4 von 5
Anonym
12. März 2018
Gesamteindruck:
4,0 von 5
Künstlerische Qualität:
4,0 von 5
Repertoirewert:
3,0 von 5
Sehr überzeugende Lesart
Ich muss gestehen, ich kannte die Ensembles aus Dresden bislang aus keiner eigenen Hörerfahrung, sei es Konzertbesuch oder Tonkonserve. Nachdem ich diese 2017 live in Dresden aufgeführte Johannes-Passion gehört habe, muss ich sagen: Ich habe was verpasst. Grünert hat hier ein Ensemble modelliert, das klangschön, unangestrengt, homogen, beweglich und, da wo es gefordert ist, auch mal kraftvoll-kernig zur Sache geht. Der Johannes-Passion, die Berlin Classics jetzt auf den Markt gebracht hat, bekommt das jedenfalls sehr gut. Die großen Chortableaus, die zugespitzten Turbae wie auch die Choräle leuchten hier in vielfältigen Valeurs. Das zielt durchaus auf Oberflächenpolitur und sucht weniger den Registeraufriss in die Tiefe, ist aber überhaupt kein Nachteil. Das einzige, was stört, sind die mitunter etwas aufgesetzt wirkenden Phrasierungsstockungen zwischen einzelnen Choralzeilen, das wirkt dann doch etwas artifiziell. Die Solisten gefallen mir sehr gut, allen voran der bewegliche und doch nicht leichtgewichtige Evangelist von Tilman Lichdi, der unter den aktuellen Alte-Musik-Tenören eine eigene Statur entwickelt hat, die von einem angenehmen Belcanto-Schmelz geadelt ist. Das Orchester ist - heute leider so selten geworden wie volle Kirchenbänke im August - auf modernen Instrumenten unterwegs und bringt Wohlklang mit der agogischen Zuspitzung der Historisten zu einer überzeugenden Einheit. Wem also der grandiose Karl Richter zu wuchtig und der Kuijken zu spröde ist, der wird an Grünerts Einspielung eine moderne Lesart vorfinden, die eine eigene Handschrift trägt und eine überzeugende Alternative darstellt.