4 von 5
jommelli
Top 50 Rezensent
17. August 2020
Gesamteindruck:
4,0 von 5
Künstlerische Qualität:
4,0 von 5
Repertoirewert:
5,0 von 5
Ein neuer Blick auf C.H.Graun
Der vorliegenden Einspielung kommt das nicht unerhebliche Verdienst zu, zum ersten Mal überhaupt eine deutschsprachige Oper von C.H. Graun vorgestellt zu haben.
Dies ist umso interessanter, als man mit dem 1726 komponierten Polydorus ein Werk hören kann, das teilweise noch ganz in der spätbarocken Tradition wurzelt, aber überwiegend schon das galante, auf die frühe Klassik hinweisende Melos entwickelt, für das Graun in seinen italienischsprachigen Opern später so berühmt werden sollte. Erstaunlich ist, wie modern der damals erst 23-jährige geschrieben hat. Manche Nummern erinnern beim ersten Hören mehr an Haydn oder in ihrer anrührenden Affektsprache sogar an den frühen Mozart als an Bach, Händel oder Telemann, die zur selben Zeit ihre wichtigsten Werke schrieben. In vielen Arien des neuen, empfindsamen Stils bezaubert Graun mit unmittelbar ins Ohr gehenden, aber niemals banalen Melodien, während die eher altmodisch konzipierten Stücke oft recht ungelenk und schematisch daherkommen. Besonders hervorzuheben ist die oftmals zarte und raffinierte Instrumentation und der durchsichtige, stets kunstvolle Streichersatz. Es ist nicht zu viel, hier von einer genialen Begabung zu sprechen.
Dramaturgisch bewegt sich die im Rahmen des trojanischen Krieges spielende, reichlich verworrene Geschichte um zwei vertauschte royale Cousins ganz im zeitüblichen Rahmen und dürfte für den modernen Hörer von primär historischen Interesse sein.
Bedauerlicherweise wurde die vorliegende Einspielung offenbar stark gekürzt, wie man an den Auslassungen im Libretto sehen kann. Noch dazu erfährt man nicht, was genau dem Rotstift zum Opfer fiel. Da aber insgesamt 10 ganze Szenen nicht abgedruckt erscheinen, darf man davon ausgehen, dass hier nicht nur Rezitative, sondern auch jede Menge Arien gestrichen wurden, was vielleicht in einem Konzert noch angehen mag, bei einer Studioproduktion aber nicht angemessen ist- zumal die zweite CD mit knapp 38 Minuten sowieso schon extrem kurz ist. Sieht man sich die Umfänge anderer deutscher Opern der Zeit an, darf man davon ausgehen, dass wir bei vorliegender Einspielung leider sehr viel interessante Musik nicht zu hören bekommen.
Musikalisch bewegt sich Polydorus, sowohl beim Gesang als auch den Instrumentalkräften auf einem durchweg hohen Niveau. Dabei fand ich stimmlich eigentlich nur die beiden Sopranistinnen Hanna Zumsande und Santa Karnite herausragend. Bei den Männerstimmen hat mich vor allem die recht angestrengt klingende Countertenorpartie (Alon Harari in der Titelrolle) nicht besonders überzeugt. Im Falle der nicht immer optimalen Klangbalance wäre auch noch etwas mehr Luft nach oben gewesen.
Insgesamt kann diese Einspielung jedoch allen Freunden alter Musik empfohlen werden, da man auch trotz der Kürzungen einen bislang so noch nicht gehörten Eindruck über die stilistische Entwicklung Grauns bekommen kann. Danke an CPO für diese interessante Veröffentlichung!