anonym
19. Juli 2018
Elektronisches Meisterwerk
"Oxygène" war 1976 für Jean-Michel-Jarre der Anfang einer Weltkarriere. Das Musikprogramm des französischen Tastenzauberers besticht durch eine konsequente programmatische Logik und vom Ästhetischen her durch eine Atmosphäre tiefer Ausgeruhtheit.
Interessant ist dieses Instrumentalwerk vor allem als ein Beispiel dafür, wie Musik lediglich durch sich selbst zu einer engagierten Stellungnahme kommen kann. Betrachtet man nämlich das Cover - eine aufgerissene Weltkugel enthält einen Totenkopf - als Schlüssel zum Verständnis dieses Werks, so drängt sich förmlich die eine Interpretation auf: Die Evolutionsgeschichte unseres Planeten von der Zeugung des Lebens bis zur möglichen und teilweise schon faktischen Zerstörung durch den Menschen selbst. Die Musik reflektiert dieses Szenario konsequent vom ersten bis zum letzten Track ohne eine einzige Textzeile.
Zum Beispiel im 10-minütigen Teil 5: Eine unentschlossen geführte Melodie am Anfang des Stücks erinnert an ein lallendes Kleinkind: Die ersten Hominiden stehen ihrer Umwelt noch völlig naiv gegenüber. Mit einem Harmoniewechsel bekommt die Melodie eine ernstere Ausstrahlung, wird bestimmter und erinnert an einen Choral: Fantasie, Mythen und Religion bestimmen für lange Zeit das Weltbild und das Handeln der Menschen. Die Slow-Tempo-Melodie wirkt dramatisch und zugleich unruhig - wie jemand, der nach irgendetwas sucht und nicht weiter kommt. Urplötzlich taucht eine Ostinato-Figur auf, die als Prototyp des Techno gelten könnte, und verdrängt die offenen Klangstrukturen Zu straffer Rhythmik gesellen sich Akkorde und alsbald eine hektisch-treibende Oberstimme, die an Ravels Bolero erinnert: das Zeitalter der industriellen Revolution beendet die über Jahrtausende währende Stagnation mit atemberaubender Beschleunigung. Dabei scheint jedoch allmählich die Seele auf der Strecke zu bleiben; die Oberstimme hört auf, nur noch Bass-Figuren hämmern weiter - wie Maschinen, die der Mensch in Gang gesetzt hat und nicht mehr zu stoppen vermag.
"Oxygène" zog eine ganze Reihe handwerklich und klangtechnisch gleichermaßen hervorragender Musikalben nach sich. Das Werk wurde 2007 mit einem Remix noch einmal den aktuellen Klangmaßstäben angepasst und besticht jetzt unter anderem durch kraftvolle Bässe, die dem filigranen Tongeflecht zusätzlich ein angemessenes Fundament liefern.
Norbert Goritzka