4 von 5
Anonym
04. April 2019
Gesamteindruck:
3,0 von 5
Künstlerische Qualität:
4,0 von 5
Repertoirewert:
2,0 von 5
Gelungen
Der kleine Bach-Zyklus, der hier bei Naxos unter der künstlerischen Leitung von Ralf Otto mit seinem Mainzer Bachchor und dem Mainzer Bachorchester kurz vor seinem Abschluss steht (sind eigentlich noch Kantaten und die "kleinen" Messen geplant?), findet nun mit der vorliegenden Matthäus-Passion seine kirchenjahrgerechte Fortsetzung. Allenthalben gab es für diese "deutsche" Lesart, die wesentliche Bestandteile der historischen Aufführungspraxis berücksichtigt, kombiniert mit einem undogmatischen Zugang in den Besetzungs-Usancen, viel Lob in der Fachpresse. Kritische Töne waren eher aus dem Vereinigten Königreich und aus Frankreich zu hören, was aber weniger am Brexit oder alten Reserviertheiten der frankophonen Spezialistenszene liegt, als an grundsätzlichen Graden der puristischen Lehre im bunten Musik-Europa. In dieser Gemengelage geht Otto erfahrungsgemäß einen Mittelweg, der den "deutschen" und eher warmen Klang im Chor nicht gegen die gänzlich vibratofreie Registerlehre von Rifkin oder Kuijken, aber auch eines Gardiner oder Jacobs eintauscht, sondern durchaus von einem neu definierten Traditionsfundament aus Bach für die heutigen Hörer zur gültigen Botschaft machen möchte. So kommt es, das man sich beim Durchhören dieser neuen Matthäus-Passion erst einmal nicht gleich auf die Stuhlkante katapultiert sieht, sondern von Otto und den Seinen bedachtsam und sehr frei von exaltierten Tempo- oder Agogik-Effekten in das Geschehen hineingezogen wird. Der Klang des Orchesters ist ausgewogen mit insgesamt von einem schönen Bronzeton grundiert. Bedingt durch eine problematische Akustik des Aufnahmeortes (Christuskirche Mainz) im Continuo leider auch etwas wolkig, eindimensional. Allzu oft sticht die Laute hier etwas zu penetrant hervor. Aber das mag Geschmackssache sein. Jedenfalls konnte die Tontechnik die Defizite des Raumes nicht wirklich bewältigen. Ein kleiner Wermutstropfen für die ganz Anspruchsvollen unter uns Klassikfritzen. Das Geschehen wird durch den Evangelisten Poplutz prononciert und intelligent entwickelt, sehr nah am Text und plastisch in den Bildern, dem Matthias Winckhler als Jesus optimal entspricht. Überhaupt, der Winckhler - wirklich klasse im sonor-weichen Timbre, das dennoch die Linien sehr gut zieht, ein bisschen junger Dieskau, ein bisschen Olaf Bär - Sängerherz, was willst du mehr. Poplutz/Winckhler - ganz starker Punkt dieser Aufnahme, bei der ansonsten Julia Kleiter und die Romberger noch sehr zu beeindrucken wissen. Daniel Sans hingegen agiert hier mit angestrengten Höhen und nicht wirklich sauberer Intonation zu oft unter diesem Niveau. Da ich am Mäkeln bin: Für die Choräle wünschte man sich hin und wieder ein stärkeres aus sich Herausgehen. Da fehlt es mitunter an dem, was ein Karl Richter einst die Welt umarmen ließ, wenn er seinen Chor das "Ich bin's, ich sollte büßen" zum erschütternden Bekenntnis werden ließ. Fast scheint es, als ob Otto derlei Gefühlsüberschwang im Jahre 2018 einfach zu sehr misstraut und daher die schlichte Variante für die realistischere Sicht im Zeitalter der Klimadebatten, Kriegslüsternheiten und Hungersnöte hält. Kann man's ihm verdenken?
Und natürlich wird man bei diesem Mainzer Bach auch nicht die drahtig-kantige Sicht John Eliot Gardiners erleben, der mit seiner zweiten Einspielung fraglos eine sehr bemerkenswerte Lesart vorgelegt hat und all das, was man ihm bei seiner Archiv-Produktion-Aufnahme als britische Maniriertheit ans Revers heften musste, später gottob vergessen machte. Ottos Matthäus-Passion nimmt hier eine Zwischenstellung ein zwischen Herreweghe und Gardiner: weicher, bedachtsamer als Gardiner, aber auch farbenfroher und etwas durchdachter als Herreweghe. Diese Matthäus-Passion hier ist keine neue Referenz, wie das die Platten-Label gern bei jeder Neuproduktion in ihre Prospekte blasen, aber es ist eine schöne und auch bewegende Aufnahme, die die Leidensgeschichte schlüssig und nachdrücklich lebendig werden lässt.